FREIOTTO SCHRIFTEN UND REDEN 1951-1983

SCHRIFTEN DES DEUTSCHEN ARCHITEKTURMUSEUMS ZUR ARCHITEKTURGESCHICHTE UND ARCHITEKTURTHEORIE

Deutsches Architekturmuseum Frankfurt am Main

FREIOTTO

SCHRIFTEN UND REDEN 1951-1983 herausgegeben von Berthold Burkhardt

Friedr. Vieweg & Sohn . Braunschweig/Wiesbaden

Herausgegeben von Heinrich Klotz im Auftrag des Dezemats Kultur und Freizeit der Stadt Frankfurt am Main Nachdruck nur mit Genehmigung des Verlages und unter Ql1ellenangabe Aile Rechte vorbehalten © Friedr. Vieweg & Sohn, Verlagsgesellschaft mbH BraunschweigIWiesbaden 1984 Softcover reprint of the hardcover 1st edition 1984

Satz: R. E. Schulz, Dreieich

ISBN 978-3-528-08687-9 DOl 10.1007/978-3-322-89731-2

ISBN 978-3-322-89731-2 (eBook)

Inhalt

Vorwort 1 Bauten fUr morgen? (1955) Eine Kritik am deutsehen W ohnungsbau

4 Ein Besuch bei Frank Lloyd Wright (1952) 8 Besuch bei Erich Mendelsohn {1952} 9 Mies van der Rohe {1951} Berieht einer Amerikafahrt

13 Das hangende Dach {1954} SehluBsatz aus der Dissertation

14 Vom Nest zur modernenWohnstadt {1954} Kritik und Vorsehlag (aus einem Vortrag fiir Laien, hier dem Faehgremium zur Diskussion gestellt)

19 Vom ungeheizt schon warmen Haus und neuen Fenstern {1955} 24 Die Stadt von morgen und das Einfamilienhaus {1956} 40 Die KongreBhallen-Debatte {1958} 48 Bauen fUr morgen? {1962} Die Arehitektur auf der Sue he naeh neuen Wegen

59 "Moderne Architektur" (1963) Versueh einer Standortbestimmung

65 Phantasie und Architektur (1962) 72 Wie werden wir weiterleben? (1967) 82 Der Individualbereich im zukUnftigen Wohnen (1969) 89 Eine Interbau und ein Spinnerzentrum {1970} 98 Das Zeltdach (1972)

Subjektive Anmerkungen zum Olympiadaeh

106 Die Europastadt {1973}

Idyll, Sehreeken, Vision und Wirkliehkeit

116 Die neue Zeit der vielen Architekturen {1972} 128 Mit Leichtigkeit gegen Brutalitat {1976}

v

133 Faszination und Probleme (1976) Unwagbarkeiten groBer Forschungsvorhaben

140 "Hart endlich auf, weiter so widernatiirlich zu bauen!" (1977) 150 WeiGenhofsiedlung 1927 -1977 (1978)

152 Brutalismus in Stuttgart? (1977) Eine kritische Stellungnahme von Frei Otto und Berthold Burkhardt zum Architekturwettbewerb Stuttgarter Staatsgalerie

154 Stuttgarter Architektur - gestern, heute und morgen (1979) Eine subjektive Anmerkung tiber die drei Stuttgarter Schulen, tiber die "Neue Sachlichkeit" der zwanziger Jahre, tiber das Bauen im "Dritten Reich" und tiber das nattirliche Bauen.

170 Die Forschungsgruppe Biologie und Bauen

175 Biologie und Bauen (1976) 188 Chancen (1980) Festrede zur Eroffnung des Bauhaus-Archivs Berlin

196 Das A.sthetische (1979) Gedanken tiber das Asthetische bei materiellen Objekten

218 Anhang Biographie; Projekte und Bauten; Publikationen des Instituts ftir leichte Flachentragwerke; IL Info; IL Berichte; Bticher; Publikationen tiber die Arbeit von Frei Otto; Mitarbeiter von Frei Otto seit 1953

VI

Vorwort

In der internationalen Fachwelt und in der breiten bffentlichkeit ist der Architekt Frei Otto hauptsachlich durch Bauten und eine Vielzahl von Entwufen bekannt geworden. Die ersten Bundesgartenschauen in Deutschland in den fruhen funfziger Jahren waren gepragt durch die leichten, beschwingten Zelte, mit denen Frei Otto nach einem Einstieg in den sozialen W ohnungsbau und bitteren Erfahrungen mit vielen Reglementierungen jene Arbeit 1954/1955 begann, die fur ihn pragend wurde. Viele Zelte folgten, aIle in Zusammenarbeit mit PeterStromeyer, dem Zeltbauer aus Konstanz. Er ermoglichte es, Zeltbautradition und Frei Ottos Ideen zu einer neuen Elute und zu einem neuen Verstandnis der Zelt-Architektur zu fuhren. Dem Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Montreal 1967, einem Seilnetzzelt, das zusammen mit Rolf Gutbrod und Fritz Leonhardt und wiederum Peter Stromeyer gebaut wurde, folgte eine Reihe Bauten, wie z.B. die MultihaIle Mannheim und die Olympiadacher in Munchen, bei denen Otto mit seinem Atelier als Berater beteiligt war. Bauten sind sichtbar und greifbar, ja sie konnen es auch noch sein, wenn sie nach erfullter Aufgabe bereits wieder verschwunden sind, wie der Deutsche PavilIon (1967 -1975) beweist. Leider mu~ man in diesem Zusammenhang feststelIen, da~ die besondere Qualitat des neuen Zeltbaus noch zu wenig Breitenwirkung erreicht hat. Realisierte Bauten sind fur Frei Otto von nachrangiger Bedeutung gegenuber den Ideen und Prozessen, die Bauten ermoglichen. Viele Ideen, die gar

nicht ausgefuhrt werden soIlen, bleiben lebendig. Gebaute Ideen dagegen sind statisch geworden und schreiben einen zufalligen Zeitpunkt fest. Nicht ohne Grund war Otto in den funfziger Jahren Anhanger der Zero-Gruppe, die vor allem von Udo Kultermann zusammengehalten wurde und in der gleichen Zeit Mitglied der Groupe d'Etudes d' Architecture Mobile (GEAM), u.a. mit Gunter Gunschel, Werner Ruhnau und Y ona Friedman, die sich fur eine anpassungsfahige und veranderbare Architektur einsetzte. Ein fundamentaler Ansatz und Baustein in den Grundlagenarbeiten - wie auch in der Realisation vieler Leichtbauten mit Netzen, Membranen und Schalen - .ist die Suche nach der optimierten Konstruktion. Optimierte Konstruktion so verstanden, da~ eine nicht mehr verbesserbare Form ein Optimum des Zusammenwirkens von Form, Kraft und Masse ermoglicht. Frei Otto pragte dazu den Begriff der "klassischen Form". Der Bezug zur Klassik ist hier durchaus auch wortlich zu nehmen, betrachtet man die Entstehungsgeschichte etwa bei Bogen, Stutzen oder Kuppeln als Elemente des Bauens. Weiter fuhrte Frei Otto das Ma~ ,Bic' ein, in dem das Verhaltnis der Masse eines Gegenstandes zum Produkt aus der ubertragenden Kraft und der Ubertragungsstrecke dieser Kraft festgestellt wird. F rei Otto bezeichnete dieses Ma~ auch einmal als den "Genialitatsquotienten des Konstrukteurs". So wichtig diese konstruktive Aufgabe ist, sie ruckt doch in das zweite Glied, wenn es urn die okologische Betrachtung des Hauses, der Stadt, der bebau-

VII

ten und unbebauten Umwelt und ihre harmonischen oder gestorten Beziehungen geht. Die Bauten und Konstruktionen sind nur ein sichtbarer T eil des vielschichtigen Werkes, das bis heute in uber 30 Jahren entstand. Bauten sind fur Frei Otto so notwendig wie fur den Naturwissenschaftler das physikalische Experiment. Sie sind zwar kein Beweis fur allgemeine Gultigkeit, beim MiBlingen genausowenig Beweis fur die U ngultigkeit. Gedanken und Visionen werden jedoch in der greifbaren Nahe der Realitat verstandlicher. DreiJ ahrzehnte Planen und Bauen, dreiJ ahrzehnte Entwickeln und Forschen sind bei Frei Otto von Gedanken und AuBerungen begleitet, die keine Ideologie, sondern die Grundlagen des Zusammenwirkens von Natur, Mensch und Architektur erarbeiten und verstehen lassen wollen. Diese Zusammenstellung der Reden, Schriften und einiger Skizzen aus den Jahren 1955 bis 1983 ist ein Versuch, Hintergrund und Beziehung zu praktischen Bauten Frei Ottos herzustellen. Dadurch wird auch an einigen Stellen deutlich, daB Schrift und Rede den uneingeschrankten personlichen Ausdruck vermitteln, Bauten aber nicht in gleicher Weise personlich sein konnen. Frei Otto sieht sich bei allen seinen Bauten als Mitglied eines Teams, das nach seinen Vorstellungen sich bereits vor Beginn einer Planung als Einheit bilden solI. Die Vielfalt der in den Schriften angesprochenen Themen geht we it uber die Architektur hinaus. Selbst in der Architektur wird eine we it gefacherte Pluralitatder "vielen Wegeder Architektur" gefordert. Bei aller Vielfalt in den eigenen theoretischen und praktischen Arbeiten ist dennoch ein roter Faden der Geradlinigkeit und Eindeutigkeit sichtbar. So ist es verstandlich, daB die wesentlichen Aussagen zur Architektur, zum okologischen und okonomischen U mgang mit der lebenen und nicht lebenden

Natur nie grundsatzlich zu revidieren waren. Sie muBten allenfalls im Einzelfall aufgrund neuer Erkenntnisse prazisiert werden. Frei Otto gehort zu derjenigen Generation von Architekten, die zu Beginn ihrer Berufslaufbahn auf einem Trummerfeld die tatsachliche - oder auch nur schein bare - Chance eines N eubeginns hatten. Abgesehen von der tragischen Verursachung dieser Situation kann man Ott os Generation urn diese Chance beneiden, sie in Anbetracht der heute sichtbaren Resultate und unlosbaren Uberforderung aber auch bedauern. So wenig Architektur und die gesellschaftlichen Vorgange der ersten Hafte dieses J ahrhunderts fur unser Verstandnis aufgearbeitet sind, urn so viel weniger sind es die Vorgange und Zusammenhange der Nachkriegszeit. Der in diesem Buch an die erste Stelle gesetzte Artikel aus dem Jahre 1955, "Bauten fur morgen?", eine Kritik am deutschen W ohnungsbau, greift mitten in die Auseinandersetzung der fruhen funfziger Jahre. Die Vortrage der folgenden Jahre, wie "Hort endlich auf, so widernaturlich zu bauen" (1977) oder "Chancen" (1979), sind Fortschreibungen dieses Themas. In ihnen ist die eigene und anderer U nzufriedenheit, ja beinahe eine Ohnmacht gegenuber dem, was damals entstand und heute entsteht, zum Ausdruck gebracht worden. Ottos eigenes Wohnhaus in Warmbronn bei Stuttgart, der bereits erwahnte Pavillon in Montreal, das geplante Okohaus auf der IBA Berlin sind Versuche, selbst das Experiment der Realisierung zu wagen, den eigenen Standpunkt zu beweisen und der Kritik zu stellen. "Unsere Aufgabe ist es, frlihzeitig zu erkennen. Vorauskritik tut not - N achkritik ist selten beispielgebend", stellt Frei Otto fest - und nennt das Volkermorden des letzten Weltkriegs in einem Atemzug mit der F rage nach der U rsache der Brutalitat des heutigen Bauens. VIII

In der von Egbert Kossak 1978 initiierten Vortragsreihe anlamich der Ausstellung Tendenzen der zwanzigerJahrewird dieses tiefgehende Erlebnis des Dritten Reiches deutlich. Die Erinnerungen an Brutalitat durch Tat, Wort und Form sind und bleiben wach. Tendenzen der zwanziger Jahre - die Begegnung mit Frank Lloyd Wright, Erich Mendelsohn und Ludwig Mies van der Rohe auf einer ersten Reise 1951 in die ,freie Welt' Amerika als Gegenpol hinterlassen tiefgreifende Einflusse und Eindrucke. In diesem Zusammenhang ist auch der engagierte Einsatz gemeinsam mit Bodo Rasch und anderen fur die Stuttgarter Wei~enhofsiedlung zu sehen. Denkmalgetreue Wiederherstellung oder Abri~ der durch die U mbauten in der N achkriegszeit entstandenen Luge war die Kurzformel, der sich viele weltweit anschlossen. Bei dieser Forderung geht es wiederum nicht primar urn die gebaute Substanz am Wei~enhof, vielmehr urn ein Manifest, Ermahn ung und Erinnerung an das eigentliche Ziel der Gruppe urn Mies van der Rohe. Die Hauser der Wei~enhofsiedlung sind und werden nach dieser Initiative gerettet, wiederhergestellt. "Trotz aller heute gultigen Schlagworte ist es notwendig, die gestellten Aufgaben aus der Atmosphare des Einseitigen und Doktrinaren herauszuheben." An diese Satze Mies van der Rohes knupft Frei Otto an. Er halt denen die Oberflachlichkeit und Einseitigkeit vor Augen, die in der W ei~enhof­ siedlung nicht den Proze~, sondern den blo~en Formalismus sehen und sogar nicht davor zuruckschrecken, der Architektur der fruhen Moderne die Schuld und die Verantwortung fur die Fehler der N achkriegsarchitektur zuzuweisen. Einige Aufsatze behandeln einzelne Bauten; Bauten, an denen Otto selbst beteiligt war, wie z. B. die Olympiadacher von G\inther Behnisch & Partner 1972 in Munchen und auch solche, die beispielhaft

zur Diskussion uber grundsatzliche Inhalte heutiger Architektur boten: die Kongre~halle in Berlin von Stubbins (1957/1958) und die Erweiterung der Staatsgalerie in Stuttgart von James Stirling (1981). Man kann ohne besondere Muhe die uber 20 Jahre auseinanderliegenden Diskussionen urn die Berliner Kongre~halle und urn die Stuttgarter Staatsgalerie im Grundsatz gemeinsam betrachten. Keinesfalls ging es - wie dies verschiedentlich behauptet und verstanden wurde - urn personliche Angriffe oder Auseinandersetzungen. Die gegenseitige Anerkennung und Achtung mu~ und kann vorausgesetzt werden. Bauwerke sind nur sichtbarer Anla~, uber die Kernfragen der Architektur zu diskutiereno Gerade an diesen beiden besonders exponierten Bauten lassen sich die F ragen nach Monumentalitat und Macht, nach Sein und Schein, nach Mensch und Architektur beleuchten. Da~ mit den U rhebern und den Bauherren kein urn gegenseitiges Verstandnis bemuhter Dialog zustande kam, ist zu bedauern. Die tiefe Uberzeugung, da~ Gebaude sich ein- und unterzuordnen haben, da~ Architektur rucksichtsvoll auf Land, Landschaft und Menschen reagieren und sowohl die Geschichte als auch eine ungewisse Zukunft berucksichtigen mu~, fordert Frei Otto zur offentlichen Stellungnahme heraus. Da~ nun bei der Berliner Kongre~halle auch noch die Konstruktion etwas vorspielt, was sie nicht ist, hat nicht nur Frei Otto, sondern eine Reihe weiterer Architekten und Ingenieure, wie Paolo Nervi und Curt Siegel, zum Widerspruch aufgerufen. Der Einsturz der Kongre~halle ist dafur keine spate Bestatigung. Viel bedenklicher ist der unsichere Versuch der heute Verantwortlichen, mit orthopadischen Mitteln den Schein zu bewahren. Die Stuttgarter Debatte, veranla~t durch den von Stirling gewonnenen Wettbewerb fur den Erweiterungsbau der Staatsgalerie, lie~ zunachst auf ein Anla~

IX

Wiederaufleben einer fruchtbaren Auseinandersetzungeines ,Streites' urn Architektur hoffen. Die engagiert vortragenen Meinungen und Fragen von Gunther Behnisch, Frei Otto und wenigen anderen entfachten zwar das Feuer, aber es brannte nicht weiter. Die Diskussion uber die Olympia&icher, die Frei Otto in dem Aufsatz "Das Zeltdach" erwahnt, ist ein spates, ja abgeklartes Resumee, ist nahezu ausschlieBlich fur Insider geschrieben, fur die noch recht kleine Familie, die versucht, mit geringstem Aufwand die Konstruktion im Leichtbau zu einer nicht mehr verbesserbaren Form in einen Bezug zur Nutzung zu fuhren. Nie gab es einen grundsatzlichen Dissens zwischen den Beteiligten zur Gesamtqualitat der Munchner Olympiaanlagen. Die Chance, mit einer Dachlandschaft eine Naturlandschaft zu schutzen und zu erhalten, wurde genutzt. Hier trafen sich Visionen der Gruppe Behnisch als Gewinner des Wettbewerbs mit denen ihres Beraters Frei Otto, ohne den es die Dacher nicht gegeben hatte. Ob nun fur die gestellte Aufgabe unter dem Druck der politischen, personellen und zeitlichen Zwangsbedingungen mit dem Olympiazelt ein Optimum erreicht wurde, wird zumindest von Frei Otto angezweifelt. Frei Otto erlaubt sich keine Zufriedenheit. Anerkennung und Kritik beziehen sich auch hier nur teilweise auf das Produkt, vielmehr auf das Zusammenwirken der Beteiligten und ihre Suche nach dem Optimum auf der Basis des besten Kompromisses. Insofern ist der Munchener Bau nicht beispielhaft. Die Gra6e von Bau und Team widerspricht den uberschaubaren Gra6en Frei Ottos und seiner Arbeitsweise. In seinem Atelier, an seinem Hochschulinstitut gibt es fur seine Projekte eine Grenzgra6e der direkten und effektiven Zusammenarbeit, und diese liegt bei der kleineren Gruppe. Als Walter Gropius Frei Otto 1961 in seiner Werk-

statt, der Entwicklungsstatte fur den Leichtbau in Berlin, besuchte, fuhlte er sich spontan an Arbeitsweise und Atmosphare des Bauhauses erinnert. Nicht da6 Frei Otto mit dieser Beobachtung nun in einer direkten Nachfolge des Bauhauses gesehen werden solI. Es gibt aber Vorgehensweisen und Denkmodelle - Frei Otto nennt sie die ganzheitlichen oder synthetischen -, die nur uber den persanlichen Einsatz, fernab von Masse und Superlativen maglich sind. Und wenn Frei Otto auf die Frage eines Stuttgarter Kollegen nach der Freude bei der Arbeit mit der Antwort kurz zagert, so vor aHem darum, wei 1 bei dem selbstgestellten Anspruch auf Klarheit und Qualitat die Freude oft nur uber Muhen und Schmerzen erreichbar ist. Uberdimensionale Anstrengungen sind oft natig, urn Kollegen und Mitarbe iter einzubinden, die bei der Suche nach der bestmaglichen Lasung durch andere, manchmal auch geringere Wertvorstellungen Unverstandnis oder Zuruckhaltung zeigen. Die Arbeiten Frei Ott os und seiner Mitarbeiter betreffen das Detail, das Haus und die Stadt im technischen, wie auch im biologischen und damit auch im sozialen Kontext. Dabei kommt neben dem Entwickeln und Erfinden auch dem Sehen und der Fahigkeit, das schon Vorgegebene in neue aktuelle Zusammenhange zu steHen, eine zumindest gleichrangige Bedeutung zu. So gesehen ist z. B. der Beitrag zur Europastadt nicht das Aufzeigen einer Vision oder einer Utopie, sondern eine Anregung, diesen dicht besiedelten und verknupften - aber auch durchgrunten - Teil der Erde als lebensfahige und entwickelbare Kulturlandschaft zu begreifen. Es erstaunt kaum, da6 diese Gedanken nur zuruckhalt end von Architekten und weniger noch von Politikern aufgenommen werden, sondern vielmehr von generalistisch denkenden Naturwissenschaftlern und Okologen, unter denen vor allem der ehe-

x

malige Leiter der Senckenberganstalt in Frankfurt, Wilhelm Schafer, genannt werden muG.

Hydroskeletts (damit des Skeletts der Wirbeltiere und schlieGlich auch der Gestalt des Menschen) der Gruppe urn den Frankfurter Biologen W. F. Gutmann. Es ist sieher keine Frage, daG die Auseinandersetzung mit Formen und Strukturen der lebenden Natur in ihrem biophysikalisehen Zusammenwirken der heutigen Biologie eine neue, oder, besser gesagt, eine, versehuttete' Betraehtungsweise wieder eroffnet. Naeh dieser Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung des Pneus fur Formenbildung und Waehstum in der lebenden Natur vertiefte Frei Otto zunehmend Forsehungen in der Biologie. Er reduzierte Mitte der siebziger Jahre seine praktische Arehitektentatigkeit auf einzelne Beratungen, urn diese Grundlagenforsehung, die Naturforsehung, zu vertiefen. Naturforsehung nicht als eine analytisehe Wissensehaft, sondern als eine Vertiefung und Fortfuhrung der Arbeiten D' Arcy Thompsons, der 1917 das erst naeh dem Kriege wiederentdeekte Bueh On Growth and Form veroffentlieht hatte. Der Beitrag uber Biologie und Bauen im vorliegenden Bueh kann nur als eine knappe Einfuhrung in die Gedanken und Erkenntnisse gelten, an denen der Naturwissensehaftler und Architekt Frei Otto arbeitet. Strukturbildung, Waehstum und Veranderungen von Knoehen, Baumen, Sehalen u. a. sind zur Zeit in Kooperation mit Zoologen, Botanikern und Medizinern behandelte Themen. Die Uberzeugung, daG aueh in der Arehitektur mit allen ihren Verfleehtungen zu Natur, Gesellsehaft u. a. allgemeingultige Grundlagen und nieht manipulierbare Gestaltungs- und Bildungsprozesse aussehlaggebend sind, erklaren das groGe Engagement in dieser interdisziplinaren Forsehung. Frei Ottos Hoehsehulinstitut, das Institut fur leiehte Tragflaehenwerke, wurde 1964 auf Initiative des

N aturlich zu bauen, Architektur und N atur aus der Gegensatzlichkeit zum Einklang zu fuhren, kann zwar als AnlaG, nicht aber als tiefere Begrundung fur die intensive Beschaftigung mit der Biologie als Naturwissenschaft gelten. Vor 20 J ahren trafen sich F rei Otto und der Biologe und Anthropologe J. G. Helmcke, urn mit Architekturstudenten das Thema, Technik und Biologie' an der T echnischen U niversitat Berlin zu reflektiereno Der Vergleich technischer Strukturen mit Objekten der lebenden und nicht lebenden Natur eroffnete keine neue, aber eine zuvor so noch nicht erkannte, faszinierende Welt der Formen und Konstruktionen. Der Vergleich der konstruktiven und funktionalen Form von Diatomeen und Radiolarien, von Spinnennetzen und Baumen mit analogen technischen, auch bautechnischen Konstruktionen fordert technisches Wissen und die Fahigkeit zu sehen. Die so betriebene Analogiebetrachtung und -forschung erzeugte dann allerdings die nie ausrottbare und laufend publizierte Vermutung, daG Frei Otto die Natur kopiere. Das forschende Verstehen und Erklaren der Natur ruckt Otto auch weit ab von der Bionik, wenn sie als eine die Natur nachahmende Pisziplin verstanden wird. Die kooperative Zusammenarbeit, der gegenseitig anregende Austausch von Wissen zwischen Architekten und Biologen zum Thema ,Pneus in Natur und Technik' kann als ein Meilenstein betrachtet werden. Der so einfach klingende, 1972 formulierte Satz "Der Pneu ist die wesentliche Grundlage fur die Formenwelt der lebenden Natur" enthalt einen ungeheuer anmaGenden Anspruch. Ein uralter und ursachlicher Sachverhalt wurde neu gesehen und bestarkte z. B. die Arbeiten zur Entstehung des

XI

damaligen Rektors Fritz Leonhardt an der Technischen Hochschule Stuttgart eingerichtet. Nach den gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Veranderungen der letzten zwanzig Jahre ware heute auch bei der zum Experiment bereiten U niversitatsleitung kaum zu hoffen, eine derartige Einrichtung zu schaffen. Letztlich ermoglichte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) durch die Grundung von Sonderforschungsbereichen den notigen ideellen und finanziellen Freiraum fur die interdisziplinare Forschung, die Frei Otto in seinem Aufsatz ,Interbau und Spinnerzentrum' nicht nur fur sich selbst fordert. Die Begriffe Spinner und Spinnerzentrum haben als Synonym fur eine unkonventionelle Grundlagenforschung bereits Eingang in den Sprachgebrauch offizieller Wissenschaftsforschung und -forderung gefunden. Die aus dem Boden gestampften Technologieparks als sogenannte Innovationszentren sind

dagegen nicht der von Otto erhoffte fruchtbare Boden, auf dem Neues und Veranderungen wachsen konnen. Ob die Interbau 84, die zweite Internationale Bauausstellung in Berlin, neben ihrer gewaltigen Manifestation der Postmoderne, manche sagen auch Schinkel-N achfolge, F rei Ott os b ko-Hauser wachsen lafh, bleibt abzuwarten. Bis heute sind seine Entwurfe noch Idee, Zeichnung und Modell. Frei Ottos komplexe Fragestellungen, seine Experimente und die ubergreifende Zusammenarbeit mit Biologen, Ingenieuren und Geisteswissenschaftlern haben nicht zugelassen, daB bloBe Modetrends daraus entstanden sind. Modeerscheinungen behindern die Suche, wie Frei Otto sagt, nach dem Naturlichen, dem sinnvollen Ganzen aus vollkommenen T eilen.

Stuttgart, im J anuar 1984

XII

Berthold Burkhardt