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Author: Benedict Blau
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QUAESTIONES DISPUTATAE Begründet von KARL RAHNER UND HEINRICH SCHLIER Herausgegeben von PETER HÜNERMANN UND THOMAS SÖDING

QD 266 GOTTES WORT IN MENSCHENWORT Die eine Bibel als Fundament der Theologie

Internationaler Marken- und Titelschutz: Editiones Herder, Basel

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GOTTES WORT IN MENSCHENWORT Die eine Bibel als Fundament der Theologie Herausgegeben von Karl Kardinal Lehmann und Ralf Rothenbusch

Norbert Lohfink SJ zum 85. Geburtstag gewidmet.

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

©VerlagHerderGmbH,FreiburgimBreisgau2014 AlleRechtevorbehalten www.herder.de Umschlagkonzeption:Finken&Bumiller,Stuttgart Umschlagmotiv:AuszugausdemCodexAleppo Satz:BarbaraHerrmann,Freiburg Herstellung:CPIbooksGmbH,Leck PrintedinGermany ISBN978-3-451-02266-1 &*4#/

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Inhalt

Vorwort

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Einführung der Herausgeber

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Das unvollendete Konzil Die bleibende Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils für die Katholische Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jean-Claude Périsset, Apostolischer Nuntius in Deutschland

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Die Heilige Schrift als Zeugnis der Offenbarung Dei Verbum – Gottes Wort – eine Botschaft des Heils für die ganze Welt Erste Einführung in die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung des Zweiten Vatikanischen Konzils . . Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

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Die Bibel als Akteur Kanon, Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift in systemtheoretischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Reis/Thomas Ruster „Quelle“ oder „Steinbruch“? Über den Umgang der Dogmatik mit der Bibel Peter Walter Die Auslegung der Heiligen Schrift

Historisch-kritische und kanonische Textinterpretation – ein feindliches Paar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Wohlmuth

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Vom bleibenden Recht des Textes vergangen zu sein Wie tief gehen die Anfragen an die historisch-kritische Exegese? 130 Christian Frevel

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Inhalt

„Damit die Bibel nicht ein Wort der Vergangenheit bleibt“ – Historische Kritik und geistige Schriftauslegung . . . . . . Ludger Schwienhorst-Schönberger Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12. Gotteswort in Menschenwort . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Hieke

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Die Bedeutung der Rückfrage nach dem historischen Jesus für die Theologie an einem Beispiel Die Johannestaufe als Indikator für ein Sündenbewusstsein Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Angelika Strotmann Normativität und Sinnpflege in der Tora Zur hermeneutischen und theologischen Bedeutung der Fortschreibung biblischer Texte . . . . . . . . . . . . . . . Ralf Rothenbusch

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Die eine christliche Bibel in zwei Teilen – zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament „Das Neue im Alten verborgen und das Alte im Neuen erschlossen“ (Dei Verbum 16) Paradigma oder Herausforderung für die Frage nach dem Verhältnis von Altem und Neuem Testament? . . . . . . . Konrad Huber Vom Eigenwert des Alten Testaments als Wort Gottes Zur wechselseitigen Befruchtung der christlichen und jüdischen Exegese des Alten Testaments . . . . . . . . . Manfred Oeming

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Hebraica Veritas? Jüdische Bibelauslegung, wissenschaftliche Bibelforschung und die alt-neue Frage nach ihrer Kommunikation . . . . . . . . . . 337 Hanna Liss

Inhalt

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Die Heilige Schrift im Leben der Kirche Die Kirche liest das Alte Testament in mehreren Textgestalten und Übersetzungen Folgen für Schriftgebrauch, Exegese und Theologie . . . . . . . 359 Adrian Schenker OP Translatio Dei Der christliche Glaube in und als Übersetzung Leonhard Hell

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Die Bibel in der Liturgie Sondierungen zu Dei Verbum 21 am Beispiel von Dan 3 Ansgar Franz

Autorenverzeichnis

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Vorwort

Die in diesem Band gesammelten Beiträge gehen aus einer Tagung mit dem Titel „Gottes Wort in Menschenwort. Die eine Bibel als Fundament der Theologie“ hervor, die vom 23.–25. Mai 2013 in Mainz stattfand. Ihr Anlass war – im Rahmen der Veranstaltungen zur Erinnerung an das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) – das 50-jährige Jubiläum der Dogmatischen Konstitution Dei verbum über die göttliche Offenbarung. Veranstaltet von der Akademie des Bistums Mainz, Erbacher Hof, in Zusammenarbeit mit der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, sollte sie im Blick zurück auf die grundlegenden Anliegen der Offenbarungskonstitution die Stellung der und den Umgang mit der Bibel in der katholischen Theologie heute bedenken, um so Impulse für den angemessenen Umgang mit der Heiligen Schrift in Theologie und Kirche zu geben. Der nun aus dieser Tagung entstandene Band, der zum eigentlichen Jubiläum der Konstitution, am 18. November 2015, vorliegt, wird hoffentlich interessierte Leser(innen) finden. Die Herausgeber danken Thomas Söding und Peter Hünermann ganz herzlich für die Aufnahme dieses Tagungsbandes in die Reihe Quaestiones Disputatae. Unser Dank geht an Frau Dr. theol. Claudia Sticher, Persönliche Referentin des Bischofs von Mainz, die als Alttestamentlerin die Vorbereitung der Drucklegung mit großer Kompetenz begleitete. Der Verlag Herder förderte die Veröffentlichung durch Herrn Clemens Carl in gewohnt solider Weise. Nicht zuletzt möchten wir auch noch einmal den Kooperationspartnern an der Kath.-Theologischen Fakultät der Universität Mainz, den Professoren Leonhard Hell, Thomas Hieke und Konrad Huber sowie Prof. Dr. Peter Reifenberg, dem Direktor der Akademie des Bistums Mainz, für die vielseitige Unterstützung in der Vorbereitung und der Durchführung der Mainzer Tagung danken. Norbert Lohfink SJ nahm an der Tagung im Mai 2013 teil und ließ an einem Abend mit seinen persönlichen Erinnerungen an die Zeit unmittelbar vor dem Beginn des Konzils die Auseinandersetzungen um den angemessenen methodischen Zugang zur Bibel und

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Vorwort

um das vorbereitete Schema der Offenbarungskonstitution für die Anwesenden lebendig werden. Zahlreiche Bezugnahmen vor allem in den bibelwissenschaftlichen Beiträgen dieses Bands auf Veröffentlichungen Norbert Lohfinks zeigen, wie sehr er seit dieser Zeit die Exegese und die katholische Theologie bereichert hat. Ihm sei dieser Band anlässlich seines 85. Geburtstags, den er kurz nach der Tagung feiern durfte, herzlich gewidmet. Mainz, 15. September 2014 Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz Ralf Rothenbusch

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Einführung der Herausgeber

Im Vorwort zu diesem Band wurden Zeit, Ort und Kontext der Veranstaltung schon genauer beschrieben. Sie reiht sich ein in eine Serie laufender Tagungen über die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils, die vor fünf Jahrzehnten beraten und verabschiedet wurden. Der zentrale Text über die göttliche Offenbarung Dei verbum, der unter den Konzilstexten insgesamt etwas stiefmütterlich behandelt wurde und wird, obwohl er einen hohen Rang hat, verdiente auch auf dieser Ebene eine erneute und vertiefte Zuwendung. Die Gehalte von Dei verbum betreffen gewiss zunächst und besonders die Bibelwissenschaften. Aber ein solcher theologischer Grundlagentext bezieht sich nicht nur auf einzelne Disziplinen, sondern überhaupt auf das Verständnis der Fundamente von Theologie und Kirche. So erklärt sich auch der Titel des Textes als einer „Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung“. Die Mainzer Tagung hat sich in Planung und Durchführung um die Einheit und Vielfalt der kirchlichen und theologischen Dimensionen des „Wortes Gottes“ bemüht. Darum standen auch Folgerungen z. B. für die Liturgie bzw. Liturgiewissenschaft auf dem Programm. Der Ausgangspunkt eines solchen Grundtextes ist nicht selbstverständlich. Man muss sich manches hilfreiche oder hinderliche Vorverständnis erst klarmachen. Dabei ist es eine Hilfe, an die zwar verbindliche, aber stets offene Struktur auch lehramtlicher Aussagen zu erinnern, wie es der ehemalige Apostolische Nuntius in Berlin, Erzbischof Dr. Jean-Claude Périsset, in einer kleinen Besinnung über das „unvollendete Konzil“ eingangs versucht hat. Für das Verständnis eines solchen komplexen Textes und vieler einzelwissenschaftlicher Ausführungen zu den Konzilsaussagen schien es uns nützlich und fruchtbar zu sein, am Anfang der Tagung und nun dieses Buches durch eine umfassende Hinführung gleichsam den Vorhang auf das Ganze hin zu öffnen: Ausgangspunkt und Voraussetzungen, Werden des endgültigen Textes, Stufen seiner Entwicklung, Aufbau und Strukturanalyse, theologische Knotenpunkte und durchlaufende Perspektiven, Bezug zur Ökumene (Lehmann).

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Einführung der Herausgeber

Durch eine ungeschichtliche Betrachtung, nicht zuletzt von Seiten der nachreformatorischen Dogmatik, ist im Blick auf das Verhältnis Schrift – Tradition – Lehramt – Kirche vieles problematisch zugespitzt und fixiert worden. Dies erweist sich auch durch eine sorgfältige begriffs- und theologiegeschichtliche Analyse des vieldeutig gebrauchten Begriffs „Quelle“ (Walter). Dei verbum hat den Weg frei gemacht zu einem erweiterten und zugleich vertieften Umgang mit allen konstitutiven Determinanten im Verhältnis von Schrift und Tradition mit ihren Implikationen. So kann heute auch die Bibel mit Hilfe gegenwärtiger Denkmodelle (hier der Systemtheorie) viel stärker, z. B. in ihrem vielfältigen Zusammenspiel von Leser (Subjekt) und Text, selbst als „Akteur“ erscheinen (Reis/Ruster). Dabei wird auch ein neuer Weg frei für die folgenden bibelwissenschaftlichen Studien. „Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muß der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte.“ (DV 12) Fünfzig Jahre nach Dei verbum steht die Biblische Exegese in der Katholischen Theologie vor offenen Fragen. Erst jüngst hat L. Schwienhorst-Schönberger seine Einschätzung formuliert, der zufolge eine Klärung des Verhältnisses von historisch-kritischer und kanonischer Exegese in der nächsten Zeit zu den vorrangigsten Aufgaben der Exegese gehören wird1. Beide Ausrichtungen der Bibelwissenschaft berufen sich auf die Offenbarungskonstitution des Konzils. Sie gilt sowohl den Vertretern der historisch-kritischen Exegese als endgültige und vollständige Anerkennung ihrer Methode in der Katholischen Theologie, als auch den Vertretern der kanonischen Exegese als Aufforderung zu einer theologischen Schriftauslegung im Rahmen des Kanons der einen Bibel. Natürlich ist das stark vereinfachend. Weder gibt es die historisch-kritische Methode noch die kanonische Exegese. Die Akzente liegen bei fast jeder Exegetin, jedem Exegeten etwas anders. Und wie in der historisch-kritischen Exegese längst literaturwissenschaftliche Untersuchungsmethoden ihren Platz gefunden haben und die syn1

L. Schwienhorst-Schönberger, Zwei antagonistische Modelle der Schriftauslegung in Dei Verbum?, in: J.H. Tück (Hrsg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg i. Br. 2012, 429 – 441, 438.

Einführung der Herausgeber

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chrone Endtextexegese zentrale Bedeutung bekommen hat, begegnen in der kanonischen Exegese unterschiedliche Ausrichtungen, die der geschichtlichen Dimension der Texte mehr oder weniger Raum und Relevanz einräumen. Beide Zugänge stehen sich dabei zum Teil ausgesprochen kritisch gegenüber. Auch was das Verhältnis dieser beiden Richtungen zueinander angeht, gibt es keine Einmütigkeit. Gilt für die meisten historisch-kritisch arbeitenden Exeget(inn)en die Frage nach dem historischen Wortsinn als grundlegend, dem alle weiteren Sinndimensionen des Textes bzw. der Hl. Schrift anzuschließen sind, will etwa Schwienhorst-Schönberger die historisch-kritische Exegese in das Modell der traditionellen kirchlichen Bibelhermeneutik integrieren2, während andere das „historische“ und das „kanonische Paradigma in der Exegese“ mehr oder weniger unverbunden nebeneinander stellen3. Letztlich geht es dabei auch um die Bedeutung und Relevanz der Geschichte überhaupt für die Offenbarung. Diese Auseinandersetzungen spiegeln sich in den Beiträgen dieses Bands wider, natürlich nicht in allen ihren Akzentuierungen, aber aus unterschiedlichen Perspektiven (Wohlmuth, Frevel, Schwienhorst-Schönberger, Hieke, Strotmann, Rothenbusch). In besonderer Weise ist das in den beiden Beiträgen von Christian Frevel und Ludger Schwienhorst-Schönberger der Fall, die sich unmittelbar aufeinander beziehen. Das war in der Tagungsplanung ursprünglich nicht so angelegt, hat sich vielmehr in der Diskussion der Tagung so ergeben und zeigt sich jetzt in ihren Beiträgen. Der Kirche gelten „die Bücher des Alten wie des Neuen Testaments in ihrer Ganzheit mit allen ihren Teilen als heilig und kanonisch“ (DV 11). Der ganze Kanon, die eine Bibel als grundlegender Interpretationsrahmen der Hl. Schrift ist in jüngerer Zeit mit der kanonischen Exegese wieder verstärkt in das Bewusstsein der Bibelwissenschaft und der Theologie getreten. Gegenüber der traditionellen Sicht des Alten Testaments als Vorbereitung auf Christus und das Neue Testament, wie sie die Offenbarungskonstitution noch vertritt (DV Kap. IV), ist insbesondere die Bestimmung des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament zueinander und der Eigenwert 2

Vgl. seinen Beitrag in diesem Band. Vgl. E. Ballhorn, Das historische und das kanonische Paradigma in der Exegese. Ein Essay, in: ders./G. Steins (Hrsg.), Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexionen und Beispielexegesen, Stuttgart 2007, 30.

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Einführung der Herausgeber

des Alten Testaments eine wichtige und in jüngerer Zeit vieldiskutierte Frage (Huber, Oeming). Das hat auch Bedeutung für den christlich-jüdischen Dialog. Zwei Beiträge widmen sich jüdischer Bibelauslegung und ihrem Verhältnis zur christlichen (Liss, Oeming). „Die Kirche hat die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst“ (DV 21). Die Bibel ist nicht nur das Fundament der Theologie, sie ist auch im Leben der Kirche von zentraler Bedeutung: In der Liturgie wird sie als Wort Gottes weitergegeben und in Übersetzungen allen zugänglich gemacht. Auch diese Aspekte finden in diesem Band ihren Niederschlag (Schenker, Hell, Franz).

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Das unvollendete Konzil Die bleibende Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils für die Katholische Kirche Jean-Claude Périsset, Apostolischer Nuntius in Deutschland

Im Rahmen des Symposions über die dogmatische Konstitution Dei Verbum des II. Vatikanischen Konzils mag der Titel meiner Darlegungen über „das unvollendete Konzil“, dem aber trotzdem eine „bleibende Bedeutung für die Katholische Kirche“ beigemessen wird, etwas erratisch erscheinen – wie ein Meteor am blauen Himmel ein wanderndes Licht kurz leuchten lässt, aber ohne eine bleibende Wirkung zu erzielen. Wir wissen wohl, dass das Wort Gottes, der menschgewordene Sohn, „derselbe ist, gestern, heute und in Ewigkeit“ (Hebr 13,8) und dass die Bedeutung der Verkündigung des Glaubens grundsätzlich über die Jahrhunderte dieselbe ist – und das gilt auch für die Theologie. Wie die Theologie als fides quaerens intellectum, so ist ein Konzil – wie das II. Vatikanum – ein Mittel, die Offenbarung besser zu verstehen, so dass die Kirche ihre Sendung zur Erlösung der Welt im Namen Jesu Christi mit Mitteln, die der jeweiligen Zeit angepasst sind, in je neuer Weise leisten und fortführen kann. Eine Bemerkung der Vertreterin der anglikanischen Gemeinschaft bei einem informellen Treffen von sechzehn großen christlichen Gemeinschaften im Jahre 1998, bei dem es darum ging, über mögliche neue Wege des ökumenischen Dialogs nachzudenken, hat mich die Bedeutung des II. Vatikanums für die Katholische Kirche als tatsächliches „aggiornamento“ verstehen lassen. Es war während des Abendessens, im Gespräch ging es um die Verantwortung der Kirchen für die Welt. Auf einmal sagte sie zu mir: „Sie Katholiken können Gott danken für das II. Vatikanische Konzil, das Ihnen ein unserer heutigen Gesellschaft angepasstes Mittel gibt, Ihre Mission zu erfüllen. Wir Anglikaner sind immer noch an unser ‚Prayerbook‘ gebunden.“ Sofort kam der Vertreter des Lutherischen Weltbundes und sagte: „Und wir an die Confessio Augustana“. So verstanden, ist das II. Vatikanum nicht nur ein Geschenk und eine Gnade, son-

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Jean-Claude Périsset, Apostolischer Nuntius in Deutschland

dern seine Kenntnis auch mit der Verantwortung verbunden, seine Äußerungen – Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen – uns anzueignen, damit wir einen besseren, vertieften Zugang zum Wort Gottes in der Bibel finden, so dass wir gut gerüstet sind, um – wie es im Ersten Petrusbrief heißt – „allezeit bereit (zu sein), jedem Rede und Antwort zu stehen, der euch nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt“ (1 Petr 3,15). 1. Die Kombination der Begriffe „unvollendetes Konzil“ und „bleibende Bedeutung“ entspricht dem Prinzip Ecclesia semper reformanda. Die Kirche ist etwas Lebendiges, weil sie „das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk“ ist (Lumen Gentium 4; vgl. Cyprian, De oratione dominica 23). Das heißt: Die Kirche verwirklicht sich als Kirche, wenn sie ihre Beziehungen zu Gott – von dem sie herkommt – und zwischen ihren Gliedern ständig mit Liebe vollzieht, weil eben „Gott Liebe ist“ (1 Joh 4,8.16). Liebe ist wie das Feuer, das so lange existiert, wie es sich hingibt. Wie die drei Personen in Gott ständig ihre Beziehungen vollziehen, so ist es mit der Kirche: Indem sie stets auf Gott ausgerichtet ist, bekommt sie von Gott her ihr Leben und gibt es ihren Gliedern in diesem admirabile commercium weiter und nimmt sie selber mit. 2. Einen zweiten Aspekt des „Unvollendeten“ und „Bleibenden“ sehe ich in dem Vergleich des II. Vatikanums mit dem Wachstum der Theologie in der Geschichte. Die Konzilien – nicht nur die 21 als „ökumenisch“ anerkannten – sind Momente der Vertiefung und der Annahme der gleichen Verkündigung. Das Wort Gottes in seiner ganzen Breite und Tiefe wird immer neu betrachtet, beleuchtet und gedeutet, so dass der Gläubige, das Volk Gottes, es immer besser verstehen, annehmen und verwirklichen kann. Ein großes Werk des spanischen Dominikaners Marin-Sola, La evolución homogénea del dógma católico, hat in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gezeigt, wie die Theologie selbst zugleich unvollendet und gleich ist. Die Nr. 24 der Konstitution Dei Verbum sagt dazu: „Die heilige Theologie ruht auf dem geschriebenen Wort Gottes, zusammen mit der Heiligen Überlieferung, wie auf einem bleibenden Fundament. In ihm gewinnt sie sichere Kraft und verjüngt sich ständig, wenn sie alle im Geheimnis Christi beschlossene Wahrheit im Licht des Glaubens durchforscht.“ Ist dieser Satz nicht eine vorzügliche Deutung des Bildwortes Jesu am Schluss der Gleichnisrede des Matthäusevangeliums, wo es heißt:

Das unvollendete Konzil

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„Jeder Schriftgelehrte also, der ein Jünger des Himmelreiches geworden ist, gleicht einem Hausherrn, der aus seinem reichen Vorrat Neues und Altes hervorholt“ (Mt 13,52)? Ja, nova et vetera aus dem einen und ständigen Schatz des Glaubens hervorzuholen, ist die Aufgabe der Theologie, das macht die Aufgabe des Lehramtes aus – und also den Dienst jedes Konzils, wie eben auch des II. Vatikanums. Auf dem Fundament der beiden Glaubensbekenntnisse von Nizäa (325) und Konstantinopel (381), in denen die Glaubenslehre der Kirche über die Dreifaltigkeit bekräftigt und vertieft wurde, hat das Konzil von Ephesus (431) die Einheit der Person des Gottessohnes in zwei Naturen bekräftigt – gegen die Theorie des Nestorius1 –, das Konzil von Chalkedon (451) hat die Auseinandersetzungen über die Beziehung zwischen den beiden Naturen in Christus – zu einem nicht geringen Teil ein Streit auf dem Hintergrund unterschiedlicher Terminologien – zu Ende gebracht2. 3. Das II. Vatikanische Konzil, das Papst Johannes XXIII. zum „aggiornamento“ der Kirche einberufen hat, wurde erst von Papst Paul VI. als „Pastoralkonzil“ bezeichnet – und zwar in der Generalaudienz am 15. Juli 1970. Als er über die falsche Verwendung der Konzilsdokumente sprach, sagte er, man solle sich damit beschäftigen, „ob das Erbe des Konzils nur etwas Bestehendes ist oder auch ein Entwicklungsprozess“, für den es dann notwendig sei, eine Lehraussage zu entwickeln und auszuprobieren in einer folgerichtigen Fruchtbarkeit. Wenn die Dokumente des II. Vatikanischen Konzils im Wesentlichen in diesem Sinne zu bewerten sind, kann man es als Pastoralkonzil bezeichnen, da es auf die Aktion, das Handeln ausgerichtet ist (vgl. Papst Paul VI., Generalaudienz am 15. Juli 1970). Bemerkenswert ist, dass Papst Johannes XXIII. bei der Ankündigung des II. Vatikanischen Konzils das Wort „aggiornamento“ nur einmal verwendet – und das nicht in Anwendung auf das Konzil, sondern auf den Kodex des Kanonischen Rechts, der vom Konzil her zu erneuern sei. Gleichermaßen wird des Zweite Vatikanum von Papst Paul VI. nur einmal als „Pastoralkonzil“ bezeichnet, während diese Formulierung in Ansprachen von Papst Johannes Paul II. mehrfach vorkommt. Interessant ist in dieser Beziehung seine AnVgl. H. R. Drobner, Lehrbuch der Patrologie, Frankfurt a.M. u. a. 32011, 429 – 437. 2 Vgl. ebd., 448 – 450. 1

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sprache an die Bischöfe der Vereinigten Staaten in Chicago am 5. Oktober 1979, in der er sagte: „Bei der Untersuchung der Zeichen der Zeit hat Johannes XXIII. bemerkt, dass das, was nötig war, ein Konzil war, das seiner Natur nach pastoral ist, ein Konzil, das die große Hirtenliebe und die Sorge Jesu Christi, des Guten Hirten, für sein Volk widerspiegelt“ (Chicago am 5. Oktober 1979). Mir scheint, diese Erklärung gibt uns eine qualifizierte Erklärung über den Terminus „Pastoralkonzil“, der leider in vielen Ansprachen über das Zweite Vatikanum „la torte à la crème“, das „Sahnehäubchen“, geworden ist, ohne dass seine ursprüngliche Bedeutung betont oder mindestens erwähnt wird. Wie Papst Paul VI. sagte, ist der Terminus „pastoral“ dem Terminus „dogmatisch“ nicht entgegengesetzt, vielmehr ist er ein geeignetes Mittel, die Lehre der Kirche in das Leben zu überführen. Deshalb wurde schon bei Papst Johannes XXIII. das Wort „aggiornamento“ besonders – und sogar ausschließlich – mit Blick auf den Kodex des Kanonischen Rechts angewandt, weil die Gesetze viele Normen für das Handeln enthalten, so dass die Reihenfolge gilt: Glaube – Dogmatik – Recht – Seelsorge. Das Recht ist also die vorletzte Stufe des Handelns der Kirche, als Werk des Guten Hirten.

Das „fortwährende“ Zweite Vatikanum Da das Zweite Vatikanische Konzil seinem Hauptmerkmal nach „pastoral“ ist, gehört zu seinem Erbe – wie in der schon erwähnten Ansprache von Papst Paul VI. ausdrücklich formuliert – die Verantwortung, „seine Lehraussage zu entwickeln und auszuprobieren in einer folgerichtigen Fruchtbarkeit“ (Generalaudienz, 15. Juli 1970). Wir denken heute an zwei Hauptwerke im Dienst der Kirche, den Kodex des Kanonischen Rechts (1983) und den Katechismus der Katholischen Kirche (1992), die beide als „letzte Dokumente des Zweiten Vatikanums“ bezeichnet wurden – der Kodex sogar durch Papst Johannes Paul II. in einer Ansprache vor der Rota Romana (26. Januar 1984) wie auch in dem Apostolischen Schreiben Redemptionis donum (Nr. 2) vom 25. März 1984. Die Apostolischen Konstitutionen zu beiden Werken beweisen hinreichend, wie sie als Früchte des Zweiten Vatikanischen Konzils entstanden sind.

Das unvollendete Konzil

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Diese „postkonziliaren“ Gipfelpunkte sollen uns aber nicht vergessen lassen, wie die Kirche in Treue zum Konzil sich wirklich erneuert hat in den drei Bereichen ihrer Sendung: im Lehramt, im liturgischen Amt und im Dienstamt. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass diese drei Bereiche eng miteinander verbunden sind. Ich möchte aber in jedem Bereich einige Hauptelemente unterstreichen, um die „bleibende Bedeutung des Zweiten Vatikanums“ festzustellen. 1. Im Dienstamt sehe ich die Hauptkraft für die Verwirklichung der Richtlinien des Konzils, in der Rechtsprechung das Motu Proprio Ecclesiae suae (6. August 1966), das ausdrücklich neue Normen für die Seelsorge in den Diözesen enthält, deren Quellen die Dekrete Christus Dominus und Presbyterorum ordinis sind. Für das Ordensleben ist es das Dekret Perfectae caritatis, für die Evangelisierung das Dekret Ad gentes. Die Bischofssynode, die durch Papst Paul VI. durch das Apostolische Schreiben Apostolica sollicitudo vom 15. September 1965, d. h. vor der Schlusssitzung des Zweiten Vatikanums, errichtet wurde, ist ein Werkzeug der wiederbelebten Kollegialität der Bischöfe, weil der Papst als Oberhirte der Universalkirche zu der Entscheidung gekommen ist, „einen besonderen Rat der geistlichen Oberhirten für dauernd zu errichten, und zwar in der Absicht, dass auch nach Abschluss des Konzils dem christlichen Volk weiterhin jene Fülle an Wohltat und Segen zuströme, die zur Konzilszeit aus unserer engen Verbindung mit den Bischöfen glücklich erfahren wurde.“ Kann man etwas Besseres als die Bischofssynode erfinden, um „die bleibende Bedeutung des Zweiten Vatikanums für die Katholische Kirche“, wie es bei Papst Paul VI. erläutert wird, zu unterstreichen? Die Bischofssynode hat gerade ihre 13. Ordentliche Generalversammlung gehabt (7.–26. Oktober 2012) und die „Neuevangelisierung für die Weitergabe des christlichen Glaubens“ behandelt. Es folgt dann nach einigen Monaten das Nachsynodale Apostolische Schreiben, in dem der Papst die Hauptbeiträge der Synodenväter verarbeitet. Die Entwicklung der Synode in ihrer Arbeit und Gestaltung entspricht dem Grundsatz Ecclesia semper reformanda. 2. Im Lehramt haben wir immer mehr Dokumente zur Verfügung, die mit der Verantwortung des Papstes und der Bischöfe zu tun haben, in der Nachfolge der Apostel „Zeugen“ Christi (vgl. Apg

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Jean-Claude Périsset, Apostolischer Nuntius in Deutschland

1,8) zu sein, um „alle Völker zu Jüngern“ zu machen, alles zu halten, was er ihnen aufgetragen hat (vgl. Mt 28,20). Nicht nur Enzykliken und Erklärungen von Bischofskonferenzen beleuchten heute die Lehre Christi in den vielfältigen Bereichen des menschlichen Lebens. Wir können darüber hinaus in den meisten Lehraussagen feststellen, wie immer öfter und grundsätzlich nicht nur Zitate, sondern auch Elemente der Dokumente des Zweiten Vatikanums gebraucht werden. Das Jubiläum des Konzils mit so vielen Veranstaltungen – wie der unsrigen – ist ein vortreffliches Mittel und ein auserwähltes Zeugnis dafür, dass das Zweite Vatikanische Konzil eine bleibende Bedeutung hat, nicht in sich geschlossen, sondern offen für neue Bereiche und neue Herausforderungen. 3. Im liturgischen Amt brauche ich nicht in die Einzelheiten zu gehen. Es genügt, ein Erlebnis an der Päpstlichen Akademie, an der ich damals studierte, zu erwähnen, das mit der Liturgie zu tun hat. Im Rahmen einer Reihe von Besuchen aus den römischen Dikasterien, die uns „Lehrlinge der päpstlichen Diplomatie“ mit den Geheimnissen und der Verantwortung der römischen Kurie vertraut machen sollten, war die Haupttriebfeder der Liturgiereform, Erzbischof Annibale Bugnini, der in jener Zeit Sekretär der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung war, bei uns zu Gast. Er hatte betont, die Liturgiereform sei heutzutage nötig, weil die Kirche lebendig sei und ihre Mission – auch die sakramentale – nach den Bedürfnissen des Gottesvolkes ausüben solle. Mehrmals verwendete er die Formel: „Die Liturgie, besonders die Messfeier, ist kein Museum, sondern etwas Lebendiges.“ Ein Kommilitone sagte bei dem folgenden Gespräch – sicher im Scherz und zugleich voll von gesunder Weisheit –, um seine Schlussfolgerung durch einen so bedeutenden Promotor bestätigen zu lassen: „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sehr verehrte Exzellenz, ist die Liturgie kein Museum.“ – „Ja richtig, gerade so“, entgegnete Erzbischof Bugnini. Und mein Kommilitone fuhr fort: „Ja, es scheint mir aber, dass die Reform die Liturgie zu einer Bibliothek umgewandelt hat.“ Und das erweckte fröhlichen Beifall. Wenn man also von vor- oder nachkonziliarer Haltung, Einrichtung oder Lehre usw. spricht, sollte man darauf achten, ob wir die Kirche als etwas Lebendiges vor Augen haben, also als ecclesia reformanda, die mit der Welt wächst, als ein immer vollständigeres Werk Gottes, als immer schönere Braut des Lammes, als das vollkom-

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Das unvollendete Konzil

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menste Werk des Heiligen Geistes (vgl. Offb 21,9 –27; Gaudium et spes, Nr. 39). Dazu dient die Konzilskonstitution Dei Verbum, die uns wie ein Navigator in der Kirche und durch die Kirche den Weg Gottes auf Erden zeigt. Der Schatz der Offenbarung soll die Herzen der Menschen mehr und voller erfüllen. Für das geistliche Leben darf man neuen Antrieb erhoffen aus der gesteigerten Verehrung des Wortes Gottes, welches „bleibt in Ewigkeit“ (Jes 40,8; vgl. 1 Petr 1,23 –25, Dei Verbum, Nr. 26). Für uns alle ist es ein Schatz, aus dem wir Neues und Altes hervorholen (vgl. Mt 13,51).

Die Heilige Schrift als Zeugnis der Offenbarung

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Dei Verbum – Gottes Wort – eine Botschaft des Heils für die ganze Welt Erste Einführung in die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung des Zweiten Vatikanischen Konzils Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz

1. Ein Blick zurück nach vorn Die Texte des Konzils sind recht verschieden, in ihrer Verbindlichkeit, in ihrer Begrifflichkeit, in ihrem sprachlichen Stil und in ihrer literarischen Gattung. Sie kommen auch manchmal einfach, ja einfältig daher und sind zugleich vielschichtig. Sie sind damit auch in mancher Hinsicht offen für unbewusste, manchmal auch schlitzohrige Deutungen. Sie sind gelegentlich auch Kompromisse, auf jeden Fall tragen sie Konsenscharakter, das besondere Proprium gerade von Konzilstexten. Dies gilt in mancher Hinsicht auch für den Text, den wir uns jetzt vorgenommen haben, nämlich die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung, nach den Anfangsworten Dei Verbum genannt. Mit der Liturgiekonstitution, der Dogmatischen Konstitution über die Kirche (Lumen gentium) und der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes) gehört die Offenbarungskonstitution, wie wir sie auch abgekürzt nennen, zu den vier Säulen, die die insgesamt 16 Verlautbarungen des Konzils stützen und tragen. Man sieht es gut auf der Briefmarke der Bundespost zum Konzilsjubiläum, wo diese vier Konstitutionen – die anderen Texte sind „Dekrete“ und „Erklärungen“ – wie in einem Kreuz das Hauptgerüst für alle anderen Aussagen bilden. Dennoch hat es Dei Verbum immer noch schwer, obgleich der Text eine so wichtige Aufgabe stellt: In ihm besinnt sich die Kirche neu darauf, dass sie aus dem Wort Gottes stammt und lebt; deshalb findet der Konzilstext auch neue Worte über die Heilige Schrift, die der Kirche als Wort Gottes bleibend anvertraut ist.1 1

Ich verzichte in diesem Beitrag auf umfangreiche Nachweise. Eine gewisse Ausnahme bildet Abschnitt IV. des Beitrags. Ich verweise dafür auf drei größere

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Karl Kardinal Lehmann

Dei Verbum hat eine lange, die ganze Dauer des Konzils von der Vorbereitungszeit bis in die letzten Wochen vor dem Abschluss sich durchziehende Geschichte. Diese beginnt bald nach dem Start des Konzils am 14. November 1962 und endet am 18. November 1965, also wenige Wochen vor dem Abschluss des Konzils am 8. Dezember 1965. Die lange Zeit des Beratens und des Sichverständigens mit vielen Abänderungsvorschlägen in fünf Fassungen ging schließlich mit einem herausragend guten Abstimmungsergebnis zu Ende: 2.344 Ja-Stimmen gegen 6 Nein-Stimmen ohne Enthaltungen. Angesichts des zum Teil heftigen Streits ist es wirklich ein erstaunlicher Beleg dafür, wie fruchtbar das gemeinsame Ringen um einen einheitlichen Text war und wie sehr sich vor allem namhafte Theologen mit vielen Bischöfen am Zustandekommen einer gemeinsamen Aussage abgemüht haben. Wie kam es überhaupt zu diesem Text? Gewöhnlich werden drei Motive dafür genannt: 1) Schon seit dem 19. Jahrhundert hat man immer wieder um das Verständnis von Tradition/Überlieferung gerungen, die neben

Beiträge von mir: Schrift – Überlieferung – Kirche, in: Communio 34 (2005) 559 –571; Norma normans non normata? Bibel im Begründungszusammenhang von Theologie und Lehramt, in: F.-J. Ortkemper/F. Schuller (Hrsg.), Berufen, das Wort Gottes zu verkündigen: Die Botschaft der Bibel im Leben und in der Sendung der Kirche, Stuttgart 2008, 34 – 47; Von der Schriftwerdung des Wortes Gottes. Besinnung rund um das Wort Tradition, in: W. Eisele/Chr. Schaefer/H.U. Weidemann (Hrsg.), Aneignung durch Transformation. Festschrift für M. Theobald (Herders Biblische Studien 74), Freiburg i. Br. 2013, 509 –523. Aus der neueren Literatur ist nachzutragen: J.-H. Tück (Hrsg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg i. Br. 2012, Teil IV: Offenbarung, Schrift und Tradition, 423 – 490 (Beiträge von T. Söding, L. Schwienhorst-Schönberger, R. Kühschelm, J. Reikerstorfer); T. Hieke, Dei Verbum und biblische Auslegung, in: D. Ansorge (Hrsg.), Das Zweite Vatikanische Konzil, Münster 2013, 52–75, vgl. auch A. Wucherpfennig SJ, in: ebd., 76 –102 (Lit.); H.J. Pottmeyer, Die Dogmatische Konstitution Dei Verbum über die göttliche Offenbarung, in: A. U. Müller, Aggiornamento in Münster, Münster 2014, 74 – 90; R. Miggelbrink, 50 Jahre nach dem Konzil, Paderborn 2012. Generell zum Konzil vgl. Ph. J. Roy (Hrsg.), Bibliographie du Concile Vatican II = Atti e documenti del Pontificio Comitato di scienze storiche 34, Città del Vaticano 2012; M. Quisinsky/P. Walter (Hrsg.), Personenlexikon zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Freiburg i. Br. 2012. Zum Text von DV vgl. die Sammlung der Textfassungen mit den Relationes, den Reden und Modi der Konzilsväter von F. Gil Hellín (Hrsg.), Constitutio Dogmatica De Divina Revelatione Dei Verbum = Pontificium Athenaeum Romanum Sanctae Crucis, Città del Vaticano 1993.

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der Hl. Schrift als Quelle der Offenbarung genannt wurde. Von evangelischer Seite wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die Schrift allein („sola scriptura“) alles zum Heil Notwendige sagt. So war es erforderlich, dass man das Verhältnis zwischen der auch auf katholischer Seite immer stärker geschätzten Heiligen Schrift und einer lebendigen Überlieferung, die zur Kirche gehört, genauer bedenkt. Es gab damals einen heftigen Streit zwischen der sogenannten „konservativen Gruppe“ und den stärker gewordenen „Progressiven“ um die These des Tübinger Theologen J. R. Geiselmann über das Verhältnis der Hl. Schrift zur Tradition, besonders im Blick auf die Auslegung des Konzils von Trient. Dies kann uns aber hier im Einzelnen weniger beschäftigen.2 2) Die sogenannte historisch-kritische Methode hatte in der Auslegung der Hl. Schrift immer mehr eine führende Rolle gespielt, aber eben durch die damit gegebene Spannung zur kirchlichen Überlieferung zu vielen Zerwürfnissen geführt. Dies gilt bis in das Konzil hinein, als zwei namhafte Professoren der Exegese im Päpstlichen Bibelinstitut in Rom ein Lehrverbot erhielten, was zu erheblichen Konflikten führte: P. St. Lyonnet SJ und P. Max Zerwick SJ; beide waren meine Lehrer. Niemand konnte im Ernst hilfreiche Ergebnisse der wissenschaftlichen Exegese leugnen, aber niemand konnte auch die manchmal gewiss ungewollt zerstörerischen, aber eben doch schädlichen Wirkungen einer manchmal auch oberflächlichen „Kritik“ übersehen. Diese Maßnahme war gegenüber diesen Exegeten absolut unbegreiflich und sollte sich auch als Bumerang erweisen (vgl. die Erinnerungen von Prof. P. N. Lohfink SJ, die er auch während der Mainzer Tagung wachrief, vgl. oben S. 9f.).3 2

Vgl. zur Geschichte und Systematik die Studien von W. Kasper, Die Lehre von der Tradition in der Römischen Schule = Gesammelte Schriften 1, Freiburg i. Br. 2011, bes. 13 –19, vgl. auch ders., Gesammelte Schriften 14, Freiburg i. Br. 2012, 38ff., 173ff., 254ff., 261, 281f., 334, 502, 508, 550. 3 Vgl. dazu N. Lohfink, Die Wahrheit der Bibel und die Geschichtlichkeit der Evangelien. Erste Randglossen zur Dogmatischen Konstitution Dei Verbum (Über die göttliche Offenbarung) – verkündet am 18. November 1965, in: Orientierung 29 (1965) 254 –256; ders., Über die Irrtumslosigkeit und die Einheit der Schrift, in: StZ 174 (1964) 161–181 = ders., Studien zur biblischen Theologie (Stuttgarter biblische Aufsatzbände 16), Stuttgart 1993, 13 –39; ders., Katholische Bibelwissenschaft und historisch-kritische Methode, Kevelaer 1966; ders., Der weiße Fleck in Dei Verbum Artikel 12 (1992), in: ders., Studien (s.o.), 78 – 96.

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3) Im Lauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die praktische Bibelbewegung auch in der katholischen Christenheit erstarkt und hat eine vertiefte und auch breite positive Grundeinstellung zur Heiligen Schrift geschaffen. So wie die Liturgie Ergebnisse der Liturgischen Bewegung aufnehmen konnte, hat das Konzil in Dei Verbum auf viele Früchte der Bibelbewegung zurückgreifen können. Man konnte so vieles als spirituell reife Frucht, ähnlich wie beim Gottesdienst, aufgreifen. Man kann sich leicht vorstellen, dass gerade die beiden zuerst genannten Probleme eine schwierige Ausgangslage geschaffen haben. Zwei Grundpositionen standen sich zunächst sehr unversöhnlich gegenüber. Die klassisch gewordene, aber eben „nur“ neuscholastische Theologie, die vor allem von der römischen Glaubenskongregation unter Kardinal Ottaviani mächtig vertreten wurde, wollte vor allem die auf die Hl. Schrift und die Tradition gebaute „Lehre“ der Kirche stützen. Man ging von einer streng und eng ausgelegten „Historizität“ der Evangelien aus und glaubte, diese durch die Hervorhebung des göttlichen Ursprungs (Inspiration), der Irrtumslosigkeit und der Vollmacht der kirchlichen Auslegung sichern zu können. Man ging dabei auch davon aus, dass die Tradition inhaltlich einen größeren Umfang habe als die Hl. Schrift. Man glaubte also an einen inhaltlichen Überhang der Überlieferung über die Hl. Schrift hinaus. Inzwischen aber hatten sich die Überzeugung vom Rang der Hl. Schrift als erste Instanz gegenüber der Tradition („materiale Suffizienz“) und die Gewissheit der Fruchtbarkeit der wissenschaftlichen Schriftauslegung der Moderne durchgesetzt. Im Gegensatz zu anderen Themen des Konzils, die auch Sprengstoff enthielten, wie z. B. die Liturgie oder die ökumenischen Anliegen, waren aber diese Probleme noch nicht in einem vergleichbaren Reifezustand, sodass die Diskussion mitten in einen unruhigen, noch gar nicht ausreichend geklärten theologischen Gärungsprozess hineingeriet und sich manchmal beinahe darin zu verstricken drohte.

2. Ein schwieriges Thema während des ganzen Konzils So erklärt es sich freilich auch, dass die Beratung dieses Themas über Jahre zu den heftigsten Auseinandersetzungen im Konzil führte. Dies begann schon bald nach Beginn, als ein Textentwurf der Vor-

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bereitungskommission „Über die Quellen der Offenbarung“ vorgelegt wurde, der auf heftigen Widerstand vor allem der mitteleuropäischen Bischöfe und Theologen stieß. Viele Bischöfe, darunter auch der greise Kölner Kardinal Josef Frings, beraten von dem jungen Theologen Joseph Ratzinger (damals Professor in Bonn)4, erklärten, dass ihnen dieses Schema – so nennt man einen vorläufigen Textentwurf – nicht zusage. Eine Abstimmung ergab eine starke, aber verfahrensrechtlich ungenügende Mehrheit gegen eine Fortsetzung der heftigen Debatte. Papst Johannes XXIII. entschied sehr mutig am 20. November 1962, dass der vorgelegte Text abgesetzt werde und ein neuer Entwurf durch eine „Gemischte Kommission“ erstellt werden müsse, die unter der gemeinsamen Leitung von Kardinal Alfredo Ottaviani und Kardinal Augustin Bea stand. Damit war der Weg frei für eine neue Erarbeitung, die freilich etwas holperig und mühsam fortgesetzt wurde. Zugleich sahen viele in der keineswegs absehbaren Entscheidung von Johannes XXIII. so etwas wie einen Wendepunkt im ganzen Konzilsgeschehen, indem der Papst ein mehr von konservativer Seite angefertigtes Schema absetzte und so in der Folge die „progressiven“ Kräfte stärker in das Konzilsgeschehen einband, zugleich aber eine enge Kooperation der entgegengesetzten Kräfte erwartete und ermöglichte. Das Vorhaben geriet jedoch nochmals in eine tiefe Krise. Der neue Text, der im Frühjahr 1963 zur Beratung freigegeben wurde, erschien vielen doch zu dürftig und zu karg. Er machte auch den Eindruck, dass man vor den großen Problemen eher resigniere. Ausgerechnet im Blick auf die Hl. Schrift, bei der das Herz gerade auch der katholischen Christen hätte spürbar brennen müssen, entstand eher der Eindruck von Verlegenheit und geradezu Ohnmacht. So meinten viele, man solle die ganze Sache einschlafen lassen oder eine kurze Aussage in den umfassenderen Kontext der Konstitution über die Kirche einfügen. Nun war man jedoch sehr überrascht, als Paul VI. – er war am 21. Juni 1963 als Nachfolger des am 3. Juni verstorbenen Papstes Johannes XXIII. gewählt worden – in seiner Schlussrede zur Zweiten Sitzungsperiode des Konzils am 4. Dezember 1963 erklärte, das Vorhaben über die Offenbarung gehöre zu den 4

Vgl. dazu M. Schlögl, Am Anfang eines großen Weges. Joseph Ratzinger in Bonn und Köln = Monographische Beiträge zu den Mitteilungen, Institut Papst Benedikt XVI., Regensburg 2014.

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bleibenden Aufgaben der folgenden Dritten Sitzungsperiode. So nahm die Theologische Kommission ihre Arbeit am Text wieder auf. Immer ging es um das Hauptproblem, ob die Hl. Schrift materiell vollständig sei oder ob es ein materiales Plus der Tradition über die Schrift hinaus gebe. Wie hitzig und scharf die Auseinandersetzungen waren, kann man leicht daran erkennen, dass auch die Theologische Kommission bei aller in vielem durchaus gegebenen Gemeinsamkeit im Blick auf den erarbeiteten Text an dieser Frage nicht weiterkam und deshalb zwei verschiedene, ja entgegengesetzte Berichte von deutschen Theologen (Karl Rahner, Heribert Schauf) zuließ. Ein kluger Berichterstatter der Mehrheitsseite, der zwar eher zur „konservativen“ Gruppe zählte, aber als Exeget Verständnis für die andere Seite aufbrachte, nämlich Erzbischof Ermenegildo Florit von Florenz, machte schließlich den Vorschlag, man solle auf eine positive Bestimmung des Verhältnisses von Schrift und Überlieferung hinsichtlich ihres materialen Umfangs verzichten. Die kirchliche Lehre würde dadurch nicht gefährdet. Beide Meinungen könnten um des Friedens und um der weiteren Forschungstätigkeit der Theologen willen nebeneinander existieren. Papst Benedikt XVI. sieht in dieser Rede von Erzbischof Florit, die dieser am 30. September 1964 dem Plenum vorgetragen hat, eines der „wichtigsten Ereignisse des Konzils“. „Ihr fundierter theologischer Gehalt, ihre durchsichtige und klare Gedankenführung, das Aufgreifen aller umgehenden Bedenken verfehlte nicht, den gebührenden Eindruck auf die Väter hervorzurufen.“5 Die Präsentation des Textes durch einen Repräsentanten der römisch-theologischen Tradition – und dies war Erzbischof Florit – wurde eine entscheidende Hilfe, um die Zögernden und Unsicheren unter den Konzilsvätern zu beruhigen. Florit war aber auch ein „Konservativer“, der sich durch das Konzilsereignis verändern ließ. Der weitere Beratungsgang musste noch einige Hürden nehmen („Irrtumslosigkeit“ der Hl. Schrift, Historizität der Evangelien), konnte aber dann auch nach Vermittlungsvorschlägen von Papst Paul VI. zu einem guten Abschluss kommen. Ein wichtiges Stück 5

J. Ratzinger, Zur Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils = Gesammelte Schriften, Bände 7/1–2, Freiburg i. Br. 2012, zu Florit: Band 7/2, bes. 715, 718, 725f., 728, 836, 839. Vgl. F. G. Hellín, Constitutio (s. Anm. 1), 6, 11, 37, 247, 454, 484, 703.

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Konzilsgeschichte hatte damit ein ausgeglichenes Ende gefunden. Der Text verbindet die Treue zur kirchlichen Überlieferung mit einem Ja zur historisch-kritischen Methode der modernen Schriftauslegung. Gewiss gibt es im Text da und dort einige missverständliche Äußerungen und weniger geglückte Formulierungen, die auch stehen geblieben sind. Dies kann aber nicht verhindern, dass sehr viele Kommentatoren Dei Verbum als den vielleicht wichtigsten und besten der Konzilstexte ansehen. „Noch nie hat ein Konzil oder überhaupt das höchste Lehramt der katholischen Kirche so intensiv und so ausführlich über das Wort Gottes und über die Hl. Schrift gesprochen. Die Konstitution lässt die Forschungsfreiheit der Exegeten bestehen und erkennt die Legitimität ihrer wissenschaftlichen Methoden an. Sie greift nicht verurteilend in die innerkatholischen Kontroversen ein. Sie unterbindet den ökumenischen Dialog über Schrift und Tradition nicht. Und das ist weitaus mehr, als im November 1962 zu erhoffen war. Darüber hinaus entwirft sie ein Programm für das christliche Leben und für die Theologie, das auszuführen nicht wenig Mühe und Arbeit kosten wird.“6 Dieser Überblick zeigt, wie mühselig das Ringen auch auf einem Konzil sein kann, wie unablässig Probleme auch zwischen den Vertretern des bischöflichen Lehramtes der Kirche (nicht nur der Theologen!) diskutiert und ausgetragen werden müssen, wie geduldig die mühsame Arbeit der Theologen sein kann und wie man auf Wegen, die nicht von vornherein absehbar waren, doch zu einem guten Ergebnis gelangen kann.

3. Das Offenbarungsverständnis als Grundlegung Davon muss jetzt noch die Rede sein. Der gesamte Text ist ja im Vergleich zu seiner Bedeutung und angesichts der Tatsache, dass es eine Dogmatische Konstitution ist, verhältnismäßig knapp, dafür aber sehr dicht. In der offiziellen lateinischen Ausgabe sind es 33 Druckseiten. Der reine Beschlusstext hat sogar nur 24 Seiten. Am Anfang steht ein kurzes „Vorwort“, auf das wir noch eingehen werden. Der Text ist in sechs Hauptabschnitte gegliedert. Das erste Kapitel klärt 6

K. Rahner/H. Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Freiburg i. Br. [1. Aufl. 1966], 361.

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das Offenbarungsverständnis. Das zweite Kapitel handelt über die Weitergabe der Offenbarung in Schrift und Überlieferung. Daraufhin wird im dritten Kapitel die Hl. Schrift mit ihren wichtigsten Kennzeichen erläutert. Es folgen im vierten und fünften Kapitel jeweils eigene Ausführungen über das Alte und das Neue Testament. Das abschließende sechste Kapitel fasst die „Heilige Schrift im Leben der Kirche“ zusammen. Der gesamte Text enthält 26 Artikel. Im Übrigen hat Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. bald nach Konzilsende einen sehr umfangreichen Kommentar zu Dei Verbum verfasst, dem man auch heute noch höchste Qualität bescheinigen darf. Er hat sich aber auch sonst in seinem gesamten Leben und Wirken immer wieder mit besonderer Intensität, ja Leidenschaftlichkeit diesem Thema gewidmet.7 Es gibt freilich noch viele andere wertvolle Hilfen zum Verständnis von Dei Verbum (vgl. die Kommentare von O. Semmelroth, M. Zerwick, A. Bea, H. de Lubac, E. Stakemeier, H. Hoping, R. Schutz/M. Thurian usw.). Es ist gewiss nicht möglich, im Rahmen dieses Beitrags den ganzen Inhalt der Verlautbarung über das Wort Gottes darzulegen und zu interpretieren. Man darf aber diesen Text, der oft selbstverständlich und einfach erscheint, nicht unterschätzen. Gerade deshalb bedarf er einer strengen und tieferen Deutung. Vielleicht ist Dei Verbum auch deshalb weniger bekannt und geschätzt, weil man die Voraussetzungen, die ich bewusst ausführlicher skizziert habe, weniger kennt und darum viele Formulierungen für selbstverständlich, harmlos und belanglos hält. Wir wählen für die Interpretation vor allem die Artikel 2– 6 in Kapitel 1. Alles richtet sich zunächst auf das Verständnis von Offenbarung. Gewöhnlich ging man in der Theologie von der Meinung aus, Schrift und Überlieferung seien die „Quellen“ der Offenbarung. So hieß ja auch noch das dem Konzil vorgelegte Schema.8 Jetzt heißt der Text „Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung“. Das erste Kapitel ist ineins mit dem „Vorwort“ (Prooemium) der Be7

Vgl. J. Ratzinger, Mein Leben, Stuttgart 1998, 84. Vgl. nun mit den bekannten Texten und bisher unveröffentlichten Zeugnissen: Ders., Zur Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils I–II, 157ff., 177ff., 239ff., 311ff., 335ff., 473ff., 622ff., 715ff., 1154ff. 8 Schema constitutionis dogmaticae De Fontibus Revelationis, in: F. G. Hellín, Constitutio (s. Anm. 1), 181ff.

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stimmung des Offenbarungsverständnisses gewidmet. Darum geht es uns nun. Das Wort Offenbarung bezeichnet den Akt, das Geschehen, in dem Gott selbst spricht und sich selbst enthüllt. Es ist die einzige Quelle, aus der die beiden Rinnsale („rivuli“) Schrift und Tradition hervorfließen. Dies heißt aber, dass Offenbarung immer größer ist als das, was bloß geschrieben ist. Die Offenbarung liegt also der Schrift voraus und schlägt sich in ihr nieder. Sie ist aber nicht einfach mit ihr identisch. So kann es nach katholischem Verständnis kein „sola scriptura“ geben, auch wenn man der Überzeugung ist, dass die Schrift alles zum Heil Notwendige in sich birgt („sufficientia materialis“). Schrift und Überlieferung sind für uns gewiss die Quellen zur Erkenntnis der Offenbarung. Aber sie sind nicht an sich die Quelle der Offenbarung. Die Offenbarung ist also – man kann es nicht oft genug sagen – die Quelle von Schrift und Überlieferung. Wir formulieren in der Moderne, in der wir vor allem durch ein bestimmtes Geschichtsbewusstsein hindurchgegangen sind, nämlich den Historismus, vom menschlichen Subjekt, also von der Erkenntnisordnung her. Aber dies ist „nur“ unser heutiger Zugang zur Wirklichkeit, nicht die Ordnung der Wirklichkeit selbst. Sonst verkehren wir den Offenbarungsbegriff. „Offenbarung ist nicht eine den Größen Schrift und Überlieferung nachgeordnete Sache, sondern sie ist das Sprechen und Handeln Gottes selbst, das allen geschichtlichen Fassungen dieses Sprechens vorausliegt, sie ist die eine Quelle, die Schrift und Überlieferung speist.“9 Zum Kontext dieser grundlegenden Bestimmung gehört noch eine weitere Einsicht. Zu dieser „Offenbarung“ gehört nämlich immer jemand, dem die Offenbarung, das Sichenthüllen Gottes, zuteilwird. Zur Offenbarung gehört also immer ein empfangendes Subjekt. Zur Schrift gehört in dieser Folge immer schon das verstehende Subjekt, und dies ist zuerst die Kirche. Damit ist auch schon im Kern der grundlegende Sinn des Wortes Tradition/Überlieferung gegeben. So darf der Offenbarungsbegriff nicht verkürzt werden durch die Fixierung auf die Frage nach den Quellen. Zur Offenbarung gehören immer schon empfangende Ohren und ein hörendes Herz. Sosehr gewiss auch der Einzelne beim Hören und Lesen der Hl. Schrift damit gemeint ist, so ist jedoch zuvor die Kirche an

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J. Ratzinger, Theologisches ABC, Freiburg i. Br. 2012, 168.

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erster Stelle die Empfangende und Hörende. Es gibt also immer schon einen engen Zusammenhang von Offenbarung – Schrift – Kirche. Die Zusammengehörigkeit rückt alle zwar in eine größere Nähe zusammen, vermischt sie aber nicht. Es bleibt immer ein Raum des ursprünglichen Hörens, ja – genau genommen – des ursprünglichen Gehorsams zwischen Offenbarung, Schrift und Kirche. Von diesem Zusammenhang her bekommt das Wort Offenbarung einen anderen Klang. Es ist nicht mehr einfach identisch mit einer Doktrin, einzelnen Sätzen und Normen. In diesem Sinne drückt das „Vorwort“ (Art. 1) sehr gut den ganzen Sinn von Dei Verbum aus. Ich führe deshalb bewusst den vollen Text an: „Gottes Wort voll Ehrfurcht hörend und voll Zuversicht verkündigend, folgt die Heilige Synode den Worten des heiligen Johannes: ‚Wir künden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschien. Was wir gesehen und gehört haben, künden wir euch, damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns und unsere Gemeinschaft Gemeinschaft sei, mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus’ (1 Joh 1,2–3). Darum will die Synode in Nachfolge des Trienter und des Ersten Vatikanischen Konzils die echte Lehre über die göttliche Offenbarung und deren Weitergabe vorlegen, damit die ganze Welt im Hören auf die Botschaft des Heiles glaubt, im Glauben hofft und in der Hoffnung liebt.“ Hier ist, stellvertretend für die ganze Hl. Schrift, der Anfang aus dem ersten Johannesbrief entnommen, der Grundworte der Offenbarung enthält: „Leben aus Gott, Gemeinschaft mit dem dreifaltigen Gott und der Menschen untereinander.“ Zugleich ist als ein wichtiges Exempel der Tradition ein Wort des hl. Augustinus aus seinem „Büchlein vom ersten katechetischen Unterricht“ (De catechizandis rudibus) angeführt, das die Wichtigkeit aller Offenbarung und ihrer Weitergabe erwähnt mit dem Ziel, „damit die ganze Welt im Hören auf die Botschaft des Heiles glaubt, im Glauben hofft und in der Hoffnung liebt“. Damit ist in diesem „Vorwort“ auch deutlich gesagt, dass das Konzil die Kirche unter das Programm des Hörens auf das Wort Gottes stellt. Die Kirche ist die Gemeinschaft derer, die das Wort Gottes hören und es tun. Durch den Hinweis auf die Konzilien von Trient und das Vaticanum I sowie die Anführung des hl. Augustinus soll eine Verklammerung zwischen den Aussagen der Schrift und der Tradition der

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Kirche erfolgen. Hier ist bei aller Verschiedenheit und bei aller Hervorhebung neuer Elemente kein Bruch mit der Tradition vollzogen, sondern es ist – dies allerdings mit gleicher Bedeutung – eine wirkliche Ergänzung und authentische Weiterführung am Werk. Es geht also nicht um eine bloße Wiederholung dieser Konzilien, sondern um ihre sachliche Ergänzung und Fortführung, ja wohl auch Vertiefung, gewiss auch eine reformbereite Umkehr zu den Ursprüngen. Man spürt im ganzen ersten Kapitel, das sich besonders der Lektüre empfiehlt, wie ein neues Sprechen über die Offenbarung möglich ist. „In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott … aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde und verkehrt mit ihnen …, um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen.“ (Art. 2) Die Offenbarung kommt aus der Güte und Weisheit Gottes und erschließt wirklich sein eigenes Leben, das dem Menschen mitgeteilt wird. In diesen Sätzen wie auch im ganzen Dokument wird ein wirklich dialogisches Verständnis der Offenbarung deutlich, was leicht auch aus den verschiedenen Worten der „Zuwendung“, der „Rede“, des „Verkehrs“, der „Einladung“ usw. erkennbar wird. Man spürt sehr deutlich, dass man hier aus der Theologie der vergangenen Jahrzehnte Anstöße aufnimmt, die wenigstens in allgemeinen Grundzügen dem personalistischen, dialogischen Denken der großen jüdischen Philosophen des vergangenen Jahrhunderts entlehnt sind, wie z. B. Martin Buber, Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner usw. Man spürt aber auch, wie die Begegnung mit dem epochemachenden protestantischen Theologen Karl Barth die Rede von der Offenbarung geprägt hat. Im Übrigen ist nicht zu verkennen, wie sehr die dreifaltige Struktur des christlichen Gottes bewahrt wird. Schließlich wird gerade am Ende des Artikels 2 eine andere wichtige Errungenschaft offenkundig, wenn es dort heißt: „Das Offenbarungsgeschehen ereignet sich in Tat und Wort, die innerlich miteinander verknüpft sind: Die Werke nämlich, die Gott im Verlauf der Heilsgeschichte wirkt, offenbaren und bekräftigen die Lehre und die durch die Worte bezeichneten Wirklichkeiten; die Worte verkündigen die Werke und lassen das Geheimnis, das sie enthalten, ans Licht treten. Die Tiefe der durch diese Offenbarung über Gott und über das Heil des Menschen erschlossenen Wahrheit leuchtet uns auf in Christus, der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist.“

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Mit einem solchen Hinweis ist der einseitige Intellektualismus, der weitgehend die Neuscholastik bestimmte, überwunden. Der Ganzheitscharakter der Offenbarung, der Leib und Seele, Wort und Tat, Botschaft und Zeichen betrifft, kommt wieder an den Tag. Auch kommen dadurch viele Aspekte zur Geltung, die im Wesen des Dialogischen zunächst eher verborgen sind, mit ihm aber innerlich verbunden werden können. Artikel 3 versucht sehr knapp eine dichte Synthese der Offenbarungs- und Heilsgeschichte vor Jesus Christus zu geben. Das geschichtliche Handeln Gottes in dieser Zeit steht im Vordergrund, damit auch eine Verhältnisbestimmung von Schöpfung und Heil, von Heilsgeschichte und Universalität des göttlichen Heilswillens. Es herrscht hier eine sehr zuversichtliche Sicht auf die Welt und den Menschen vor, wobei man sich mit einigen Auslegern durchaus fragen kann, ob das Gewicht der Sünde und des Versagens der Menschen an dieser Stelle genügend Gewicht erhält. Aber diese Perspektive fehlt nicht schlechthin. Dieses Problem ist freilich auch nicht neu, wenn man an die Schrift und die alte Kirche erinnern darf. Artikel 4 spricht von Jesus Christus als dem letzten Wort Gottes.10 Er ist im ersten Kapitel, wo es um die Offenbarung geht, die Mitte des Ganzen. In ihm hat Gott sich selbst ausgesagt, er ist wirklich der Logos, das Wort Gottes selbst. Er erfüllt die Wahrheit der Offen-

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Es besteht kein Zweifel, dass der Begriff „Dei Verbum“ im ganzen Text immer stärker christologisch konzentriert wird. Am Ende steht der Logos, also die Person Jesu Christi, für das „Dei Verbum“. Darum kann man nicht ohne Grund versucht werden, „Dei Verbum“ groß zu schreiben. Vgl. dazu H. de Lubac, Die göttliche Offenbarung, XIII (so der Übersetzer R. Voderholzer), Kommentar zu Art. 1, S. 41f. (de Lubac). In der Textgeschichte und im Schriftbild der amtlichen Erstedition hat diese Aufassung jedoch keine Grundlage, die zu einer exklusiven Deutung zwingen würde. Alle ersten Worte (Initium) der 16 Dokumente sind in Kapitälchen gesetzt. Zwischen der Bibel als Wort Gottes und dem inkarnierten WORT Gottes herrscht eine Analogie. Dies spielt auch hier eine Rolle, weil ja auch in DV vom Wort Gottes im AT und vom Sprechen Gottes in anderen Religionen die Rede ist. Gewiss gibt es dann eine intensive Dynamik auf die Erfüllung des Sprechens Gottes auf den Logos hin. Aber dies ist nicht die einzige Interpretation. Man kann also getrost und mit guten Gründen das Wort Gottes in DV groß und klein schreiben. Dies auch zu H. Hoping, Theologischer Kommentar zur Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, in: P. Hünermann/B.J. Hilberath (Hrsg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 3, Freiburg 2005, 695 – 831, 736f.

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barung und bekräftigt durch sein Leben und Sterben, „dass Gott mit uns ist, um uns aus der Finsternis von Sünde und Tod zu befreien und zu ewigem Leben zu erwecken“. Hier kommt die Kategorie des Zeugnisses elementar mit ins Spiel. So erscheint auch die eschatologische Struktur der Offenbarung in der Zeit des Neuen Testaments: „Daher ist die christliche Heilsordnung, nämlich der neue und endgültige Bund, unüberholbar, und es ist keine neue öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten vor der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus in Herrlichkeit.“ Unsere frühere Bemerkung, dass diesem Verständnis von Offenbarung auch ein empfangendes Subjekt zugeordnet ist, kommt besonders in Artikel 5 zur Darstellung. In ihm wird nämlich über den Glauben gesprochen, der auf die entgegenkommende Offenbarung antwortet. Auch hier tritt gegenüber einer intellektualistischen Zuspitzung der ganzheitliche Charakter des Glaubens fast von selbst hervor. In diesem Kontext ist es deutlich, dass dieser Glaube nur in Freiheit vollzogen werden kann. Dies setzt die zuvorkommende Gnade Gottes voraus, „die das Herz bewegen und Gott zuwenden, die Augen des Verstandes öffnen [kann] und ‚es jedem leicht machen muss, der Wahrheit zuzustimmen und zu glauben‘“. Gott bleibt der eigentlich Handelnde, aber das Wirken Gottes durchdringt den Menschen, regt ihn an und lässt ihn darin auch wachsen. So versteht sich besonders die tiefe Aussage im letzten Satz dieses Artikels 5: „Dieser Geist vervollkommnet den Glauben ständig durch seine Gaben, um das Verständnis der Offenbarung mehr und mehr zu vertiefen.“ Der letzte Abschnitt des ersten Kapitels (Art. 6) schlägt den Bogen wieder zum Vaticanum I. Nachdem die Offenbarung von ihrer christologischen Mitte her entfaltet worden ist, wird auch die Verantwortung der menschlichen Vernunft herausgestellt. Auch wenn die Religion dialogisch und unter der Initiative der Gnade gesehen wird, so wird die Verantwortung des Denkens nicht ausgeschlossen. In geschickter Weise wird das Vaticanum I zitiert, indem auch die dort durchaus vorhandenen Worte wie „kundtun“, „mitteilen“, „Anteil geben“ usw. aufgenommen werden, die also eher auf eine personale Redeweise tendieren. Es ist deutlich, dass man hier trotz aller Ergänzung und neuer Begriffe den Zusammenhang und die Kontinuität mit der Tradition und besonders auch mit dem Vaticanum I nicht preisgeben will, ja man vermeidet jeden Anschein in dieser Richtung. Jedoch ist

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eine neue, gewiss auch tiefere Fortführung erkennbar, in gewisser Weise auch eine ergänzende und erweiternde Korrektur. Dies darf man nicht verschweigen oder gar leugnen. Vielleicht genügt dies in den engen Grenzen dieses Beitrags, um anzuregen, die folgenden Kapitel, ganz besonders auch das abschließende sechste Kapitel „Die Heilige Schrift im Leben der Kirche“ (Art. 21–26) selber zu lesen, evtl. zusammen mit einem Kommentar. Aber auch in den anderen Kapiteln gibt es z. B. über den Zusammenhang zwischen Kirche und Wort Gottes bemerkenswerte Sätze, die man weiter bedenken muss. Es ist nicht möglich, in diesem begrenzten Beitrag ein wichtiges Thema ausführlicher zu behandeln, nämlich die Fragen der Inspiration und der „Irrtumslosigkeit“ der Schrift (Art. 11–13). Unter den Themen von Dei Verbum werden sie im Unterschied zu früher geradezu stiefmütterlich behandelt. Vielleicht erfahren sie jetzt mehr Aufmerksamkeit, nachdem die Päpstliche Bibelkommission unter dem Titel „Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift“11 eine umfangreiche Studie vorgelegt hat.

4. „Voll Ehrfurcht hören, heilig bewahren, treu auslegen“ Ich möchte aus dem zweiten Kapitel einige Sätze von Artikel 10 herausgreifen und sie zu deuten versuchen. Die Aussagen stehen im Zusammenhang der Aufgabe, dass – dies ein nächster Schritt – das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes verbindlich ausgelegt werden muss und dies dem Lehramt der Kirche anvertraut ist. Danach heißt es aber: „Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beispiel des Heiligen Geistes voll Ehrfrucht hört, heilig bewahrt und treu auslegt [man beachte die Reihenfolge!] und weil es alles, was es als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus diesem einen Schatz des Glaubens schöpft.“ (Art. 10) Um diesen Satz voll zu verstehen, müssen wir etwas ausholen. 11

Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 196, Bonn 2014.

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Das zweite Kapitel (Art. 7–10) hebt hervor, dass das „Evangelium“ der Kirche zur getreuen Predigt und lebendigen Bewahrung anvertraut wurde. Was die Apostel von Jesus empfingen oder „unter der Eingebung des Heiligen Geistes gelernt hatten“ (Art. 7), was sie mündlich verkündigten oder was von ihnen oder „apostolischen Männern“ niedergeschrieben war, wurde im Sinne einer Weitergabe der Offenbarung den Nachfolgern der Apostel übergeben. Diese „apostolische Predigt“ umgreift Überlieferung und Schrift. Der Schrift kommt dabei eine besondere Würde zu, weil in ihr diese Predigt „besonders deutlichen Ausdruck“ gefunden hat. So muss die Überlieferung von der Schrift unterschieden werden. Die Überlieferung hat vor allem zwei Funktionen, nämlich die Erkenntnis der Vollständigkeit des Kanons (Art. 8) und – wie Papst Paul VI. es in einem späteren Zusatz wünschte – die Gewissheit über alles, was geoffenbart ist (Art. 9). Der Papst betont im Übrigen die Einheit der Weitergabe. Weder er noch der Text begünstigen die Auffassung, dass bestimmte Dogmen ihre Begründung aus der Tradition erhalten. Artikel 9 ist im Rahmen der bewusst gewählten Zurückhaltung ein sehr differenzierter Niederschlag der Diskussion über das Verhältnis von Schrift und Tradition. In gewisser Weise verlässt der letzte Artikel des zweiten Kapitels, nämlich Art. 10, das bisherige Diskussionsfeld. Zunächst wird die Einheit des Volkes Gottes, und zwar aus Vorstehern und Gläubigen, gegenüber dem Wort Gottes und im Wort Gottes hervorgehoben. Bewahrung und tätige Verwirklichung des Wortes Gottes ist Sache der ganzen Kirche und umfasst die Gemeinschaft der Glaubenden insgesamt. Joseph Ratzinger/ Papst Benedikt XVI. stellt in seinem Kommentar den Unterschied zu dem entsprechenden Abschnitt der Enzyklika Humani generis heraus12 und erklärt, „dass die auf das Lehramt beschränkte Funktion der authentischen Auslegung ein spezifischer Dienst ist, der nicht das Ganze der Gegenwartsweise des Wortes umgreift, in der es eine unersetzliche Funktion gerade auch der Gesamtkirche, Bischöfe und Laien zusammen gibt. So wird man in diesem kleinen Abschnitt zugleich ein wichtiges Stück einer erneuerten Theologie des Laikates erblicken dürfen, die hier in den Zusammenhang der Theologie des Wortes eintritt, und die nicht bloß die weltliche, son-

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DH 3886, vgl. oben Anm. 6.

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dern auch die wahrhaft kirchliche und geistliche Funktion des Laien sichtbar werden lässt.“13 Schließlich war es vor allem Y. Congar, der erfolgreich für die Einfügung des „einzigartigen Einklangs zwischen Vorstehern und Gläubigen“ besonders auch durch den Hinweis auf eine Aussage Cyprians nicht zuletzt gegen Kardinal Ottaviani eintrat (Art. 10, erster Abschnitt, Anm. 7).14 Im Blick auf den zweiten Abschnitt von Art. 10 mit dem Hinweis, dass das Lehramt nicht über dem Wort Gottes ist, unterstreicht J. Ratzinger mit Blick auf die Enzyklika Humani generis nochmals „den vorwärtsführenden Charakter der relecture, die hier vom Konzil geleistet worden ist“.15 Im Übrigen geht aus Art. 9 und 10 hervor, dass das Konzil die Schrift nicht mit dem Wort Gottes identifiziert. Dieses ist vielmehr die eine göttliche Quelle, aus der Schrift und Tradition hervorgehen. Wir haben dies schon eigens ausführlicher hervorgehoben. So sind für das Konzil weder Schrift noch Tradition „Quellen“ im vollen Wortsinn. Darum sagt H. de Lubac in seinem lesenswerten Kurzkommentar: „Die Tradition wird immer vor der Schrift genannt, um die zeitliche Reihenfolge zu respektieren, weil am Ursprung von allem ‚diese von den Aposteln herkommende Tradition‘ (DV 8) steht, und weil die Heiligen Schriften inmitten einer bereits bestehenden Gemeinschaft entstanden und rezipiert worden sind … Tradition und Schrift sind ‚eng miteinander verbunden‘, da sie aus derselben Quelle entspringen, auf dasselbe Ziel hingeordnet sind und so sehr eine Einheit darstellen, dass die Kirche über all die 13 J. Ratzinger, Einleitung und Kommentar zur Offenbarungskonstitution, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 13: Das Zweite Vatikanische Konzil, Dokumente und Kommentare, Teil II, Freiburg i. Br. 21967, 498 –528, 571–581, Zitat: 526 = GS 773. 14 Vgl. dazu jetzt umfassend die Beiträge in der Festschrift für H. J. Pottmeyer zum 80. Geburtstag „Glaube in Gemeinschaft“, hrsg. von M. Knapp und Th. Söding, Freiburg i. Br. 2014. 15 Ebd. In DH 3886 heißt es: „Diese Glaubenshinterlassenschaft (depositum) nun hat der göttliche Erlöser weder einzelnen Christgläubigen noch selbst den Theologen zur authentischen Auslegung anvertraut, sondern allein dem Lehramt der Kirche (soli Ecclesiae Magisterio).“ Hier wird auch von J. Ratzinger hervorgehoben, dass mit dieser Betonung des Anteils der Laien an der Reinerhaltung des Wortes im Verhältnis zur Theorie vom Glaubenssinn eine „glückliche Entscheidung“ durch das Konzil gefunden worden sei.

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geoffenbarten Sachverhalte keine Gewissheit erlangen könnte im Rückgriff auf nur die Schrift allein: Um das Wort Gottes hören und verstehen zu können, muss man sich ins Licht der Tradition stellen (DV 9).“16 Vor diesem Hintergrund muss man nun die Aussage verstehen über die Unterordnung des Lehramtes unter das Wort Gottes. Während der Debatte über den Entwurf zur Offenbarung hat Kardinal PaulEmile Léger verlangt, dass die Transzendenz der Offenbarung ins volle Licht gestellt werden müsse, und zwar aus mehreren Gründen: „1. Die Offenbarung transzendiert in Wahrheit das ganze Leben der Kirche, auch die feierlichen Akte ihres Lehramtes. 2. Es ist der Kirche eigentümlich, ohne Unterlass mit einer beständigen Sorge zur Offenbarung zurückzukehren, um sich zu erneuern. Das erfordert ein lebendiges Bewusstsein und eine Anerkennung dieser Transzendenz. 3. Die Verkündigung und die praktische Anerkennung dieser Transzendenz durch die Kirche werden den ökumenischen Dialog mächtig fördern, denn unsere getrennten Brüder haben einen sehr lebendigen Sinn für den Primat des Wortes Gottes. 4. Auf diesem Gebiet erscheint eine Gewissenserforschung angebracht. Es geschieht nämlich nicht selten, dass einige in der Kirche die Rolle des Lehramtes hinsichtlich der Offenbarung übertreiben.“17 Darum fordert Kardinal Léger auch: „Das Wort Gottes, das durch sich selbst definitiv ist, ist etwas anderes, als eine authentische Interpretation durch das Lehramt, das selber in den besonderen Fällen seiner Unfehlbarkeit eine Vervollkommnung zulässt. Nach dem Wort des Apostels sind die Reichtümer Gottes unergründlich, und wir kennen nur zum Teil seine Mysterien.“18 Auf diese sehr eindringliche Bitte von Kardinal Léger aus Montreal (Kanada), der auch sonst eine gewichtige Rolle spielte, hat das Konzil positiv reagiert. „Dadurch hat das kirchliche Lehramt keinen 16

H. de Lubac, Die göttliche Offenbarung, Einsiedeln 2001, 250f. Diese Intervention erfolgte in der dritten Sitzungsperiode und findet sich bei F. G. Hellín, Constitutio (s. Anm. 1), 539f. 18 Ebd., 541. In der Übersetzung folge ich mit Rücksicht auf den lateinischen Grundtext mit einigen Korrekturen der Übersetzung von E. Stakemeier, Die Konzilskonstitution über die göttliche Offenbarung, Paderborn 1966, 142f. 17

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Schaden gelitten; vielmehr tritt seine universale Autorität, das Wort Gottes zu interpretieren, ins helle Licht. Interpretieren ist etwas anderes, als konstituieren oder ergänzen.“19 Dies ist der Kontext, in dem nun in der zweiten Hälfte des zweiten Absatzes von Art. 10 formuliert wird: „Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist …“ Die Aufnahme dieser Aussage schwankt zwischen einer Selbstverständlichkeit und der Annahme, es sei einer der Spitzensätze des Konzils. Dies kann man durchaus nach beiden Seiten hin verstehen. Im Grunde war diese Annahme von der Unterordnung des Lehramtes unter das Wort Gottes immer eine geradezu fraglose Überzeugung. In der Sache war nie ernsthaft ein Zweifel am Dienstcharakter des Lehramtes, aber das faktische Bewusstsein und das konkrete Handeln waren besonders im Zeitalter der Gegenreformation und in der Neuzeit von dieser Grundwahrheit nicht immer so deutlich geprägt. „Immerhin war die faktische Prozedur (des Lehramtes) doch nicht selten geeignet, diese prinzipiell anerkannte Ordnung einigermaßen zu verdunkeln.“20 Insofern ist der Satz keineswegs selbstverständlich. Es ist darum von größter Bedeutung, dass hier ein Allgemeines Konzil mit dem Papst, also die höchste Instanz in der Kirche, ausdrücklich die Unterordnung des Lehramtes unter das Wort und seinen radikalen Dienstcharakter hervorhebt. Da diese Feststellung von großer ökumenischer Bedeutung ist, stellt diese eigentlich als theologische Binsenweisheit einzuschätzende Aussage am Ende eben doch einen Spitzensatz des Konzils dar. „Die Autorität, mit der das Lehramt Gottes Wort auslegt, ist nicht Autorität gegenüber dem Wort Gottes, sondern gegenüber den Gläubigen, zu denen außerdem die einzelnen Glieder des kirchlichen Amtes selbst auch gehören.“21 So wichtig die genauere Beobachtung der Textstufen ist, so wenig empfiehlt sich dies im Blick auf unsere Aussage in Art. 10 über die Unterordnung des Lehramtes unter das Wort Gottes. Denn der Wortlaut ist in den Texten vom 24.5.1963, 14.07.1964, 29.11.1964 und 13.11.1965 bis zur Verabschiedung am 18.11.1965 ziemlich 19

Ebd., 143. J. Ratzinger, Kommentar (s. Anm. 13), 527. 21 O. Semmelroth/M. Zerwick, Vatikanum II über das Wort Gottes (Stuttgarter Bibelstudien 16), Stuttgart 1966, 27. 20

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identisch.22 Wichtige Diskussionsmomente werden selbstverständlich erwähnt (vgl. auch DV 21, 22 und LG 22, 25). Weil eine solche Aussage zum Allgemeingut und zu den Grundüberzeugungen der Kirche gehört, hat man auch in der späteren Kommentierung nicht unmittelbar oder jedenfalls ziemlich selten nach Quellen gesucht. Man kann überhaupt feststellen, dass die Kommentare zu Art. 10 in der Regel nach einer sehr erschöpfenden Auslegung von Art. 9 etwas ermüdet wirken, und dieser letzte Artikel des schwierigen zweiten Kapitels der Konstitution eher wie eine Art von Abgesang verstanden wird. Ich übergehe jedoch hier die an anderer Stelle dargelegte Wiedergabe der Ergebnisse einer Suche nach möglichen Quellen.23 Jedenfalls ist – wenn der Spitzensatz des Konzils zugleich eine allgemeine katholische Grundüberzeugung ist – in gewisser Weise auch wiederum selbstverständlich, dass das Konzil trotz aller Überraschung und Bedeutung dieser Aussage in Art. 10 nichts grundlegend Neues zum Ausdruck bringt. So ist dieser Fund eher ein Beleg dafür, dass die katholische Theologie diese „Binsenweisheit“ ernst genommen hat, auch und gerade da, wo man es nicht vermutet oder immer explizit sagt und lehrt. Aber natürlich hat das Zweite Vatikanische Konzil den Kontext nochmals bereichert und aus dem Gesagten Konsequenzen gezogen, die man früher nicht so deutlich formulieren konnte. Man sieht dies in der Fortsetzung des Textes. So wird zum Beispiel in der Fortführung der interpretierten Aussage von der Unterordnung bzw. vom Dienst des Amtes für das Wort Gottes gesagt, das Lehramt verhalte sich so, „weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes voll Ehrfurcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt, und weil es alles, was es als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus diesem einen Schatz des Glaubens schöpft“ (Art. 10).24 Wenn man schon darauf hinweist, dass der menschliche Umgang mit dem Wort Gottes in der doppelten Auf22

Vgl. F. G. Hellín, Constitutio (s. Anm. 1), 3f., 75 – 81. Vgl. K. Lehmann, Schrift (s. Anm. 1). 24 In lateinischer Sprache: „… docens nonnisi quod traditum est, quatenus illud, ex divino mandato et Spiritu Sancto assistente, pie audit, sancte custodit et fideliter exponit, ac ea omnia ex hoc uno fidei deposito haurit quae tamquam divinitus revelata credenda proponit.“ 23

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gabe besteht, es „heilig zu bewahren“ und „treu auszulegen“ – der Spannungsbogen ist wichtig –, dann ist noch vor all diesen Aufgaben entscheidend, dass die Kirche bzw. das Lehramt das Wort Gottes zuallererst „voll Ehrfurcht hört“. Damit wird die bleibende Abhängigkeit, die „Unterordnung“ unter das Wort Gottes und der Dienst ihm gegenüber, am stärksten ausgesprochen. Auf diese Weise wird auch die oft beschworene Differenz von „hörender“ und „lehrender“ Kirche, wie J. Ratzinger sagt, „auf seine wahren Maße zurückgeführt: Im Letzten ist die ganze Kirche hörend, und umgekehrt hat die ganze Kirche teil am Verharren in der rechten Lehre.“25 Bewusst wird das Hören voll Ehrfurcht an die erste Stelle gesetzt. Aber auch dieses grundlegende Hören als erster Dienst ist und bleibt Voraussetzung für das angemessene Behüten und schöpferische Auslegen. Dies alles geschieht nicht einfach als ein menschliches Geschäft, weil diese Grundvollzüge im Umgang mit dem Wort Gottes „aus göttlichem Auftrag (mandatum)“ und „mit dem Beistand (assistente) des Heiligen Geistes“26 geschehen. Stärker kann man wohl die theologischen und spirituellen Anforderungen nicht nur an den frommen, sondern auch an den amtlichen und theologischen Umgang mit dem Wort Gottes nicht mehr hervorheben. Schon unmittelbar vor unserem Spitzensatz wird zusätzlich erklärt, dass die Vollmacht des Lehramtes der Kirche „im Namen Jesu Christi“ ausgeübt wird. Der Artikel endet mit einem zusammenfassenden Gedanken, bevor die wichtige Thematik der Inspiration und Auslegung der Heiligen Schrift behandelt wird. „Es zeigt sich also, dass die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem weisen Ratschluss Gottes so miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, dass keines ohne die anderen besteht, und dass alle zusammen, jedes auf seine Art, durch das Tun des einen Heiligen Geistes wirksam dem Heil der Seelen dienen.“ 25

J. Ratzinger, Kommentar (s. Anm. 13), 527 = GS 775. Hier ist freilich diese Übersetzung in Herders Theologischem Kommentar (Band 1, 371) der offiziellen Übersetzung vorzuziehen („mit dem Beispiel des Heiligen Geistes“), aber offensichtlich handelt es sich um einen Druckfehler, denn im Kleinen Konzilskompendium (s. Anm. 6) heißt es, mindestens in der aktuellen 35. Auflage (S. 372), auch richtig „mit dem Beistand des Heiligen Geistes“. 26

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In der Tat kann nun einmal Schrift nicht ohne Überlieferung, Überlieferung nicht ohne Kirche und diese nicht ohne die beiden anderen gedacht werden. Dieser „funktionale“ Zusammenhang kann im Grunde nicht aufgelöst, aber auch nicht transzendiert werden. Ja, das eine kann ohne das andere nach der Überzeugung von Dei Verbum gar nicht gedacht werden. Die Reihenfolge, in der die „Bezeugungsinstanzen“ aufgezählt werden, nämlich die Nennung der Überlieferung vor der Schrift, hängt gewiss damit zusammen, dass der Begriff der Überlieferung im wichtigen Art. 9 eine weitere Bedeutung hat, die als das zu überliefernde Wort Gottes die Schrift einschließt, und eine engere Bedeutung, in der sie gegen die Schrift abgehoben wird. Man muss jedoch beachten, dass sie trotz dieser engeren Zusammengehörigkeit – man könnte geradezu von einer Perichorese sprechen – nicht in einer formalen Gleichwertigkeit beschrieben werden. Auch ist dies nicht einfach als eine von vornherein garantierte Harmonie zu verstehen. Der Text unterstreicht, dass „jedes Moment auf seine Art“ (singula suo modo) aktiv wird. So gibt es also durchaus innerhalb des engsten funktionalen Zusammenhangs eine jeweils spezifische Aufgabe27. Diese Form des gleichursprünglichen Zusammenwirkens, das in den Konzilstexten die Tradition im Sinne eines geschichtlichen Prozesses an den Anfang setzt, lässt durchaus zu, dass die Schrift in der inhaltlichen Normativität einen maßgeblichen und durchaus auch kritischen Vorsprung erhält. In diesem Sinne hat man immer schon darauf hingewiesen, dass es bereits in der Hochscholastik ein Prinzip des „sola scriptura“ gibt.28 Es bleibt zu beachten, dass in der letzten Redaktionsstufe am Ende aller Beratungen der Ausdruck „durch das Tun des einen Heiligen Geistes“ (sub actione unius Spiritus Sancti) eingefügt wurde.29 Die Akten zeigen, dass um diesen letzten Abschnitt nochmals heftig gerungen worden ist.30 Es ist wichtig, dass hier als Abschluss nochmals ein pneumatologischer Zusammenhang hervorgehoben wird: Das dargelegte Zusammenspiel ist bei aller menschlichen Verant27 Zur Deutung von Art. 9 und 10, gerade auch in ihrem Zusammenhang, verweise ich auf die Kommentare von J. Ratzinger, Kommentar (s. Anm. 13), 522–528 (= GS 764 –775) und H. Hoping, Kommentar (s. Anm. 10), 759 –765. 28 Thomas von Aquin, S.th. I q.1 a.8. 29 F. G. Hellín, Constitutio (s. Anm. 1), 81, Zeile 60. 30 Ebd., 80f.

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wortung nicht das Ergebnis allein einer kirchlichen Handlung, sondern „durch das Tun des einen Heiligen Geistes“ zum Heil des Menschen wirksam. Damit wird das evangelische, keineswegs eindeutige „Sola scriptura“ katholischerseits aufgenommen, aber ganz anders eingeordnet. Im ökumenischen Gespräch ist das viel zu wenig beachtet. Immerhin gibt es in der evangelischen Tradition das bemerkenswerte Wort „sola scriptura numquam sola“.

5. Wort Gottes – Schrift – Überlieferung – Kirche – Lehramt in ihrer Differenz und Zusammengehörigkeit Es war nicht anders zu erwarten, dass an diesem Punkt sich der Protest der reformatorischen Theologie besonders meldet. Dies müsste eigens und ausführlich dargestellt werden, würde aber einen eigenen Beitrag erforderlich machen. Immerhin sei der Differenzpunkt wenigstens angezeigt. Die nachdrückliche Betonung der Einheit von Schrift und Überlieferung in Art. 9 und Art. 10 schuf ein solches unauflösliches Ineinander von Schrift, Überlieferung und Lehramt, dass die richterliche Funktion der Schrift gegenüber der Kirche kaum mehr einen Platz zu finden schien. Deshalb gab es auch von reformatorischer Seite heftige Kritik an Kapitel 2 und an diesen beiden Artikeln.31 Kein Geringerer als Papst Benedikt XVI. hat auf der einen Seite dieser Kritik in einem hohen Maß ein erhebliches Recht eingeräumt: „Diesen Kritiken wird man … zugestehen müssen, dass die ausdrückliche Nennung der Möglichkeit entstellender Tradition und die Herausstellung der Schrift als eines auch traditionskritischen Elements im Inneren der Kirche praktisch fehlen, und dass damit eine nach dem Ausweis der Kirchengeschichte höchst wichtige Seite des Traditionsproblems, vielleicht der eigentliche Ansatzpunkt der Frage nach der ecclesia semper reformanda, übergangen worden ist. Gerade ein Konzil, das sich bewusst als Reformkonzil verstand und damit implizit Möglichkeit und Wirklichkeit entstellender Tradition einräumte, hätte hier ein we-

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Vgl. hier exemplarisch K. Barth, Ad limina Apostolorum, Zürich 1967, 8, 28f., 45 –59.

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sentliches Stück theologischer Grundlegung seiner selbst und seines eigenen Wollens reflex vollziehen können. Dass das versäumt worden ist, wird man nur als eine bedauerliche Lücke bezeichnen können.“32 Ich glaube, dass die Formulierungen des Konzils durchaus und auch grundsätzlich einen Raum zwischen Schrift, Tradition und Kirche freigeben, um den bleibenden Gehorsam und eben auch die Möglichkeit des Ungehorsams im Einzelnen zu markieren. Sonst hätten ja die vielen Aussagen, dass die Kirche nicht über dem Wort Gottes ist, dass sie mit Ehrfurcht auf die Schrift hören, sie heilig bewahren und treu auslegen muss, letztlich wenig zu bedeuten. Hier hat das Konzil der theologischen Arbeit eine große, aber ganz wichtige Aufgabe hinterlassen, die im ökumenischen Gespräch auch durchaus aufgegriffen worden ist.33 Sosehr hier ein wichtiger Nachholbedarf einzuräumen ist,34 sosehr zeigen sich hier aber auch Grenzen im gemeinsamen ökumenischen 32

J. Ratzinger, Kommentar (s. Anm. 13), 523f. = GS 768. Vgl. dazu die Arbeit des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen: Verbindliches Zeugnis I–III, hrsg. von Th. Schneider und W. Pannenberg (Dialog der Kirchen 7, 8, 10), Freiburg i. Br./Göttingen 1992, 1995, 1998. Ganz besonders aufmerksam soll nochmals gemacht werden auf die beiden Gemeinsamen Erklärungen in I, 371–397, und III, 288 –389, die auch in englischer Übersetzung vorliegen. 34 Das Thema einer richterlichen Funktion der Schrift gegenüber der Kirche hat sich inzwischen erweitert und vertieft im Blick auf das Verhältnis von Rechtfertigung und Kirche, das gerade auch nach der „Gemeinsamen Erklärung des Lutherischen Weltbundes und des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen über Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre“ (1997, unterzeichnet 1999 in Augsburg) unausweichlich auf der Tagesordnung ökumenischer Gespräche steht. Vgl. dazu K. Lehmann, Einig im Verständnis der Rechtfertigungsbotschaft?, jetzt in: Ders., Zuversicht aus dem Glauben. Die Grundsatzreferate des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz mit den Predigten der Eröffnungsgottesdienste, Freiburg i. Br. 2006, 289 –312; vgl. zum Ganzen auch J. Rahner, Kirche und Rechtfertigung, Freiburg i. Br. 2004. Trotz aller inzwischen erfolgter Schritte ist nicht zu vergessen das Dokument: Gemeinsame römisch-katholische/evangelisch-lutherische Kommission (Hrsg.), Kirche und Rechtfertigung, Paderborn 1974. Zur Sache vgl. auch J. Rahner, Creatura Evangelii. Zum Verhältnis von Rechtfertigung und Kirche, Freiburg i. Br. 2005. Eine erste Antwort habe ich versucht: Rechtfertigung und Kirche. Vortrag beim Symposion zur Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungsbotschaft in der Lutherstadt Wittenberg am 10. Oktober 2002, in: KNA ÖKI 43, 22. Oktober 2002, Dokumentation Nr. 10, 1–16. Auf den 33

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Verständnis. Dies wird nicht nur in den Ausführungen von Karl Barth deutlich, sondern z. B. auch in verschiedenen Äußerungen von Oscar Cullmann, der in mehreren Veröffentlichungen35 ein striktes Gegenüber der Schrift zur Kirche fordert. Nach ihm muss die Schrift eindeutig eine höhere Instanz über der Kirche und eine kritische Norm über ihr sein. Es geht nicht darum, ob die Schrift in dem sensiblen und differenzierten Beziehungsgeflecht von Wort Gottes, Überlieferung, Lehramt und Kirche einen Vorrang hat, sondern ob es den geforderten Abgrund zwischen ihnen geben kann.36 Man macht sich die Antwort leicht, wenn man „nur“ von einer fälschlichen Identifizierung von Kirche und Offenbarung ausgeht. Dann ist die Folgerung konsequent: „Wir bleiben in der Bestimmung des gegenseitigen Verhältnisses von Schrift, Tradition und Lehramt … nach wie vor getrennt.“37 Nein, es muss nicht so bleiben, um den Primat der Schrift zu beschützen. Die katholische Kirche ist aber nicht zuletzt aufgrund der Ergebnisse der historischen und besonders exegetischen Forschung über das Verhältnis von Schrift und Tradition nicht in der Lage, eine solche prinzipielle Entgegensetzung von Schrift und Kirche zu akzeptieren. An dieser Stelle muss das Gespräch, wie schon aufgezeigt, weitergehen.38 Als katholischer Theologe muss man einstweilen mit

nach der Mainzer Tagung erschienenen Grundlagentext der EKD „Rechtfertigung und Freiheit“ (Gütersloh 2014) und die bis heute dazugehörigen Kontroversen kann ich hier nicht eingehen. 35 Vgl. insgesamt K. Lehmann, Einheit durch Vielfalt – heute. Katholische Reflexionen zum ehrenden Gedenken an Oscar Cullmann, in: Theologische Zeitschrift 57 (2002) Nr. 3 (Festheft Bibelauslegung und ökumenische Leidenschaft. Die Beiträge des Wissenschaftlichen Symposiums aus Anlass des 100. Geburtstags von Oscar Cullmann), 280 –290. 36 Vgl. dazu schon früh O. Cullmann, in: J. Chr. Hampe, Die Autorität der Freiheit. Gegenwart des Konzils und Zukunft der Kirche im ökumenischen Disput, Band I, München 1967, 189 –197, ebd. auch die Ausführungen von J. K. S. Reid, 223 –231. 37 O. Cullmann, Die Reformbestrebungen des 2. Vatikanischen Konzils im Lichte der Geschichte der katholischen Kirche, in: Theologische Literaturzeitung 92 (1967) 1–22, 5. 38 Vgl. dazu G. G. Blum, Offenbarung und Überlieferung: Die dogmatische Konstitution Dei Verbum im Lichte altkirchlicher und moderner Theologie, Göttingen 1971; H.-J. Kühne, Schriftautorität und Kirche, Göttingen 1980. Vgl. die sehr ausgewogenen Darlegungen von U. Kühn, Zum evangelisch-katholischen Dialog:

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H. de Lubac festhalten: „Nichts also widerspräche dem Geist dieser Konstitution mehr als eine Art feindlicher Konkurrenz zwischen Schrift und Tradition, so, als ob man der einen wegnähme, was man der anderen zuspricht. Noch niemals hatte ein Konzilstext das Traditionsprinzip so gut in seiner ganzen Weite und Komplexität herausgestellt; noch nie wurde der Heiligen Schrift so viel Raum gewährt.“39

6. Der „Kairos“ im Umgang mit Dei Verbum So war es doch eine richtige Entscheidung, trotz der erheblichen Spannungen und notwendigen Auseinandersetzungen das Thema „Schrift – Offenbarung – Überlieferung“ ausführlich anzugehen. Es war zugleich mutig und weise von Papst Paul VI., – bei aller Vergeblichkeit der Diskussionen, die entstandenen Aporien zu lösen – den Auftrag zu einer Aussage über die Offenbarung aufrechtzuerhalten. Dies ist jedoch auch eine ganz wichtige Ergänzung zum Bild der Kirche. Überhaupt muss man die Kirchenkonstitution Lumen gentium und die Offenbarungskonstitution Dei Verbum enger zusammensehen. In Dei Verbum wird deutlich, dass die Kirche zuerst ganz und gar auf die Offenbarung verwiesen ist, die man hörend vernehmen muss. Die Kirche ist nicht unser Werk. Deswegen sind auch immer wieder solche Worte wichtig, dass man die Offenbarung mit Ehrfurcht empfangen und sie als Geheimnis wahren soll. Insofern ist Dei Verbum eine wichtige, bleibende Voraussetzung, um die zahlreichen Aussagen über die Kirche, die das Zweite Vatikanische Konzil an vielen Stellen vollzieht, richtig zu verstehen. Dadurch wird deutlich, woher die Kirche kommt und wohin sie auch wieder führt, nämlich zu Gott, dem zuerst und zuletzt alle Ehre gebührt, schließlich von ihm her auch wieder hin zu den Menschen.

Grundfragen einer ökumenischen Verständigung (Forum Theologische Literaturzeitung, Bd. 15), Leipzig 2005, 36ff. 39 H. de Lubac, Offenbarung (s. Anm. 16), 251. Dazu R. Voderholzer, Die Einheit der Schrift und ihr geistiger Sinn (Sammlung Horizonte NF 31), Einsiedeln 1998; ders., Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung, Regensburg 2013, 17–36, 61– 81, 82–150, vgl. auch 11ff.; P. Wagner, Henri de Lubac, Paris 2001.

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Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Botschaft von Dei Verbum noch viel zu wenig in uns aufgenommen haben. Dies gilt gerade auch für die Theologie. Man muss behutsam umgehen mit einer ökumenisch orientierten Auslegung des Textes. Ganz gewiss sind wir mit unseren evangelischen Schwestern und Brüdern in der Hochschätzung der Heiligen Schrift noch mehr vereint als früher. Aber es lässt sich auch nicht übersehen, dass wir in der Rede von der Offenbarung und im Blick auf das Verhältnis von Offenbarung – Schrift – Tradition nicht nur andere Denkformen verwenden. Wenn wir im Lauf der nächsten Jahre uns gemeinsam dieser Thematik widmen, dann müssen wir auf beiden Seiten noch manches vertiefen. Mit den Jubiläen aus Anlass der 50. Wiederkehr des Zweiten Vatikanischen Konzils auf katholischer Seite hat die Evangelische Kirche sich bei der Vorbereitung auf das 500 -jährige Reformationsjubiläum 2017 mehrere Themenjahre vorgenommen, davon eines über das Wort Gottes („Reformation – Bild und Bibel“, 2015). Dann haben wir eine einzigartige Gelegenheit, das Gemeinsame und uns Verbindende noch tiefer zu entdecken. Wir werden aber auch gemeinsam noch besser in die Schule des Wortes Gottes gehen, wie es schon am Anfang von Dei Verbum heißt: „Gottes Wort voll Ehrfurcht hörend und voll Zuversicht verkündigend.“ Die laufende Revision der Einheitsübersetzung auf katholischer Seite und die moderate Revision der Luther-Bibel, die bis dorthin vorgelegt werden sollen, werden dabei eine wichtige praktische Hilfe sein.

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Die Bibel als Akteur Kanon, Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift in systemtheoretischer Perspektive Oliver Reis/Thomas Ruster

1. Die Bibel als Dialogpartner? Wird über die Bibel geschrieben, findet man oft Wendungen, die den biblischen Text wie einen Akteur beschreiben, der etwas tut und bewirken will.1 So heißt es zum Beispiel bei Ulrich Luz: „Viele biblische Texte enthalten hermeneutische Anweisungen … [Der Text] wird mehr und mehr zur Lampe, welche das Leben und die Situation der Verstehenden beleuchtet … [Es gibt eine] Befragung der Leser und ihrer Situation durch den Text … [Die Beziehung zwischen Text und Lesern ist] ein Dialog zwischen gleichberechtigten Partner.“2 Bei Elisabeth Parmentier heißt es: „Der Interpret ist nicht mehr derjenige, der den Sinn meistert oder Macht über ihn hat, sondern er wird selbst vom Text auf den Weg geschickt. Der Text hat Macht über ihn.“3 In der auf die gemeindliche Bibelpraxis gerichteten Arbeit von Anne Rademacher liest man: „Es geht um die Beeinflussung des Lesers durch den Text. Wir wollen den Text als Ereignis betrachten, das mit der Lektüre beginnt. Die Textsignale, die den Le-

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Der vorliegende Beitrag greift die Überlegungen auf, die wir in dem Aufsatz: Die Bibel als „eigenwilliges und lebendiges“ Kommunikationssystem, in: EvTheol 72 (2012), 275 –290, vorgetragen haben und führt sie bezogen auf das Tagungsthema weiter. 2 U. Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments als Hilfe zum Reden von Gott, in: EvTheol 72 (2012), 244 –259, 248f. Hervorh. im Org. 3 E. Parmentier, Praktische Theologie als Resonanz auf die Wirkungsmacht der biblischen Offenbarung, in: EvTheol 72 (2012), 306 –320, 315. Der im gleichen Heft erschienene Aufsatz von Ph. F. Esler (Die historische Interpretation des Neuen Testaments als Kommunikation in der Gemeinschaft der Heiligen, ebd., 260 –275) zeigt einen gegensätzlichen Ansatz. Esler will auf die Autoren der Texte durchgreifen, Verstehen ist Begegnung mit den Autoren. Bei der Undeutlichkeit der biblischen Autorenschaft ist dieser Ansatz aber problematisch.

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ser lenken, sind daher auf ihre aktuelle Wirksamkeit hin zu befragen.“4 Das auf Wolfgang Iser zurückgehende Konzept des „impliziten Lesers“ reflektiert das Zusammenspiel von Text und Subjekt ausdrücklich.5 Hier wird nicht mehr nur gefragt, was der Text aussagt und wie er zustande gekommen ist, sondern die Aufmerksamkeit richtet sich auf das Geschehen, das zwischen Text und Leser entsteht. Der Text verfüge über „Strategien der Leserlenkung“. Die Leser reagieren auf Textstrukturen. Auslegung und Verstehen des Textes sind mithin ein „dialogisches Geschehen“. Mit dem Begriff des „impliziten Lesers“ ist gemeint, dass der Text ein „Rollenangebot“ an den Leser bereithält, das dieser auf je eigene Weise verwirklichen kann. Egbert Ballhorn spricht, um eine anthropomorphe Engführung dieses Konzepts zu vermeiden, vom „impliziten Lesekonzept“ des Textes. Es gehört zum Text, dass er Leser im Blick hat und auf sie wirken will. Er weckt Erwartungen, die zu Handlungen führen können. Biblische Texte – und nicht nur sie – können als Teil eines Interaktionsgeschehens verstanden werden, und sie sind nur dann ganz verstanden, wenn diese Interaktion, die auf Seiten des Textes und des Lesers unterschiedliche aber miteinander gekoppelte Handlungen beinhaltet, zustande kommt. Im Zuge dieser hier angedeuteten Verlagerung von der produktionsästhetischen zur rezeptionsästhetischen Fragestellung stellt sich die Frage, in welcher Weise der biblische Text als Akteur aufgefasst werden kann. Wer oder was ist das, das da Anweisungen und Signale gibt, leuchtet, Macht hat, beeinflusst, befragt, einen Dialog eingeht, Erwartungen auslöst, Rollen zuweist? Alle diese Tätigkeiten werden in der Regel einem Subjekt zugerechnet. Der Subjektbegriff ist aber für menschliche Personen reserviert, allenfalls kann er noch auf Institutionen angewandt werden. Aber auf einen Text, eine Abfolge von Buchstaben und Wörtern? Im Folgenden wollen wir diese Frage in der Perspektive der Systemtheorie Niklas Luhmanns zu klären versuchen. Dies bietet sich 4

A. Rademacher, Achtet auf das, was ihr hört! (Mk 4,24). Das Markusevangelium als Lesebuch für Gemeinden, Würzburg 2011, 42. 5 Vgl. W. Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 4 1994. Wir beziehen uns auf die Darstellung dieses Konzepts bei E. Ballhorn, Zum Telos des Psalters. Der Textzusammenhang des Vierten und Fünften Psalmenbuches (Ps 90 –150) (BBB 138), Berlin/Wien 2004.

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an, weil die Systemtheorie Systeme und nicht Personen als basale Handlungseinheiten beschreibt. Systeme sind, um es vorweg kurz zu sagen, Handlungsketten miteinander verbundener Elemente. Sie erzeugen durch den spezifischen Typ ihrer Handlungsabfolge eine Differenz zur Umwelt. Durch die Operationen des Systems – und nur durch diese – wird die Unterscheidung von System und Umwelt aufrechterhalten. Indem es weiter operiert, erhält sich das System. Man kann ihm, wenn man subjekttheoretisch formulieren will, die Intention zuschreiben, sich selbst zu erhalten. Bei biologischen Systemen ist dies ohne weiteres deutlich, es gilt aber auch für soziale und für psychische Systeme, von denen die Systemtheorie handelt.6 Das System unterscheidet zwischen sich selbst sowie der Umwelt und kann somit Selbstreferenzen – alles was sein internes Operieren angeht – und Fremdreferenzen – alles was das System von der Umwelt her betrifft – auseinander halten. Darin ist, wiederum subjekttheoretisch formuliert, die Vernunft, die Rationalität des Systems gegeben. Systeme sind so gesehen Akteure mit Willen und Verstand. Sie können an die Stelle treten, die sonst Subjekten bzw. Personen zugeordnet wird. Systeme kümmern sich in erster Linie allerdings nicht darum, ob sie in einer Beobachtung von außen wie Akteure wirken. Sie tun das, was sie tun. Nur wenn sie von außen beobachtet werden, dann fällt die Rationalität auf, mit der sie agieren. In diesem Blick von außen wird allerdings auch gut erkennbar, dass das System in der Selektion der verschiedenen Informationen seiner Umwelt agiert. Es steht nicht einfach abgeschlossen für sich, sondern entsteht erst durch Informationen, die außerhalb des Systems liegen und meist in den Bewusstseinssystemen verarbeitet werden. Entsprechend operiert die Bibel als eigenständiger Akteur, auch wenn dies erst in ihrer Rezeption erkennbar wird. Die Beschreibung der Bibel als System kann die Leerstelle füllen, die sich durch die rezeptionsästhetische Wende in der Exegese aufgetan hat. Das etwas unklare Reden über die Absichten und Tätigkeiten des biblischen Textes erhält eine theoretische Fundierung. Wir sehen aber auch die Chance, mit einer systemtheoretischen Zugangsweise eine Reihe von Problemen, die sich im Umgang mit der Bibel immer gestellt haben, die aber heute – da vielen Menschen die Bibel fremd geworden zu 6

Vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1987, 16.

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sein scheint – in besonderer Weise drängend sind, in anderer Weise zu erklären und andere Lösungsperspektiven aufscheinen zu lassen. Der systemtheoretische Zugang, der heute in vielen Bereichen der Wissenschaft und in vielen Praxisfeldern genutzt wird, hilft, weil er vermeintliche Differenzen wie bloßer Text vs. personaler Akteur, enger Kanon vs. freie Interpretation, Welt gestern vs. Welt heute, inspiriert vs. profan, wahr vs. unwahr als Paradoxiebearbeitungen versteht, deren „entweder-oder“-Struktur zu überwinden ist. – Zum Ersten wird die Frage – Wie kann der „garstige, breite Graben“ (G.E. Lessing) überwunden werden, der uns geschichtlich von der Bibel trennt? – in eine andere Form gebracht. Die Frage lautet dann nicht, wie uns die fremde Welt der Bibel vertraut werden kann, sondern wie sich die Interaktion zwischen Textsystem und Rezipientensystemen vollzieht. Alles, was geschieht, geschieht in der Gegenwart, so auch die Interaktion zwischen Text und Rezipienten. Versuche, den historischen Abstand durch Abstraktion, durch die Rückführung auf ein verbindendes Allgemeines zwischen Text und Lesern zu überbrücken, sind dem Paradigma der Unterscheidung zwischen „dem Ganzen“ (dem Allgemeinen, z. B. die existenzielle Entscheidung, vor die der Text die Leser führt) und „den Teilen“ (die Bibel als eine spezifische Ausformung einer allgemeinen Menschheitsfrage) verbunden, das die Systemtheorie überwinden will (s. Abschnitt 2 und 3). – Zum Zweiten wird die in der einen oder anderen Weise immer wieder diskutierte Frage nach „Offenheit“ und „Geschlossenheit“ der Bibel in anderer Weise behandelbar. Sie ist aktuell in den Auseinandersetzungen zwischen einem hermeneutischen und einem fundamentalistischen Zugang zur Bibel umstritten. Der hermeneutische Zugang sucht die Bibel von Fragen der Gegenwart aus zu erschließen, versucht ihre Aktualität zu erweisen und trägt von außen Leseperspektiven in den Text ein. Dadurch wird vor allem die Offenheit der Bibel für die Leserkontexte betont. Der fundamentalistische Zugang dagegen will den Leser in die biblische, geschlossene und darin lebendige Textwelt hineinholen: Was dort steht, ist wirklich und wahr. Beide Ansätze erkennen Richtiges, systemtheoretisch lässt sich dies in der Erkenntnis vermitteln, dass in der Bibel kontextuelle Umweltbezogenheit gerade in der operativen Geschlossenheit entsteht (s. Abschnitt 4).

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– Eine heikle Frage der Theologie war und ist nach wie vor der Status der Bibel als kanonische Schrift und verbunden damit die Frage nach der Abgrenzung des Kanons. Fasst man das Problem in einer historisch-genetischen Betrachtungsweise auf, muss der Eindruck entstehen, bestimmte kontingente Entscheidungen der Vergangenheit würden unseren heutigen Zugang zur Bibel präformieren und regulieren; mit der Anschlussfrage, warum es gerade diese Schriften sind, die kanonisiert worden sind, und warum nicht andere dazukommen können. Wie können Entscheidungen der Vergangenheit unseren Zugang heute präformieren? Worin liegt dann der normative Wert der Kanonisierung? Muss nicht für die Bedeutung der Bibel der Kanon selbst verhandelbar sein? In systemtheoretischer Sicht ist die Kanonizität keine Eigenschaft, die einer bestimmten Gruppe von Schriften zukommt. Kanonisierung kann vielmehr als eine Form der Normativitätzuschreibung beschrieben werden, die Rezeption überhaupt erst wahrscheinlich macht (s. Abschnitt 5). – Was meint in diesem Zusammenhang dann, dass die Bibel vom heiligen Geist inspiriert ist? Für Dei verbum ist die Heilige Schrift deshalb Gottes Rede und damit seine Offenbarung, weil sie unter dem Anhauch des göttlichen Geistes aufgezeichnet worden ist. Die Inspiration ist also zunächst ein Merkmal der Texte selbst, die aber gleichzeitig auf die Autoren übertragen wird, die die Texte auf Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben haben und die nur genau das geschrieben haben, was Gott selbst als wahrer Urheber geschrieben haben wollte (DV 11). „Inspiration“ entkoppelt in dieser Lesart Text und Autoren als heilig (sacrum) aus der Welt. Weil aber Gott gleichzeitig nach Menschenart gesprochen hat, müsse seine Mitteilung in der kontingenten damaligen Form der Schreiber aus unserem heutigen Verstehenskontext heraus verstanden werden (DV 12). Ist nun „Inspiration“ eine bloße Zuschreibung von Normativität einer bestimmten Gruppe, die damit bestimmte Texte heraushebt? Für Dei verbum wird beides zusammengehalten vom Heiligen Geist, der die Wahrheit des Textes in der wahrhaftigen Auslegung verbürgt (DV 12). Ist dann „Inspiration“ letztlich die Bindung an einen Heiligen Geist, der außerhalb von Text und Rezeption ein Eigenleben führt? Ist dann nicht eine charismatische Berufung auf den Heiligen Geist sinnvoller als eine Rückbindung an den Text? Auch hier kann die

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Systemtheorie mit dem Verhältnis von Text und Rezeption sowie verschiedenen Beobachtungsebenen des Wirken des Heiligen Geistes helfen, die Paradoxie der Inspiration differenzierter zu verstehen (s. Abschnitt 6). – Offenbar regt die Frage nach der Wahrheit der Bibel immer noch an und auf. Diskussionen dazu folgen in der Regel einer zweiwertigen Logik. Zur Verteidigung der Wahrheit wird behauptet, dass das, was in der Bibel steht, auch heute noch richtig ist. Andere bestreiten vehement die Wahrheit der Bibel, indem sie ihr Erkenntnisse der Wissenschaft, ihre Lebensferne oder einfach ihre leicht durchschaubare Menschlichkeit vorhalten. Oft wird den Kirchen vorgeworfen, an der Wahrheit der Bibel wider besseres Wissen festzuhalten und sie manipulativ durchzusetzen. Ein systemtheoretischer Zugang unterläuft die simple zweiwertige Logik des „wahr oder falsch“. Gefragt werden kann dagegen: Wie beobachtet die Bibel ihre Umwelt? Und was sehen die, die mit der Bibel die Welt beobachten? Die Frage nach der Wahrheit wird auf die verschiedenen Ebenen der Beobachtung projiziert und damit vervielfältigt: Was sieht der Beobachter 1. Ordnung? Was sieht der, der sieht, wie andere beobachten (2. Ordnung)? Was sehen die, die beobachten, wie andere andere beobachten (3. Ordnung). Von „Wahrheit“ ist nicht ohne Beachtung der Beobachterperspektiven zu reden. Jeder Beobachter kann wiederum von anderen beobachtet werden; die Konzepte von letztgültiger Wahrheit werden diesem Umstand nicht gerecht. Die systemtheoretische Betrachtung des biblischen Textsystems und seiner Interaktion mit den Rezipientensystemen bietet somit auch einen Beitrag zur Pluralismusfähigkeit des Christentums. Sie klärt, wie sich die Partikularität der Bibel zu den Universalisierungen verhält, die Gläubige mit ihr vornehmen.

2. Das System Bibel Jedes flüchtige Gespräch kann als soziales Interaktionssystem beschrieben werden. Da stellen sich zum Beispiel Leute in einer Tagungspause zueinander. Das Gespräch nimmt seinen Gang, das System baut sich auf. Nur solche Äußerungen sind im Gespräch verwendbar, die an andere anschließen. Das System achtet auf die Anschlussfähigkeit der Elemente, nicht die Bewusstseinssysteme,

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die am Gespräch beteiligt sind. Darin liegt eine Selektionsleistung, oder auch die Macht des Systems: Es selektiert aus den möglichen Bewusstseinsinhalten nur die Elemente, die es als System konstituieren. Nicht anschlussfähige Äußerungen unterbleiben, oder wo sie doch getan werden, versucht das Gespräch, sie in den Verlauf zu integrieren. Es will weiterlaufen. Das Gespräch ist ein autopoietisches System, das heißt es stellt die Elemente selbst her, aus denen es besteht, bzw. konditioniert sie so, dass sie für das System verwendbar werden. Das System reproduziert laufend Elemente des gleichen Typs. Damit wird es für sich zur Einheit: bei allen Elementen, die gebildet werden, läuft der Bezug auf die Selbstkonstitution des Gesprächs mit. Kommunikationen, die Elemente des Systems bilden, gibt es auch außerhalb dieses Gesprächs, aber es gibt sie dort nicht so wie sie in diesem eben jetzt stattfindenden Gesprächszusammenhang vorkommen. Eine Grenze zur Umwelt hat sich aufgebaut. Sie bleibt so lange bestehen, wie das System intern operiert. Die Grenze bewirkt die operative Geschlossenheit des Systems, sie bestimmt zugleich darüber, welche Elemente aus der Umwelt in das System einfließen können. Einflüsse der Umwelt kann das Gespräch als Fremdreferenz verarbeiten, oder, wo es sie nicht verwenden kann, sind sie nur ein Rauschen. Zur Umwelt gehören die Bewusstseinssysteme der Teilnehmer, die Gesprächsfetzen, die von anderen Gruppen herüberschallen, oder die Durchsagen der Tagungsleitung. Im Bewusstsein der Teilnehmer liegen andere und mehr Inhalte vor als in das Gespräch eingegeben werden können, sie sind auch nach anderen Regeln miteinander verknüpft. Was geht einem nicht alles durch den Kopf! Im Bewusstsein eines Teilnehmers kann sich eine Beobachtung 2. Ordnung ausbilden: Über was reden wir hier eigentlich? Habe ich das nicht schon mal gehört? Im Gespräch könnte diese Aussage als Fremdreferenz kommuniziert werden, wenn sie sich als anschlussfähig erweist. Sollten aber Inhalte einfließen, die sich nicht an andere Elemente anschließen lassen, so werden sie entweder ausgeschlossen – dazu kann man auf Regeln verweisen: Hör zu! Bleib bei der Sache! – oder das Gespräch ändert seinen Charakter. Ein Teilnehmer nutzt vielleicht die Gelegenheit, einen persönlichen Konflikt mit einem anderen Gesprächsteilnehmer auszutragen. Das Gespräch kann das geschickt integrieren, etwa als Beispiel für etwas gerade Gesagtes, es kann sich aber auch in ein Streitgespräch zwischen diesen Personen verwandeln. In dem Streitgespräch gibt es andere Regeln der

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Anschlussfähigkeit, einen anderen Code – das System würde sich in ein anderes System verwandeln. Um sich gegen solche Codeverletzungen zu schützen, holt das System die Differenz zur Umwelt in das System hinein: Wir reden hier über die Tagung, euren Streit könnt ihr woanders austragen. Das Gespräch beobachtet die Wirklichkeit – hier: die Tagung – aus einer eigenen, systemrelativen Perspektive. Nehmen wir an, die Beiträge der Tagung würden in den meisten Pausengesprächen eher kritisch gesehen. Ein Beobachter 2. Ordnung, etwa der durch die Reihen wandelnde Tagungsleiter, würde seine Schlüsse daraus ziehen und sich vornehmen, das Tagungsthema nicht mehr zu nehmen oder diese Referenten nicht mehr einzuladen. Eine Beobachtung 3. Ordnung könnte vom beteiligten Wissenschaftler kommen, der die Überlegungen des Tagungsleiters mitbekommt und sich sagt, dass sich das Akademiepublikum nicht wirklich für Wissenschaft interessiert und die Leute nur unterhalten werden wollen. Wichtig ist: Alle Wirklichkeitsbeobachtungen sind systemrelativ. Sie folgen unterschiedlichen Codierungen, im gegebenen Beispiel bei den Tagungsteilnehmern interessant/uninteressant, beim Tagungsleiter attraktive/weniger attraktive Referenten, beim Wissenschaftler wissenschaftsnah/-fern. Die Systeme nehmen nur wahr, was sie wahrnehmen. Sie begrenzen sich, sie reduzieren die Komplexität der Umwelt im System, denn man kann nicht über alles auf einmal reden. Das Motiv der Auswahl von Elementen ist allein die interne Anschlussfähigkeit. Erst ein Beobachter höherer Ordnung nimmt wahr, was sie nicht wahrnehmen, aber auch er bleibt in seiner Wahrnehmung und kann von anderen beobachtet werden. Wenn diese Schilderung als Beschreibung eines sozialen Systems genügen mag7, dann wird bereits erkennbar, in welchem Sinne von der Bibel als einem System gesprochen werden kann. In der Bibel sind Texte ganz verschiedener Art, die über einen sehr langen Zeitraum hinweg entstanden sind, miteinander vereint. Was führt sie zusammen? Sie wurden nicht für dieses Buch geschrieben. Sie lassen sich zwar im weitesten Sinne einem gemeinsamen Entstehungszusammenhang zuordnen – die Geschichte Israels und der Jesusbewegung –, daraus folgt aber noch nicht, dass sie in einem Buch zusammenfinden

7

Vgl. dazu N. Luhmann, Systeme (s. Anm. 6), 30 – 91.

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konnten. Eine gemeinsame, übergreifende Thematik wird man nicht ausmachen können. Es handelt sich vielmehr um Texte, die zueinander gefunden haben und miteinander vernetzt sind, weil sie zueinander anschlussfähig waren.8 Spätere Texte konnten an frühere anschließen, weil sie dazu passten – Erzählungen an Erzählungen, Gesetzestexte an Gesetzestexte, prophetische Predigt an prophetische Predigt. Schon diesen Entstehungsvorgang kann man als Systemaufbau verstehen, in dem, wie im Beispiel des Gesprächs, Elemente konstituiert werden, die nach dem Kriterium der Anschlussfähigkeit vom System selbst selektiert werden. Dieser Prozess wurde von außen nicht gesteuert und kontrolliert. Redaktionelle Prozesse und Anfänge der Kanonisierung, soweit sie in der Bibel erkennbar werden, stützen sich auf bereits vorliegende Sammlungen. Aus ihnen ließen sich bei aller Unterschiedlichkeit Leitdifferenzen ableiten, die die unterschiedlichen literarischen Genera übergriffen und bei der Zusammenstellung von Textsammlungen benutzt wurden.9 Betrachtet man das Ergebnis, die Sammlung der biblischen Bücher, so zeigt sich, dass trotz der formalen und inhaltlichen Heterogenität der Texte die Bibel als eine Einheit mit einem hohen Grad von Vernetzung erscheint. Sie ist ein „System ‚kommunizierender‘ Texte“ (R. Rothenbusch), ein Kommunikationssystem, das selbstreferentiell kommuniziert. Jedes Element ist ein Element für das System, die Verweisung auf die Einheit des Systems läuft in allen Texten mit. Die Bibel als System hat sich selbst produziert. Gerd Theißen spricht von der „biblischen Zeichenwelt“ mit ihren verschiedenen „Grundmotiven“, die als „Suchprogramme“ verwendet werden können.10 Die Anlehnung an das Internet ist sicher nicht zufällig. So wie sich dort um bestimmte Texttypen immer weitere Texte anlagern, so kann man es sich auch für die Entstehung der Bibel vorstellen. In dieser Sicht ist die Bibel nicht ein Dokument der Tradition, der Be8

Franz Dünzl beschreibt exemplarisch, dass das Ebionäer-Evangelium deshalb als häretisch im Kanonisierungsprozess abgelehnt wurde, weil es ganz bewusst für das Markus-Evangelium votierte und gegen die Evangelien von Lukas und Johannes. Damit widersetzt es sich ausdrücklich der Harmonisierbarkeit der Differenz in der Einheit (vgl. F. Dünzl, Kleine Geschichte des trinitarischen Dogmas, Freiburg i. Br. 2006, 16f.). 9 Vgl. den Beitrag von Ralf Rothenbusch in diesem Band, 262 und insgesamt 262–279. 10 G. Theißen, Bibelhermeneutik als Religionshermeneutik, in: EvTheol 72 (2012), 291–306, 294.

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wahrung von Vergangenem, sondern zuerst ein System, das heißt ein operativer Zusammenhang von Kommunikationen, die einer Leitdifferenz folgen und sich dadurch von der Umwelt unterscheiden.11 In Luhmanns Terminologie ist die Bibel ein „komplexes“ System. Als komplex gilt ein System dann, wenn nicht mehr jedes Element mit jedem anderen verknüpft werden kann. Die Bibel ist kein Puzzle. Es ist nicht möglich, alle Elemente der Bibel widerspruchsfrei miteinander zu verknüpfen (wie es in einem Gespräch wohl möglich sein mag). Komplexe Systeme sind gezwungen, die Verknüpfungen, die Relationen zwischen den Elementen zu organisieren, das heißt diese Verbindungen zu begrenzen. Komplexe Systeme sind also zugleich komplexitätsreduzierende Systeme. Sie lassen nicht alle möglichen Verbindungen zwischen den Elementen zu, um ihre Einheit, ein einheitliches Operieren zu gewährleisten. Dass die Bibel als Einheit vor uns steht, ist ein Hinweis darauf, dass sie als komplexes System diese Aufgabe der Komplexitätsreduktion bewältigt hat.12 Daraus folgt zweierlei: Zum einen, dass die Bibel ein kontingentes und damit risikobehaftetes System ist. Denn die Elemente können auch anders benutzt werden. Ausleger der Bibel können das System dekomponieren, indem sie einzelne Elemente aussondern und in andersartiger Weise verwenden. Versuche, die Bibel nur als historische 11 Vgl. analoge Beobachtungen aus der Talmud-Forschung: J. Rosen, Talmud und Internet. Eine Geschichte zweier Welten, Frankfurt a.M. 2002, und vor allem J. Neusner, The Reader’s Guide to the Talmud, Leiden/Boston/Köln 2001; dort die Hauptthese S. 292: „The system comes first. In the present context, that means that the logic and principle orderly inquiry take precedence over the preservation and repetition of received materials, however holy. The mode of thought defined, the work of applied reason and practical rationality may go underway.“ Das hier über den Talmud Gesagte gilt nach Neusner ausdrücklich auch für die Tora, vgl. ebd., 254 –257. 12 Mit Blick auf den 3. Abschnitt ist hier zu betonen, dass bei einer Beobachtung 2. Ordnung klar ist, dass diese Einheit immer schon an die Rezeption gekoppelt ist. Auf der Ebene der Operation selektiert die Bibel selbst und sorgt sich in ihren Selektionen um ihre eigene Einheit. In dem Prozess der Kanonisierung sind durchaus auch kontextuelle Steuerungsversuche, redaktionelle Bearbeitung mit bestimmten Konstruktionsperspektiven auf eine Einheit erkennbar, und gleichzeitig zeigt die Vielfalt der Thesen zur Entstehung, dass die Komplexität schon in der Entstehung und erst recht in der Interpretation der kanonischen Bibel so hoch ist, dass Text und Rezeption nicht mehr als historische lineare Kette auflösbar sind. Deshalb ist die Bibel als Einheit selbst auf einen einheitsbezogenen Lesecode angewiesen, der aus der Textsammlung das Wort Gottes macht.

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Quelle, als Buch der Moral, als Sammlung von Menschheitswissen zu rekonstruieren, sind ein Risiko, das die Bibel als komplexes System nicht vermeiden kann – und letztlich auch nicht will13. Denn zum anderen gilt: Kein System kann einem anderen seine interne Komplexität vollständig mitteilen. Dies wird durch die Grenzen zwischen den Systemen verhindert, die jeweils nur das in andere Systeme eintreten lassen, was dieses im eigenen Code kommunizieren kann.14 Für die Bibel bedeutet dass, dass ihre innere Komplexität von außen nicht vollständig durchschaut werden kann. Ins Positive gewendet folgt daraus: Die Aufgabe der Auslegung ist unerschöpflich und wird niemals an ein Ende kommen. Das Kommunikationssystem Bibel kann alles integrieren, was es in der Welt gibt bzw. was es damals gegeben hat. Alles kann Element der Bibel sein. Alles kann in die Unterscheidungen der Bibel hineingezogen werden. Sie ist in dieser Hinsicht zum Beispiel einem Rechtscodex zu vergleichen. Alles kann in rechtlicher Perspektive betrachtet werden, aber dies ist dann eine Betrachtung in der Perspektive des Rechts, die mit der Unterscheidung Recht/Unrecht operiert. Man würde einem Rechtscodex aus der Vergangenheit nicht gerecht, wenn man die darin geschilderten Fälle ausschließlich auf ihren historischen Aussagewert hin bewerten würde; nicht um historische Korrektheit geht es darin, sondern um die rechtliche Beurteilung. Dabei werden die Verfasser des Codex vorrangig die Fälle, die Realitäten herangezogen haben, deren rechtliche Beurteilung problematisch war oder an denen rechtliche Fragen besonders gut veranschaulicht werden konnten. Aus dem weiten Erfahrungsfeld, aus dem die Elemente der Bibel stammen, werden sich einige unmittelbar als anschlussfähig erwiesen haben, andere konnten erst Eingang finden, nachdem sie an die Leitunterscheidung der Bibel angepasst 13 Da die Bibel auf Rezeption angewiesen ist und erst in ihr die Bibel ihre eigenen Operationen vollziehen kann, ist bei einer Beobachtung 3. Ordnung zu sehen, dass es ganz unterschiedliche Rezeptionsgemeinschaften gibt, die auf ihre Weise die Bibel als komplexes System lebendig halten. In jeder der möglichen Kopplungen würde die Bibel selbst diese Versuche akzeptieren, da sie sie ja auf der Ebene der Operationen vollzieht. An dieser Stelle wird aber auch deutlich, warum die eingangs zitierten personalisierten Sätze unzureichend sind. Denn dort wird die Eigenständigkeit der Bibel als Akteur ohne die notwendige Verletzlichkeit der Rezeption gedacht. 14 Vgl. N. Luhmann, Systeme (s. Anm. 6), 46 –53.

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und entsprechend umgeschrieben, konditioniert wurden. Das System Bibel hat demgemäß eine eigene Art von Texten erzeugt, ganz so wie in einem Gespräch die Teilnehmer ihre Beiträge auf die Passung für die Kommunikation hin abstimmen. Die Bibel als System bestimmt die Art, wie Gegebenheiten in ihr vorkommen können. Es liegt hier ein spezifisches Verhältnis von Universalität und perspektivischer Partikularität vor, das sich aus der systemischen Aktivität erklären lässt. Was dies für die Frage der Universalisierbarkeit einer biblisch-christlichen Weltsicht bedeutet, werden wir in Abschnitt 7 weiter erörtern. Die Bibel ist ein Kommunikationssystem, das seine Umwelt beobachtet, und es stellt sich die Frage, warum sie dies nicht immer weiter getan hat bzw. heute weiter tut. Es hätten sich ja immer weitere Texte anlagern können, so wie es in der Zeit der Entstehung der Bibel geschehen ist. Das Internet zeigt, dass ein solches Weiterwachsen einer Kommunikation im Prinzip unbegrenzt ist, es sei denn, die Seite wird durch äußere Veranlassung geschlossen oder das Interesse daran geht zurück. Die systemische Geschlossenheit der Bibel wäre durch ein solches Weiteroperieren nicht in Frage gestellt, denn diese ist allein in der Einheit des Codes gegeben. Die Frage ist heute von Bedeutung im Blick auf die Menschen, die nicht mit der biblischen Welt und Kultur verbunden sind. Warum müssen sie auf die kulturellen Muster zurückkommen, die in der biblischen Literatur vorherrschen? Könnte es nicht auch eine chinesische Fortschreibung der Bibel geben? Oder könnte es nicht überhaupt eine moderne Bibel geben?15 Mit der Kanonisierung hat die Kirche das Operieren des Systems Bibel beendet. Seitdem ist die Bibel für ihre Umweltbeobachtung auf andere Systeme angewiesen. Sie „weiß“ darum, dass sie Rezipienten nötig hat, damit weiter Beobachtungen in ihrer Perspektive stattfinden können. Damit steht jetzt die Klärung des Verhältnisses zwischen dem System Bibel und den Systemen der Rezipienten an.

15

Diesen Ansatz verfolgt z. B. G. Theißen, Bibelhermeneutik (s. Anm. 10), 305, wenn er vorschlägt, den biblischen Kanon mit Texten aus anderen Religionen anzureichern.

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3. Die Interaktion zwischen Textsystem und Rezipienten Für die moderne, aus der Aufklärung hervorgegangene Gesellschaft ist es charakteristisch, dass man die Welt beobachtet, indem man andere Beobachter beobachtet: die Medien oder vielleicht die Börse, an der man das Gewicht eines politischen Ereignisses ablesen kann. Umgekehrt orientieren sich die Systeme der Gesellschaft zunehmend daran, wie sie von anderen beobachtet werden: die Politik von der öffentlichen Meinung, die Wirtschaft von den Konsumenten usw.16 Christen sind in diesem Sinne moderne Menschen: Sie beobachten die Welt, indem sie beobachten, wie die Bibel die Welt beobachtet, und sie orientieren sich daran, wie sie von der Bibel beobachtet werden. In beiden Richtungen geht es um Beobachtung mit Hilfe einer Fremdreferenz. Christen nutzen die Bibel als Fremdreferenz, um ihre Perspektive auf die Welt einzunehmen, und die Bibel setzt den Leser als Fremdreferenz voraus, wenn sie die ihr eigene Weltbeobachtung weiterhin vollzieht. Aber was bedeutet es, die Welt mit der Bibel zu beobachten? Die Bibel ist unermesslich vielfältig, dazu kommt die unüberschaubare Vielfalt der Auslegungen, die mit jedem Tag anwächst. Es ist der Irrtum des Fundamentalismus zu meinen, man könne einfach die biblische Welt bewohnen und von ihr aus beobachten. Weiß man darum, dass sie nur als Fremdreferenz, in der Beobachtung eines Beobachters, in unsere Welt eintreten kann, dann ist zugleich klar, dass sie nur systemrelativ vom Beobachter aus als Einheit konstruiert werden kann. Die Einheit der Bibel besteht in ihrem Operieren, sie wird aber in ihr selbst nicht auf den Begriff gebracht. Die Bibel selbst ist keine Theologie, und keine „biblische Theologie“ kann ihren Inhalt erschöpfend erfassen.17 Die Einheit der Bibel ist nicht inhaltlich gegeben, sondern ergibt sich aus der Leitdifferenz, durch die die Texte miteinander verknüpft sind und mit der sie die Welt beobachtet. Glaubensbekenntnisse und Kurzformeln haben seit je versucht, die biblische Weltsicht zu formulieren, und in der Theologie muss seit je über die Leitunterscheidung der Bibel gestritten werden. 16 Vgl. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, 313.766 –768. 17 Vgl. D. Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München 1984, 98f.

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Ist es die Unterscheidung Sterblichkeit/Unsterblichkeit, die in der Alten Kirche das leitende Paradigma gewesen zu sein scheint? Ist es die augustinische Unterscheidung von Natur und Gnade, die scholastische von Glauben und Wissen, die reformatorische von Glauben und Werken oder die neuscholastische von Natur und Übernatur? Alle diese Unterscheidungen lassen sich formal auf die Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz zurückführen; auch Luhmann nennt diese als die Grundunterscheidung, die die Religion in der Welt vornimmt.18 Immanenz steht dabei für das Vertraute, Bekannte, Transzendenz für das Unvertraute und Unbekannte. Die Religion mit ihrem Code „transzendent/immanent“ verdoppelt die Welt, indem sie dem Bekannten und Vertrauten das Unbekannte und Unvertraute gegenüberstellt (und dann das Unvertraute im Vertrauten vorkommen lässt, also bearbeitbar macht). Die Unterscheidung ist stets eine relative, abhängig von dem, was als das Vertraute erlebt und erlitten wird. Ist dies die Sterblichkeit oder die Unzulänglichkeit der sündigen Natur oder das Weltwissen der Philosophen oder das Gesetz der Werke oder die naturwissenschaftliche erklärte immanente Welt des 19. Jahrhunderts? So wird deutlich, dass die Fremdreferenz der Bibel und damit ihre Einheit als Instrument der Weltbeobachtung immer nur relativ vom Beobachterstandpunkt aus beschrieben werden. Nur indirekt in Bezug auf eine bestimmte Welterfahrung kommt die Transzendenz in den Blick. Die Codierung der Bibel ist je nur in der Gegenwart wirksam, sie wird nur systemadäquat angewendet, wenn sie von Rezeptionsgemeinschaften aufgenommen und in systemspezifischer Weise benutzt wird. Bibel und Rezeption sind einander zirkulär zugeordnet in einer immer neu auszutarierenden Spannung zwischen der Aktualisierung der biblischen Weltbeobachtung einerseits und dem Rückgang auf die biblische Leitunterscheidung andererseits. Was die Bibel bereitstellt, ist der Code, mit dem beobachtet wird, nicht Inhalte, die einfach auf das Heute anzuwenden wären; aber dieser Code ist nur aus den Inhalten zu erheben. Die Bibel bietet, wie es Jacob Neusner in Bezug auf den Talmud ausdrückt, einen „mode of thought“, mit dem weitergearbeitet werden kann. Wenn es in den eingangs zitierten Äußerungen hieß, der Text gebe Anwei18 Vgl. N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, hrsg. von A. Kieserling, Frankfurt a.M. 2000, 53 –114.

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sungen, schicke den Leser auf den Weg, habe Macht über ihn, die Begegnung mit dem Text sei ein dialogisches Geschehen, dann ist das auf die Wirkung des biblischen Textsystems zu beziehen, seine Unterscheidungen und damit seine Art der Weltbeobachtung auch heute noch zu benutzen. Die Rezipienten können diesen Einfluss nur in systemspezifischer Weise, eben als Fremdreferenz, aufnehmen. Das Textsystem tritt uns gegenüber und muss das tun, um als Fremdreferenz in Anspruch genommen werden zu können, zugleich wird sein Operieren unser eigenes, wenn wir die Welt mit der Bibel beobachten. Das ist eine Paradoxie, die zu übersehen bedeuten würde, den biblischen Text entweder in der Vergangenheit zu belassen oder seine Aktualisierung beliebig werden zu lassen.

4. Offenheit und Geschlossenheit Das Gespräch, das die Bibel führt, ist nicht das unsere, aber es kann als Fremdreferenz in unsere Gespräche Eingang finden. Die Differenz von System und Umwelt wird in der Art, wie die Bibel in den Rezeptionssystemen kommuniziert wird, mit kommuniziert. Was heißt das für die Spannung von Geschlossenheit und Offenheit, die wir an den Positionen des Fundamentalismus und der Hermeneutik festgemacht haben? Die Bibel ist als eigenes System zu achten, sie erschließt sich nur in der Widerständigkeit, die sie allen Vereinnahmungsversuchen entgegensetzt – das sehen die Fundamentalismen richtig. Rezipienten der Bibel gehören zu ihrer Umwelt. Sie gewinnen zu ihr nur einen Zugang, indem sie die Bibel als Fremdreferenz in ihren jeweiligen, unerschöpflich verschiedenartigen Selbstreferenzen kommunizieren. Das ist die Wahrheit des hermeneutischen Zugangs. Systemtheoretisch besteht kein Gegensatz zwischen „Offenheit“ und „Geschlossenheit“ der Bibel, Geschlossenheit ist geradezu die Voraussetzung für Umweltoffenheit, denn „Geschlossenheit der selbstreferentiellen Operationsweise ist … eine Form der Erweiterung möglichen Umweltkontaktes; sie steigert dadurch, daß sie bestimmungsfähigere Elemente konstituiert, die Komplexität der für das System möglichen Umwelt.“19 Nur ein System, das operational

19

N. Luhmann, Systeme (s. Anm. 6), 63.

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geschlossen ist, kann sich von der Umwelt unterscheiden und diese auf sich beziehen, denn es kann neue Elemente bilden, die das System operativ reproduzieren.20 Diese Bedingung gilt für beide Seiten der Interaktion, für das biblische Textsystem und für die Rezipientensysteme. Es kommt zu einer strukturellen Kopplung, die die Weltbeobachtung in der Fremdreferenz der Bibel durch die Rezipienten mit der Weltbeobachtung in der Fremdreferenz der Rezipienten durch die Bibel zusammenhält. Erst in einer Beobachtung 3. Ordnung ist diese strukturelle Kopplung als zirkuläre Bewegung zu beschreiben. Die Rezeption der Bibel wird also nicht weltoffener, wenn die Geschlossenheit der Bibel herabgesetzt wird. Gerade die vorausgesetzte Einheit übt den notwendigen Zwang aus, die Bibel für eine konkrete Situation zu verstehen und darin die Welt zu verstehen. Die Bibel muss voraussetzungsgemäß grundsätzlich mehr von der Welt verstehen, auch wenn sie dafür auf unser verstehendes Lesen angewiesen ist. Die Paradoxie darf nicht aufgelöst werden, wie das der Fundamentalismus und eine einseitige Hermeneutik tun, die sich nicht mehr in die zirkuläre Struktur der Rezeptionsgemeinschaft fügen wollen. Es braucht von daher einen gewissen Mut, die operativen Grenzen der Bibel als ausreichend zu akzeptieren, um die eigene Welt zu verstehen. Dass dies immer ein partikularer Akt bleiben wird, liegt in der Natur der Sache selbst, für den Text wie für die Rezeption, andernfalls müsste die Bibel abstrakt bleiben und könnte genau dadurch nicht mehr das Leben erreichen. Dass diese Konkretion enttäuscht wird und dass deshalb der Maßstab für eine angemessene biblische Weltbeobachtung nicht sein kann, dass alles so wird, wie sich das die Bibel vorstellt, wird im Übrigen schon von der Bibel selbst reflektiert. Die „Lampe“ der Bibel ist das Licht der Verheißung. Biblische Normativität ist, wenn sie an die konkrete, geschichtliche Situation gebunden ist, immer eine unerfüllte Verheißung.

20 Vgl. ebd., 86: „Es geht [bei der Frage der Bestandserhaltung eines Systems] nicht mehr um eine Einheit mit bestimmten Eigenschaften, über deren Bestand oder Nichtbestand eine Gesamtentscheidung fällt; sondern es geht um eine Fortsetzung oder Abbrechen der Reproduktion der Reproduktion von Elementen durch ein relationales Arrangieren eben dieser Elemente. Erhaltung ist hier Erhaltung der Geschlossenheit und der Unaufhörlichkeit der Reproduktion von Elementen, die im Entstehen schon wieder verschwinden.“

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Für diese Form der operativen Geschlossenheit ist die Kanonisierung ein typischer Anwendungsfall für Religionen, die die operative Schließung historisieren, so dass der Text der Rezeptionsgemeinschaft nun als Einheit gegenübertritt.

5. Der biblische Kanon zwischen Vergangenheit und Gegenwart Die Idee, dass das Christentum eine Religion des Buches sei und die Wahrheit des Glaubens in „geschriebenen Büchern“ (Konzil von Trient: DH 1501) aufbewahrt ist, deren Anordnung und Umfang durch autoritative Entscheidung des kirchlichen Lehramts verbindlich festgelegt worden ist, die Idee des biblischen Kanons also, scheint der Lebendigkeit des Wortes Gottes, das „ganz nah bei dir ist, in deinem Mund und in deinem Herzen“ (Dtn 30,14) zu widersprechen. Dietrich Ritschl bemerkt: „Ein heimlicher Deismus ist in diesem Konzept unverkennbar“21, in dem Sinne, dass Gott einmal gesprochen hat und dann nicht wieder. Sollte seine Stimme nur aus der Vergangenheit zu uns sprechen? Ist der christliche Glaube an eine heilige, normative Ursprungszeit gebunden? Hat die Fortführung der biblischen „story“ (Ritschl) durch die Festlegung des Kanons einen Einschnitt erlitten, aufgrund dessen zwischen Schriften, die die Offenbarung unmittelbar enthalten, und späteren Schriften und Traditionen, die sich nur vermittelt auf die Offenbarung beziehen können – nach römisch-katholischer Auffassung angeleitet durch die authentische Interpretation des Lehramts (Dei Verbum 10) –, unterschieden werden muss? Warum sollte die „story“ zu einem bestimmten Punkt der apostolischen Zeit beendet gewesen sein? Wirkt der Geist, der die Schriften inspiriert hat, nicht weiter? Kann das System Bibel seine Elemente nicht mehr produzieren, seine Wirklichkeitsbeobachtung nicht fortsetzen? Für Christoph Theobald besagt die Idee des Kanons genau das Gegenteil. Er verweist auf die Akklamationen, die Gläubige im Gottesdienst bei der Erhebung des biblischen Buches ausrufen: „Wort des lebendiges Gottes“ – „Lob sei dir Christus“. Die Akklamation versetzt das Gehörte in die Gegenwart der feiernden Gemeinde, und eben das ist für Theobald

21

D. Ritschl, Logik (s. Anm. 17), 100.

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Kanonisierung. „Ce geste d’élévation du livre reproduit ici et maintenant l’acte de canonisation: l’objet culturel, produit intégralement humain, reçoit statut canonique de Parole de Dieu.“22 Der Kanon wirft die Frage nach der Zeitlichkeit der Glaubenskommunikation auf. Offensichtlich ist das Konzept des Kanons falsch verstanden, wenn es diese Kommunikation an die Vergangenheit bindet. Paradoxerweise scheint das Gegenteil der Fall zu sein: Gerade die Geschlossenheit des Kanons als eines Dokuments der Vergangenheit steht im Dienst der Gegenwärtigkeit des Wortes Gottes. Zweifel an der „deistischen“ Kanonauffassung erwachsen bereits aus dem Umstand, dass die Unterscheidung von Offenbarungsvermittlung und Rezeption, die die Differenz von Kanon und späterer Auslegung trägt, nach den bisherigen Ausführungen nicht greift. Auch die Schriften des Kanons sind das Ergebnis von Rezeption; theologisch gesehen besteht also kein Unterschied zwischen Vermittlung und Rezeption in den kanonischen Schriften und in der Tradition. Die Geschichte der Bildung des christlichen Kanons zeigt, dass nicht das Interesse an normativen Schriften die Entwicklung vorantrieb, sondern der Wunsch nach Begegnung mit dem Herrn und an dem lebendigen Wort des Evangeliums. Kanonisiert wurden die Schriften, die wirklich in den Gemeinden gelesen wurden; Gunter Wenz spricht von „faktischer Selbstdurchsetzung“.23 Geltung hat das lebendige, mündliche Wort. Verschriftlichung ist ein Behelf, um das Wort gegen Verfälschung und Beliebigkeit zu schützen. Gegenüber der Ausweitung der Schriften in der Gnosis wurde das Prinzip „nichts hinzufügen“ aufgestellt, gegenüber der Reduktion der Schriften durch Markion das Prinzip „nichts hinweg nehmen“. Auch frühe christliche Reflexionen auf die Schriften zeigen: Das Wort hat Vorrang gegenüber der Schrift; was als lebendiges Wort gilt, entscheidet sich daran, wie die Schriften gelesen und verstanden wurden und welche Wirkung sie hatten. So hatte es auch ein Paulus schwer, in den Kanon zu gelangen. Wenn man den Kanon in erster Linie als normative Schriftgrundlage des Glaubens versteht, dann ist „die Geschichte des Kanons … seine Kritik.“24 Die weitere Entwicklung, die 22

C. Theobald, Le christianisme comme style. Une manière de faire la théologie en postmodernité, Paris 2008, 642. Hervorh. im Org. 23 G. Wenz, Geist (Studium Systematische Theologie Bd. 6), Göttingen 2011, 173. 24 Ebd., 164.

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schließlich zur Festlegung eines Kanons und seiner inneren Ordnung führte, ist grundlegend von der Strukturdualität Wort Gottes – Rezeption gekennzeichnet. Es ist diese Struktur, die mit dem Kanon gegeben ist.25 In systemtheoretischer Modellierung stellt die Heilige Schrift als Kanon sicher, dass die Bibel für die Rezeption Fremdreferenz ist und bleibt. Für die Bibel selbst ist Kanonisierung nicht notwendig. Das Kanonische ist auch nichts, was den Schriften an sich zueigen wäre. Kanonisierung vollzieht sich, wenn eine Rezeptionsgemeinschaft die Bibel als Fremdreferenz heranzieht, um damit die Welt aus der Perspektive Gottes zu beobachten. Wer die Bibel nur als ein Stück Weltliteratur liest oder als Dokument der Religionsgeschichte, für den ist sie nicht kanonisch; selbstverständlich kann man dann über die Grenzen des Kanons hinausgehen und weitere Schriften berücksichtigen. Indem Gottesdienstgemeinden als Rezeptionsgemeinschaften die Bibel nicht nur als klassische Literatur betrachten, wie dies für alle Menschen möglich ist, sondern als Wort des lebendigen Gottes, vollziehen sie Kanonisierung als aktiven Prozess. Im Akt der Rezeption schreiben sie der Bibel eine Einheit zu, um mit ihr die Welt beobachten zu können. Das „extra nos“ der Schrift ist eine Relation, die die Rezeptionsgemeinschaft zu ihr eingeht. Sie findet diese dann auch in den Texten selbst als eigen- und widerständige Struktur wieder. Damit ist noch nichts über die Grenzen des Kanons gesagt. Diese konnten bemerkenswerter Weise in den Kirchen über Jahrhunderte offen bleiben; an der faktisch selektiven Nutzung des Kanons hat in der katholischen Kirche auch die Liste des Konzils von Trient (DH 1502f) nichts geändert. Indem die Idee des Kanons auf die Struktur „Wort Gottes – Rezeption“ bezogen ist, indem also die Kanonisierung ein Akt der Rezeptionsgemeinschaft ist, der aus ihrem konkreten Umgang mit den biblischen Schriften entsteht, versteht es sich von selbst, dass Umfang und Gewichtung der einzelnen Schriften bei den Rezeptionsgemeinschaften bzw. Konfessionen verschieden sein kann. Die biblischen Rezeptionsgemeinschaften, also die jüdische Gemeinschaft und die christlichen Konfessionen, unterscheiden sich in der Art, wie sie mit der Bibel die Welt beobachten wollen. Sie stabilisieren als Programme die Erwartungen an die Per-

25

Vgl. C. Theobald, Christianisme (s. Anm. 22), 617– 640.

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spektive der Bibel auf die Welt und die Erwartungen der Bibel an ihre Rezeption – das ist die doppelte Kontingenz, mit der die Rezeptionsgemeinschaften massiv zu kämpfen haben und die erklärt, warum es Glauben nur in Gemeinschaften geben kann, weil nur diese die Erwartungen stabilisieren können und dann auch müssen.26 Da es für sie wichtig ist, dass die Gesellschaft jederzeit unter dem Blick der Bibel beobachtet werden kann, haben sie ein Interesse daran, ihre Art der Rezeption durch Tradition und Lehramt zu stabilisieren. Der Ausstieg aus dem Kanon bedeutet den Ausstieg aus der Rezeptionsgemeinschaft, so wie auf der anderen Seite konfessionelle Spaltungen stets mit einer Problematisierung des geltenden Kanons einhergingen. Das eigentliche Verbindliche des Kanons liegt darin, dass das Gottes-Wort lebendig bleibt, also für Rezeption und Weltbeobachtung zur Verfügung steht. Eine Verwerfung des Kanonischen überhaupt führt dazu, die Bibel als Fremdreferenz aufzugeben und damit auch die biblische Beobachtung der Welt. Eine Überlegung von Luhmann, die sich auf den Umgang von Systemen mit der Zeit bezieht, kann helfen, die Bedeutung des Kanons für die Kirchen weiter zu klären. Komplexe Systeme, die dadurch charakterisiert sind, dass sich nicht alle Elemente mit allen verbinden lassen, müssen flexibel auf veränderte Umweltbedingungen reagieren können, das heißt, sie müssen in der Lage sein, die Relationen zwischen den Elementen zu verändern. Sie tun dies in Formen „Struktur“ und „Prozess“, die sich durch ihr Verhältnis zu der Zeit unterscheiden. „Strukturen halten Zeit reversibel fest, denn sie halten ein begrenztes Repertoire von Wahlmöglichkeiten offen. … Prozesse markieren dagegen die Irreversibilität der Zeit. Sie bestehen aus irreversiblen Ereignissen. Sie können nicht rückwärts laufen.“27 Den Kanon als Prozess zu verstehen würde bedeuten, ihn zu historisieren und Gott nur aus der Vergangenheit sprechen zu lassen. Der Kanon als Struktur steht dagegen für Konstanz, aber, wie Luhmann hervorhebt, nicht im Sinne einer Statik, sondern mit der Möglichkeit zu Änderungen und Anpassungen. Strukturen können sich 26

So ist es ein Merkmal der Katholischen Kirche den historischen Prozess zu betonen und die vollständige Abkopplung in der Struktur zu unterbinden. Das produziert Historisierungsprobleme, die auf den Wahrheitswert durchschlagen, dadurch wird aber auch paradoxerweise die operative Geschlossenheit gestärkt (s.u.). 27 Vgl. N. Luhmann, Systeme (s. Anm. 6), 73f.

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wandeln und bleiben doch Struktur. Mit dem Kanon haben sich die Kirchen eine flexible Struktur gegeben, mit der sie auf veränderte Umwelten reagieren können. Der Kanon legt nicht fest, was konkret zu geschehen hat, er schreibt keine bestimmte Rangordnung von Schriften und von deren Verhältnis zueinander vor, schon gar nicht legt er auf bestimmte Inhalte fest. Die unterschiedlichen Leseordnungen für die Gottesdienste können dafür als Beleg gelten, und auch die unterschiedliche Gewichtung, die einzelne Schriften oder Schriftstellen im Kanon für eine Glaubensgemeinschaft zu verschiedenen Zeiten haben. Einen inhaltlichen „Kanon im Kanon“ zu definieren, wie es immer wieder versucht wird, wird dem Kanon als Struktur nicht gerecht. Wohl aber können Christen, können Kirchen in gewandelten Zeitlagen und Herausforderungen auf die Struktur des Kanons zurückkommen und die Schriften in neuer Weise aktualisieren. Theobald beschreibt diesen Rückgriff auf die kanonische Struktur in einer historischen Perspektive: „Was hat den Gemeinschaften geholfen zu überleben? Es war ihre Fähigkeit neue Fragen an ihre alten Traditionen zu stellen, sie in einem neuen, häufig krisenhaften Kontext neu zu interpretieren und ihnen dadurch eine lebendige und formende Identität zu geben, die in der Tat der Anfang ihres kanonischen Status ist.“28 Daraus folgt: Wir können froh sein, dass diverse Ansätze zur Reduktion des Kanons, angefangen bei Markion, sich nicht durchgesetzt haben. Die Fähigkeit der Kirchen, auf Umweltveränderungen zu reagieren, wäre damit dramatisch begrenzt worden.

6. Die Inspiration und der Heilige Geist Weiterhin ist es reizvoll, den Begriff der „Inspiration“ systemtheoretisch neu zu fassen. Inspiriertheit ist keine Eigenschaft, die bestimmte Schriften oder ihre Verfassern haben. Inspiration ist ein Geschehen, das in der Interaktion zwischen Rezipienten und der Bibel 28

„Qu’est-ce qui a permis aux communautés de survivre? Leur capacité de poser de nouvelles questions à leurs traditions déjà anciennes, de les réinterpreter dans un contexte nouveau, souvent de crise, leur donnant par là une autorité vivifiante et formatrice d’identité, qui est en fait le début de leur statut canonique“ (C. Theobald, Christianisme [s. Anm. 22], 614, Hervorh. im Org.).

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stattfindet. Inspiriert ist das, was inspiriert und inspiriert ist der, der sich inspirieren lässt. Indem Menschen mit der Bibel die Welt beobachten, kann sie für sie zu einer Quelle der Inspiration werden. Sie schreiben die Bibel dem Heiligen Geist zu in dem Maße, wie sie im Akt der Rezeption selbst diesen Geist bei sich und beim GegenüberText entdecken, der ihnen diese Inspiration schenkt. Es kommt auf die Identität dieses Geistes bei uns und in der Autologik des Textes an, der erst dadurch zu einem lebendigen Geist bei uns werden kann. Der Begriff der „Inspiration“ drückt aus, dass die Bibel als Fremdreferenz behandelt werden muss, um mit ihr die Welt zu beobachten, dass aber diese Beobachtung zugleich eine Aktivität des beobachtenden Systems ist. Was dies für das Verständnis des Heiligen Geistes bedeutet, wollen wir verdeutlichen. Bei der Frage nach dem Verständnis von Inspiration besteht die gleiche Problemlage wie bei der Kanonfrage. Würde man die Inspiration ausschließlich an ein Geschehen der Vergangenheit binden – der Geist hat damals die Hagiographen inspiriert; die damals entstandenen Schriften sind inspiriert – dann wäre der Glaube nur an einen einmaligen, historischen Ursprung gebunden. Auch wenn es durchaus zum katholischen Profil gehört den Prozess stärker als die Struktur zu betonen – und damit die bloße literarische oder symbolische Perspektive auf die Bibel abgelehnt wird – so wäre dann immer die Frage zu klären, wie der stetig wachsende Abstand zu diesem Ursprung überwunden werden kann und welche Vermittlungsinstanzen dazu nötig sind. Würde man andererseits den „Beweis des Geistes und der Kraft“ (1 Kor 2,4) nur an die gegenwärtige Erfahrung des Geistes binden, ginge der Bezug auf die konkrete Geschichte der Geistmitteilung verloren. Paulus fürchtet im Zusammenhang der genannten Stelle, dass sich der Glaube dann nur noch auf „Menschenweisheit“ stützte und nicht auf die „Kraft (dynamis) Gottes“, die Kraft Gottes aber ist für Paulus in Jesus Christus erschienen, und zwar als dem Gekreuzigten. Es ist der Geist, der in Jesus Christus wirkte, kein anderer als der Geist, der in den Gläubigen wirkt. Dass aber zwischen beiden zugleich unterschieden werden muss, weil es sich um die Kraft Gottes und nicht um Menschenweisheit handelt, das ist die doppelte Paradoxie, die mit dem Begriff der „Inspiration“ angezeigt ist. In dem Geist des Textes, der auch der Geist des Lesers ist, kreuzen sich die beiden Unterscheidung: gestern und heute sowie biblische Autologik und Rezeption. Dass wir das Gestern in der Per-

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spektive einer sich von damals zu uns entwickelnden historischen Kontinuität sehen, sorgt auf der einen Seite dafür, dass wir weiter bestimmte Erwartungen (theol. Verheißungen) an unsere heutige Welt haben, die die Immanenz irritieren, so dass der gleiche Geist uns überhaupt noch inspirieren kann. Dass wir das Gestern als vergangen stehen lassen, öffnet auf der anderen Seite die Freiheit überhaupt in unserer Zeit zu stehen und den Geist unserer Zeit zu erleben, den wir dann über die Bibel auf seine Einheit mit dem Geist Gottes prüfen. Im Geist konstituiert sich die legitime Unterscheidung zwischen Kanon und Rezeption, die Zuordnung zu Gestern und Heute eröffnet die lebendige operative Schließung der Systeme. Theologisch ist es deshalb notwendig, den Geist, der in Jesus Christus wirkt, als den Geist Gottes zu identifizieren. Denn nur bei Gott kennt man eine solche Art der Kommunikation: ganz bei sich bleiben und zugleich ganz auf dem Platz des anderen stehen. Die Trinitätslehre sucht diese Paradoxie zu bedenken, wenn sie sagt, dass Gott einer ist und doch ganz bei einem anderen, das wiederum Gott ist. Wenn vom Wirken des Heiligen Geistes in der Welt die Rede ist, dann bedeutet das, dass Menschen an der inneren Kommunikation Gottes teilhaben können. Menschen in der Umgebung Jesu haben dies an ihm bemerkt: Er hat Menschen geholfen, indem er sie sich selbst neu entdecken ließ; am Ende eines solchen Prozesses kann es heißen: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Daran wurde er als der Sohn Gottes erkannt. Der Geist, den er gibt, lässt an dieser göttlichen Art des Umgangs mit dem anderen teilhaben. Jesus ist der Sohn, „der viele Söhne zur Herrlichkeit führen wollte“ (Hebr 2,10). Sein Sohn-Sein ist nichts, das er für sich behält, es erweist göttliche Kraft und Geist darin, dass es das Sohn-Sein der vielen wird. Paulus hat dies im Blick auf den Gekreuzigten enggeführt. Der Gekreuzigte gibt Zeugnis von Gott, in der Selbstpreisgabe ist er er selbst und ganz bei den anderen. Hinzuzufügen ist noch, dass jene verborgene Weisheit Gottes die ist, die Gott „vor allen Zeiten vorausbestimmt hat zu unserer Verherrlichung“ (1 Kor 2,7), oder in den Worten Jesu: „Ich verkünde, was seit der Schöpfung verborgen war“ (Mt 13,35 nach Ps 78,2). Die christliche Geisterfahrung ist nicht exklusiv, sie verbindet mit der Wirklichkeit der ganzen Schöpfung.29 29 Dies sind Grundgedanken aus C. Theobald, Christianisme (s. Anm. 22). Vgl. auch K.-H. Menke, Sakramentalität. Wesen und Wunde des Katholizismus, Re-

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Der Inspirationsbegriff im engeren Sinne denkt diese paradoxe Relation für die Beziehung zwischen den Schriften und den Gläubigen durch. Im Ganzen geht es darum, dass wir nicht Diener des Buchstabens, sondern des Geistes sind (2 Kor 3,6). Der Glaube entsteht nicht aus dem abgeschlossenen biblischen Text, sondern er entsteht immer neu, wenn die Schriften im Geist gelesen werden. Die Inspiration zielt auf Inspiration. Ein Text ist dann inspiriert, wenn er inspiriert. Damit ist klar, dass Inspiration keine Eigenschaft der Texte ist, sondern auf ein Geschehen zielt, das sich zwischen Text und Auslegern ereignet. Der Geist, der in den Texten ist, wird zum Geist derer, die den Text als Wort Gottes „kanonisieren“.30 Die Inspiration erscheint in dieser Art der Rezeption in einer doppelten Beziehung: Einmal auf Seiten des Rezipienten, der mit dem Text die Welt unter der Perspektive Gottes beobachten will und dadurch selbst zum „inspirierten Leser“ wird, zum anderen auf der Seite des Textes, der als Gotteswort im Menschenwort verstanden wird. Dies entspricht dem „inspirierten Autor“. Dass beides zugleich gegeben sein muss, Inspiration des Lesers und des Autors, wird dem Heiligen Geist zugeschrieben, wodurch der inspirierte Text dem Leser gegenüber Fremdreferenz bzw. transzendent bleibt. Aber dies ist die Perspektive der Rezeptionsgemeinschaft, die ihre eigene Beziehung zum Text in den Text hineinverlegt. Der Heilige Geist, der in der Rezeptionsgemeinschaft wirkt, ist der Geist, der die Schriften inspiriert hat und damit die Rezeptionsgemeinschaft gestiftet hat. Das ergibt eine zirkuläre Struktur, die aber für das Rezeptionssystem nicht aufzulösen ist, wenn es denn weiterhin die Welt unter der Perspektive Gottes beobachten will. Systemtheoretisch gedacht lässt sich deshalb Inspiration im Geist zunächst als Operation des Textes verstehen: Der Heilige Geist wirkt in der Bibel. Dann wird in der Rezeption in der Einheit mit diesem Geist beobachtet: Wir sind inspiriert und lesen davon in den bib-

gensburg 2012, 114 –121: Gottes Schöpfung befähigt die Geschöpfe zum Selbstsein. 30 Theobald arbeitet heraus, dass die Entstehung der biblischen Schriften selbst das Modell ist für die christliche Geisterfahrung mit den Schriften: „… il devient déterminant que la règle de la créativité culturelle propre à la foi chrétienne soit tirée de la genèse, unique en même temps qu’exemplaire, du livre biblique“ (C. Theobald, Christianisme [s. Anm. 22], 553).

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lischen Texten, dass der Geist das kann. In einer Beobachtung 1. Ordnung von Text und Rezeption wird dann sichtbar, dass unsere Inspiration von unserer Rezeption abhängt. Damit sie aber nicht Menschenweisheit ist, ordnen wir dies dem Geist zu, der deshalb nicht im Text „stecken“ kann, sondern die Textproduktion steuert. Dieser Geist muss aber gleichzeitig an die Texte wieder rückgebunden werden, da er sonst von den Texten entkoppelt wäre und die Texte selbst keine wirklichkeitsbeobachtende Funktion mehr hätten. Eine davon absehende charismatische Beobachtung des Heiligen Geistes übersieht die Bindung des Geistes in der Bibel an die konkrete Situation und ist damit nicht mehr in der Lage zwischen meinem Geist, dem Zeitgeist und dem Heiligen Geist unterscheiden zu können. Deshalb ist „Inspiration“ die Reaktion auf die Beobachtung 2. Ordnung, dass der Geist in der Kanonisierung seine eigene Einheit stiftet. Dass wir dies erkennen können, hängt trinitätstheologisch daran, dass der Heilige Geist als Gott diese Form gewinnen kann, ohne sich selbst zu verlieren. Mit steigender Zirkularitätsbeobachtung im Verhältnis von Bibel und Rezeption muss die Inspiration mitsteigen, um die Zirkularität nicht auf Seiten der Rezipienten aufzulösen. Theologisch endet Inspiration nicht auf Seiten der Immanenz, und der Leser muss den Text als Offenbarung Gottes verstehen, der etwas in die Welt einführt, das weltlich nicht gegeben ist. Luhmann: „Das schließt aus, die Wahrheitsfrage (im Sinne von Wissenschaft) zu stellen. Formal gesehen offenbart die Wahrheit sich selbst, und das schließt ein, dass es keinen anderen kognitiven Zugang zu ihr gibt als die Annahme der Offenbarung als Offenbarung.“31

7. Die Wahrheit der Bibel Dass das christliche Weltverhältnis auf einer Zirkularität beruht, die nicht aufgelöst und deswegen von außen verworfen werden kann, dass es aber gleichwohl beansprucht, die ganze Welt unter dem Blick Gottes zu beobachten, das deutet auf das Problem christlicher Universalitätsansprüche in einer pluralen Gesellschaft. Es dürfte dies das zentrale Problem sein, das allen anderen Problemen und Schwierig-

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N. Luhmann, Religion (s. Anm. 18), 165.

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keiten der christlichen Existenz in der Moderne zugrunde liegt.32 Die Rede von dem einen Gott, dem einen Herrn Jesus Christus und die damit gegebene Behauptung, es gebe eine letzte, die ganze Welt betreffende Wahrheit, ist nicht nur in der religiösen Ökumene anstößig, sie liegt quer zu den Grundprinzipien pluralistischen Zusammenlebens in einer Gesellschaft, die ihre Entstehung der Befreiung von religiösen Letztgeltungsansprüchen verdankt. Einfach gesagt: Der Monotheismus kann nicht mehr das Einheitssymbol dieser Gesellschaft sein, wie er es doch in der langen abendländischen Geschichte immer gewesen ist. Aber auch polytheistische Muster greifen zu kurz, insofern sie das frühere Schema nur vervielfältigen. Vielmehr geht es schlicht um eine Gesellschaft vollkommener Immanenz, der es nicht möglich ist, ihre Einheit zu symbolisieren, die sich deshalb damit begnügt, Verschiedenheit gelten zu lassen und sich darin betätigt, sich über die Differenzen zu beobachten. Das systemtheoretische Theoriemodell kann hier zunächst insofern einen Ausweg bieten, als es die zweitwertige Codierung an den Werten wahr und unwahr, deren Basis letztlich die Ontologie von Sein und Nichtsein ist – tertium non datur – unterläuft oder überbietet und alle Wahrheitsansprüche der gegenseitigen Beobachtung aussetzt. Jeder Beobachter kann beobachtet und damit kontingent gesetzt werden – man könnte es auch anders sehen –, auch der, der Letztgültigkeitsansprüche erhebt. Ordnet sich das Christentum dieser Sichtweise zu, dann kann es sich als eine Weltperspektive neben und zusammen mit anderen verstehen, bei völliger Freiheit, seine Perspektive mit aller Klarheit in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Eine solche Selbstrelativierung scheint bereits einen großen Teil des christlichen Bewusstseins erreicht zu haben. Auf ihr beruht die heute doch weithin zugegebene Pluralismustauglichkeit des Christentums. Aber im Unterschied zu anderen Beobachtern – gemeint sind hier z. B. die gesellschaftlichen Funktionssysteme wie Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Ethik usw. – kann sich das Christentum nicht darauf beschränken, seine spezifische Perspektive als partikular zu betrachten. Leitunterscheidungen wie Recht/Unrecht, zahlen/nicht zahlen, richtig/falsch, gut/böse, die in ihren Operationen auch davon ausgehen, alles zu sein, können sich in einer Beob32 Vgl. O. Reis, Gott denken. Eine mehrperspektivische Gotteslehre, Münster 2012, Kap. 13.

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achtung 2. Ordnung darauf beschränken, nur einen Teil der Wirklichkeit zu betreffen, nämlich den, der in dieser Perspektive erfasst werden kann. Nicht alles ist rechtlich, ökonomisch, wissenschaftlich, ethisch zu betrachten, oder wenn, dann doch nur unter einem sehr eingeschränkten Aspekt. Die Leitunterscheidung der Religion aber, die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz, bezieht sich nicht nur in ihren Operationen auf alles und auf alles in jeder Beziehung; sie ordnet auch in den Beobachtungen 2. Ordnung der ganzen Wirklichkeit eine andere Seite zu und kann somit ihre Universalität nicht vermeiden. Gibt die Bibel Hilfen dazu, mit dieser Situation umzugehen? Pointiert kann man fragen: Verkündet die Bibel den Monotheismus? Die Antwort lautet: Die Bibel verkündet den dreieinigen Gott, den Gott, der ganz beim anderen ist und dabei er selbst bleibt; jenen Gott, der im Verhalten Jesu Christi anschaulich geworden ist und der die Gläubigen „inspiriert“, in seinem Geist zu handeln.33 Das ist die Transzendenz, die die christliche Religion der jeweils in Selbsterhaltungsbemühungen verstrickten Immanenz entgegenhält. Der Universalitätsanspruch, der damit gesetzt ist, beinhaltet nicht Ausschließlichkeit, sondern Einschließlichkeit, nicht im Sinne einer totalen Inklusion, sondern in der Anerkennung des anderen als anderen, die heilend und heiligend darin ist, dass sie ihm zum Selbstsein verhilft. In diesem Sinne kann Christoph Theobald in seinem Werk über das Christentum als Stil nicht nur – pluralismusfähig – bejahen, dass das Christentum ein Stil neben anderen ist, sondern es als den „style de styles“34 ausweisen: Das christlich-biblische Lebenspro33 Vgl. dazu B. Oberndorfer, Kontingenzformel „Gott“. Der christliche Gottesgedanke unter systemtheoretischer Beobachtung – trinitätstheologisch betrachtet, in: G. Thomas/A. Schüle (Hrsg.), Luhmann und die Theologie, Darmstadt 2006, 107–116. 34 C. Theobald, Christianisme (s. Anm. 22), 100. Dieser „style des styles“ könnte imperialistisch klingen, da die Rezeptionsgemeinschaft das Fremde der Pluralität wieder aus der eigenen Systemlogik als Fremdreferenz für die eigene Reproduktion nutzt und sie damit unter die Einheit Gottes fasst. Aus systemtheoretischer Perspektive ist das auch so gemeint, allerdings bezieht sich dies auf den formalen Selbstvollzug im System. Würde ein Rezeptionssystem darauf verzichten, könnte es auch den Akteur „Bibel“ und Gott als deren Urheber nicht mehr als Einheit begreifen. Wie sich nun aber eine Rezeptionsgemeinschaft programmatisch auf Pluralität einstellt, hängt von den gewählten biblisch-theologischen Leitunterscheidungen ab. Die obigen Andeutungen zur Trinitätslehre sollen zeigen, dass

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gramm ist auf die Gemeinschaft der Verschiedenen angelegt. Daraus kann man folgern, dass es nicht nur pluralismuskompatibel ist, sondern im Kern selbst pluralistisch, und dass es seine eigentliche Bestimmung, seine große Zeit noch vor sich hat.

Pluralität auch als eigenständige Fremdheit immer noch unter die Einheit Gottes zu fassen ist. Die Zukunftsaufgabe wird es sein, die ontologische Verletzlichkeit als Folge der Moderne mit der operativen Geschlossenheit zusammenzuhalten (vgl. ausführlich O. Reis/T. Ruster, Bibel [s. Anm. 1], 283f.).

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„Quelle“ oder „Steinbruch“? Über den Umgang der Dogmatik mit der Bibel Peter Walter

Von den beiden Bildern im Obertitel ist das erste seit der Antike positiv, das zweite negativ besetzt. Steinbruch und Tretmühle sind Orte, wo Sklaven angekettet ihre Arbeit verrichten.1 Die Quelle dagegen ist Voraussetzung eines „lieblichen Ortes (locus amoenus)“, ihr frisches Wasser ermöglicht Leben.2 Für unseren Zusammenhang aber wichtiger ist der übertragene Sinn: „[Richtiges zu] wissen ist Ursprung und Quelle, um richtig zu schreiben“ sagt Horaz3 und verweist für das richtige Wissen auf Sokrates4, wie vor ihm schon Cicero und nach ihm Quintilian5. Verallgemeinernd schickt Cicero seine bildungshungrigen Freunde zu den Griechen, um aus den Quellen zu schöpfen, statt Rinnsalen nachzugehen.6

1. Die vielfältige Bedeutung von „Quelle“ in der Theologie am Beispiel des Erasmus von Rotterdam 1.1 „Quelle“ als philologische Basis Das Gegensatzpaar von Quelle und Rinnsalen griff Erasmus von Rotterdam auf, als er 1501 begründete, warum er in bereits fortgeschrittenem Alter Griechisch lernen wollte. Im Gefolge Ciceros verglich er die lateinische Literatur mit Rinnsalen und schmutzigen

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Vgl. etwa Plautus, Poenulus, 4,2,5. Vgl. z. B. Lucretius, De rerum natura, 5,602f. 3 „Scribendi recte sapere est et principium et fons“ (Horatius, Ars poetica, 309). 4 Vgl. ebd., 310. 5 Vgl. Cicero, De oratore, 1,10,42; Quintilianus, Institutio oratoria, 1,10,13. 6 Vgl. Cicero, Lucullus, 1,2,8: „Sed meos amicos in quibus est studium in Graeciam mitto id est ad Graecos ire iubeo, ut ex fontibus potius hauriant quam rivulos consectentur.“ 2

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Peter Walter

Tümpeln, während es bei den Griechen reinste Quellen und Gold mit sich führende Flüsse gebe.7 Fünfzehn Jahre später nahm er das Bild in der an Papst Leo X. adressierten Widmungsvorrede zu seiner Ausgabe des Neuen Testamentes wieder auf: „Da ich sehe, dass jene heilsame Lehre [sc. Jesu Christi] aus den Wasseradern und den Quellen selbst reiner und lebendiger geschöpft wird als aus Tümpeln und Rinnsalen, haben wir das gesamte so genannte Neue Testament dem griechischen Ursprung getreu revidiert.“8 An anderer Stelle derselben Ausgabe unterscheidet Erasmus die „vetus theologia“ von der „theologia recentior“, d. h. die patristische von der scholastischen. Erstere schöpfe die Heilige Schrift aus den reinsten Quellen, während letztere vielfach ineinander gegossene und durch die Füße von Schweinen und Eseln aufgewühlte Rinnsale und Tümpel bevorzuge. Erasmus gebraucht noch weitere bukolische Bilder, um dafür zu werben, das Neue Testament in der Sprache zu lesen, in der es geschrieben wurde.9 Er hat die Übertragung des Gegensatzpaars von Rinnsal und Quelle auf die Bibelphilologie wohl bei Hieronymus gefunden, der bei der Erklärung einer neutestamentlichen Stelle statt zu den Rinnsalen der Meinungen zur Quelle selbst Zuflucht nehmen möchte, in seinem Fall, nicht zu griechischen und lateinischen, sondern zu hebräischen Handschriften.10

7

„Apud nos enim riuuli vix quidam sunt et lacunulae lutulentae; apud illos fontes purissimi et flumina aurum voluentia“ (Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami, ed. P. S. Allen, ep. 149, Bd. 1, Oxonii 1906, 352, 19f.). Weitere Beispiele bei P. Walter, Theologie aus dem Geist der Rhetorik. Zur Schriftauslegung des Erasmus von Rotterdam (Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie 1), Mainz 1991, 128f. 8 „… ad haec, cum viderem salutarem illam doctrinam longe purius ac viuidius ex ipsis peti venis, ex ipsis hauriri fontibus, quam ex lacunis aut riuulis, Nouum (vt vocant) Testamentum vniuersum ad Graecae originis fidem recognouimus …“ (Opus epistolarum [s. Anm. 7], ep. 384, Bd. 2, Oxonii 1910, 185, 49 –53). Hierzu und zum Folgenden vgl. P. Walter, Theologie (s. Anm. 7), 126 –130. 9 Vgl. Opus epistolarum (s. Anm.7), ep. 373, Bd. 2, 170, 161–175. 10 Vgl. Hieronymus, ep. 20,2,1; CSEL 54,104f. Vgl. auch Ders., ep. 27,1,3; ebd., 224.

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„Quelle“ oder „Steinbruch“?

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1.2 Exkurs: „Quelle“ in kirchlich-autoritativer Bedeutung Es gibt in der christlichen Antike freilich nicht nur dieses philologische Verständnis von Quelle.11 Daneben gibt es auch die Übertragung des Bildes von der Quelle und den Rinnsalen auf die kirchliche Autorität. Etwa zeitgleich zu Hieronymus finden sich in mehreren Briefen des römischen Bischofs Innozenz I. an nordafrikanische Kollegen Formulierungen, in denen jener den apostolischen Stuhl mit einer Quelle vergleicht, aus der den Kirchen Lösungen für ihre Fragen und Probleme zufließen.12 So bezeichnet er in seinem Schreiben vom 27. Januar 417 an die Synode von Karthago die römische Kirche als Urquell („natali[s] fon[s]“), aus dem den anderen Kirchen des ganzen Erdkreises wie aus einem reinen Ursprung („pur[um] cap[ut]“) die unverfälschten Wasser zuströmen.13 In dem vom selben Tag datierenden Brief an die Väter der Synode von Mileve lobt er diese, dass sie sich an die „apostolische Quelle“ gewandt hätten, von der allen Bittstellern aus allen Provinzen immer Antworten zuflössen.14 Erich Caspar hat gezeigt, in welch geschickter Weise es Innozenz gelang, um im Bild zu bleiben, Wasser, das ihm andere zufließen ließen, auf seine Mühlen zu lenken, d. h. die Position des römischen Stuhles zu stärken. Augustinus hatte bekanntlich den römischen Bischof eingeschaltet, um der Verurteilung des Pelagius und seiner Gefolgsleute durch die beiden genannten nordafrikanischen Synoden zum Sieg zu verhelfen. Dabei hatte er die Letzteren als „rivul[us] nost[er]“ bzw. „[rivulus] noster exiguus“ dem römischen Stuhl als „larg[us] fon[s]“ bzw. „tuus abundans [sc. fons]“ gegenübergestellt, die „beide auf dasselbe caput fluentorum, nämlich die 11 Hieronymus selber spricht von den drei göttlichen Personen als von den „fontes ecclesiae“ (Hieronymus, In psalmum XXXXI, ad neophytos; CC.SL 78, 542, 24 –543,33). 12 Vgl. zum Folgenden E. Caspar, Geschichte des Papsttums von den Anfängen bis zur Höhe der Weltherrschaft, Bd. 1, Tübingen 1930, 330 –335.604 – 606. 13 „… indeque sumerent ceterae ecclesiae, uelut de natali suo fonte aquae cunctae procederent et per diuersas totius mundi regiones puri [latices] capitis incorruptae manarent …“ (CSEL 44,703,1–3; DH 217). Zu den philologischen Problemen des Textes vgl. E. Caspar, Geschichte (s. Anm. 12), 605. 14 „Quid id etiam actione firmastis nisi scientes, quod per omnes provincias de apostolico fonte petentibus responsa semper emanent?“ (CSEL 44,717,6 – 8; DH 218).

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Lehre Christi und der Apostel selbst, zurück[gehen]“15. Das Bild ist freilich noch älter und hat gleichsam eine nordafrikanische Tradition. Denn Cyprian von Karthago vergleicht in De ecclesiae unitate die Kirchen mit „rivi plurimi“, die aus einer Quelle („de fonte uno“) hervorgehen, die die Einheit der Kirche garantiere. Diese Quelle ist aber nicht der apostolische Stuhl, sondern die Einheit des Episkopats.16 Dem geschickten Innozenz gelingt es nun, das Bild so zu drehen, dass nicht mehr Christus und die Apostel, wie bei Augustin, oder der Episkopat, wie bei Cyprian, den Urquell bilden, aus dem die Bäche fließen, sondern der apostolische Stuhl. Bei Augustin, der ja etwas von Innozenz erreichen und diesen daher seinem Anliegen gewogen machen wollte, wird dieser immerhin schon nahe an den Urquell herangerückt. Inwieweit sich die Päpste später dieses Bildes bedient haben, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Noch an der Wende zum 20. Jahrhundert ist an der römischen Kurie das Bild von Rom als Quelle von allem, was zum Heil dient, lebendig, wie das Motto zeigt, das der damalige päpstliche Hoftheologe Alberto Lepidi einem seiner Bücher voranstellte: „Wir wollen nicht die trüben Wasser der Spree und der Seine trinken; wir haben den Arno und den Sebeto, wir haben seit 20 Jahrhunderten Rom, die ewige himmlische Quelle: soviel genügt zu unserem Heil.“17 Während er 15

E. Caspar, Geschichte (wie Anm. 12), 606, gegen die anders lautende Interpretation von Karl Adam (vgl. ebd., 605f.). Vgl. Augustinus, ep. 177,19: „Non enim riuulum nostrum tuo largo fonti augendo refundimus, sed in hac non parua temptatione temporis, unde nos liberet, cui dicimus: Ne nos inferas in temptationem, utrum etiam noster, licet exiguus, ex eodem, quo etiam tuus abundans, emanet capite fluentorum, hoc a te probari uolumus …“ (CSEL 44,688,8 –13). 16 „… et cum de fonte uno riui plurimi defluunt, numerositas licet diffusa uideatur exundantis copiae largitate, unitas tamen seruatur in origine“ (Cyprianus, De unitate ecclesiae, 5; CSEL 3,214,5 –7). Vgl. zur Interpretation E. Caspar, Geschichte (wie Anm. 12), 605f. 17 „Noi non vogliamo bere le torbide acque della Spréa e della Senna: abbiamo l’Arno e il Sebèto; abbiamo da venti secoli Roma, sorgente perenne e celeste: per la salvezza nostra tanto basta. (Cf. Jer 2,18)“ (A. Lepidi, La Critica della ragione pura secondo Kant e secondo la vera filosofia, Roma [11894] 1924, 3). Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Prof. Dr. Claus Arnold, Mainz. Alberto Lepidi OP (1838 –1925), der seit 1885 am Collegio S. Tommaso in Rom lehrte, wurde 1897 Magister S. Palatii und Konsultor des S. Officium. Vgl. H. H. Schwedt unter Mitarbeit von T. Lagatz, Prosopographie von Römischer Inquisition und Indexkongregation 1814 –1917, hrsg. von H. Wolf, Bd. 2 (Römische Inquisition und Indexkongregation Grundlagenforschung 3), Paderborn u. a. 2005, 866 – 868.

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für die übrigen Städte entsprechend der Quellmetaphorik metonymisch auf die diese durchziehenden Flüsse zurückgreift – wobei er für Neapel den bereits im Mittelalter versiegten Sebeto nennt –, erhebt er Rom, d. h. Papst und Kurie, zur Quelle. 1.3 Die emphatische Bedeutung der philologischen Quelle im Humanismus „Quelle“ ist bei Erasmus, um auf ihn zurückzukommen, aber keineswegs nur eine literarische Größe, sondern steht, wie er in der bereits betrachteten Widmungsvorrede zu seinem Novum Instrumentum schreibt, für lebendigen Ursprung und ursprüngliche Fülle, jedoch nicht für den Papst. In der Vorrede zur Neuauflage seines Enchiridion militis Christiani von 1518 nennt er eine ganze Reihe von biblischen Bezügen für die Quellmetaphorik: das johanneische Bildwort vom lebendigen Wasser, das zum ewigen Leben sprudelt (Joh 4,14), und den paulinischen Midrasch zur Exoduserzählung, in dem Christus mit dem Felsen verglichen wird, aus dem Wasser fließt (1 Kor 10,4; Ex 17,6; Num 20,11). Eine ganz besondere Rolle spielt die Erzählung von den von Abraham gegrabenen Zisternen, die von den Philistern zugeschüttet und von den Knechten Isaaks wieder freigelegt wurden (Gen 26,15 –22). Erasmus sieht darin ein Vorausbild für die gegenwärtige Wiederherstellung der Heiligen Schrift und der Kirche, welche durch das Handeln der Philister, gemeint sind die traditionellen Theologen, notwendig wurde und von diesen zugleich verhindert wird.18 Für Erasmus geht es aber nicht um den Schriftbezug der Theologie im Allgemeinen, sondern um das Studium der Heiligen Schrift in der Ursprache oder zumindest in einer Übersetzung, die dieser möglichst nahe kommt. Da die Vulgata dies für ihn nicht leistet, hat er seine eigene Übersetzung angefertigt. Es gibt gute Argumente dafür, dass er den von ihm edierten griechischen Text dieser Übersetzung nur gegenübergestellt hat, damit die Leser überprüfen können, ob seine Übersetzung wirklich besser ist als die vorhandene. Die „Graeca veritas“ bzw. die „fontes Graecorum“ sind die Quellen, nach denen der Text des Neuen Testamentes und der Septuaginta, die „fontes Hebraeorum“, nach denen derjenige des Alten Testamen18 Vgl. Desiderius Erasmus Roterodamus, Ausgewählte Werke, in Gemeinschaft mit A. Holborn hrsg. von H. Holborn, München 1933, Nachdruck 1964, 6 –10.

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tes zu korrigieren ist.19 Quelle hat für Erasmus den präzisen Sinn des Urtextes, während alle Übersetzungen Tümpeln gleichen. Damit gerät er ins Visier seiner katholischen Gegner, die ihm diese Wortwahl für die Vulgata verübeln.20 Erasmus entgegnet, er könne in der Bezeichnung „lacuna“ nichts Negatives erkennen. Wenn die Heilige Schrift auf Latein verfasst wäre, wäre diese Fassung kein Tümpel, sondern eben die Quelle. Da jene aber auf Hebräisch bzw. Griechisch geschrieben wurde, sei beim Alten Testament die Septuaginta der erste und die Vulgata der zweite Tümpel, während Letztere in Bezug auf das Neue Testament der erste sei. Nicht jede „lacuna“ müsse verderbt sein. Aber wenn dies der Fall sei, sei auf jeden Fall die Quelle unverderbt.21 Es geht Erasmus freilich nicht nur um den Rückgriff auf die Bibel im Urtext, sondern auch um den rechten Umgang damit. Das, was man pejorativ Steinbruchexegese nennt, kann man auch mit dem ursprachigen Bibeltext betreiben. Darauf ist zurückzukommen. Doch zuvor soll die theologische und kirchliche Rede von der Quelle etwas weiter verfolgt werden.

2. Der Sprachgebrauch des Konzils von Trient 2.1 Das Evangelium als die eine Quelle der Theologie Das Konzil von Trient greift in seinem Dekret über die heiligen Bücher und die zu übernehmenden Überlieferungen vom 8. April 1546 die Rede von der Quelle auf und ist damit in der nachtridentinischen Theo19

„Testamentum quod vocant Nouum omni qua licuit diligentia quaque decuit fide recognouimus, idque primum ad Graecam veritatem; ad quam ceu fontem, si quid inciderit, confugere non solum illustrium theologorum exempla suadent, verum etiam toties monent Hieronymus et Augustinus, et ipsa Romanorum Pontificum decreta iubent.“ (Opus epistolarum [s. Anm. 7], ep. 373, Bd. 2, 166, 12–17). Für die „fontes Graecorum bzw. Hebraeorum“ vgl. P. Walter, Theologie (s. Anm. 7), 128 Anm. 684. 20 Vgl. E. Rummel, Erasmus and his Catholic Critics, Bd. 2 (Bibliotheca Humanistica & Reformatorica 45), Nieuwkoop 1989, 65. 21 Vgl. Erasmus, Apologia adversus debacchationes Petri Sutoris (Desiderii Erasmi Roterodami opera omnia, ed. Joannes Clericus, Bd. 9, Lugduni Batavorum 1706, Nachdruck Hildesheim 1962, 769f.).

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logie gründlich missverstanden worden, so als behaupte es, dass die Offenbarung aus zwei Quellen ströme, derjenigen der Schrift und derjenigen der Tradition, und dass letztere ergänze, was in ersterer fehle. Im Vorfeld des 2. Vaticanums, das mit einem Schema De fontibus revelationis befasst war, aus dem die Offenbarungskonstitution Dei verbum hervorgegangen ist, wurde heftig über diese Frage diskutiert. Der Tübinger Dogmatiker Josef Rupert Geiselmann hat Bahn brechende Beiträge dazu vorgelegt und einer quellenmäßigen Interpretation des Trienter Dekrets zum Durchbruch verholfen und damit das Offenbarungsverständnis von Dei verbum vorbereitet.22 Das Tridentinum redet nicht von zwei unterschiedlichen „Quellen“ der Offenbarung im Gegensatz zur reformatorischen Lehre, die einzig die Schrift als „Quelle“ anerkenne. So wenig Letzteres der Auffassung Luthers entspricht, so wenig Ersteres der des Konzils. Beide sprechen nicht von bestimmten Textcorpora, sondern vom „Evangelium“. Nach dem Tridentinum ist die Reinerhaltung des Evangeliums in der Kirche das Ziel seiner Bemühungen. Dieses Evangelium wird beschrieben als dasjenige, „das, einst durch die Propheten in den heiligen Schriften verheißen, unser Herr Jesus Christus, der Sohn Gottes, zuerst mit eigenem Munde verkündete und danach durch seine Apostel als die Quelle aller heilsamen Wahrheit und Sittenlehre jedem Geschöpf predigen ließ [vgl. Mk 16,15]“23. Gewiss wird hier „Evangelium“ nicht im Sinne der göttlichen Selbstmitteilung verstanden – das tut erst das 2. Vaticanum –, sondern als öffentlich bekannt gemachte („promulgavit“) Lehre und als Gesetz, auch wenn diese Worte nicht fallen. Es ist von „Heilswahrheit“ und „Disziplin“ die Rede. Diese werden nicht mit bestimmten Inhalten identifiziert, sondern mittels ihrer Träger (Propheten, Jesus Christus, Apostel, wobei die Zentrierung auf den 22

Vgl. dazu in aller Kürze P. Walter, Nachwort zur Neuausgabe, in: Walter Kasper, Die Lehre von der Tradition in der Römischen Schule (Walter Kasper Gesammelte Schriften 1), Freiburg i. Br. 2011, 631– 642. 23 „Sacrosancta oecumenica et generalis Tridentina Synodus, in Spiritu Sancto legitime congregata, … hoc sibi perpetuo ante oculos proponens, ut sublatis erroribus puritas ipsa Evangelii in Ecclesia conservetur, quod promissum ante per Prophetas in Scripturis sanctis Dominus noster Jesus Christus Dei Filius proprio ore primum promulgavit, deinde per suos Apostolos tamquam fontem omnis salutaris veritatis et morum disciplinae ‚omni creaturae praedicari‘ (Mc 16,15) jussit …“ (DH 1501).

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Sohn Gottes überaus deutlich wird) und ihres Zieles näher bestimmt: „fon[s] omnis salutaris veritatis et morum disciplinae“. Nach dieser grundsätzlichen Aussage schreitet das Konzil zur Klärung der Einzelheiten weiter: Diese Wahrheit und Disziplin sind in geschriebenen Büchern und nicht geschriebenen Überlieferungen enthalten.24 Schrift und Überlieferung sind nicht zwei unterschiedliche Quellen der Offenbarung, sondern zwei Wege, auf denen das eine Evangelium, das als Quelle bezeichnet wird, weitergegeben wird. 2.2 Der Stellenwert der Vulgata In dem zweiten am selben Tag verabschiedeten Dekret, demjenigen über die Vulgata und die rechte Schriftinterpretation, wird gegen den Widerstand humanistisch gesonnener Theologen und Konzilsväter die Vulgata für „authentisch“ erklärt. Auch wenn von der juristischen Bedeutung dieses Wortes her eine „Urschrift“ gemeint ist,25 wird bei genauerem Hinsehen keineswegs die Vulgata als Urschrift, d. h. als Urtext der Heiligen Schrift, bezeichnet, sondern im Unterschied zu anderen lateinischen Übersetzungen als für öffentliche Vorlesungen, Disputationen, Predigten und Auslegungen genügend erklärt.26 Allerdings war man sich durchaus bewusst, dass die unterschiedlichen im Umlauf befindlichen Drucke der Vulgata der Ver24 „… perspiciensque, hanc veritatem et disciplinam contineri in libris scriptis et sine scripto traditionibus, quae ab ipsius Christi ore ab Apostolis acceptae, aut ab ipsis Apostolis Spiritu Sancto dictante quasi per manus traditae ad nos usque pervenerunt …“ (DH 1501). 25 „Testamentum authenticum“ (Digesta Iustiniani, 29,3,12) meint die Urschrift, bzw. „authenticum“ als Substantiv (Ebd. 22,4,2) ein „Original“. Vgl. C. T. Lewis/ C. Short, A Latin Dictionary, Oxford 1962, s.v. 26 „Insuper eadem sacrosancta Synodus considerans, non parum utilitatis accedere posse Ecclesiae Dei, si ex omnibus latinis editionibus, quae circumferuntur sacrorum librorum, quaenam pro authentica habenda sit, innotescat: statuit et declarat, ut haec ipsa vetus et vulgata editio, quae longo tot saeculorum usu in ipsa Ecclesia probata est, in publicis lectionibus, disputationibus praedicationibus et expositionibus pro authentica habeatur et quod nemo illam reicere quovis praetextu audeat vel praesumat.“ (DH 1506). Zu den Kritikern, die darauf hinwiesen, dass die Vulgata nicht vollständig von Hieronymus stamme und vielfach vom Urtext abweiche und keineswegs nur Abschreibefehler enthalte, vgl. H. Jedin, Geschichte des Konzils von Trient, Bd. 2, Freiburg i. Br. 1957, 80 – 82.

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besserung bedürfen, welche nach dem Konzil in Angriff genommen wurde.27 2.3 Die rechte Schriftinterpretation Für unseren Zusammenhang wichtig ist darüber hinaus die Aussage desselben Dekrets über die rechte Schriftinterpretation, die direkt gegen die protestantische Schriftauslegung gerichtet ist: „Außerdem beschließt es [sc. das Konzil], um leichtfertige Geister zu zügeln, daß niemand wagen soll, auf eigene Klugheit gestützt in Fragen des Glaubens und der Sitten, soweit sie zum Gebäude christlicher Lehre gehören, die heilige Schrift nach den eigenen Ansichten zu verdrehen und diese selbe heilige Schrift gegen jenen Sinn, den die heilige Mutter Kirche festgehalten hat und festhält, deren Aufgabe es ist, über den wahren Sinn und die Auslegung der heiligen Schriften zu urteilen, oder auch gegen die einmütige Übereinstimmung der Väter auszulegen, auch wenn diese Auslegungen zu gar keiner Zeit für die Veröffentlichung bestimmt sein sollten.“28 Damit stellt das Konzil das kirchliche Lehramt keineswegs über die Schrift, wie es Luther befürchtet hat, sondern über die Schriftauslegung einzelner. Im „unanimis consensus patrum“ – historisch freilich eine zweifelhafte Kategorie – sieht es ein privilegiertes Kriterium der Auslegung.29 Hier folgt es wohl der humanistischen, auch bei Erasmus greifbaren Überzeugung, dass die Kirchenväter ob ihrer größeren zeitlichen Nähe zur Heiligen Schrift und zum 27

Vgl. DH 1508. Zur nachtridentinischen Vulgata-Revision vgl. G. Bedouelle, La Réforme catholique, in: Ders./B. Roussel (Hrsg.), Le temps des Réformes et la Bible (Bible de tous les temps 5), Paris 1989, 327–368, hier 350 –354. Vgl. auch U. Horst, Robert Bellarmin und die Vulgata. Ein Beitrag zur Diskussion über die päpstliche Unfehlbarkeit, in: Theologie und Philosophie 83 (2008) 179 –208. 28 „Praeterea ad coercenda petulantia ingenia decernit, ut nemo, suae prudentiae innixus, in rebus fidei et morum, ad aedificationem doctrinae christianae pertinentium, sacram Scripturam ad suos sensus contorquens, contra eum sensum, quem tenuit et tenet sancta mater Ecclesia, cujus est judicare de vero sensu et interpretatione Scripturarum sanctarum, aut etiam contra unanimem consensum Patrum ipsam Scripturam sacram interpretari audeat, etiamsi hujusmodi interpretationes nullo umquam tempore in lucem edendae forent.“ (DH 1507). 29 Vgl. A. Merkt, Das patristische Prinzip. Eine Studie zur theologischen Bedeutung der Kirchenväter (Supplements to Vigiliae Christianae 58), Leiden/Boston/ Köln 2001, 154 –156.

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darin festgehaltenen Ursprungsgeschehen die besten Ausleger sein müssen.30

3. Die Rezeption der Trienter Aussagen über den Wert der Vulgata 3.1 „Klares Wasser aus gesäuberten Tümpeln“ (M. Cano) Die Rezeption der Trienter Aussagen kann hier nicht umfassend untersucht werden. Es sollen nur schlaglichtartig einige maßgebliche Autoren zu Wort kommen, ein Zeitgenosse des Konzils und ein Vertreter der sog. Römischen Schule im 19. Jahrhundert. Der Dominikaner Melchor Cano (1509 –1560)31, der am Tridentinum teilgenommen hat, wenn auch nicht an der ersten Tagungsperiode, während der die genannten Dekrete verabschiedet wurden, sondern erst an der zweiten, behandelt im zweiten Buch seines einflussreichen Hauptwerks De locis theologicis 32 die „auctoritas“ der Heiligen Schrift.33 Wie in einer scholastischen Quaestio beginnt er mit der Frage, ob für das Verständnis der Bibel die Vulgata genüge, oder ob notwendig auf die hebräischen und griechischen Quellen zurück30 Zur differenzierten Einschätzung der Kirchenväter und deren Bedeutung für die Schriftauslegung durch Erasmus, der auch hier die Griechen den Lateinern vorzieht, vgl. P. Walter, Theologie (s. Anm. 7), 194 –198. 31 Vgl. B. Körner, Art. Cano, in: LThK³ 2 (1994), 924f. 32 Benutzt wurde folgender Nachdruck der 1714 in Padua erstmals erschienenen Ausgabe: Melchioris Cani episcopi Canariensis, ex Ordine Praedicatorum, Opera, in hac primum editione clarius divisa, et praefatione instar Prologi Galeati illustrata a P. Hyacintho Serry Doct[ore] Sorbon[ico] et in Patav[ino] Lyceo S[acrae] Theolog[iae] Primario Prof[essore], Venetiis: Franciscus Pitteri 1739. Zitiert wird nach Buch (l.) und Kapitel (c.); die Seitenzahl, mit Unterscheidung der beiden Spalten nach a oder b, folgt nach einem Semikolon. Zu den Drucken der Loci seit der Erstausgabe 1563 vgl. P. Walter, Philipp Melanchthon und Melchor Cano. Zur theologischen Erkenntnis- und Methodenlehre im 16. Jahrhundert, in: G. Frank/K. Meerhoff (Hrsg.), Melanchthon und Europa, Bd. 2 (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 6), Stuttgart 2002, 67– 84, 70f. 33 Vgl. Cano, De locis (s. Anm. 32), l. 2, c. 12–15; 50b–71b. Zur Bedeutung der Heiligen Schrift bei Cano vgl. B. Ognibeni, La Sacra Scrittura come luogo teologico secondo Melchiorre Cano, in: Sacra doctrina 38 (1993) 173 –227; P. Walter, Melchor Cano: De locis theologicis (1563), in: Handbuch der Bibelhermeneutiken, hrsg. v. Oda Wischmeyer u. a., Berlin/New York 2014 (im Druck).

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zugreifen sei.34 Nachdem er zunächst die einschlägigen Aussagen des Hieronymus über die Quellen und die Rinnsale und deren Ciceronischen Hintergrund sowie weitere altkirchliche Aussagen, die in diese Richtung weisen, zitiert hat, lässt er kurz einige Argumente mehr oder weniger zeitgenössischer Bibelphilologen wie Lorenzo Valla, Jacobus Faber Stapulensis, Erasmus von Rotterdam, Agostino Steucho u. a. Revue passieren, welche den Rekurs auf den Urtext für nötig erachten.35 Als weitere Argumente nennt er die mögliche Fehlerhaftigkeit jeder Übersetzung, weshalb es immer besser sei, mit eigenen als mit fremden Augen zu sehen, d. h. mit entsprechender Sprachkenntnis selber zu lesen als einem Übersetzer zu trauen.36 Schließlich dürfe man der Heiligen Schrift nicht verweigern, was man notwendigerweise allen menschlichen Schriften zugesteht: Wenn eine Stelle unklar sei, müsse man auf den „Archetyp“ zurückgreifen, aus dem übersetzt wurde.37 Diese an sich plausiblen Argumente werden für Cano durch das Tridentinum relativiert: Wenn die Vulgata im Hinblick auf Glaube und Sittenlehre Fehler enthielte, dann sei der lateinischen Kirche, in welcher allein sich gegenwärtig der katholische Glaube durchhalte, die Basis entzogen.38 Wer diese Tradition mit Blick auf die Urtexte in Frage stelle, mache gemeinsame Sache mit Häretikern und Juden (!).39 Cano stellt die für ihn keineswegs rhetorische Frage, wem mehr zu glauben sei: den Juden, den Feinden Christi, den Häretikern, den Feinden der Kirche, oder mehr der Septuaginta und Hieronymus, bzw. den Heiligen des kirchlichen Altertums, die in dieser Frage nicht so einer Meinung hätten sein können, wenn sie nicht vom Heiligen Geist geführt worden wären.40 In diesem Zusammenhang weist Cano auch auf die Unterschiede zwischen den griechischen Handschriften hin sowie auf die unterschiedlichen Übersetzungen derer, die sich darauf stützten. Dabei greift er auch das 34

Die Überschrift des 12. Kapitels lautet: „Ubi eorum argumenta ponuntur, qui suadere volunt, in sacrarum intelligentia scripturarum, ad fontes Hebraicum, et Graecum recurrendum.“ (Cano, De locis [s. Anm. 32], l. 2, c. 12; 50b). 35 Vgl. Cano, De locis (s. Anm. 32), l. 2, c. 12; 51a–b. 36 Vgl. ebd., 52b. 37 Vgl. ebd., 53a. 38 Vgl. Cano, De locis (wie Anm. 32), l. 2, c. 13; 53b–54a. 39 Vgl. ebd., 54a– 60a. 40 Vgl. ebd., 56b.

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bereits von Gegnern des Erasmus gegen diesen vorgebrachte Argument auf, dass sich dessen Ausgaben des Neuen Testaments so sehr voneinander unterschieden. Ebenso wirft er Luther vor, bei der Neuausgabe seiner Übersetzung des Neuen Testamentes vieles gegenüber der ursprünglichen Fassung verändert zu haben.41 Dies mündet in den mit unterschiedlichen Bedeutungen von „vertere“ spielenden Vorwurf: „Daher übersetzen leichtfertige Menschen die Heilige Schrift nicht so sehr aus den Quellen, als sie vielmehr um die Quellen herumtaumeln; von unterschiedlichen fremden Lehren angelockt, treiben sie wie Kleinkinder umher und werden von jedem Wind einer Lehre hin und her geweht.“42 Da die Einheit der Kirche die Einheit der Heiligen Schrift voraussetze, könne die Erstere nicht durch verschiedene, nach dem hebräischen und griechischen Urtext gefertigte Übersetzungen gewahrt werden. Deshalb habe auch das Tridentinum die durch den Gebrauch vieler Jahrhunderte bewährte Vulgata anderen lateinischen Übersetzungen vorgezogen.43 Schließlich setzt Cano sich mit den zu Beginn genannten Argumenten für die Übersetzungen aus dem Urtext auseinander. Das immer wieder, auch von Erasmus, genannte Beispiel des Hieronymus versucht er durch Historisierung zu entkräften. Zu dessen Zeit habe es unterschiedliche lateinische Übersetzungen gegeben, die durch Rekurs auf den Urtext zu vereinheitlichen gewesen seien. Gegenwärtig sei es geradezu umgekehrt, die unterschiedlichen griechischen Handschriften seien mittels der Vulgata zu vereinheitlichen. In Antithese zum von den Bibelphilologen aller Zeiten emphatisch vorausgesetzten Vorrang der Quelle behauptet Cano, es sei gesünder, aus gesäuberten Tümpeln klares Wasser zu trinken als schmutzige Brühe aus einer aufgewühlten Quelle.44 Divergenzen zwischen der Vulgata 41 Vgl. ebd., 57b. Der Vorwurf gegen Erasmus findet sich bereits bei Franciscus Titelmannus (1502–1537), auf den Cano hier mehrfach, aber nicht in diesem Fall, Bezug nimmt. Vgl. E. Rummel, Erasmus (wie Anm. 20), 14 –22, bes. 21. 42 „Itaque homines leves non tam ex fontibus sacras literas vertunt, quam circa fontes ipsi vertuntur: doctrinisque variis et peregrinis adducti, parvuli fluctuant, et circumferuntur omni vento doctrinae.“ (Cano, De locis [s. Anm. 32], l. 2, c. 13; 57b). Im letzten Teil dieses Satzes (parvuli etc.) greift Cano auf Eph 4,14 zurück. 43 Cano, De locis (s. Anm. 32), l. 2, c. 13; 58a–b. 44 „Saniorisque consilii est, limpidam aquam e lacunulis defaecatis, quam ex turbato fonte liquorem obscoenum bibere.“ (Cano, De locis [s. Anm. 32], l. 2, c. 14; 60a).

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und dem Urtext seien dadurch zu erklären, dass es Hieronymus, wie dieser selbst hervorhebe, nicht um eine wörtliche, sondern um eine sinngemäße Übersetzung gegangen sei.45 Schließlich sei die Heilige Schrift in dem Geist zu verstehen, in dem sie geschrieben worden sei. Dieses von Hieronymus angeführte Prinzip gelte auch für die lateinische Übersetzung.46 Abschließend behauptet Cano, dass er weder die neuen Übersetzungen noch Sprachkenntnisse oder die Verbesserung der lateinischen nach den hebräischen und griechischen Ausgaben verurteile, sie vielmehr höchlichst empfehle.47 Dass dies keineswegs ein Lippenbekenntnis ist, zeigen seine Überlegungen über die Nützlichkeit des Hebräischen und des Griechischen.48 Hier argumentiert Cano etwa mit dem größeren Bedeutungsreichtum des Hebräischen und des Griechischen, dem eine entsprechende Armut des Lateinischen gegenüberstehe, weshalb immer wieder auf die Ursprachen zurückzugreifen sei.49 Auf diese Weise könne aus ein und derselben Stelle eine legitime Bedeutungsvielfalt („plures sensus catholicos“) gewonnen werden.50 Aus dem Urtext seien die Fehler in den Übersetzungen zu korrigieren51 u. a. m. Canos Einfluss auf die Rezeption der von ihm in seinen weit verbreiteten Loci kommentierten Trienter Texte kann kaum überschätzt werden. Freilich oszilliert seine Position zwischen Kritik an und Anerkennung der zeitgenössischen humanistischen (und reformatorischen) Bibelphilologie, die nicht zuletzt seiner nicht ganz unproblematischen Einordnung des Vulgatadekrets geschuldet ist. 3.2 Der relative Wert der Vulgata (J. B. Franzelin) 300 Jahre später kann ein ebenfalls einflussreicher Theologe, der zugleich ein ausgewiesener Philologe war, die Zusammenhänge etwas differenzierter betrachten: Der Jesuit, langjährige Dogmatikprofes45

Vgl. Cano, De locis (s. Anm. 32), l. 2, c. 13; 59b (Übersetzungsprinzipien des Hieronymus); c. 14; 62b, 65b. 46 Vgl. Cano, De locis (s. Anm. 32), l. 2, c. 14; 64b– 66a. Auch für Erasmus gilt dieses Interpretationsprinzip. Vgl. P. Walter, Theologie (s. Anm. 7), 104. 47 Vgl. Cano, De locis (s. Anm. 32), l. 2, c. 14; 66a. 48 Vgl. Cano, De locis (s. Anm. 32), l. 2, c. 15; 66a–71b. 49 Vgl. ebd., 66b– 67a. 50 Vgl. ebd., 67a. 51 Vgl. ebd., 68b–70a.

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sor am Römischen Kolleg und spätere Kardinal Johann Baptist Franzelin (1816 –1886)52 beschäftigt sich in seinem Tractatus de divina traditione et scriptura ausführlich mit dem Trienter Vulgatadekret.53 Die Römische Schule54, zu der Franzelin gerechnet wird, war einerseits von einer großen philologischen Gelehrsamkeit und andererseits durch eine ebenso intensive systematische Durchdringung der Quellen geprägt. Franzelin geht in der ihm eigentlichen Gründlichkeit auf fast 50 Seiten der Frage nach der vom Trienter Konzil erklärten Authentizität der Vulgata nach.55 Zunächst klärt er die Verbindlichkeit des Trienter Vulgatadekrets. Er unterscheidet allgemein die Zuverlässigkeit einer Urschrift („authentia originalis“) von der der Abschriften und Übersetzungen („authentia conformitatis“). Die „authentia originalis“ der Heiligen Schrift gründet auf der göttlichen Inspiration der als kanonisch geltenden biblischen Bücher. Die „authentia conformitatis“ bezieht sich auf die gegenwärtig in der Kirche verwendeten, jedoch nicht direkt auf bestimmte Fassungen. Weiterhin unterscheidet Franzelin zwischen „authentia [conformitatis] intrinseca et extrinseca“, d. h. einer faktisch vorhandenen und einer ausdrücklich bestätigten Übereinstimmung. Um letztere geht es im vorliegenden Fall. Diese muss, weil es sich um die Geltung der für die Kirche grundlegenden Urkunde handelt, öffentlich bekundet werden. Da der protestantischen Gemeinschaft („communio[] Protestantium“), wie er diese im Unterschied zur „Ecclesia“ nennt, eine dazu befugte Autorität fehlt, kommt diese über eine wissenschaftliche, d. h. letztlich private, Erklärung der Authentie nicht hinaus.56 Das Recht und die Pflicht der Kirche, die „authentia conformitatis“ einer bestimmten Ausgabe bzw. Übersetzung der Bibel zu erklären, ergibt sich aus ihrer Aufgabe, das Offenbarungsdepositum getreulich 52

Zu ihm vgl. P. Walter, Johann Baptist Franzelin (1816 –1886). Jesuit, Theologe, Kardinal. Ein Lebensbild, Bozen 1987. Zu Franzelins Mitarbeit an römischen Dikasterien vgl. H. H. Schwedt, Prosopographie (s. Anm. 17), Bd. 1, 616 – 622. 53 Von diesem Traktat existieren zwei lithographierte Ausgaben (1864, 1868) sowie drei zu Lebzeiten des Verfassers erschienene Druckauflagen (1870, 1875, 1882). Vgl. P. Walter, Franzelin (s. Anm. 52), 111. Vgl. auch die kurze Inhaltsübersicht über den Tractatus, ebd., 39 – 45. Benutzt wird im Folgenden die erste Druckauflage: Romae/Taurini 1870. 54 Vgl. P. Walter, Art. Römische Schule, in: LThK³ 8 (1999), 1292. 55 Vgl. Franzelin, Tractatus (s. Anm. 53), 454 –501. 56 Vgl. ebd., 454 – 459.

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zu bewahren. Das Trienter Konzil hat diese Aufgabe wahrgenommen und sich dazu im Vertrauen auf den göttlichen Beistand auf den „öffentlichen und feierlichen dogmatischen, liturgischen und polemischen Gebrauch der gesamten Westkirche während wenigstens neun Jahrhunderten“57 gestützt. Da es beim Vulgatadekret um die Grundlage der kirchlichen Lehre und Verkündigung geht, kann dieses nach Franzelin nicht rein disziplinären, sondern muss dogmatischen Charakter haben.58 In diesem Zusammenhang hält er auch fest, dass das Konzil mit der Erklärung der Vulgata als authentisch keineswegs die Verwendung des Urtextes ausschließt, sofern erstere nicht in Frage gestellt wird.59 Danach behandelt Franzelin die Reichweite des Trienter Vulgatadekrets, indem er nicht nur dessen Wortlaut, sondern auch andere Zeugnisse von an dessen Zustandekommen Beteiligten und Zeitgenossen heranzieht. Danach ist ein Widerspruch zwischen den Urtexten auf der einen und der Vulgata auf der anderen Seite in Fragen des Glaubens und der Sitten unmöglich. Wenn sich eine dogmatische Aussage nur in der Vulgata findet, kann es durchaus sein, dass damit eine Fehlstelle in den vorhandenen Handschriften des Urtextes zu ergänzen ist, während im umgekehrten Fall nicht geschlossen werden darf, dass im Urtext eine Interpolation vorliegt. Bei lediglich sprachlichen Unterschieden kann der Urtext helfen, die Aussageweise der Vulgata besser zu verstehen.60 Auch wenn der Übersetzer keineswegs inspiriert war,61 schließt der der Kirche verheißene Beistand des Hl. Geistes Irrtümer in dem so lange im kirchlichen Gebrauch befindlichen Text aus.62 In Zweifelsfällen ist zunächst die Autorität der Kirche entscheidend, bevor die wissenschaftliche Kritik bemüht werden darf. Franzelin spricht hier von einer doppelten Quelle („ex fonte duplici“), der theologischen („ex fonte theologico“), der Autorität der Kirche, und einer rein menschlichen („fonte mere humano“), der philologischen Kritik, welche der ersteren untergeordnet 57 „[p]ublicus … et solemnis totius Ecclesiae occidentalis usus dogmaticus, liturgicus, polemicus ex novem saltem saeculis“ (ebd., 461). 58 Vgl. ebd., 464. 59 Vgl. ebd. 60 Vgl. ebd., 479. 61 Vgl. ebd., 473. 62 Vgl. ebd., 484f.

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ist.63 Er kombiniert hier also den lehramtlich aufgeladenen Begriff der Quelle, wie er von Innozenz I. geprägt worden war, mit dem philologischen. Von der völligen Konformität zwischen Urtext und Vulgata könne jedoch nicht die Rede sein, da zum einen bereits die Kirchenväter sich dagegen geäußert hätten, und da zum andern eine solche Aussage auch von den Trienter Konzilsvätern nicht intendiert gewesen sei. Auch nach der Revision der Vulgata im Gefolge des Tridentinums treffe dies nicht zu. Dabei habe man zwar den Urtext herangezogen, aber aus verschiedenen Gründen keine absolute Konformität hergestellt, da man zum einen das Volk nicht verunsichern wollte, zum andern nicht ausschließen konnte, dass den Übersetzern der Vulgata bessere hebräische und griechische Handschriften zur Verfügung standen als heute und schließlich, weil man keinen neuen Text herstellen, sondern lediglich Abschreibefehler u.ä. ausmerzen wollte.64 Das Vulgatadekret verbiete keineswegs einen sorgfältigen Vergleich mit dem Urtext („cum fontibus“), sondern lediglich eine Verdrängung des durch viele Jahrhunderte in Ehren gehaltenen Textes. Der Ausleger soll aus dem Urtext („ex fonte“) Dunkles erhellen, Doppeldeutiges erklären und Fehler korrigieren, die durch Nachlässigkeit oder Unverständnis des Übersetzers entstanden sind.65 Dieser spezifische Gebrauch von Quelle im Sinne von Urtext begegnet bei Franzelin nur hier. Durch seine klare begriffliche Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Arten von Authentie und durch seine Aufarbeitung des historischen Kontextes, in dem das Trienter Vulgatadekret entstanden ist, gelingt es Franzelin, dieses gewissermaßen zu relativieren und der Beschäftigung mit dem Urtext ihr Recht zu belassen bzw. diese wiederzugewinnen, wie er es in seinen Traktaten getan hat.66

63

Vgl. ebd., 490. Vgl. ebd., 497. 65 Vgl. ebd., 499. 66 Im Hinblick auf Franzelins Christologie vgl. dazu K. Reinhardt, Der dogmatische Schriftgebrauch in der katholischen und protestantischen Christologie von der Aufklärung bis zur Gegenwart, München/Paderborn/Wien 1970, 158 –160. 64

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3.3 Die Bedeutung der Vulgata heute Exegetisch spielt die Vulgata, die auch die Offenbarungskonstitution des 2. Vaticanums Dei verbum nach der Septuaginta und vor den Übersetzungen in moderne Sprachen gleichsam pflichtschuldig nennt,67 heute kaum mehr eine Rolle.68 Anders jedoch ist es, zumindest den römischen Vorgaben nach, in der Liturgie. Die so umstrittene Instruktion Liturgiam authenticam für die Übersetzung des Römischen Messbuchs in die Volkssprachen aus dem Jahr 2001 sieht zwar vor, dass die Schriftlesungen aus dem jeweiligen Urtext übersetzt werden. Allerdings soll die 1979 veröffentlichte Ausgabe der Vulgata, die sog. Neovulgata, zum Vergleich herangezogen und in Fällen, in denen es eine Abweichung zwischen dem Urtext und dieser lateinischen Übersetzung gibt, nach der letzteren korrigiert werden.69 3.4 Der Sprachgebrauch des 2. Vaticanums Der vor und auf dem 2. Vaticanum ausgetragene Streit um die „Zwei Quellen“ der Offenbarung und die Überwindung dieser Auffassung hat dazu geführt, dass der Ausdruck „fons“ in Dei verbum nur noch an zwei Stellen vorkommt, einmal zu Beginn des zweiten Kapitels „De divinae revelationis transmissione“ in einer „relecture“ des Trienter Dekrets über die Heiligen Schriften und Überlieferungen.70 Wie dort wird auch hier das von Jesus Christus promulgierte Evangelium als „fon[s] omnis et salutaris veritatis et morum disciplinae“

67

Vgl. DV 22. Noch in den 1970er Jahren konnte man an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Mainzer Universität wählen, ob man die Prüfung im Alten Testament auf der Basis des hebräischen Textes oder der Vulgata ablegt. 69 Vgl. Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Der Gebrauch der Volkssprachen bei der Herausgabe der Bücher der römischen Liturgie „Liturgiam authenticam“ (2001), Nr. 24.37f. (http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/ccdds/documents/rc_con_ccdds_doc_20010507_liturgiam-authenticam_ge.html [letzter Zugriff: 8.5.2014]). 70 Für das Folgende vgl. die noch immer lesenswerten Ausführungen von J. Ratzinger, Kommentar zum Prooemium, I. und II. Kapitel [von Dei verbum], in: Das Zweite Vatikanische Konzil, Dokumente und Kommentare, hrsg. von H. S. Brechter u. a. (Lexikon für Theologie und Kirche), Bd. 2, Freiburg i. Br. 1967, 504 –528, hier 515 –528. 68

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bezeichnet.71 Anders als das 1. Vaticanum, das ebenfalls den Kern der Trienter Aussagen aufnehmen wollte,72 spricht das 2. Vaticanum nicht von „revelatio supernaturalis“, sondern wieder, wie das Tridentinum, vom Evangelium und lässt das instruktionstheoretische Offenbarungsmodell vollends hinter sich, wenn es in den Trienter Text „adimplevit“ sowie „eis dona divina communicavit [sc. Iesus Christus]“ einfügt. Jesus promulgiert nicht einfach ein Gesetz, sondern erfüllt mit der Verkündigung des Evangeliums die Verheißungen der Propheten. Das zweite Mal begegnet „fons“ im vierten Kapitel „De sacra scriptura in vita ecclesiae“, wo die Heilige Schrift u. a. als „vitae spiritalis fons purus et perennis“ charakterisiert wird.73 In dem zentralen Abschnitt des zweiten Kapitels, in dem es um das Verhältnis von Heiliger Schrift und Überlieferung geht, werden beide als demselben göttlichen Quell entströmend geschildert, wobei hier bewusst das seltene lateinische Wort „scaturigo“74 gebraucht wird, um den Streit um die beiden „fontes“ zu entkrampfen. Tradition – anders als das Tridentinum gebraucht das 2. Vaticanum hier den Singular – und Schrift, heißt es weiter, „fließen gewissermaßen in eins zusammen und streben demselben Ziel zu. Denn die Heilige Schrift ist Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet wurde. Die Heilige Überlieferung aber gibt das Wort Gottes, das von Christus dem Herrn und vom Heiligen Geist den Aposteln anvertraut wurde, unversehrt an deren Nachfolger weiter, damit sie es unter der erleuchtenden Führung des Geistes der Wahrheit in ihrer Verkündigung treu bewahren, erklären und ausbreiten.“75

71

DV 7. Vgl. DH 1501 (s. Anm. 23). Vgl. die Dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben Dei Filius, Kap. 2 (DH 3006). 73 DV 21. 74 Im klassischen Latein scheint nur der Plural gebräuchlich. Vgl. C. T. Lewis/ C. Short, Dictionary (s. Anm. 25), s.v. 75 DV 9. 72

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3.5 Über den rechten Umgang mit der „Quelle“: der Vorwurf der „Steinbruch“-Exegese Im Hinblick auf die Hl. Schrift als Text stellt sich nun die Frage, wie man mit dieser Quelle oder, um mit Cano zu sprechen, dem geklärten Wasser aus dem Tümpel umgeht. Diese Frage soll hier nicht im Hinblick auf den exegetischen, sondern den dogmatischen Umgang mit der Hl. Schrift behandelt werden, sei es nun im Urtext oder einer Übersetzung. Franzelin etwa zitiert die Bibel in der Regel im Urtext, aber er tut es, indem er bestimmte zentrale Aussagen, die sich im Lauf der Zeit als „dicta probantia“76 herausgebildet haben, herausgreift und diese in der ihm eigenen Gelehrsamkeit beleuchtet.77 Er betreibt also mehr oder weniger Steinbruch-Exegese. Aber Steinbrüche, so mag man einwenden, sind Orte, wo wertvolles Material gewonnen wird, mit dem anderswo gebaut wird. Auch hier wird man wieder auf die Antike verwiesen, wenn man nach der Herkunft dieser Methode fragt. Aber es soll nicht bis zur Topik Ciceros zurückgegangen werden, die noch mehr als die des Aristoteles für die frühneuzeitliche Theologie maßgeblich geworden ist. Es reicht, auf die reichhaltige theologische Loci-Literatur zu verweisen, die mit Erasmus anhebt, der empfahl, bei der Lektüre der Hl. Schrift thematische Nester zu bilden, in die man die entsprechenden Lesefrüchte ablegt.78 Melanchthon ist ihm hier mit seinen Loci communes von 1521 als erster gefolgt und für die evangelische Dogmatik stilbildend geworden, aber auch für die katholische, um nur das Beispiel von Johannes Eck zu nennen. Ganz anders der Ansatz von Cano, dessen Loci theologici nicht inhaltlich zusammengehörende Bibelstellen versammeln, sondern die Bezeugungsinstanzen charakterisieren, denen die Theologie ihre Argumente entnimmt, und deren Stellen76

Diese Junktur wird in der Literatur zwar allenthalben verwendet, etwa bei K. Reinhardt, Schriftgebrauch (s. Anm. 66), 531 (Reg. s.v. Beweisstellen), ihre Herkunft aber nicht geklärt. M. Grabmann, Geschichte der scholastischen Methode. Nach gedruckten und ungedruckten Quellen, Bd. 1, Freiburg i. Br. 1909, Nachdruck: Graz 1957, 267 Anm. 1, zitiert einen Passus des Anselm von Canterbury, der es als Aufgabe der Theologie bezeichnet, eine Aussage „… in dictis eius [sc. Sacrae Scripturae] aperte monstrare aut ex ipsis probare …“ (Anselmus Cantuariensis, De concordia praescientiae Dei cum libero arbitrio q. 3, c. 6; PL 158, 528). 77 Vgl. K. Reinhardt, Schriftgebrauch (s. Anm. 66), 159. 78 Vgl. P. Walter, Theologie (s. Anm. 7), 189 –194.

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wert klärt.79 Erasmus geht es keineswegs nur um eine Sammlung von einschlägigen Bibelstellen, sondern letztlich um die Anleitung zu einer Bibellektüre gemäß der „analogia scripturae“ oder, lutherisch gesprochen, im Sinne der „sacra scriptura sui ipsius interpres“, wobei es sich letztlich um ein schon von der hellenistischen Homerphilologie praktiziertes Prinzip geht, Homer aus Homer zu verstehen.80 Der theologische Schulbetrieb, aber auch das Predigtwesen, die beide im 16. Jahrhundert konfessionsübergreifend und durch die Konkurrenz angeregt, Auftrieb erhielten, brachten vermehrt Sammlungen von Bibelstellen hervor. Damit wurde allerdings die Vorgehensweise des Erasmus konterkariert, dem es gerade darum ging, selber eine solche Sammlung zusammenzustellen und sich dabei mit der Heiligen Schrift und noch mehr mit dem durch sie zu den Menschen sprechenden Gott und Jesus Christus vertraut zu machen. Die Hochzeit solcher Sammlungen war das 17. und 18. Jahrhundert. Als Beispiel seien die heute vergessene Theologia scripturae divinae des Jesuiten Henricus Marcellius81 und das in einer jüngeren Edition noch greifbare Compendium Locorum Theologicorum Ex scripturis sacris & libro Concordiae […] collectum des orthodoxen Lutheraners Leonhart Hütter82 genannt. Marcellius bietet in syste79 Zum Vergleich des Verständnisses Canos mit dem Melanchthons vgl. P. Walter, Melanchthon (s. Anm. 32). 80 Vgl. P. Walter, Theologie (s. Anm. 7), 190 Anm. 1036. 81 Henricus Marcellius, Theologia scripturae divinae, sententiarum Libris Quatuor, Quibus Summa Doctrinae sacrae Scholasticae, Moralis, Polemicae, Asceticae, comprehenditur, commodiore quam hactenus, atque ad haec tempora opportuniore methodo digesta. In Gratiam Theologorum, Concionatorum, et omnium Fidei ac Pietatis Christianae amantium, Bruxellis: Franciscus Vivien, 1568 (http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10223272_00001.html [letzter Zugriff: 10.5.2013]). Das Werk erlebte im 19. Jh. zwei Neuauflagen (Neapel 1847; Montreal 1858), wurde in Mignes Cursus Scripturae Sacrae aufgenommen (Bd. 1, 908–1118) und ins Französische übersetzt (La voix de dieu enseignant les hommes, Paris/Tournai 1858). – Henricus Marcellius SJ (1593–1664) lehrte Mathematik und Philosophie in Mainz sowie Theologie in Reims, Molsheim und Bamberg. Vgl. C. Sommervogel, Bibliothèque de la Compagnie de Jésus, Bd. 5, Bruxelles/Paris 1894, Nachdruck Héverlé/Louvain 1960, 517–521. 82 Leonhard Hutter, Compendium Locorum Theologicorum Ex scripturis sacris & libro Concordiae … collectum, Wittebergae: Paulus Helwigius 1610 (hrsg. von W. Trillhaas [Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 183], Berlin 1961). Zu den zahlreichen Neuauflagen und Nachdrucken bis ins 19. Jh. vgl. A. Stegmann, Johann Friedrich König. Seine Theologia positiva acroamatica (1664) im Rahmen

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matischem Aufbau, beginnend mit der Existenz Gottes und der Trinitätslehre, nichts als die einschlägigen Bibelstellen, Hütter hingegen über die Stellen hinaus kurze theologische Erklärungen. Sein Compendium ist wie ein Katechismus in Frage und Antwort aufgebaut und spricht verschiedene Altersstufen an. Es löste in Kursachsen die Loci des von Hütter bekämpften Melanchthon als Lehrbuch ab. Weitere Beispiele bis hin zur Apodixis articulorum fidei e solis Scripturae locis des Lutheraners Abraham Calov83, die die zentralen Bibelstellen paraphrasiert und sie exegetisch sowie systematisch durchdringt, wären hier zu nennen.84 Die Beschäftigung mit „dicta probantia“ nicht nur aus der Hl. Schrift, sondern auch aus den symbolischen Büchern, gehörte zu dieser Zeit zum evangelischen, zumindest lutherischen Lehrkanon. Im Hinblick auf die dabei befolgte Methode klingt die Ankündigung einer privaten Lehrveranstaltung an der Leipziger Universität 1702 interessant: „Die in unserem Nucleus Theologiae gesammelten Beweisstellen sollen aus den Quellen selbst ermittelt, ihr ursprünglicher Sinn erhoben, ihre Beweiskraft gezeigt und auf die [zu beweisende] These angewendet werden.“85 Das erindes frühneuzeitlichen Theologiestudiums (Beiträge zur historischen Theologie 137), Tübingen 2006, 277. – Leonhart Hütter (1563 –1616) lehrte seit 1596 in Wittenberg Theologie. Vgl. W. Sparn, Art. Hütter, in: RGG4 3 (2000), 1967f. 83 Abraham Calov, Apodixis Articulorum Fidei, E Solis Scripturae S. Locis, Eorum Contextu, Antecedentibus, & Consequentibus, ac Parallelis, Secundum Fontes, Ebraeos Et Graecos, Credenda Demonstrans. Quae Ideae Instar Esse Potest, Omnes Theses Controversas E S. Literis Firmiter Decidendi & Veritatem Fidei Solide Confirmandi, Luneburgi: Gruner 1674; Wittenbergae: Meier 1699 (http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/dms/werkansicht/?PPN=60126861X [letzter Zugriff: 10.5.2013]). Abraham Calov (1612–1686), Vertreter der lutherischen Orthodoxie, lehrte ab 1650 in Wittenberg Theologie. Vgl. J. Baur, Art. Calov, in: RGG4 2 (1999), 15f. 84 Schon im 18. Jh. wurde von dem Helmstädter Theologen Jonas Conrad Schramm (1675 –1739) ein, allerdings nur die protestantische Produktion berücksichtigender, Überblick über diese Literaturgattung gegeben: Jonas Conrad Schramm, De collectionibus dictorum sacrae scripturae a theologis allegatorum programma, Helmstadii: Wolfgang Hamm 1712 (http://gdz.sub.uni-goettingen.de/ dms/load/img/?PPN=PPN683552902&DMDID=DMDLOG_0000&LOGID=LOG _0000&PHYSID=PHYS_0022 [letzter Zugriff: 10.5.2013]). Vgl. A. Stegmann, König (s. Anm. 82), 179. 85 „Dicta probantia in nostro Nucleo Theologiae congesta, ex ipsis fontibus eruantur, eorum genuinus sensus proferatur, visque probandi monstretur, & ad thesin applicetur.“ A. Stegmann, König (s. Anm. 82), 144f. Anm. 135; Zitat: 145. Es

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nert an Erasmus. Methodisch von Bedeutung wäre auch die Einbeziehung eines Werkes wie desjenigen des Hallenser Theologen Sigismund Jakob Baumgarten: Dissertatio theologica de dictis sacrae scripturae probantibus.86 Die letzte Sammlung von biblischen „dicta probantia“, die ausdrücklich diesen Titel trug, erschien im 19. Jahrhundert: ein nur die Bibelstellen bietender Auszug aus der Dogmatik des Hallenser Theologen Julius August Wegscheider.87 Jedoch endet damit keineswegs der entsprechende Umgang mit der Bibel, der sich etwa in neuscholastischen Lehrbüchern bis weit ins 20. Jahrhundert erhalten hat. Ob man nun die Bibel als Quelle oder als Lieferantin von Beweisstellen für theologische Lehraussagen betrachtet, entscheidend ist, wie man damit umgeht. Dazu seien abschließend noch ein paar grundsätzliche Bemerkungen erlaubt. 3.6 „Einer trage des anderen Last“ (Gal 6,2) Biblisch-historische und dogmatische Theologie gehören zum Ganzen der Theologie, aber sie folgen so unterschiedlichen Methoden, dass dieses manchmal in Frage zu stehen scheint. Der Sache der Theologie wäre freilich nicht gedient, wenn beide Teilbereiche sich aneinander anpassen würden. Der evangelische Tübinger Systematiker Eberhard Jüngel hat vor fast 50 Jahren einen noch immer bedenkenswerten Entwurf vorgelegt, in dem er sowohl die Einheit der unhandelt sich um eine Veranstaltung von Christian Reineck (1668 –1752), der dabei seinen Nucleus Theologiae Positivae, Leipzig 1699, ²1706, zugrunde legte. Vgl. A. Stegmann, König (s. Anm. 82), 218f. 86 Sigismund Jakob Baumgarten, Dissertatio theologica de dictis sacrae scripturae probantibus, Halle 1735 (Nachdruck ebd. 1749: http://dfg-viewer.de/ v2/?set[image]=1&set[zoom]=default&set[debug]=0&set[double]=0&set[mets] =http%3A%2F%2Fdigitale.bibliothek.uni-halle.de%2Foai%2F%3Fverb%3DGet Record%26metadataPrefix%3Dmets%26identifier%3D2949080 [letzter Zugriff: 10.5.2013]). – Sigismund Jakob Baumgarten (1706 –1757) lehrte seit 1734 in Halle Theologie und verfasste eine große Anzahl von Lehrbüchern. Vgl. M. Schloemann, Art. Baumgarten, in: RGG4 1 (1998), 1180f. 87 [Julius August Wegscheider,] Dicta probantia Veteris et Novi Testamenti, quae in singulis institutionum theologiae christianae dogmatiae a S. V. Wegscheidero scriptarum paragraphis allegata sunt, Halle 1831; Auszug aus: Ders., Institutiones theologiae christianae dogmaticae, 2 Bde., Halle 1815, 81844. – Julius August Ludwig Wegscheider (1771–1849) lehrte seit 1810 in Halle Theologie. Vgl. A. Christophersen, Art. Wegscheider, in: RGG4 8 (2005), 1324f.

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terschiedliche Methoden verwendenden theologischen Disziplinen als auch deren spezifische Funktion füreinander bedenkt.88 Wenn man die theologischen Disziplinen betrachtet, fällt auf, dass es sich dabei meist um Fächer handelt, die ihren Gegenstand mit anderen Wissenschaften teilen. So wird etwa das Alte Testament sowohl von der alttestamentlichen Exegese innerhalb der Theologie bearbeitet als auch von Semitistik und Altorientalistik, das Neue Testament ist sowohl Gegenstand der neutestamentlichen Exegese als auch der Altphilologie sowie der spätantiken Geschichte. Die Kirchengeschichte ist nicht nur für die Theologen reserviert, ebenso wenig die Dogmen oder andere kirchliche oder theologische Aussagen. Gerade zwischen den historischen Disziplinen innerhalb der Theologie und den jeweils benachbarten nichttheologischen Disziplinen lässt sich ein hohes Maß an methodischer Übereinstimmung feststellen, welche oft unbestrittener ist als die Gemeinsamkeiten innerhalb der einen Theologie. Jüngel unterscheidet zwischen dem „natürlichen“ Ort einer theologischen Einzeldisziplin innerhalb der nichttheologischen Nachbardisziplinen und ihrem „gegebenen“ Ort innerhalb der Theologie.89 Dass sich die philologischen Wissenschaften mit den Texten des Alten und Neuen Testamentes beschäftigen, ist sozusagen natürlich. Auch dass das Phänomen Kirche von den historischen Wissenschaften beleuchtet wird, erscheint als natürlich. Dass es aber eigene theologische Disziplinen gibt, die sich gleichfalls mit diesen Phänomenen befassen, ist nicht in gleicher Weise selbstverständlich. Wodurch erhalten nun die theologischen Disziplinen ihren vom natürlichen Ort außerhalb der Theologie unterschiedenen „gegebenen“ Ort innerhalb der Theologie? Nach Jüngel ist das Unterscheidende, das die theologischen Einzeldisziplinen von ihren nichttheologischen Nachbardisziplinen abhebt, die „theologische Existenz“, anders gesagt: der Bezug auf das Geheimnis Gottes.90 Es ist somit der Glaube, der die theologischen Disziplinen zu solchen macht. Aus dem Gesagten ergibt sich ein Zweifaches: Erstens haben sich die theologischen Disziplinen in ihrer profanen Wissenschaftlichkeit 88 Vgl. E. Jüngel, Das Verhältnis der theologischen Disziplinen untereinander [1968], in: Ders., Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen (Beiträge zur evangelischen Theologie 61), München 1972, 34 –59. 89 Vgl. ebd., 37f. 90 Vgl. ebd., 37.

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gegenüber ihren nichttheologischen Nachbardisziplinen auszuweisen. Dass Theologen ihr methodisches Rüstzeug in gleicher Weise beherrschen wie die Nachbarwissenschaftler, kann nur der wissenschaftliche Wettbewerb zeigen. Genauso wichtig aber ist das Zweite: Die Theologie ist nur dann keine überflüssige Dublette im Gesamt der Wissenschaften, wenn sie hier eine Sache für sich ist. Sie muss mit allen Wissenschaften im Gespräch bleiben, mit ihnen im Gebrauch der Vernunft wetteifern und zugleich deutlich machen, dass sie die Vernunft in spezifischer Weise gebraucht. Die Theologie darf also ihre Sonderrolle, die sie im Gesamtkonzert der Wissenschaften spielt, nicht scheuen. Theologie kann als Wissenschaft auf Dauer nur bestehen, wenn es ihr zu zeigen gelingt, dass der Glaube ein Verständnis von Wirklichkeit ermöglicht, das den Vernunftvermögen, auf die die anderen Fakultäten ihr Dasein gründen, so nicht gegeben ist. Dies bedeutet, dass die Theologie als Wissenschaft, und zwar bei aller Vielfalt der Disziplinen als einheitliche Wissenschaft, durch etwas konstituiert wird, was sich nach allgemeiner Überzeugung dem wissenschaftlichen Zugriff entzieht, nämlich den Glauben. Theologie hat also nur insofern eine Daseinsberechtigung unter den Wissenschaften, insofern sie Glaubenswissenschaft ist. Eine Theologie, die sich nicht so verstünde, wäre als Dublette im Wissenschaftsbetrieb der Universität schlicht überflüssig. Die Theologie hat also ein eigenes, sie als selbständige Wissenschaft organisierendes Prinzip, das durch die Wissenschaft nicht hervorgebracht werden kann, das aber gerade so die Einheit der Theologie gewährleistet. Eberhard Jüngel schreibt der so als Glaubenswissenschaft verstandenen Theologie die Aufgabe zu, „die Geschichtlichkeit des Wortes Gottes … historisch zu erklären, weil sie Gottes Wort geschichtlich zu verantworten hat.“91 Die Einheit der Theologie als Wissenschaft gründet darin, dass sie die göttliche Selbstmitteilung, die in ihrem Geschehensein historisch erklärt werden muss, als in der Gegenwart erneut geschehende geschichtlich verantwortet. Daraus ergibt sich nach Jüngels unnachahmlich bündiger Formulierung folgende Gliederung der Theologie: Die Exegese fragt „nach dem Geschehen-Sein des zu wiederholenden Wortes Gottes“, d. h. nach dem biblischen Text, die Kirchengeschichte „nach dem Geschehen-Sein des wieder-

91

Ebd., 51.

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holten Wortes Gottes“, d. h. nach der Überlieferung, die praktische Theologie „nach dem Geschehen der Wiederholung des Wortes Gottes“, d. h. nach den aktuellen kirchlichen Vollzügen, die systematische Theologie schließlich „nach der Wiederholbarkeit des Wortes Gottes“, d. h. nach seiner Wahrheit. Letztere hat zugleich auch den Zusammenhang vom Wort als Text, als Überlieferung und als gegenwärtiges Ereignis zu reflektieren.92 Die einzelnen theologischen Disziplinen haben nach Jüngel die Aufgabe, sich gegenseitig zu entlasten. Diese Entlastung vermögen sie freilich nur dann zu leisten, wenn jede theologische Disziplin sich mit dem Problembewusstsein der jeweils zu entlastenden Disziplin belastet. Das heißt etwa, dass die Dogmatik die historischen Disziplinen entlastet, indem sie deren historische Methode verantwortet. Das setzt nach Jüngel allerdings voraus, dass sich die historischen Disziplinen ihrerseits mit dem Problembewusstsein der Dogmatik belasten. Das heißt auch, dass sie die Frage nach dem, was sie als theologische Disziplinen konstituiert, nicht einfach beiseite lassen, sondern bewusst stellen, auch wenn sie sie als historische Disziplinen selber nicht beantworten können.93 Es ist wohl nicht überflüssig, hinzuzufügen, dass diese Aufgabe gegenseitiger Ent- und Belastung in der Theologie kaum gesehen, geschweige denn tatsächlich wahrgenommen wird. Umso dringlicher ist es, immer wieder darüber nachzudenken.

92 93

Ebd., 57. Vgl. ebd., 57–59.

Die Auslegung der Heiligen Schrift

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Historisch-kritische und kanonische Textinterpretation – ein feindliches Paar? Josef Wohlmuth

Meine Überlegungen, die ich vorlege, haben ihre eigene Geschichte. Vor gut 40 Jahren hatte ich den Eindruck, dass die Dogmen- und Theologiegeschichte reif sei, sich mit Hilfe historisch-kritischer Methoden an dogmatische Texte, zumal an kirchenamtlich hochrangige Texte wie die Texte der Ökumenischen Konzilien, heranzuarbeiten. Mein Versuchstext war damals das Konzil von Trient. Es war dezidiert mit solcher Methodik noch nicht bearbeitet worden, ging man doch an die Texte dieses Konzils eher nach ihrer kirchenamtlich dogmatisierten (‚kanonischen‘) Interpretation der Endredaktion heran. Ohne dass ich es damals merkte, bestand bereits ein feindliches Gegenüber zwischen den dogmatisch unverrückbaren, definitiven Sätzen, die sich in das Gesamt der Glaubenstradition einfügen ließen, und den historischen Entstehungsprozessen, die, wenn man sie historisch-kritisch analysiert, plötzlich eine kritische Funktion bezüglich der Rezeption der kanonisch gewordenen konziliaren Texte erreichen können. Deshalb will ich in folgenden Schritten vorgehen. (1.) Ich will zeigen, was es bedeutet, an das Konzil von Trient (z. B. bei der Analyse der Kanones 1– 4 der 13. Sitzung historischkritisch heranzugehen. (2.) Ich will prüfen, inwiefern eine kanonische Textinterpretation eine notwendige Ergänzung darstellt, und versuche (3.) systematisch zu begründen, warum beide nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen.1 1

Ich verzichte in der folgenden Darstellung auf Einzelnachweise. Das Konzil von Trient könnte auch durch andere Konzilien ausgetauscht werden. Die gute Quellenlage des Trienter Konzils beweist die kritische Ausgabe Concilium Tridentinum in bisher 13 Bänden, Freiburg i. Br. 1901ff. – eine erstaunliche Leistung historisch-kritischer Arbeit. Zur Zeit meiner Dissertation waren wesentliche Texte, die die Textgeschichte der 13. Sitzung betrafen, noch nicht veröffentlicht. Vgl. J. Wohlmuth, Realpräsenz und Transsubstantiation im Konzil von Trient. Eine historisch-kritische Analyse der Canones 1– 4 der Sessio XIII. Bd. I: Darstellung; Bd. II: Anmerkungen und Texte, Quellen- und Literaturverzeichnis, Tafeln. Eu-

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1. Historisch-kritische Textinterpretation Wenn im Folgenden von historisch-kritischer Methode die Rede ist, muss genügend deutlich bleiben, dass es sich um einen Sammelbegriff handelt, für den viele Gründe sprechen, der aber auch anders genannt werden könnte. Die hermeneutische Grundoption lautet, einen Text aus seiner Genese zu verstehen und ihn in seinem historisch eruierten Sinn der übrigen kirchlichen Tradition in Vergangenheit, Gegenwart und (noch ausstehender, aber hypothetisch vorweggenommener) Zukunft kritisch entgegenzustellen. Auf diese Weise erhebt das historisch-kritisch Erarbeitete im Rahmen einer Gesamttradition einen Geltungsanspruch und scheut nicht die Auseinandersetzung mit ihr. 1.1 Kurzer Einblick in die Einzelschritte der historisch-kritischen Methode Ich setze die methodischen Einzelschritte, die ich damals von der Exegese in der Dogmengeschichte angewendet habe, weitgehend als bekannt voraus. Sie waren von der Annahme getragen, dass diese Methoden auf verschiedene Textsorten und deren Entstehungsgeschichte angewendet werden können. Eine historische Urteilsbildung über einen Text setzt in der Exegese normalerweise mit der Textkritik ein, in der es um die Erarbeitung eines aus den vorhandenen Quellen kollationierten kritischen Textes geht, der als Endprodukt einer dahinter stehenden Textgenese in schriftlicher Fassung die folgende kritische Interpretation ermöglicht. In der Literarkritik wird dieser Text zunächst auf seine Einheitlichkeit und Integrität befragt. Aus der Analyse der festgestellten oder vermissten Einheit können bereits Rückschlüsse auf die Autorschaft gezogen werden. Die Traditionskritik, deren sachliche Begrenzung und terminologische Beschreibung differiert, versucht den Prozess der Überlieferung eines Textes kritisch zu untersuchen. Beschränkt man sich dabei – im Unterschied zur Literarkritik – auf die Periode der mündlichen Überlieferung, wird man, von einer literarischen Texteinheit ausropäische Hochschulschriften, Reihe XXIII Theologie, Bd. 37, Bern/Frankfurt a.M. 1975. Vgl. zu den Texten des Konzils von Trient in lat. und deutscher Version: Ders. (Hrsg.), Dekrete der ökumenischen Konzilien [= CODdt.]. Bd. 3, Paderborn u. a. 2002, 657–799.

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gehend, auf die vorliterarischen Überlieferungsstufen bis zu den erreichbaren Ursprüngen zurückgehen und umgekehrt von den Ursprüngen her die verschiedenen Stufen der Entwicklung bis zur Erstellung eines endgültigen, schriftlich niedergelegten Textes verfolgen, der bezüglich seiner letzten Entstehungsstufen der Redaktionskritik unterzogen wird. Ergänzungen, Kommentierungen oder neue Zusammenhänge, die auf eine oder mehrere Redaktionen zurückgehen, führen zum besseren Verständnis der Aussageintentionen eines Textes. Terminologisch umstritten sind die beiden Begriffe der Form- und Gattungskritik. Man wird gut daran tun, in der Formkritik eine kleinere oder größere Texteinheit in all ihren Entwicklungsstufen auf ihr „persönliches Gesicht“ in Stil und Aussage zu analysieren, während die Gattungskritik den Text in seinen verschiedenen Entwicklungsstufen auf seine über ihn hinausgreifende typische Aussagegestalt untersucht. Zu dieser Terminologie wird man kommen, wenn man unter Form die Elemente einer individuellen Sprachgestalt und unter Gattung eine dem Individuum vorgegebene, oft auch sozialgeschichtlich bedingte Sprachgestalt versteht, die u.U. auch an bestimmte Lebensformen und Gemeinschaften gebunden ist. „Sitz im Leben“ bezöge sich dann auf jene Situationen, in denen bestimmte Gattungen entstehen, sich verändern oder verbreiten. Schließlich ist mir bei meiner Arbeit an den Trienter Konzilstexten klar geworden, dass es aus terminologischen Gründen gut wäre, im methodischen Vorgehen der Traditionskritik den Prozess der Überlieferung (traditio) vom Überlieferungsstoff (traditum) zu unterscheiden. Dann wäre es vorteilhaft, die Geschichte der Überlieferungsinhalte als Traditionengeschichte zu fassen, so dass das methodische Vorgehen der Traditionenkritik darin bestünde, in den mündlichen und literarischen Stufen der Entstehung eines Textes die dort aufgenommenen oder verarbeiteten Traditionen zu studieren. In diesem methodischen Versuch der historischen Urteilsbildung geschieht also eine breit angelegte Sichtung und Beurteilung des Quellenmaterials, sowie dessen geistes- und theologiegeschichtliche Einordnung in den Strom der kirchlichen Überlieferung. Dazu gehören neben der Theologiegeschichte vor allem die Texte früherer Konzilien. In der Einzelexegese geht es schließlich darum, die Einsichten der verschiedenen methodischen Schritte zu verarbeiten und auf jeder Stufe der Textgeschichte zu einem möglichst zutreffenden Urteil

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über die historisch erreichbaren Aussageintentionen und die Aussage eines Textes zu kommen. 1.2 Übertragung auf die Analyse von Konzilstexten, hier des Konzils von Trient Ein erster Überblick über die Geschichte des Konzils von Trient zeigt sehr schnell, dass dieses Konzil eine relativ gut dokumentierte Entstehungsgeschichte der Texte der Endredaktion aufweist. Da sich das Konzil auf zwei Perioden (1545 – 47; 1551/52) und schließlich auf eine dritte Periode (1562– 63) erstreckte, die Jahre auseinander liegen und mit verschiedenen Teilnehmern besetzt waren, haben eine Reihe von Texten einen mehrstufigen Entstehungsprozess durchlaufen, den man in den Einzelschritten verfolgen kann. Trient ist auch das erste Konzil der Neuzeit, dessen Verlauf quellenmäßig erstaunlich gut dokumentiert ist. Dies ist bei den biblischen Texten nur ausnahmsweise gegeben. Selbst da, wo die Bibelwissenschaften vermuten, dass Texte einen gestuften Entstehungsprozess haben, der zeitlich weit auseinander liegen kann, fehlen oft die gesicherten Quellen. In Trient ergibt sich der einmalige Fall, dass es in den Perioden des Konzils zu je verschiedenen Überlieferungsprozessen kommt, wobei auch verabschiedungsreife Texte der ersten Periode vorliegen, die formell nicht verabschiedet wurden und in der folgenden Periode ganz von vorne neu verhandelt und schließlich verabschiedet wurden. Die von mir bearbeiteten Texte betreffen die 13. Sitzung des Konzils (11. Oktober 1551), in der die Texte über das Sakrament der Eucharistie, deren Bearbeitung in die erste Periode zurückreichte, verabschiedet wurden.2 Die Texte über das Messopfer der 23. Sitzung (17. September 1562)3 haben einen Entstehungsprozess über alle drei Perioden hinweg. Es gibt heute kaum noch Interpretationen von Konzilstexten, die nicht den Entstehungsprozess einbeziehen, soweit die Quellen dies hergeben. Im Folgenden beschreibe ich kurz die verwendete historisch-kritische Methodik, mit der ich an das Konzil von Trient herangegangen bin.4 Dabei zeigte sich, dass sich aus dem Verhandlungsablauf des Konzils gewisse Variationen ergeben. 2

Vgl. J. Wohlmuth (Hrsg.), Dekrete. Bd. 3 (s. Anm. 1), 693 – 698. Vgl. ebd., 732–736. 4 Vgl. zu Hermeneutik und Methodenfrage, J. Wohlmuth, Realpräsenz (s. Anm. 1), bes. 52– 84. 3

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„1. Die einzelnen Stufen des konziliaren Überlieferungsprozesses sind quellenmäßig so gut belegt, dass sich die einmalige Chance anbietet, die Texte der Endredaktion von den Ursprüngen durch ihre lange Überlieferungsgeschichte bis zu ihrer Verabschiedung zu studieren. Methodisch folgt daraus, dass die Arbeit nicht bei der Analyse der verabschiedeten Texteinheiten beginnt. Die einzelnen Stufen einer Überlieferungsgeschichte, die der Exeget normalerweise aus der Analyse des ‚kanonischen‘ Textes erst erschließen muss, liegen in diesem Fall quellenmäßig schon vor. Es gilt, sie so genau wie möglich nachzuzeichnen und historischkritisch zu analysieren. 2. In der Nachzeichnung des konziliaren Verhandlungsganges stößt man von selbst auf die dem Konzil eigene Verhandlungsmethode, die ihrerseits wieder engstens mit den konziliaren Arbeitsinstitutionen zusammenhängt. Die historische Arbeit kann deshalb bereits da einsetzen, wohin der Exeget erst nach mühevollen Untersuchungen kommt, wenn er nach den Traditionsträgern, den Traditionsinstitutionen, nach Verfasser(n) und nach dem ‚Sitz im Leben‘ fragt. Methodisch ergibt sich daraus der Vorteil, dass das Konzil traditionskritisch mit all seinen historischen Bedingtheiten möglichst plastisch vor Augen gestellt werden kann. Dies soll hier nicht vorgestellt werden, zumal meine Arbeit über nur vier Kanones der 13. Sitzung vom Oktober 1551 bereits um die 700 Seiten umfasst. 3. Der zwei- oder mehrmalige Neuansatz einer Debatte in den getrennten Perioden des Konzils bei gleichen Arbeitsmethoden und gleichen konziliaren Institutionen, jedoch sehr verschiedener Gesamtbesetzung, bringt die einmalige Gelegenheit mit sich, zwischen den beiden Verhandlungsperioden und ihren Ergebnissen einen großen synoptischen Vergleich anzustellen, aus dem sich interessante Einsichten in die konkret-historische Bedingtheit dogmatischer Aussagen erwarten lassen. 4. Der in mehreren Verhandlungsperioden methodisch gleich verlaufende Überlieferungsprozess kann im Vergleich traditionsund redaktionskritisch untersucht werden. Ein wichtiger Einschnitt im Meinungsbildungsprozess geschieht mit dem Erstentwurf eines Kanons oder Lehrtextes. Der vorausliegende Prozess der Urteilsbildung über vorgelegte reformatorische Artikel, der

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als mündlich-literarische Vorstufe verstanden werden kann, ist beendet und die Redaktionsarbeit beginnt. 5. In der Phase der Redaktion vollzieht sich die konkrete Arbeit an den vorgelegten Texten. An die Stelle langer Konzilsreden treten nun (meist) kürzere Bemerkungen zu den vorgelegten Entwürfen. Die einzelnen Lesungen der Redaktionsgeschichte lassen sich auf der Basis der vorhandenen Protokolle oder authentischer Voten der einzelnen Redner gut nachvollziehen. Auch dies wird in der Redaktionskritik biblischer Texte eher nur hypothetisch gelingen. 6. Entsprechend fallen die beiden Hauptstufen der Methode aus: Die Traditionskritik befasst sich mit den konziliaren Traditionsvorgängen in all ihren Einzelheiten. Die Redaktionskritik betrifft im engeren Sinn die konziliare Textproduktion, die am Beispiel des Konzils von Trient in den von mir analysierten Textgenesen sehr detailliert nachvollzogen werden kann. Dies bedeutet, dass die der Redaktion vorausgehenden Konzilsreden der Theologen und Bischöfe noch der ‚mündlichen‘ Phase zugehören, die als erster Anweg der Meinungsbildung betrachtet werden kann. Die redaktionellen Bemerkungen dienen der Erarbeitung eines verabschiedungsreifen Textes. 7. Die beiden Großgattungen der Texte im Konzil von Trient betreffen vor allem die Gattung ‚Kanon‘ und ‚Dekret‘, wobei ‚Dekret‘ unterteilt wird in ‚Lehr-‘‚ und ‚Reformdekret‘. Diese Gattungen sind in Trient nicht neu erfunden worden, sondern haben ihre lange Geschichte in den vorausgehenden Konzilien. Wie aus den konziliaren Verhandlungen hervorgeht, werden in Trient die Reformdekrete im Rang mit den Lehrdekreten gleichgesetzt. In den Kanones ist das Konzil auf Abgrenzungen von den Reformatoren bedacht. Es ist jedoch zu beachten, dass die Kanones dieses Konzils als hypothetische Warnungen verstanden werden müssen, von denen gilt: Verurteilt wird nur unter der Bedingung, dass jemand eine im Text aufgeführte Lehre wirklich vertritt. Die Form ist deshalb: Si quis dixerit – anathema sit. 8. Die Traditionenkritik erstreckt sich im Grunde auf alle Phasen des Überlieferungsprozesses, da von Anfang bis Ende der Einfluss eines breiten Stromes von Überlieferungsinhalten spürbar ist.

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Hier erhält die Theologie im Konzil eine wichtige Rolle und darüber hinaus ist auch deutlich zu erkennen, wie das Konzil von Trient auf die vorausgehenden Konzilien Bezug nimmt. Vielleicht vermittelt die traditionenkritische Analyse der konziliaren Überlieferungsstufen die interessantesten Einblicke in den diachronen Überlieferungsprozess der Kirche selbst.“ Ein konziliarer Meinungsbildungsprozess ist gewiss ein Prozess mit eigenen, auch gruppendynamischen Gesetzen. Diese zu entdecken, müsste man das Konzil in seiner umfassenden Besetzung in allen drei Perioden vor Augen haben; weitere Vorarbeiten müssten einbezogen oder neu geleistet werden. Ich setze hier deshalb mehr oder weniger als unbewiesen voraus, dass die teilnehmenden Personen einzeln und in gemeinschaftlichen Formationen den konziliaren Meinungsbildungsprozess gestalteten. Nicht etwa in dem Sinn, als ergäbe die Summe der Denkformen der einzelnen Teilnehmer schon die Denkform des Konzils, aber auch nicht so, als sei die Denkform eines Konzils völlig unabhängig von der der einzelnen Teilnehmer. Die Denkform des einzelnen Konzilsteilnehmers aber ist neben dem, was er sagt, vor allem aus den Daten seines Lebens und seiner geistigen Herkunft zu erschließen. Allein das Wissen darum und die Kenntnis der den einzelnen Teilnehmer wiederum formenden Institutionen und Traditionen mögen in etwa vermuten lassen, wie der Denkrahmen eines Konzils der Vergangenheit wie etwa der des Konzils von Trient anzusetzen ist, ehe man an die einzelnen Quellen herangeht. Ich habe in meiner Arbeit über das Konzil von Trient eine sozialgeschichtliche und prosopologische Analyse der Teilnehmer vorgelegt und gezeigt, welches Bildungsniveau bei ihnen vorausgesetzt werden darf, aus welchen Teilen der Kirche sie kamen und welchen Beitrag sie als einzelne oder Gruppen für den Entstehungsprozess der Texte geleistet haben. Da spielen die theologischen Schulen eine wichtige Rolle. Die meisten Ausbildungsstätten, von denen sie kamen, sind bekannt. Von vielen Konzilsvätern haben wir ein recht genaues persönliches Profil, zu dem auch ihr Bildungsstand gehört. Die italienischen Konzilsväter hatten an den Universitäten Bologna, Padua, Siena, Pavia und Rom oder im spanischen Salamanca und Alcalá studiert. Relativ wenige kamen in den ersten beiden Perioden von der Juristenschule in Toulouse oder dem humanistischen Zen-

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trum Neapel oder aus der Universität Paris. Ein fast noch interessanteres Bild ergibt sich, wenn man die Studiengänge der Konzilstheologen betrachtet. Aus ihnen lassen sich die geistigen Einflüsse, die auf das Konzil einwirkten, besonders deutlich erkennen, waren sie doch Theologen im aktiven Dienst. „Nach wie vor bin ich der Ansicht“, schreibt am 4. Februar 1546 ein kritischer Konzilsbeobachter, „dass auf dem Konzil nichts geschehen wird. Man wird sich mit den Beschlüssen über Ordensleute und Weltpriester begnügen – wenn Gott nicht einen frischen Wind vom Norden schickt, der in jene Funken bläst, die reichlich vorhanden sind. So aber hat man keinen Mut und vermag nichts zu erreichen, weil ausschließlicher Gegenstand der Verhandlungen die Fragen und Vorlagen der Legaten sind, und diese haben es offen herausgesagt, das Konzil sei päpstlich und auf ihm dürfe nur verhandelt werden, was Seiner Heiligkeit genehm ist …“5 Insofern ist es für den konziliaren Prozess von großer Bedeutung, welche Leitungsstrukturen vorgegeben oder gesucht wurden. So beleuchtet etwa diese zeitgenössische kritische Äußerung schlagartig die Rolle der Leitung in Gestalt der Konzilslegaten, die von Anfang an zwischen zwei mächtigen ‚Lagern‘ standen. Mehr und mehr zeigte sich nämlich, dass sich das Konzil nicht vom fernen Rom aus leiten ließ. Das Konzilspräsidium erhält deshalb eine wichtige Rolle, die konziliaren Eigeninteressen und die Belange des abwesenden Papstes in Balance zu halten. Hubert Jedin betrachtet es als folgenschwerstes Ergebnis der Anlaufszeit, „dass sich die Stellung der Konzilslegaten gegenüber dem Konzil sowohl wie gegenüber dem Papste konsolidierte“6. An der Geschichte der konziliaren Geschäftsordnungen könnte m. E. gezeigt werden, dass die Ergebnisse eines Konzils weitgehend davon abhängen, welche Verhandlungsspielräume eine Geschäftsordnung (modus procedendi) zulässt und wie ergebnisoffen und zugleich zielorientiert und zeitsparend damit gearbeitet werden kann. Im Konzil von Trient, das zu den schlecht vorbereiteten Konzilien gehört, musste sich eine konkrete ‚Geschäftsordnung‘ erst herausbilden.7 5

Unbekannter Beobachter, zit. bei H. Jedin, Die Geschichte des Konzils von Trient. Bd. 2, Freiburg i. Br. 1957, 33f. 6 Ebd., 36. 7 Vgl. die Arbeit von J. Beumer, Die Geschäftsordnung des Trienter Konzils, in:

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Eine spezielle Errungenschaft der Trienter Geschäftsordnung war die Einrichtung der sog. Theologenkongregation.8 Diese war notwendig geworden, weil sonst der Meinungsbildungsprozess über die reformatorischen Herausforderungen die Konzilsväter glatt überfordert hätte. So aber hielten die versammelten Theologen einen quasi konziliaren Status und unterrichteten die Konzilsväter in langen Vorlesungen zu bestimmten Einzelproblemen über die kirchliche Lehre und die reformatorischen Alternativen. Erst danach übernahmen die Bischöfe den Meinungsbildungsprozess. Das war für das Konzil von Trient eine Notwendigkeit, zeigt aber zugleich, dass die Theologie in diesem Konzil eine zentrale Bedeutung für den konziliaren Meinungsbildungsprozess darstellte. Tatsache ist es, dass mit den Theologen die Theologie selbst bzw. die theologischen Schulen und Bildungseinrichtungen eine höchst offizielle Stellung im Konzil erlangten. Dadurch drangen mit der Theologie dieser Epoche auch die in ihr vorgetragenen theologischen Traditionen so-

FStud 53 (1971), 289 –306. – Sicher kann man mit Beumer zugeben, dass es in Trient eine festgelegte Geschäftsordnung im juristischen Sinne nicht gab. Aber andererseits gab es, auch nach Beumer, im Konzil selbst Entwicklungen, die de facto zu einer Art Geschäftsordnung wurden. Für meine Arbeit interessierte weniger die Frage nach einer Geschäftsordnung als die Frage nach den mit ihr verbundenen Arbeitsmethoden des Konzils, die allerdings mit der Geschäftsordnung zu tun haben. Notwendig wäre es jedoch, anhand mehrerer Konzilien eine Geschichte konziliarer Arbeitsmethoden zu schreiben, sie vielleicht sogar mit außerkirchlichen synodalen oder demokratischen Arbeitsmethoden zu vergleichen, um zu sehen, ob es im Fluss der Zeit gewisse Konstanten gibt, die für das Verständnis konziliarer Texte entscheidend sind. In meiner Habilitationsarbeit bin ich auf ein zweites Beispiel von konziliarer Arbeit und damit verbundener Geschäftsordnung gestoßen, die in der Reihe der mittelalterlichen Konzilien so hervorsticht, dass sie sich mit vielen heutigen Geschäftsordnungen, die der kommunikativen Meinungsbildung und Entscheidung dienen, vergleichen lassen kann. Vgl. J. Wohlmuth, Verständigung in der Kirche. Untersucht an der Sprache des Konzils von Basel (Tübinger Theologische Studien 19), Mainz 1983, bes. 34 –57. – Vgl. auch zu den beiden Vatikanischen Konzilien: H. Jedin, Die Geschäftsordnungen der beiden letzten ökumenischen Konzilien in ekklesiologischer Sicht, in: Catholica 14 (1960), 105 –118. 8 Zu den historischen Hintergründen vgl. H. Jedin, Trient (s. Anm. 5), 9 – 41. Zur Entstehung der sog. „Klassen“ und ihrem stillschweigenden Verschwinden vgl. ebd., 43f. Nach Concilium Tridentinum. Bd. V (s. Anm. 1), 11f., fand die erste Theologenkongregation am 20. Februar 1546 statt. Vgl. H. Jedin, Trient (s. Anm. 5), 48f.

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wie deren Einseitigkeiten in die Mitte des konziliaren Entscheidungsprozesses vor. Die zentrale Stelle im konziliaren Überlieferungsgeschehen nehmen ohne Zweifel die Plenarversammlungen (= Generalkongregationen) ein. Sie sind in Trient die Arbeitssitzungen der Bischöfe, Ordensoberen und bedingt zugelassenen Prokuratoren.9 Bald entstand eine Kommission von ausgewählten Konzilsvätern (Deputiertenkommission), deren Aufgabe es war, eine erste schriftliche Vorlage vorzubereiten, die dann in einem längeren oder kürzeren Prozess der Redaktion im Plenum diskutiert, von der Deputiertenkommission überarbeitet und schließlich in einer feierlichen Sitzung (Sessio) verabschiedet wurde.10 Diese führt nicht nur die Verabschiedung eines Textes herbei, sondern hat in ihrer Feierlichkeit auch den Charakter der Verkündigung für die gesamte Kirche. Der Streit, ob die Verbindlichkeit konziliarer Beschlüsse erst durch die päpstliche Approbation gewährleistet ist, hat die spätmittelalterliche Kirche in den Konzilien von Konstanz und Basel zutiefst erschüttert. Kanonische Bedeutung jedenfalls erhielten die Texte erst durch ihre autoritative Vorlage für die gesamte Kirche. Dadurch wuchsen die bisweilen hart und strittig erarbeiteten Texte in eine andere Dimension hinein: Das Erarbeitete erhielt erst seine kanonische Bedeutung durch den quasi performativen Sprechakt der Verabschiedung. Die verabschiedeten Texte wuchsen gleichsam zu einer Ganzheit zusammen und wurden als solche der Kirche übergeben mit der Erwartung, als solche Ganzheit rezipiert zu werden. Das ist bei einem Konzil wie dem von Trient überhaupt nicht selbstverständlich, bestand es doch aus drei Phasen, die von ihrer Besetzung her fast als drei verschiedene Kon9

Vgl. etwa zum Problem des Stimmrechtes ebd., 14 –16. Die konkrete Arbeit sieht so aus, dass in den Generalkongregationen nach genauer Rangordnung alle Konzilsväter der Reihe nach das Wort ergreifen, wobei sich verständlicherweise die Redegattungen in den beiden Überlieferungsphasen merklich unterscheiden. In der Phase der Stellungnahme zu den reformatorischen Artikeln herrscht, wie bei den Theologen, das Genus der theologischen Rede vor. Um dieses Genus allerdings gattungsgeschichtlich beurteilen zu können, wären sehr detaillierte Kenntnisse der damaligen theologischen Redegattungen notwendig. Nur dann wäre nämlich feststellbar, ob die Gattung der Konzilsrede in diesem Abschnitt der Überlieferung sich von außerkonziliaren theologischen Redegattungen unterschied, oder ob vorherrschende Gattungen einfach in das Konzil übernommen wurden. 10

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zilien hätten verstanden werden können. Insofern waren die Akte der jeweiligen Einberufung und der Wille, die drei Perioden als eine Einheit zu betrachten, eine Vor- und Nachentscheidung der römischen Kirche, von der die kanonische Geltung der Beschlüsse als ein einziger Sprechakt der Kirche abhing. Ich weiß nicht, ob der Vergleich zu waghalsig ist, diese konziliaren Vorgänge mit der nachträglichen Kanonisierung der heiligen Schriften zu vergleichen. Jedenfalls verbürgt sich auch in diesem Fall die Gesamtkirche durch einen nachträglichen Akt dafür, dass für die akzeptierten Schriftrollen trotz ihrer sehr verschiedenen Herkunft und historischen Einordnung gelte, Gott sei letztlich – bei aller menschlichen Vermitteltheit – ihr Autor.

2. Kanonische Textinterpretation Nach der Darstellung der historisch-kritischen Methode in ihrer Durchschlagskraft für die Bearbeitung konziliarer Texte sieht zunächst alles danach aus, als würde hier ein Königsweg beschritten, der einen Prozess der Textproduktion beschreiben und zugleich die Auslegung der Texte allein bestreiten könne. Eine Textproduktion – sei es im Kontext der Entstehung biblischer Schriften oder auch konziliarer Entscheidungen – ist tatsächlich ein historischer Vorgang und das Ergebnis dieses Vorgangs ein Text, der der historisch-kritischen Interpretation fähig ist. Erschöpft sich aber ein Text in der Beschreibung seiner Genese? Ist vielleicht der Inhalt eines Textes selbst sogar nichts anderes als die Beschreibung seines Entstehungsprozesses? Wie aber, wenn die historisch-kritische Interpretation, zumal dann, wenn die Textgenese nicht so gesichert ist wie im Fall des Konzils von Trient in die Gefahr gerät, ihren hypothetischen Charakter zu verdecken und mit der Berufung auf Wissenschaftlichkeit durch die Autorität des jeweiligen Forschers zu ersetzen? Werden sich dann Geltungs- oder gar Wahrheitsansprüche erheben, die sich zum kritischen Maßstab gegenüber der kirchlichen Gesamttradition erheben? Aber auch umgekehrt stellt sich die Frage: Kann eine jeweilige kirchliche Gegenwart einen Geltungsanspruch auf die sog. kirchliche Gesamttradition erheben, ohne kritische Fragen der Dogmen- und Theologiegeschichte zuzulassen? Haben etwa die verschiedenen historisch-theologischen Disziplinen das gemeinsame Boot

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schon verlassen, in dem es um die Interpretation der gesamtkirchlichen Überlieferung und um ihre kritische Beurteilung geht? 2.1 Erste Überlegungen aus der Sicht des Dogmatikers An dieser Stelle zeigt sich, dass es wohl doch zu einseitig wäre, wenn man konziliare oder auch biblische Texte ausschließlich auf ihre Genese hin untersuchen und ihre Kanonizität völlig außer Acht ließe. Dann würde ein historisch-kritischer Theologe nämlich ein Element der Historie missachten, das darin besteht, auch die kirchliche Rezeption von Texten zu beachten. Der Einzelforscher könnte sich so aus der Traditionsgemeinschaft der Kirche zurückziehen, dass er die Frage, ob es letztlich göttlich verbürgte Verbindlichkeit in der Kirche gibt oder sogar geben muss, in ihrer theologischen Relevanz aus dem Auge verliert. Wie aber die biblischen Texte kraft ihrer inneren Qualität durch die frühjüdische und später durch die kirchliche Rezeption schließlich den Status einer (mehr oder weniger feierlich verkündeten) ‚Kanonizität‘ erlangten, so die Texte eines Konzils durch ihre Verabschiedung nach erfolgter konziliarer Textproduktion. Ja, mit der ‚Kanonisierung‘ ist ein kirchlicher Rezeptionsprozess noch nicht einmal abgeschlossen. Das Konzil von Trient ist selbst ein Beispiel dafür, dass der längst vorgelegte Kanon der biblischen Schriften ein weiteres Mal in seiner Gültigkeit bekräftigt wurde.11 Aus all dem ergibt sich, dass die Herausbildung des biblischen Kanons und die Geschichte der konziliaren Entscheidungsprozesse außerordentliche Vorgänge in der Geschichte der Kirche darstellen. Im Vergleich zur Interpretation der Konzilien hat aber die historisch-kritische Bibelexegese mit sehr viel mehr Unbekannten zu arbeiten, deren hypothetischer Charakter nicht selten verdeckt wird. So zeigt sich: Für die Interpretation von Konzilstexten ist die historisch-kritische Methode eine ebenso hilfreiche Methode wie für die biblischen Texte. Gleichwohl ist es für beide Bereiche nicht das einzige Instrument, weil die verabschiedeten Konzils- oder die kanonischen Bibeltexte in das Gesamtgefüge der kirchlichen Tradition eingegliedert und der Kirche zur weiteren Rezeption unterbreitet werden. Der Text geht gleichsam – nach LG 12 – in den Glauben 11 Vgl. Sessio IV vom 8. April 1546, J. Wohlmuth (Hrsg.), Dekrete. Bd. 3 (s. Anm. 1), 663f.

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der Kirche über, bezüglich dessen Wahrheit sich die universitas fidelium nicht irren kann. Eine kanonische Textinterpretation beginnt, wenn ich recht verstehe, nicht mit der Analyse der Genese eines Textes, sondern mit der einer vorliegenden literarischen Endgestalt, ja mit einer Sammlung von Texten, die zu einem einzigen Buch zusammengefasst sind und im Fall der Bibel sich göttlicher Offenbarung als norma normans non normata der gesamten kirchlichen Tradition verdanken.12 Da im Normalfall der Endtext nur spärlich seine eigene Genese verrät und deshalb der Historiker, der vom kanonischen Text aus eine Textgenese rekonstruiert, notwendigerweise hypothetisch arbeiten muss, gerät er vor das Dilemma, die Ergebnisse seiner Rekonstruktionsarbeit nur hypothetisch als das historisch Faktische ansehen zu können. Es wäre aber kurzschlüssig, darin auch ipso facto bereits das glaubensmäßig Letztverbindliche zu sehen. Der kanonische Bibelinterpret verzichtet im Extremfall auf die Erforschung jeglicher Entstehungsgeschichte des Textes und baut auf den Einzeltext als vorliegende Texteinheit auf, die zum Großkontext der biblischen Schriften gehört, aus dem sich letztlich der Offenbarungscharakter erschließen lässt. Der historisch-kritisch Arbeitende hingegen steht vor der Frage, welche Geltungsansprüche er seinen hypothetischen Rekonstruktionsversuchen zutrauen will oder kann, und inwiefern er seine Analysen – wie der kanonische Schriftinterpret es tut – in den biblischen Großkontext zurückbindet. 2.2 Zwei Beispiele kanonischer Schriftinterpretation Jacob Neusner, der bekannte jüdische Bibelgelehrte, hat in seinem Beitrag, den er zur Beurteilung des zweiten Bandes Jesus von Nazareth von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. vorgelegt hat, die historisch-kritische Methode scharf kritisiert, wenn er schreibt:

12 „Die Besonderheit der Bibel als menschlich vermitteltes Wort Gottes … kommt unter methodologischem Gesichtspunkt in den neueren Ansätzen der am Kanon orientierten Exegese („canonical approach“) zum Tragen, weil hier die Bibel nicht nur von ihrer literarischen und historischen Seite erforscht wird, sondern auch im Kontext ihres im Kanon festgelegten Anspruchs, Glaubenszeugnis der Gemeinschaft zu sein.“ C. Dohmen, Art. Exegese III. Methoden der Exegese, in: LThK3 Bd. 3 (1995/2006), 1094 –1096, hier: 1096.

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„Kein historisches Forschungsunternehmen spricht über sich selbst so unaufrichtig wie die Erforschung des historischen Jesus.“13 Neusner fragt, wie theologische Wahrheitsansprüche, die einerseits eine übernatürliche Wirklichkeit und andererseits historische Tatsachen dieser Welt betreffen, jemals zusammenfinden sollen, wenn doch gilt, dass „der religiöse Glaube in der Gegenwart über die Ewigkeit (spricht)“, d. h. darüber, „wie die Dinge sind und immer sein müssen, während historische Tatsachen uns nicht mehr als das berichten, was vor langer Zeit einmal war“ (125). Dies ist eine steile These, die besagt, der Glaube betreffe allein das Ewige, Transzendente, die historisch-kritische Arbeit führe nur zur Historie. Theologisches und Historisches stehen sich dadurch konträr gegenüber. Wie der Titel zeigt, befasst sich Neusner vor allem mit der hermeneutischen Frage, wie Theologie und Geschichtswissenschaften zueinander stehen. Die Frage betrifft das Papstbuch insofern zentral, als es in einem Abschnitt, den Neusner ausführlich zitiert, die These vertritt, dass eine Schriftauslegung, die immer neue Hypothesen hervorbringt, jedoch dadurch theologisch immer belangloser werde, nicht ergänzt werden muss durch einen „methodisch neuen Schritt“, sondern durch eine sich der eigenen Grenzen bewusste historische Hermeneutik, die „zu einem methodischen Ganzen“ verbunden werden kann.14 Die historisch-kritische Arbeit ordnet gewissermaßen Jesus in die jüdische Geschichte ein und behauptet, dies sei der wahre historische Befund. Wenngleich Neusner dies als Jude nicht annehmen kann, ist er doch wenigstens davon überzeugt, dass eine unvoreingenommene Lesung der ntl. Schriften von all dem Aufgezählten keine Abstriche zulassen kann, weil es das Christentum belanglos machen würde.15 13 J. Neusner, Rabbi Jesus im Spannungsfeld von Theologie und Geschichtswissenschaft, in: J. H. Tück (Hrsg.), Passion aus Liebe. Das Jesus-Buch des Papstes in der Diskussion, Ostfildern 2011, 110 –125, hier: 124. 14 Neusner, ebd., 112, zit. aus J. Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Bd. II, Freiburg i. Br. 2011, 11. 15 Neusner seinerseits zeigt in seinem Beitrag an zwei amerikanischen Arbeiten über den historischen Jesus (von John P. Meier und John D. Crossan), dass ihre methodischen Vorentscheidungen nichts mehr von dem übrig lassen, was Jesus zum Christus, was ihn einzigartig macht, d.h, „zu einem wahren Menschen und einem wahren Gott, zum inkarnierten Gott“ und zu all dem, was Jesus von Nazareth für das Christentum bedeutet (121).

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Bekanntlich hat Joseph Ratzinger in seinem ersten Band Jesus von Nazareth bereits einen Dialog mit Jacob Neusner geführt16 und dabei auf dessen Ein Rabbi spricht mit Jesus (2011) zurückgegriffen. Neusners Buch ist ein Musterbeispiel dafür, was unter kanonischer Schriftinterpretation verstanden werden kann. Es ist kein Versehen, dass Ratzinger gerade dieses Büchlein zum Gespräch ausgewählt hat.17 Ist es die kanonische Bibelinterpretation Neusners, die Ratzinger besonders interessiert hat? Tatsächlich liest Neusner das Evangelium nach Matthäus in der Weise, dass er den Jesus des Evangelisten zum Gesprächspartner wählt, mit dem Neusner mit dem Mose des Pentateuchs über die Jahrhunderte hinweg ein Gespräch auf Augenhöhe literarisch zu inszenieren versucht. Dabei bestätigt Jacob Neusner dem matthäischen Jesus, dass er die Tora des Mose ganz hervorragend verstanden und nichts davon weggelassen habe, jedoch in einem einzigen, allerdings schlechterdings entscheidenden Punkt etwas hinzugefügt habe, nämlich sich selbst.18 Ein historischkritischer Exeget würde hier die Frage stellen, ob Jesus von Nazareth bereits sich selbst so verstanden habe, oder ob dies erst die Sichtweise des Matthäus war, die vom Selbstverständnis des historischen Jesus selbst zu unterscheiden sei. Für Neusner hingegen ist wichtiger zu fragen, ob der göttliche Anspruch, den Jesus im Matthäusevangelium erhebt, im Widerspruch steht zu dem durch Mose vermittelten Offenbarungsanspruch. Neusner kommt zu dem Ergebnis, dass Jesu Selbstanspruch nach jüdischer Interpretation untragbar sei, weil 16

Vgl. J. Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Bd. I, Freiburg i. Br. 2007; ders., Jesus. Bd. II (s. Anm. 14). 17 A. Starthartinger, Der Papst und der Rabbi, in: T. Söding (Hrsg.), Das JesusBuch des Papstes. Die Antwort der Neutestamentler, Freiburg i. Br. 2007, 147–156. 18 Ich zitiere einen kleinen Ausschnitt des Dialogs, dem die folgende Situation vorausgeht: Im Babylonischen Talmud wird ein Experiment vorgeführt, in dem die 613 Vorschriften des Mose von den Propheten der Reihe nach auf eine einzige Vorschrift reduziert werden sollen. Dies gelingt schließlich dem Propheten Habakuk, bei dem es heißt: „Der Fromme wird durch seinen Glauben leben.“ (Hab 2,4) Darauf setzt folgender Dialog zwischen einem jüdischen toragelehrten Meister und dem Ich des Schriftstellers ein: „Und dies“, fragt der Meister, „hatte Jesus, der Gelehrte, zu sagen?“/ Ich: „Nicht genau, aber ungefähr.“ / Er: „Was hat er weggelassen?“/ Ich: „Nichts“. / Er: „Was hat er dann hinzugefügt?“ / Ich: „Sich selbst.“ / Er: „Oh!“ J. Neusner, Ein Rabbi spricht mit Jesus, Freiburg i. Br. 2011, 114 (vgl. 113f.).

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er genau in diesem Punkt der Tora widerspricht. Dies wirft die Frage auf, ob man Mose oder Jesus von Nazareth das letzte Vertrauen schenkt. Neusner entscheidet sich für Mose und gegen Jesus. Dabei beruft er sich auf rabbinische Texte, die ihm dazu verhelfen, ein solches Urteil zu fällen. Der Vorwurf, der Neusner zufolge die eigentliche Differenz zwischen Judentum und Christentum markiert, lautet auf Blasphemie, um derentwillen Jesus schließlich zum Tode verurteilt werden musste. Der christliche und der jüdische Interpret gehen hermeneutisch von gleichen Prämissen aus und kommen zu entgegengesetzten Urteilen über Jesus. Ratzinger neigt seinerseits zu einer kanonischen Jesusinterpretation und trifft sich diesbezüglich mit Neusner. Damit geraten Mose und Jesus auf kanonischer Ebene der Bibellesung dennoch in Widerspruch, weil das jüdische Verständnis der Kanonizität nicht mit der des christlichen Theologen Joseph Ratzinger übereinstimmt. Ein anderer jüdischer Autor, Daniel Boyarin, zeigt in seinem Buch mit dem Titel The Jewish Gospels. The Story of the Jewish Christ (New York 2012), dass die Vorstellung eines Messias nach der Tradition der Menschensohnvisionen im Buch Daniel, die von den Evangelien (zumal nach Markus) aufgenommen wurde, bis dahin reicht, dem Messias-Menschensohn auch nach jüdischer Lesart Boyarins eine Art von Gleichwesentlichkeit mit Gott zusprechen zu können. Die Vorstellung, dass ein gott-menschlicher Messias-Erlöser erwartet wird, gehöre zu den einflussreichen Strömungen des Judentums im Umkreis des Danielbuches, deren Gedankengut bis in die Jesuszeit hineinreicht. Deshalb sei die göttliche Dimension des Menschensohnes oder des Messias nicht erst von der nachösterlichen Generation auf Jesus übertragen worden, sondern gehöre zum zeitgenössischen Judentum so sehr, dass auch Jesus sich von daher verstehen konnte, ohne ihm den Vorwurf der Blasphemie machen zu müssen. Handelt es sich auch in diesem Fall um eine kanonische Bibelinterpretation? Boyarin argumentiert, die messianische, ja sogar die gottmenschlich verstandene Jesusinterpretation bedeute auf der Ebene der Schriften apokalyptischer Provenienz und der Evangelien des Neuen Testaments keinen Trennungsstrich zwischen dem weiter bestehenden Judentum und den neu entstehenden Jesusgemeinden. Es gibt also eine gemeinsame Schriftbasis, von der her gezeigt werden könne, dass der Trennungsstrich zwischen Juden und Christen noch nicht in ntl. Zeit erfolgt sein kann. Für Neusner hingegen ist

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der Anspruch Jesu im Matthäusevangelium bereits für die jüdischen Zeitgenossen Jesu, die sich auf Mose berufen, untragbar. Die Trennung ist also mit Matthäus besiegelt. Damit geraten wir vor Grundfragen, die für historisch-kritische und kanonische Schriftinterpretation unausweichlich sind. Betrachtet man den Vergleich zwischen Jesu Anspruch als Jude mit der Interpretation der beiden jüdischen Gelehrten, Jacob Neusner und Daniel Boyarin, bezüglich ihrer Auslegung des Pentateuchs und des Buches Daniel, ist die theologische Frage nach ihrem Geltungsanspruch erst gestellt, noch nicht beantwortet. Selbst eine päpstliche Autorität würde nicht ausreichen, mit historischer Sicherheit zu behaupten, dass Jesus selbst als Jude seiner Zeit für sich göttliche Autorität beanspruchte. Bleibt dann nur die Berufung auf die vorliegende Literatur eines Matthäusevangeliums übrig und damit zugleich der Widerspruch zwischen Neusner und Ratzinger in der Jesusinterpretation bestehen? Ist aber etwa Jakob Neusner seinerseits in der Lage, Mose höchst persönlich zu befragen, wie sein Verhältnis zur Tora war? Kann hier die historisch-kritische Interpretation weiterhelfen? Ich glaube, für den historisch-kritischen Interpreten sei das Problem nicht so virulent, weil er damit leben kann, wenn Mose und Jesus sich auf kanonischer Ebene unterscheiden, aber dies für die beiden historischen Gestalten Jesus und Mose gar nicht zutreffen muss. Dadurch würde ein letzter Geltungsanspruch kanonischer Lektüre entschärft werden; weder Mose noch Jesus müssen von ihren Geltungsansprüchen her verstanden werden. Also beginnen die Fragen erneut von vorne und es wird letztlich darum gehen, wie die Vertrauensfrage, die ein Mensch seiner eigenen Tradition zuspricht, auch dann aufrecht erhalten werden kann, wenn gleiche kanonische Prämissen zu konträren Ergebnissen führen, die eine historisch-kritische Lektüre gar nicht als Problem erkennen könnte. Aber selbst die Textinterpretation zweier jüdischer Zeitgenossen wie Neusner und Boyarin kann mit Bezug auf kontextuelle Bezüge der beiden Testamente so verschieden sein, dass die nur historisch-kritische Jesusinterpretation weiterhelfen kann.

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3. Systematische Überlegungen zur Beurteilung der beiden Methodenkomplexe Christian Frevel schreibt im Flyer zu dieser Tagung den Texten ein bleibendes Recht zu, vergangen zu sein. Das wird kaum zu bestreiten sein. Jeder Satz, der gesprochen oder geschrieben ist, hat bereits seine Vergangenheit. Aber der, der den Satz hört oder liest, verleiht in seinem Zeitbewusstsein dem Vergangenen eine Gegenwart des Vergangenen. Kann die historisch-kritische Arbeit den überkommenen Texten wirklich ein bleibendes Recht einräumen, vergangen zu sein? Arbeitet nicht auch der Forschende mit diesen Texten, indem er sie ‚ver-gegen-wärtigt‘? Dabei will er doch gerade bezüglich ihres Vergangenheitscharakters mehr wissen, als sie uns zu sagen scheinen. Das aber bedeutet, dass der historisch-kritisch Forschende mit seinen gegenwärtigen Fragen und Interessen an die Texte herangeht und sie bezüglich ihrer Faktizität, Historizität und Wahrheit befragt. Was aber ist die Wahrheit eines Textes? 3.1 Zum Zeitbewusstsein der Forschenden Mit der eben gestellten Frage wird bereits suggeriert, dass die Textinterpreten eine Dominanz über einen historischen Text samt seinem Inhalt erhalten, worüber Rechenschaft abgelegt werden muss. Da steht in Joh 8,54 beispielsweise der Satz des johanneischen Jesus, der lautet: „Ehe Abraham ward, bin ich.“ Das ist ein kanonisch überlieferter Satz, dessen Historizität als Text aus der Entstehungszeit des Evangeliums kein vernünftiger Exeget bestreiten kann. Aber den historisch-kritischen Interpreten treibt die Frage um, ob Jesus von Nazareth so gesprochen haben kann. Auch ein Dogmatiker kennt dieses Problem. Um es zu lösen, hat die Forschung ein großes Reduktionsverfahren der johanneischen Sprache unternommen, um die Sprache des Evangelisten von der Sprache Jesu von Nazareth zu unterscheiden. In ähnlicher Weise versucht die historisch-kritische Arbeit die mosaische Sprache im Pentateuch von der Sprache des historischen Mose zu unterscheiden, auch wenn dies auf Grund der Quellenlage schwieriger zu sein scheint. Nach meiner Kenntnis ist es tatsächlich gelungen, in Umrissen und mit hoher historischer Sicherheit so etwas wie die Sprache Jesu zu rekonstruieren, die sich von der Sprache der Evangelisten unterscheiden

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lässt. Dabei geschieht implizit eine Verschiebung in der Beurteilung von Sätzen wie: „Ehe Abraham ward, bin ich“ oder „Das Reich Gottes ist gleich einem Senfkorn“. Aber welcher der beiden Sätze kann die größeren Geltungs- und Wahrheitsansprüche erheben? Der Historiker, der der Sache auf den Grund gehen will, neigt zu der Behauptung: Die Sprache Jesu von Nazareth hat den größeren Geltungsanspruch als die Sprache des Evangelisten, der Jesus sprechen lässt. Ist damit alles entschieden? Beide zitierten Sätze sind in ihrer Vergangenheitsform, kanonisch gelesen, gleich gültig, und zwar unabhängig davon, ob der eine oder der andere von Jesus selbst stammt. Im Folgenden gilt es aufzuzeigen, dass die historisch-kritische Textinterpretation und die kanonische Interpretation, ein Subjekt voraussetzen, das mit den Texten umgeht und auf diese Weise in die Texte eingreift, um sie zu begreifen. Das Subjekt der Textinterpretation ist nicht nur neutraler Beobachter. Jeder Interpret von (historischen) Texten ist ein Subjekt mit einem synchronisierenden Zeitbewusstsein, indem Vergangenes erinnert, interpretierend re-präsentiert und Zukünftiges antizipiert wird. Doch dieses Zeitbewusstsein des Subjektes ist darüber hinaus selbst der Zeit unterworfen, indem es während der Arbeit am Text älter wird, ohne es verhindern zu können, und von heute auf gestern zurückschauend bereits ohne Zutun ein ‚historisches Subjekt‘ geworden ist.19 Wenn Neusner den Ewigkeitsgehalt des Textes vom Historischen abzusetzen versucht, versteht sich der kanonische Bibelinterpret selbst als ein nunc stans. Er setzt den Inhalt des Textes im Akt des Re-präsentierens mit der Ewigkeit gleich. Andererseits versucht das historische Bewusstsein Vergangenes zu vergegenwärtigen, und kann sich darin täuschen, Erinnertes der unerbittlichen Vergangenheit entrissen zu haben. Der Interpret gerät seinerseits in die Gefahr, die in seiner Forschung hypothetisch erschlossene Vergangenheit mit einem nunc stans praeteritum gleichzusetzen, das ihm erlaubt, dem historisch Erforschten seinerseits Ewigkeitsbedeutung und seiner Forschung unumstößliche Wahrheit zuzuschreiben. Historisch-kritische Arbeit kann versucht sein, historische Faktizität im Modus des Aussagens in den Stand der Wahrheit zu erheben. Damit 19 Damit beziehe ich mich auf E. Levinas, Vom Einen zum Anderen, in: Ders., Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg i. Br./München 1985, 229 –265, hier: 244: „Passives Bewusstsein als die Zeit, die vergeht und mich älter macht ohne mein Zutun.“

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aber geschieht eine Verwechslung der Ebenen, indem historische Wirklichkeit mit Aussagen über historisch Vergangenes gleichgesetzt werden. Dadurch erheischt allerdings historische ‚Empirie‘ einen Geltungs- und Wahrheitsanspruch, den sie als solche nicht einzulösen vermag. An dieser Stelle ist darauf aufmerksam zu machen, dass auch das Subjekt der kanonischen Bibelauslegung bezüglich seines Zeitbewusstseins zu bedenken ist. Für die kanonische Interpretation wird dem Text in seiner Endredaktion als solchem Gegenwärtigkeit zugesprochen. Doch auch hier ist das Subjekt schon durch die bloße Lektüre die Instanz der Vergegenwärtigung. Auch der kanonische Interpret ist ein Subjekt, das aktiv repräsentiert und somit dem Text Gegenwart verleiht, die aber nicht mit ewiger Präsenz verwechselt werden darf. Somit stellt sich auch für das Subjekt der kanonischen Auslegung die Frage, ob der Vorwurf, den Neusner der historisch-kritischen Arbeit macht, nicht auch für die kanonische Auslegung gilt. 3.2 Konsequenzen für beide Methodenkomplexe Für die Verantwortlichen beider Methoden der Textauslegung ergibt sich die grundlegende theologische Frage, die mit dem Verständnis von Offenbarung zusammenhängt. Bietet die jeweilige Interpretation als solche Zugang zu jenem Glauben, für den das Menschenwort als das angenommen werden kann, was es in Wahrheit ist, nämlich Gotteswort (vgl. LG 12; DV 2– 6). In beiden methodischen Verfahren müsste es also gelingen, das Menschenwort als Gotteswort zu erschließen. Wie aber gelingt dies, ohne sich auf philosophische und theologische Grundfragen einzulassen, von denen her erst die verschiedenen methodischen Interpretationsversuche in ihren Möglichkeiten und Begrenzungen gerechtfertigt sind? Es wäre wohl vor allem jener methodische Schritt, durch den die Sprache in ihrer Performativität, d. h. als wirksames Wort, aufgewiesen wird, welches das Subjekt in die Begegnung mit dem Unendlichen hineinreißt, ohne die eigene Endlichkeit zu überspielen. Es wäre die Ebene der Textinterpretation, in der die Sprache gleichsam ihre ‚sakramentale Dimension‘ erhält,20 indem das synthetisierende Zeitbewusstsein in 20 Giorgio Agamben, der eine Analyse der Sprache vornimmt, die sich in ihrer Performativität vom Eid her versteht, kommt zu dem ernüchternden Ergebnis,

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der Begegnung mit Gottes Wort im Menschenwort durchbrochen wird. Das Menschenwort als Gotteswort kann deshalb keine Auslegungskunst hervorrufen. Es könnte nur durch jene eidlichen Versicherungen in das Bewusstsein hereindrängen, durch die sich Gottes absolut verlässliche Treue im menschlichen Wort so zum Ausdruck bringt, dass das glaubende Subjekt durch die Inspiration des Heiligen Geistes das menschliche Wort, das an sein Ohr dringt, als göttliches empfängt. Die Verlässlichkeit des ewigen Gottes hat zur Folge, dass es auf der Ebene der Texte eine gewisse geschichtliche Sprachkontinuität gibt, die es dem Vertrauenden erleichtert, sich auf den einzulassen, der weder sich täuschen noch andere täuschen kann (qui nec falli nec fallere potest).21 Jede Auslegung der biblischen Texte müsste deshalb bemüht sein, das kirchliche Vertrauenspotential als Resonanzraum für das Offenbarungswort in Menschenwort zu akzeptieren. Nicht umsonst wird in LG 12 auch die Fähigkeit zum Glaubenskonsens angesprochen. Doch gerade an diesem Punkt taucht noch einmal das Problem auf, das Christian Frevel mit dem Anspruch auf die Würde der Vergangenheit der biblischen Texte angesprochen hat. Gibt es nicht genügend Beispiele dafür, dass die Bibel zum kritischen Gegenüber der kirchlichen Tradition werden musste? Ich verweise nur auf die Wende des Zweiten Vatikanums bezüglich der Beziehung der Kirche zum Judentum. Hätte nicht das historische Gewicht von Röm 9 –11 von Anfang an verhindern können, dass die kirchliche Tradition in einen Antijudaismus umschlägt, wenn die theologische Argumentation des Apostels – sei es in historisch-kritischer oder kanonischer Lektüre –

dass das „Zeitalter der Eidfinsternis zugleich das Zeitalter der Gotteslästerung (ist), in dem der Name Gottes aus seiner lebendigen Verbindung mit der Sprache austritt und nur noch sinnleer ausgesprochen werden kann.“ Vgl. G. Agamben, Das Sakrament der Sprache, Berlin 2010, hier: 89. 21 Vgl. Vatikanum I, Der katholische Glaube, Kap 3: „Dieser Glaube – Anfang des menschlichen Heiles – ist nach dem Bekenntnis der katholischen Kirche eine übernatürliche Tugend, durch die wir mit Anregung und Unterstützung der Gnade Gottes glauben, daß das von ihm Geoffenbarte wahr ist, und zwar nicht wegen der mit dem natürlichen Licht der Vernunft durchschauten inneren Wahrheit der Dinge, sondern wegen der Autorität des sich offenbarenden Gottes selbst, der weder sich täuschen noch andere täuschen kann. Der Apostel bezeugt: „Glaube ist die Substanz des Erhofften, der Beweis des Nichterscheinenden.“ (Hebr 11,1 Vulg.) J. Wohlmuth (Hrsg.), Dekrete. Bd. 3 (s. Anm. 1), 807.

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in Erinnerung gehalten worden wäre? Hätte sich in diesem Punkt das Wort Gottes nicht als über der Kirche stehende Autorität erweisen können, wenn das Wort des Paulus zugleich als Wort der Offenbarung angenommen worden wäre? Beide Methodenkomplexe können deshalb einander ergänzen, wenn sie als theologische Disziplinen darauf achten, dass Gotteswort einerseits wirklich als Menschenwort in Zeit und Geschichte hörbar bleibt, und andererseits Menschenwort dank kanonischer Offenbarungssprache immer wieder neu als Gotteswort wahrgenommen werden kann. Kanonische und historisch-kritische Bibellektüre können dazu beitragen und dürfen sich um der Sache der Offenbarung willen nicht gegenseitig ausschließen.

4. Kurze Schlussbemerkung Ich habe versucht, die Prämissen der historisch-kritischen Methode zunächst an einem Beispiel der Konziliengeschichte vorzustellen. Das Interesse an einer Textgenese, die zu möglichst sicheren Ausgangspunkten zurückfragt, ist nicht nur erlaubt, sondern geboten. Zumal in konformistischen Zeiten ist die historisch-kritische Lektüre auch ein notwendiges Instrument der Traditions-, Traditionenund Kirchenkritik! Die kanonische Hermeneutik geht nach obigem Verständnis davon aus, dass der Interpret sich als von der Wirkungsgeschichte eines biblischen oder konziliaren Textes geprägtes Mitglied einer Überlieferungsgemeinschaft versteht. In ihr gibt es Gründungstexte, die für die Gemeinschaft ‚kanonische‘ Bedeutung haben. Diesem Textcorpus vertrauen sich historisch-kritische und kanonische Interpreten aber gemeinsam an. Damit ist ein bestimmtes Textcorpus – im Fall der Bibel die Gesamtheit der kanonischen Bücher – eine vertrauenswürdige und die Wirkungsgeschichte prägende Größe, der mit einer Hermeneutik des Verdachts solange gegenübergetreten werden darf, wie das Grundvertrauen auf die kanonischen Bücher bestehen bleibt. Der liturgische Umgang mit den biblischen Texten ist m. E. ohne dieses Grundvertrauen nicht möglich. Wenn die Predigt eine Homilie sein soll, die liturgisch komponierte verschiedenartige biblische Texte zusammenhält, ist dies ohne eine gewisse kanonische Grundeinstellung nicht erreichbar. ‚Wort des lebendigen Gottes‘ ist nicht nur eine Formel, sondern ein theologisches Programm. Aber auch

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bei kanonischer Grundeinstellung kann die Homilie historisch-kritische Fragen nicht ausschließen. Ziel der Homilie ist es aber, die biblischen Texte in prophetischer Verantwortung zu ‚vergegenwärtigen‘ und als Gotteswort im Menschenwort so zu verkünden, dass sich – bildlich gesprochen – der Himmel öffnet und Gottes Geist die Hörenden erleuchtet. Deshalb gehört die Frage nach der Wahrheit des ganzen Glaubens zur ständig mit zu bedenkenden systematischen Grundhaltung der kirchlichen Verkündigung und der gesamten Theologie. Ein Streit um die rechte Balance der historisch-kritischen und kanonischen Bibelauslegung erscheint mir unabdingbar und kann sich als sehr fruchtbar erweisen. Auch das habe ich aus meiner Arbeit am Konzil von Trient gelernt: Es tut den kirchlichen, quasi-kanonisch gewordenen Texten eines Konzils nach 400 Jahren gut, sie historisch-kritisch zu analysieren, nicht um die kirchlichen Endredaktionstexte zu zerstören, sondern sie tiefer zu verstehen. So hat sich z. B. etwa aus meiner Analyse des zweiten Kanons der 13. Sitzung über die Transsubstantiation22 erwiesen, dass das Konzil keine philosophischen Spitzfindigkeiten lehren wollte, sondern nur an der einen Grundfrage interessiert war, ob und wie aus den Einsetzungstexten der Eucharistie eine Lehre über die wirkliche Gegenwart abgeleitet werden kann, in der weder eine Fortsetzung der Inkarnation noch eine empirische Anwesenheit Jesu geschieht, sondern eine sakramentale Gegenwart des totus Christus gegeben ist, auf die sich die feiernde Gemeinde verlassen kann.

22

Vgl. ebd., 697.

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Vom bleibenden Recht des Textes vergangen zu sein Wie tief gehen die Anfragen an die historisch-kritische Exegese? Christian Frevel §peÎ d£ pr{keitai met" tán ?htán #p{dosin kaÎ tán tropikwt¤ran §xet!zein, lekt¤on + crá kaÎ perÎ aÆtúj. çswj m£n oìn gel!sontaË tinej tãn eÙkaiot¤rwn #koÅsantej· §gÜ d' §rã mhd£n Øposteil!menoj …1

Im Folgenden werden Reflexionen zur exegetischen Methodendiskussion angestellt. Dabei wird wegen der Breite des Feldes auch nicht im Ansatz der Anspruch erhoben, die Diskussion abzubilden. Vielmehr wird die Verschränkung von Schriftverständnis und Methodik herausgegriffen und mit einigen Überlegungen vertieft. Ein wichtiger Gesprächspartner dabei ist die ebenso gelehrte wie exponierte Position von Ludger Schwienhorst-Schönberger, der von einem „Paradigmenwechsel“ in der Exegese spricht2. Die Ausführungen sind zum einen nicht von Zuspitzungen frei, da sie kritisch auf eine Entwicklung aufmerksam machen wollen. Zum anderen lassen sie sich nicht ganz theoriefrei halten, und beides hängt miteinander zusammen. Der erste Teil des Aufsatzes charakterisiert in subjektiver Einschätzung die Lage der Dinge und erarbeitet davon ausgehend einige Grundfragen der gegenwärtigen Debatte. Daraufhin wendet sich die Argumentation der Entfaltung der Aufgaben der Exegese in Dei Verbum 12 und dem Verständnis des II. Vatikanischen Konzils zu. Dabei werden der in den letzten Jahrzehnten veränderte Textbegriff und die damit veränderte Sinnkonstitution in der jüngeren Exegese an1

Philo, De Josepho, 125. „Da wir uns vorgenommen haben, neben der wörtlichen Wiedergabe (der Erzählung) auch den tieferen Sinn zu erforschen, so müssen wir auch darüber das Nötige sagen. Vielleicht werden manche, die unüberlegt urteilen, lachen, wenn sie es hören; ich aber will doch unverhohlen behaupten …“ (Übersetzung nach L. Cohn, Philo [Alexandrinus], Die Werke in deutscher Übersetzung. Band 1, Berlin u. a. 1962, 182f.). 2 L. Schwienhorst-Schönberger, Einheit statt Eindeutigkeit. Paradigmenwechsel in der Bibelwissenschaft, in: HerKorr 57 (2003) 412– 417, bes. 415.

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gesprochen. Die Frage der Bedeutung der Literalsinne eines Textes unter der Voraussetzung einer rezeptionsorientierten Hermeneutik wird aufgeworfen. Wie ist die historisch-kritische Arbeit in das Gesamtverstehen eines biblischen Textes einzuordnen, was leistet sie als Teil der modernen Bibelwissenschaft und warum bleibt sie als Anwalt der geschichtlichen Dimension der Texte unverzichtbar? In den abschließenden Überlegungen werden die weiteren Schriftsinne, die oft unter dem Stichwort „geistlich“ gefasst und den „historischen Textsinnen“ oder dem Literalsinn diametral entgegengesetzt werden, thematisiert. Vertreten wird dabei ein Modell, das die Zugänge weniger in einem Antagonismus als in einer Komplementarität zueinander sieht und dabei berücksichtigt, dass Exegese anderen Kriterien verpflichtet ist als die geistliche Schriftauslegung.

1. Sirenengesang oder Abgesang auf die historisch-kritische Methode? Zur Einleitung Die Bibelenzyklika Pius’ XII. Divino afflante spiritu und die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils gelten gemeinhin als der Durchbruch der historisch-kritischen Methode3. Danach sei der Weg der katholischen Exegese nicht nur unumkehrbar an die Unverzichtbarkeit der historisch-kritischen Perspektive gekoppelt, sondern die Methode habe danach auch schnell eine Dominanz entfaltet, mit der sie andere Ansätze verdrängt habe. Wenn das überhaupt zutrifft, dann ist die historisch-kritische Exegese nur eine relativ kurze Zeit ein unbestrittener Zugang zu den biblischen Texten gewesen. Denn von einer „Krise der Exegese“ sprach der Neutestamentler Joachim Gnilka schon 19744, d. h. keine zehn Jahre nach Abschluss des Konzils. Mit der methodischen Wende des Konzils im katholischen Bekenntnis zur historisch-kritischen Erforschung ist kein Ende der Methodendiskussion, vor allem nicht im katholischen Raum ver3

Vgl. z. B. K. Kertelge, Historisch-kritische Schriftauslegung. Methoden und theologischer Stellenwert, in: H. J. Fabry u. a., Bibel und Bibelauslegung, Regensburg 1993, 62–73, 62. 4 J. Gnilka, Methodik und Hermeneutik. Gedanken zur Situation der Exegese, in: Ders. (Hrsg.), Neues Testament und Kirche (FS R. Schnackenburg), Freiburg i. Br. 1974, 458 – 475, 459.

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bunden5. Bereits 1971 spricht Karl Lehmann vollkommen zu Recht von der Notwendigkeit anderer Schriftauslegungen: „Eine Rehabilitation anderer Schriftauslegungen scheint heute unumgänglich zu sein; keineswegs um diese zu imitieren, sondern um den Stilwandel und Reichtum des Schriftverständnisses in der Kirche klar zu machen“6. Spätestens mit den 80er Jahren brechen sich zunächst literaturwissenschaftliche Zugänge Bahn, aus denen sich dann – um nur einen bedeutenden Pfad zu nennen – die kanonische Auslegung entwickelt. Die kritische Evaluation der Methodik ist seitdem nicht abgerissen, doch erfährt sie aktuell Zuspitzungen wie seit den 80ern nicht mehr. Dabei ist es kein Geheimnis, dass die Abgesänge auf die historisch-kritische Methode vor allem in evangelikalen und katholisch fundamentalistischen Kreisen fröhliche Urstände feiern7. Dem steht das wiederholte und klare Bekenntnis zur „Unverzichtbarkeit der historisch-kritischen Methode“ in offiziellen katholischen kirchenamtlichen Dokumenten oder mit Nachdruck von Papst Benedikt XVI. entgegen8. Auch wenn also damit kein Zweifel 5

Das gilt erst recht, wenn man die mit den Namen Karl Barth und Rudolf Bultmann verbundenen theologischen Kontroversen um die Bibelexegese im protestantischen Raum in der ersten Hälfte des 20. Jh.s einbezieht, die im Vorfeld des Konzils noch nachklingen. Beispielhaft sei auf den programmatischen Aufsatz von G. Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie, in: ZThK 47 (1950) 1– 46, verwiesen. 6 K. Lehmann, Der hermeneutische Horizont der historisch-kritischen Exegese, in: J. Schreiner (Hrsg.), Einführung in die Methoden der Biblischen Exegese, Würzburg 1971, 40 – 80, 77. 7 Das lässt sich spielend auf den Seiten der euphemistisch verbrämten „Informationsdienste“ im Internet unter Überschriften wie „Historisch-kritische Bibelauslegung unsachgemäß und unwissenschaftlich“, „Das Ende der historisch-kritischen Methode“, „Das Elend der historisch-kritischen Methode“ usw. verfolgen. Zur evangelikalen Kritik auch G. Bauer, Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Geschichte eines Grundsatzkonflikts (1945 bis 1989), Göttingen 2012, 69 –78; Bauer stellt die Behauptung der faktischen Historizität der Bibel auf evangelikaler Seite als Kennzeichen der Ablehnung der historisch-kritischen Methode heraus. Am Beispiel des Schriftstellers Arnold Stadler skizziert W. Eisele die vernichtende Außenwahrnehmung der Methode (W. Eisele, „Als wären sie von der Metzgerzunft“ [A. Stadler]. Vom theologischen Nutzen der historischen Kritik, in: ThQ 192 [2012] 233 –255, 233 –235.238f.). 8 Z. B. J. Ratzinger, Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg i. Br. 2007, 14. Die Wolke der Zeugen darüber hinaus ist

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daran besteht, dass die Totgesagten länger leben und noch immer „springlebendig“9 sind, ist die Nähe der Kritik zu fundamentalistischen Positionen ein Fanal. Um nicht weiter in Schieflagen zu geraten, hat die wissenschaftliche Reflexion der Methodik den Begründungsaufwand zu erhöhen und entsprechend bei kritischen Infragestellungen genauer hinzuschauen. Denn inzwischen sind Stimmen laut geworden, die zwar noch keinen Abgesang auf die historisch-kritische Methode anstimmen, diese aber doch deutlich gegenüber anderen methodischen Zugängen zurückstellen wollen. Sie sei allenfalls nützlich, aber nicht notwendig, so hat zuletzt Ludger Schwienhorst-Schönberger plädiert10. Unverzichtbar, gut und wichtig, das sind zwar auch die Attribute, die Joseph Ratzinger der historisch-kritischen Exegese beilegt. Die historisch-kritische Exegese stehe am Anfang und bilde die unverzichtbare Basis der Auslegung, doch bleibe sie unvollständig und unzureichend. Die kanonische Exegese „ist eine wesentliche Dimension der Auslegung, die zur historisch-kritischen Methode nicht in Widerspruch steht, sondern sie organisch weiterführt und zu eigentlicher Theologie werden lässt“11. Da es kaum „uneigentliche“ Theologie gibt, scheint es so, als würde sich historisch-kritische Exegese dem „inneren Mehrwert des Wortes“12 gegenüber verschließen.

groß; vgl. etwa E. Zenger, Von der Unverzichtbarkeit der historisch-kritischen Exegese. Am Beispiel des 46. Psalms, in: BiLi 62 (1989) 10 –20. Für eine protestantische Stimme s. K. Finsterbusch/M. Tilly, Ein Plädoyer für die historisch-kritische Exegese, in: dies. (Hrsg.), Verstehen, was man liest. Zur Notwendigkeit historisch-kritischer Bibellektüre, Göttingen 2010, 9 –17, 12. 9 J. Schaper, Auf der Suche nach dem alten Israel? Teil 1, in: ZAW 118 (2006) 1–21, 17. 10 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, Zwei antagonistische Modelle der Schriftauslegung in Dei Verbum?, in: J. H. Tück (Hrsg.), Erinnerung an die Zukunft. Das zweite Vatikanische Konzil, Freiburg i. Br. 2012, 449 – 461, 457 = L. Schwienhorst-Schönberger, Wiederentdeckung des geistigen Schriftverständnisses. Zur Bedeutung der Kirchenväterhermeneutik, in: ThGl 101,3 (2011) 402– 425, 422f. Dabei betont auch L. Schwienhorst-Schönberger durchgängig, dass die historisch-kritische Bibelauslegung Wichtiges geleistet habe und nichts davon aufzugeben sei, z. B. ders., „Eines hat Gott gesagt, zweierlei habe ich gehört“ (Ps 62,12). Sinnoffenheit als Kriterium einer biblischen Theologie, in: JBTh 25 (2010) 45 – 61, 55; ders., Wiederentdeckung, 402, 423 u.ö. 11 J. Ratzinger, Jesus von Nazareth (s. Anm. 8), 18. 12 Ebd.

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Theologie gibt es nur „jenseits“ der historisch-kritischen Exegese, die damit nur Präliminarien für das „Eigentliche“ zu klären hat. Galt die historisch-kritische Methodik einst als Königsweg der Exegese, dessen methodisches Potential in Literatur-, Religions-, und Kulturwissenschaften ausstrahlte13, so wird sie jetzt mancherorts schon verschrien als Irrweg, der zur Entfremdung der Moderne von der Bibel als Grundlage des Glaubens mindestens beigetragen, wenn nicht sogar sie mit verursacht habe. So schreibt etwa Klaus Berger unter dem reißerischen Titel „Die Bibelfälscher“, dass die „200 Jahre fleißig und intelligent betriebene Bibelwissenschaft … eine volkskirchliche Wüste hinterlassen“ habe14. Mit gleicher Verve hat Klaus Berger auch das Gegenteil vertreten, so dass man die Polemik getrost unter Verkaufsförderung verbuchen kann, doch stimmt die Leichtigkeit, mit der der Bezug der historisch-kritischen Methode zur Kirchlichkeit der Heiligen Schrift geleugnet wird, nachdenklich. Von der befreienden Errungenschaft der Aufklärung ist die historisch-kritische Methodik zur Last geworden, die den Sinn der Schrift vermeintlich mehr verstellt denn erschließt. Das Instrument der Befreiung des biblischen Textes aus der moralischen Enge, mit vielen Verlusten im 19. und frühen 20. Jh. in der Katholischen Kirche erkämpft und als Aufbruch zum Subjekt gepriesen, wird als neue Doktrin und als Zwang empfunden und mancherorts schon ebenso heftig abgelehnt wie im ausgehenden 19. Jh. Das einstige Bollwerk gegen einen naiven Biblizismus und Schutzschild gegen den Fundamentalismus scheint für den gegenwärtigen Kampf um Geltung der Schrift nicht mehr geeignet. Die historisch-kritische Methode erscheint als Glasperlenspiel im Elfenbeinturm, das weder kirchliche noch Glaubensrelevanz besitzt. Der methodische Zugang sei nur die Verliebtheit einiger Wissenschaftler in die vermeintliche Dimension der Historizität der Schrift. Georg Steins karikiert das polemisch als einen „pseudo-romantischen Ursprünglichkeitstaumel“15. Geltung aber könne damit nicht verbunden werden. Der einst prächtige Tanker ist leckgeschlagen, aber ist er auch schon auf Grund gelaufen? 13

Vgl. E. Zenger, Unverzichtbarkeit (s. Anm. 8), 10f. So im Vorwort von K. Berger, Die Bibelfälscher. Wie wir um die Wahrheit betrogen werden, Düsseldorf 2013. 15 G. Steins, Der Kanon ist der erste Kontext. Oder: Zurück an den Anfang!, in: BiKi 62,2 (2007) 116 –121, 118. 14

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Manches geht in der Debatte durcheinander: Der immer wieder für die Gegenwart beklagte Relevanzverlust der Bibel ist allenfalls durch die Ergebnisse der historisch-kritischen Methode beschleunigt, nicht aber durch sie verursacht. Die historische Dimension der Offenbarung, aus der die historisch-kritische Methode in hermeneutischer Konsequenz entspringt, unterliegt nicht der Beliebigkeit des Auslegers. Mit der immer wieder unterstrichenen Unverzichtbarkeit ist nicht ein Exklusivitätsanspruch im Zugriff auf die Schrift verbunden, ein solcher wird aber der Methode mit Regelmäßigkeit unterstellt. Vor allem fällt auf, dass der Begriff „Exegese“ sehr unterschiedlich verwendet wird. Zum Teil wird er wie in der Theologie üblich als Disziplin oder Methode verstanden, teils dem allgemeinen Sprachgebrauch und der gr. Wurzel §xhg¤omai entsprechend für jede Form der Auslegung und spezieller jede Schriftauslegung benutzt. Die Homilie, das Schriftgespräch oder das Bibelteilen sind jedoch im strengen Sinne keine Exegese, sondern Orte, an denen Schriftauslegung in der einen oder anderen Form stattfindet. Jeder Ort erfordert unterschiedliche Methoden und Perspektiven. Es kommt zu fatalen Missverständnissen und Schieflagen, wenn alles über einen Leisten geschlagen wird. Schließlich gibt es in der Debatte keinen einheitlichen Textbegriff, was ebenfalls zu Schieflagen und Missverständnissen führt. „Die meisten Exegeten dürften darin übereinstimmen, dass eine diachrone Exegese ohne synchrone Elemente, d. h. ohne Rücksicht auf die Sprachgestalt des vorliegenden Textes, nicht denkbar ist und umgekehrt eine synchrone Exegese die komplexe Entstehungsgeschichte der Texte als solche nicht leugnen kann und nicht leugnen will. Ungeachtet dieses magnus consensus geht die Debatte um diachrone und synchrone Exegeten weiter, der Grund dafür liegt u. E. tiefer, eben in den Textbegriffen, die jeweils mit der diachronen bzw. der synchronen Perspektive verbunden sind“16. Gerade über das schein16

H. Utzschneider, Gottes Vorstellung. Untersuchungen zur literarischen Ästhetik und Theologie des Alten Testaments (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament 175), Stuttgart u. a. 2007, 71. Vgl. auch die auf die Textbegriffe bezogenen Ausführungen in der Einleitung von H. Utzschneider/ E. Blum, Lesarten der Bibel. Untersuchungen zu einer Theorie der Exegese des Alten Testaments, Stuttgart 2006, 7– 9. Von daher kann es nicht überzeugen, wenn Thomas Hieke (T. Hieke, Zum Verhältnis von biblischer Auslegung und historischer Rückfrage, in: IKaZ 39,3 [2010] 264 –274, 266) bei der Suche, die

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bar Selbstverständliche besteht keine Einigkeit: Ist ein Text ein unter festen Regeln von Kohäsion und Kohärenz Konstituiertes, aber dem Rezipienten Vorgegebenes – ein Gegenüber, oder ist „textus“ als Gewebe etwas, das ohne eine konstituierende Handlungsdimension, also „Kontexte“, gar nicht existiert? Ist ein Text etwas essentiell materiell Fassbares oder etwas im Prozess der Rezeption und Interpretation Hervorgebrachtes, Relationales; gehören Intentionalität des Autors/Emittenten ebenso zur Textualität wie die Intertextualität und wie verhalten sich beide zueinander? Wo fängt ein Text an und wo hört er auf, welche Kontexte gehören konstituierend dazu und welche nicht? Die in der Textlinguistik debattierten Textualitätsmerkmale spiegeln sich in den Debatten der Exegese wider. Das geschieht oft implizit und ohne dass es bemerkt wird. Hinzu kommt noch die diachrone Perspektive, dass unser Textverständnis dem der Antike mitnichten entsprechen muss17. Am Textbegriff aber hängen wiederum Selbstverständnis, Methodik und Aufgabenstellung der Exegese. Das betrifft synchrone wie diachrone Ansätze gleichermaßen, und es ist höchste Zeit, dass die Zunft der Frage „Was ist ein Text?“ mehr Aufmerksamkeit schenkt. Wie begrenzt Exegese pragmatisch ihren Gegenstand als Text? Ist der Kanon ein Text mit festen Grenzen? Nimmt man den Kanon als Hypotext, welche Rolle spielen

aktuelle Spannungslage zu überwinden, die historisch-kritische Exegese auf die „historische Rückfrage“ engführt und einer „Biblischen Auslegung“ gegenüberstellt. Vgl. ähnlich auf den Religionsunterricht seiner Tochter bezogen L. Schwienhorst-Schönberger, Der offenkundige und der verborgene Sinn, in: KatBl 135,2 (2010) 86 – 89, 86. 17 Vgl. den Band von L. D. Morenz/S. Schorch, Was ist ein Text? Alttestamentliche, ägyptologische und altorientalische Perspektiven (BZAW 362), Berlin 2007, bes. K. Ehlich, Textualität und Schriftlichkeit, 3 –17, 6; erste Ansätze bietet H. Utzschneider, Was ist alttestamentliche Literatur? Kanon, Quelle und literarische Ästhetik als LesArts alttestamentlicher Literatur, in: ders./E. Blum, Lesarten (s. Anm. 16), 65 – 83. Vgl. auch H. Utzschneider, Gottes Vorstellung. Untersuchungen zur literarischen Ästhetik und ästhetischen Theologie des Alten Testaments (WMANT 175), Stuttgart 2007, 72f.: „Gefragt ist demnach ein Textbegriff, der 1. die Selbstständigkeit des Textes berücksichtigt, der 2. seine kommunikative Einbindung in eine Leserbeziehung nicht vernachlässigt und der 3. den Text nicht auf die enge, auktoriale Ursprungssituation einschränkt. Ein solcher Textbegriff kann wiederum von einem kommunikativen Textmodell her entwickelt werden, indem allerdings die drei Momente ‚Autor‘, ‚Text‘ und ‚Leser‘ und ‚Autor‘ neu bestimmt und aufeinander bezogen werden müssen“.

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dann die in der Rezeptionsgeschichte bis in die Gegenwart konstituierten und den Ausgangstext überlagernden Hypertexte für das Verständnis? Hier sind methodisch mindestens ebenso viele Fragen offen wie bezüglich der Bedeutung einer historischen Dimension des Textes.

2. Die Partitur der Missklänge und das Problem verkürzender Kritik In der kritischen Evaluation der historisch-kritischen Exegese wird die konkrete Arbeit der Exegeten manches Mal mit der Methode selbst verwechselt und Teilergebnisse werden mit dem Ganzen gleichgesetzt. Das Potential der Methode wird dabei unterschätzt, ihr eine Entwicklung schon gar nicht zugestanden, sondern eine generelle Frontstellung aufgebaut, die zu einer Distanz und ggf. Ablehnung führt. Das Problem der Partitur dieser Missklänge ist, dass die Melodie zum einen schon recht lange und zum anderen auf sehr verschiedenen Instrumenten gespielt wird. Es gibt literaturwissenschaftliche, pastorale, hermeneutische, theologische und fundamentalistische Stimmen, und es kommen weitere dazu, wenn man den Raum der Diskurse öffnet. Drei Fäden will ich exemplarisch herausgreifen und zuspitzen: einen eher bibelpastoralen, einen kulturwissenschaftlichen und einen theologischen. Ich verknüpfe dabei jeden dieser Fäden mit einem fokussierenden Stichwort: den bibelpastoralen mit der „Vielstimmigkeit der Exegese“, den kulturwissenschaftlichen mit der „Autorenfiktion“ und den theologischen mit dem „Geltungsanspruch“ der Texte. Die Zuordnungen wollen nicht exklusiv, sondern paradigmatisch verstanden werden. Nicht dass diese sich in der Literatur exakt so spiegeln würden, in der Stoßrichtung lassen sie sich aber sehr wohl so wahrnehmen: 1. Die einen sind die Vielstimmigkeit der Forschung leid. Es herrsche eine „nie da gewesene Unübersichtlichkeit“, die „Unbehagen und Orientierungslosigkeit“18 erzeuge. Um dem Relevanzverlust entgegenzuwirken, sei daher für die Bibelwissenschaft eine Komplexitätsreduktion geboten. Auch nach mehr als einem Jahrhundert kritischer For18

L. Schwienhorst-Schönberger, Die Einheit der Schrift ist ihr geistiger Sinn. Ein Beitrag in der Reihe „Die Bibel unter neuen Blickwinkeln“, in: BiKi 63,3 (2008) 179 –183, 180.

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schung habe „die“ Exegese nicht zu einem Ergebnis geführt. Weder sei die Entstehung der Evangelien noch – ein angesichts der Vielfalt der Forschungslandschaft wohlfeiles Beispiel – die Entstehung des Pentateuch konsensual geklärt. Damit sei die historisch-kritische Exegese erwiesenermaßen nicht in der Lage, das Problem, das sie zu klären angetreten war, einer Lösung zuzuführen. Sie sei gescheitert und deshalb sei nach alternativen Methoden Ausschau zu halten bzw. seien die vorkritischen Methoden erneut zur Geltung zu bringen. Dies führe zugleich zu einem direkteren und einfacheren Zugriff auf die biblischen Texte. Die in den 70ern und 80ern des vergangenen Jahrhunderts entwickelte und eingeübte Frontstellung zwischen synchroner und diachroner Exegese begann mit dem enthusiastisch vorgetragenen Anspruch, der Vielfalt exegetischer Meinungen zur Entstehung von Texten durch die einheitliche Perspektive des „Endtextes“ entgegenzutreten. Die Hoffnung zerplatzte und die synchrone Exegese zeigte sich bald als ebenso vielstimmig wie die historisch-kritische19, doch geblieben ist eigenartigerweise die Skepsis gegenüber der Polyphonie der diachronen Exegese. Die Erwartung als solche ist jedoch schon vollkommen überzogen, wie ein Blick in die literaturwissenschaftliche Diskussion um die Entstehung der homerischen Epen oder der Sonette von Shakespeare zeigt. Dass sich die jüngere Diskussion wieder aus der Frontstellung der 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts speist, spricht nicht gerade für einen methodischen Fortschritt, jedoch ist der Ton um eine Facette reicher geworden: In der Ablehnung der methodisch gebundenen Exegese maskiert sich zunehmend eine Ablehnung der Vielstimmigkeit der Moderne. Diese erfreut sich vor allem in neokonservativen Kreisen großer Beliebtheit. Die historisch-kritische Exegese sei – so der vergröbernde Vorwurf – wesentlich mitschuldig an der Glaubens- und Gotteskrise der Spätmoderne20. In das gleiche Horn stoßen allerdings stets diejenigen, die den Paradigmenwechsel in der Exegese für notwendig erachten21. 19

Das stellt auch L. Schwienhorst-Schönberger, Einheit (s. Anm. 2), 413 heraus. Vgl. zur Auseinandersetzung mit diesem Vorwurf J. Kügler, Entweihung der Schrift? Die bleibende Provokation der historisch-kritischen Bibelwissenschaft, in: ThPQ 157,2 (2009) 146 –153, 148. 21 So spricht G. Steins in Bezug auf Lehrerinnen und Lehrer von einer „chronischen Bibel-Erkältung“, die die Schulung in historisch-kritischer Exegese aus20

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Nun ist weder der Komplexitätsgrad von Hypothesen noch der Grad ihrer Akzeptanz ein verlässlicher Indikator für das, was an wissenschaftlicher Perspektive notwendig und richtig ist. Alles – so einem Albert Einstein zugeschriebenen bekannten Diktum folgend – sollte so einfach wie möglich gemacht werden, aber eben nicht einfacher. 2. Die Zeit historisch-kritischer Exegese sei vorbei. Sie sei von Positivismus und historischer Verengung nicht frei und daher nicht mehr zeitgemäß, insbesondere im Festhalten an dem einen Autor. Dabei wird auf die Konsequenzen aus einem der vielen „turns“ der Kulturwissenschaften22 verwiesen. Neben den „cultural“, den „postcolonial“, den „performative“ und den „spatial“ turn tritt die rezeptionsästhetische Wende zum Leser als Autorität des Textes. Hintergrund ist der poststrukturalistische „Tod des Autors“ in den späten 60ern des vergangenen Jahrhunderts. Roland Barthes hatte sich nicht umsonst eines überzogenen Modells göttlicher Autorschaft bedient, um das Konstrukt des Autors als sinnstiftende Autorität zu hinterfragen: „Wir wissen nun, daß ein Text nicht aus einer Wortzeile besteht, die einen einzigen gewissermaßen theologischen Sinn (das wäre die ‚Botschaft‘ des ‚Autor-Gottes‘) freisetzt, sondern aus einem mehrdimensionalen Raum, in dem vielfältige Schreibweisen, von denen keine ursprünglich ist, miteinander harmonieren oder ringen“23. Der Autor verlor den Nimbus der Genialität (den er aus dem 19. Jh. hatte und der für die antike Traditionsliteratur ohnehin mehr als unangemessen war) und er verlor die Autorität, das, was er vermeintlich sagen wollte, als Sinn des Textes dem Rezipienten als den eigentlichen Sinn zu oktroyieren. Damit war der historisch-kritischen Exegese, die die Autorenintention der menschlichen Verfasser gelöst habe, und lastet das selbstredend der Methode, nicht der Schulung an. S. G. Steins, „Das Wort Gottes wächst mit den Lesenden“. Eine folgenreiche Rückbesinnung gegenwärtiger Bibelexegese, in: LS 55 (2004) 74 – 81, 70. 22 S. dazu D. Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Hamburg 42010, die festhält: „Immerhin entstehen unentwegt neue Versuche, turns zu kreieren und sie in der Forschungslandschaft zur Geltung zu bringen“ (382). 23 R. Barthes, Der Tod des Autors, in: ders., Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a. M. 2006, 61. Vgl. die etwas anders akzentuierende Übersetzung in R. Barthes, Der Tod des Autors, in: F. Jannidis u. a. (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, 185 –193, 190.

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starkgemacht hatte, scheinbar der Boden unter den Füßen weggezogen. Doch das metaphorische Schlagwort vom Tod des Autors sollte in der fundamentalen Kritik der historisch-kritischen Exegese weit mehr leisten, als es leisten konnte. Scharf formuliert das der Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase: „Reflexionen zur Abwesenheit des Autors kursierten lange Zeit unter dem metaphorischen Titel eines ‚Todes‘ des Autors. Die Rede vom ‚Tod‘ des Autors – die nicht selten auch den ‚Tod‘ Gottes, den ‚Tod‘ des Subjektes oder den ‚Tod‘ des Patriarchats evozieren sollte – lebte mehr von der Theatralität ihrer Metaphorik als von der Präzision ihrer Fragestellung und der Plausibilität ihrer Lösungsansätze“24. Der vermeintliche Tod des Autors währte nicht wirklich lange! Eigentlich nur eine „Generation“ von 30 Jahren, die zudem von der Frage „Was ist ein Autor?“ – so der Titel des einflussreichen Beitrags von Michel Foucault – bestimmt wurde25. Die Tür haben paradoxerweise gerade die Überlegungen Michel Foucaults aufgestoßen, indem sie das Autorenkonstrukt Diskurse repräsentieren ließen. Der „Autor“ wird in der Interpretation geschaffen, geht aber gerade nicht in dem Rezipienten und dessen Welt auf. Dass daraufhin das Konstrukt des Autors als „Autorfunktion“ in der jüngeren Literaturwissenschaft wieder in der Hermeneutik Einzug gehalten hat und von vielen für unverzichtbar für die Sinnkonstitution in Interpretationsprozessen aufgefasst wird, ist an manchen Kritikern der historisch-kritischen Methode jedoch vorbeigegangen. Geblieben ist die Unterstellung, die historisch-kritische Exegese würde an einem Konstrukt, der Autorintention, festhalten und damit die maßgebliche Sinnkonstitution in den Produktionsprozess verlagern. Das ist jedoch, wie der einer trotzigen Verteidigung historisch-kritischer Forschung unver24 C. Spoerhase, Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin 2005, 11. Vgl. die Anthologien von F. Jannidis u. a. (Hrsg.), Rückkehr des Autors. Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Tübingen 1999 und K. Städtke/R. Kray (Hrsg.), Spielräume des auktorialen Diskurses, Berlin 2003. Zu den unterschiedlichen Autorenkonstrukten s. den Überblick bei B. Schmitz, Prophetie und Königtum. Eine narratologisch-historische Methodologie entwickelt an den Königsbüchern (Forschungen zum Alten Testament 60), Tübingen 2008, 58 – 81, die auch die Geschichte von „Tod und Auferstehung“ des Autors in der Literaturwissenschaft nachzeichnet. 25 M. Foucault, Was ist ein Autor?, in: F. Jannidis u. a. (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, 194 –229.

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dächtige Helmut Utzschneider herausstellt, falsch: „Sieht man auf wichtige exegetische Arbeiten der letzten Jahre, … so könnte … der Eindruck entstehen, dass in der literarkritisch-diachronen Exegese das Autorenmodell der Kommunikation völlig ungefragt und unangefochten in Geltung ist. Doch dieser Eindruck trügt“26. Sicher ist es durch den Diskurs in der Literaturwissenschaft gebrochen und der historistischen Enge des empirischen Autors entzogen; doch sei es, dass man von einem Modellautor oder einem impliziten Autor, einem vermuteten Autor oder der Autorfunktion spricht, der Autor ist in den Exegesen (wieder) sehr präsent. Auch Brückenschläge des biblisch-hermeneutischen Grundproblems von Gott als Urheber und der menschlichen Autorschaft werden dabei versucht. Eine bloße Rückkehr zum Intentionalismus, der sich an einen im Ursprung des Textes liegenden bedeutungsstiftenden Akt heftet, ist damit in der Regel nicht verbunden27. Auch hier bieten prozessuale Konzeptualisierungen, die die im Text repräsentierten de facto Intentionen des Autors nicht a priori für irrelevant erklären, Möglichkeiten, rezeptionsästhetische und produktionsästhetische Ansätze miteinander zu vermitteln. Ein entscheidendes Moment ist letztlich die Frage, wie sich Produktion und Sinn zueinander verhalten. Dabei scheinen beide Extreme in die falsche Richtung zu gehen: Weder bestimmt sich der Sinn eines Textes ausschließlich in der und durch die Produktion noch unabhängig davon. Die Beschäftigung mit dem, was „Aussageabsicht der Hagiographen“ (DV 11) war, ergibt daher Sinn und sollte der historisch-kritischen Exegese nicht zum Vorwurf gemacht werden.

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H. Utzschneider, Text – Leser – Autor. Bestandsaufnahme und Prolegomena zu einer Theorie der Exegese, in: BZ 43,2 (1999) 224 –238, 235, der vor allem auf die rezeptionsästhetischen Ansätze bei C. Hardmeier und O. H. Steck verweist. Zu Recht hebt er C. Dohmen, Rezeptionsforschung und Glaubensgeschichte. Anstöße für eine neue Annäherung von Exegese und Systematischer Theologie, in: TThZ 96 (1987) 123 –134, 131 heraus, dessen Überlegungen zur Rezeptionsgeschichte für ein theologisches Verständnis der Heiligen Schrift weiterführend waren. Zu verweisen wäre auch auf die Brechungen des Autorenkonstruktes durch die Betonung, dass in biblischer Literatur Traditionsliteratur vorliegt, die anderen Gesetzen folgt als Autorenliteratur. Im Ansatz sind hier Intentionalität und individueller Autor entkoppelt. 27 Zur literaturwissenschaftlichen Debatte s. die strukturierte Darstellung bei C. Spoerhase, Autorschaft (s. Anm. 24), 57– 67.

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Das Schlagwort „produktionsästhetisch“ geht aber keinesfalls in dem, „was der Autor sagen wollte“, auf, sondern sieht vielmehr den Produktionsprozess eines Textes insofern als sinnbestimmend und sinnbegrenzend an, als sich der rezeptionsästhetische Sinnkonstitutionsprozess davon nicht mehr vollständig lösen kann und darf. Das darin erkennbare Plädoyer für ein Festhalten an einer intentio auctoris jenseits eines positivistischen Intentionalismus ist etwas ganz anderes als die oft unterstellte Monosemie einer Autorenintention. Im Zusammenspiel mit der intentio operis beschreibt die präsumierte Intentionalität des Produktionsprozesses die Grenzen, in denen sich Textverstehen legitim bewegt. Richtig scheint mir an der Kritik zu sein, dass das Zurücktreten des Autors und seine Transformation im Rezeptionsprozess als Chance auch für die historisch-kritische Forschung noch nicht so recht begriffen worden ist. Denn es eröffnet sich doch auch eine Möglichkeit, Gott als Urheber der Schrift wieder ins Spiel zu bringen. Der menschliche Autor tritt insofern zurück, weil er zwar faktisch als existent angesehen werden muss, de facto aber immer eine Konstruktion bleibt, insofern er nicht mit dem identisch ist, was die Vermutung über den Autor aufstellt. Hier wäre vielleicht in theologischer Absicht in künftigen Debatten mehr zu investieren. Ludger Schwienhorst-Schönberger versucht in seinen Beiträgen genau diesem Anliegen Rechnung zu tragen und das ist hoch anzuerkennen. 3. Die historisch-kritische Exegese trage, so schließlich eine theologische Variante der Infragestellung der Methode, dem Geltungsanspruch der Texte nicht Rechnung, da sie die Texte aus ihrem Kontext sowohl synchron als auch diachron heraustrennt und damit nicht mehr in den normativen Zusammenhang stellt. Sie bleibe an der Oberfläche des Textes und erschließe nicht dessen „Wahrheit“. Demgegenüber würde der kanonische Zugang das sinnproduktive Potential der Texte im Kontext des Kanons hervorheben und die Texte so neu im wahrsten Sinne zur Geltung bringen. Die historischkritische Exegese habe demgegenüber theologische Defizite, die sich vor allem durch die Selektion in der Konstruktion auf das Textwachstum zeige. Nun gilt es nicht zu bestreiten, dass die Heilige Schrift mit ihren Lesern wächst („quod aliquo modo cum legentibus crescit“ Gregor d. Gr., Moralia in Job XX,1). Das Lesen der Texte im Kontext des Kanons ist notwendig und bereichernd, so dass der auch theologi-

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sche Gewinn der Perspektiverweiterung nicht in Frage steht. Aber ist auch der zweite Teil der Aussage richtig, dass historisch-kritische Exegese die „Wahrheit“ des Textes verfehle? Zunächst ist der Vorwurf gegenüber der historisch-kritischen Exegese, sie bediene nur eine partikulare Perspektive, wohlfeil und in der schieren Unendlichkeit von hermeneutischen Prozessen in der Interpretation von Texten sowohl selbstverständlich wie unvermeidlich. Engführungen sind zuzugestehen, sie diskreditieren aber nicht die Methodik an sich, zumal in den letzten zwei Jahrzehnten unter dem von Erich Zenger erstmalig formulierten Rubrum „Diachron reflektierte Synchronie“28 die Valenz des gegebenen kanonischen Textes als Ausgangs- und Zielpunkt der Exegese neu unterstrichen worden ist. Das schließt die Kontextualisierung im Kanon ein. Die Lern- und Entwicklungsfähigkeit, die die kanonische Exegese in ihren Anfängen für sich in Anspruch nehmen durfte, als ihr etwa die konkrete Anordnung der Bücher des Kanons als wenig kanonisch aufleuchtete und sich daraus ein Problem kanonischer Intentionalität ergab29, sollte von ihren Kritikern auch der historisch-kritischen Exegese zu28 S. dazu E. Zenger, Exegese des Alten Testaments im Spannungsfeld von Judentum und Christentum, in: M. Oeming u. a. (Hrsg.), Das Alte Testament und die Kultur der Moderne (ATM 8), Münster 2004, 117–137, 130 –137; ders., Was sind Essentials eines theologischen Kommentars zum Alten Testament?, in: B. Janowski (Hrsg.), Theologie und Exegese des Alten Testaments/der Hebräischen Bibel (SBS 200), Stuttgart 2005, 213 –238, 231; U. Berges, Synchronie und Diachronie. Zur Methodenvielfalt in der Exegese, in: BiKi (2007) 249 –251, 251. 29 Erinnert sei an die heftigen Auseinandersetzungen um die Differenz von kanonischem Prozess, kanonischer Gestalt und Geschichtlichkeit der kanonischen Anordnung selbst s. R. Mosis, Canonical Approach und Vielfalt des Kanon. Zu einer neuen Einleitung in das Alte Testament, in: TThZ 106,1 (1997) 39 –59; P. Brandt, Endgestalten des Kanons. Das Arrangement der Schriften Israels in der jüdischen und christlichen Bibel (BBB 131), Berlin u. a. 2001; J. Steinberg, Die Ketuvim – ihr Aufbau und ihre Botschaft (BBB 152), Berlin u. a. 2006; H. J. Fabry, „Leiden wir an einem Tunnelblick?“ Überlegungen zu Textentstehung, Textrezeption und Kanonisierung von Text, in: K. Finsterbusch/M. Tilly (Hrsg.), Verstehen, was man liest. Zur Notwendigkeit historisch-kritischer Bibellektüre, Göttingen 2010, 18 –33. Aus der Fülle der jüngeren Literatur den Überblick bei H. J. Fabry, Der Beitrag der Septuaginta-Codizes zur Kanonfrage. Kanon-theologische Überlegungen zu Einheit und Vielfalt biblischer Theologie, in: S. Kreuzer/M. Meiser (Hrsg.), Die Septuaginta – Entstehung, Sprache, Geschichte (WMANT 286), Tübingen 2012, 582–599; G. Steins/J. Taschner (Hrsg.), Kanonisierung – die Hebräische Bibel im Werden (BThS 110), Neukirchen-Vluyn 2010; T. Hieke (Hrsg.), Formen

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gestanden werden. Zudem: Wird aber aus der selektiven Perspektive ein Gegensatz zur kanonisch-intertextuellen Leseweise stilisiert, wird der Vorwurf unredlich. Denn dass es der kanonischen Exegese ebenfalls kaum gelingt, die potentielle Vielfalt von Textbezügen innerhalb des Kanons für den kanonischen Sinnüberschuss in den Interpretationsprozessen zu berücksichtigen, lehrt ein einfacher Blick in kanonische Bibellektüren. Auch die kanonische Leseweise ist notwendig mit Selektionen verbunden, welche Textbezüge als für das Verständnis konstitutiv betrachtet werden und welche nicht. Methodisch nachvollziehbare Kriterien der Selektion sind jenseits aktueller Kontingenz nach wie vor nicht in Sicht. Die Gefahr, dass die Selektionskriterien textfremd aus systematischen Vorentscheidungen vorgegeben werden, ist nicht zu verkennen und wird umgekehrt bisher in der Methodendiskussion viel zu wenig problematisiert. Das gilt nicht zuletzt und vielleicht sogar noch in besonderem Maße für die Aufwertung der allegorischen Interpretation. Ein letzter Punkt: Aus der Notwendigkeit der historisch-kritischen Exegese folgt nicht, dass sie zureichend wäre oder gar das Textverstehen darin aufgehen würde. In der Debatte wird oft unterstellt, die historisch-kritische Exegese würde ihr Textverständnis entweder mit dem ganzen Sinn der Schrift, ihrer normativen Geltung oder dem spirituellen oder ästhetischen Gehalt der Schrift gleichsetzen. Das ist allerdings weder von der Methode her impliziert noch de facto der Fall. Die Verengung auf eine historische Perspektive ist wie die Monosemie eine Unterstellung, die vielleicht einzelnen Individuen, nicht aber der Methodik angelastet werden kann. Das sollte doch eigentlich schon die antike Frontstellung zwischen Alexandrinern und Antiochenern gelehrt haben. Unzweifelhaft macht die Methodendiskussion deutlich, dass es eine Vielzahl von Anfragen und ungelösten Problemen der historisch-kritischen Methode und ihrer Voraussetzungen gibt. Dazu schrieb Karl Lehmann 1971: „Niemand darf erwarten, daß die Antworten auf diese Fragen schlicht gegen die historisch-kritische Methode ausfallen werden. Dies wäre nur ein Zeichen für die Verkennung ihrer Erfolge und ein Beweis für vorkritische Geisteshaltung. Aber vielleicht könnte es sich überzeugender erweisen, daß die hisdes Kanons. Studien zu Ausprägungen des biblischen Kanons von der Antike bis zum 19. Jahrhundert (SBS 228), Stuttgart 2013.

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torisch-kritische Auslegung der Schrift nur eine Frageweise und eine Dimension des Verstehens des Wortes Gottes ist. Freilich auch ein ‚nachkritisches‘ Zeitalter, das nochmals die Kritik der Kritik bedenkt, wird unablässig von der historisch-kritischen Methode und mit ihr lernen“30. Damit hält Lehmann an der Unverzichtbarkeit ohne Marginalisierung, aber auch ohne Verabsolutierung fest. In diesem Sinn wollen die folgenden Ausführungen verstanden sein.

3. Zu den Aufgaben der Exegese in Dei Verbum 12 In der Einleitung war die bedeutende Wende des II. Vatikanums bezüglich der Schriftauslegung schon angeklungen. Dabei war die eingeübte Rede vom „Durchbruch“ mit Blick auf die Rezeption des Konzils und die nun seit gut vier Jahrzehnten anhaltende heftige Methodendiskussion in der Exegese in Frage gestellt worden. Die Position des Konzils muss – und das ist eine Aufgabe, die hier nicht geleistet werden kann – vor dem Hintergrund der Geschichte der historisch-kritischen Exegese in der Katholischen Kirche gesehen werden. Auch die Konzilsdokumente sind in einer Geschichte stehende Dokumente und bedürfen einer diesem Umstand entsprechenden Hermeneutik31. Denn es war bekanntlich „nicht leicht, den Vätern ein gutes Wort für die Vertreter und Träger der Bibelwissenschaft abzuringen“32, zumal die „innerkatholischen Angriffe auf die neuere Exegese während des Konzils“ durchaus noch anhielten33. In Bezug auf das Alte Testament zeigt sich das auch in der Hermeneutik. Ein Eigenwert des Alten Testamentes klingt erst vorsichtig an, Dei Verbum trägt in der Verhältnisbestimmung von Altem und Neu30

K. Lehmann, Horizont (s. Anm. 6), 79. Zur Hermeneutik der Konzilstexte s. den Beitrag von J. Wohlmuth in diesem Band und ders., Zur Verwendbarkeit exegetischer Methoden bei der Interpretation von Konzilstexten, in: KuD 23 (1977) 205 –231. Ferner die hilfreichen Anmerkungen bei T. Söding, Theologie mit Seele. Der Stellenwert der Schriftauslegung nach der Offenbarungskonstitution Dei Verbum, in: J. H. Tück (Hrsg.), Erinnerung an die Zukunft. Das zweite Vatikanische Konzil, Freiburg i. Br. 2012, 423 – 448, 430f. 32 A. Grillmeier, Kommentar zu Dei Verbum 3. Kapitel, in: Das Zweite Vatikanische Konzil, Dokumente und Kommentare II = LThK (21967) 528 –558, 543. 33 Ebd., 531. 31

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em Testament noch nicht der geöffneten ekklesiologischen Perspektive von Nostra Aetate 4 Rechnung34. Hier sind die Kompromisse unterschiedlicher Positionen mit Händen zu greifen und die Fortschritte sind erst viele Jahre später auch hermeneutisch sichtbarer. Gleiches gilt für die Aussagen zur Methodik, die weder den Stand der Diskussion zur Zeit des Konzils und noch weniger den Stand der Diskussion danach spiegeln. Das ist in Bezug auf die Wahrnehmung der historisch-kritischen Methodik bedeutsam. Oft wird aber der Eindruck erweckt, die Konzilstexte würden die historisch-kritische Methode wiedergeben35. Der Ausgangspunkt war alles andere als spannungsfrei: Das Ringen um die Akzeptanz des historisch-kritischen Zugangs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seit dem Antimodernistenstreit war zäh und – was das notwendige Zugeständnis zur Freiheit der Wissenschaft angeht – oft auch wenig ruhmreich. Eine Facette aus dem Jahrzehnt vor dem Konzil spiegelt die Kontroverse zwischen dem Pontificum Institutum Biblicum und der Pontifica Universitas Lateranensis36. Das lehramtliche Festhalten an der Autorschaft des Mose als Urheber des Pentateuch oder an der Authentizität aller neutestamentlichen Schriften gehörte wie der an den Wortlaut der Genesis 34

Deshalb sollte man z. B. die im Anschluss an die früheren Konzilien in DV 16 aufgenommene und auf Augustinus zurückgehende latet-patet-Formel (Novum in Vetere latet, Vetus in Novo patet „Das Neue ist im Alten verborgen und das Alte liegt offen im Neuen“) nicht als „gewissermaßen in den Rang eines Glaubenssatzes erhoben“ darstellen. So R. Voderholzer, Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung. Bausteine zu einer christlichen Bibelhermeneutik, Regensburg 2013, 36. 35 Abgesehen davon, gibt es die ungeachtet von konsensualen Standardisierungen eine unveränderliche historisch-kritische Methode nicht. K. Lehmann spricht von ihrer „dynamischen Leistungsfähigkeit“ und einer „unaufhörlichen Reform ihres eigenen methodischen Instrumentariums“ (Horizont [s. Anm. 6], 40). „It has never been a fixed and unaltered entity, though“ (M. Nissinen, Reflections on the „Historical-Critical“ Method. Historical Criticism and Critical Historicism, in: J. M. LeMon/K. H. Richards [Hrsg.], Method Matters [FS D. L. Petersen], Atlanta 2009, 479 –504, 479) oder knapp „Die exegetischen Methoden sind ‚im Fluss‘“ (K. Finsterbusch/M. Tilly, Plädoyer [s. Anm. 8], 10). 36 Norbert Lohfink hat diese Kontroverse als Zeitzeuge auf der Mainzer Tagung lebendig werden lassen. Die Hintergründe schildern A. Dupont/K. Schelkens, Katholische Exegese vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1960 –1961), in: Zeitschrift für Katholische Theologie 132 (2010) 1–24, R. Voderholzer, Offenbarung (s. Anm. 34), 85 – 89.

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geknüpfte Kreationismus zu den Positionen, die von Bibelwissenschaftlern nicht ohne Schaden öffentlich aufgegeben werden durften. Immunisierungen und Marginalisierungen der Forschungsleistungen waren die Folge. Die Exegese war an die Dogmatik gekettet und ohne methodischen Eigenstand. Der Schaden, der dabei für das Ansehen der katholischen Exegese entstand, ist nicht zu unterschätzen und wirkt ebenso nach wie die „Entfremdung von kirchlichem Lehramt und theologischer Wissenschaft, deren Spätfolgen“, wie Peter Neuner zu Recht betont, „noch nicht überwunden sind“37. Nun darf man andererseits nicht den Fortschritt unterschätzen, den die Aussagen in Dei Verbum gegenüber den kirchlichen Dokumenten des 19. und 20. Jahrhunderts bedeuten. Aber man sollte auch nicht verkennen, dass sich das Misstrauen gegenüber der Exegese, das die Beratungen der dogmatischen Konstitution begleitet hat, durchaus noch in den Aussagen spiegelt. Entsprechend eng war die Anbindung der Exegese an das Lehramt38. Schon im Vorfeld war das Zugeständnis von Divino afflante spiritu, sich dem sensus litteralis mit wissenschaftlichen Methoden zu nähern, auf Skepsis gestoßen39. Zudem sind eine Reihe von Zuspitzungen der Debatte um die Inerranz der Schrift geschuldet40, die im westeuropäischen Kontext derzeit nicht mehr das Hauptproblem darstellt.

37 P. Neuner, Die Schrift als Buch der Kirche. Wege und Sonderwege des katholischen Schriftverständnisses, in: C. Polke u. a. (Hrsg.), Niemand ist eine Insel. Menschsein im Schnittpunkt von Anthropologie, Theologie und Ethik (FS W. Härle), Berlin 2011, 467– 486, 479. 38 Vgl. auch N. Lohfink, Der weiße Fleck in Dei Verbum Artikel 12 (1992), in: Ders., Studien zur biblischen Theologie (Stuttgarter biblische Aufsatzbände 16), Stuttgart 1993, 78 – 96, 89. Vgl. auch T. Söding, Theologie (s. Anm. 31), 427– 429. 39 Vgl. A. Grillmeier, Kommentar (s. Anm. 32), 537. 40 Das zeigt Grillmeier am Beispiel des Entwurfs D 1963: „Weil man sich um des Friedens willen darauf geeinigt hatte, alles zu vermeiden, was die Frage der ‚materialen Suffizienz der Schrift‘ im positiven oder negativen Sinne entscheiden würde, war die Formulierung der Rolle der Schrift in der Weitergabe der Offenbarung besonders erschwert. Das Fehlen einer vertieften Vorstellung des Verhältnisses von Schrift und Tradition machte sich auch hier bemerkbar. So wurde der Ausweg des Schweigens und der Weglassung positiver Aussagen gewählt, was sicher nicht zum Vorteil des Ganzen war. Gegenüber den langen Ausführungen von 1962 war nun die Irrtumslosigkeit der Schrift ganz kurz, mit traditionellen Worten, formuliert“ (ebd., 530f., vgl. ebd., 532).

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Können also die Kompromissformulierungen in Dei Verbum nicht einfach mit dem Stand der Exegese gleichgesetzt werden (was Auswirkungen auf die dort abgebildete historisch-kritische Methode hat), so ist die Rede vom „Durchbruch“ auch noch in einer zweiten Hinsicht zu konkretisieren. Denn ein klares und eindeutiges Bekenntnis zur historisch-kritischen Exegese formulieren die Konzilsväter bekanntlich nicht. Die Spannung zwischen dem sensus litteralis und dem sensus plenior trägt durch. Darauf in jüngerer Zeit mit Nachdruck hingewiesen zu haben, ist das Verdienst von Ludger Schwienhorst-Schönberger, der zu Dei Verbum schreibt: „Tatsächlich werden in dieser Konstitution die zentralen Anliegen der historischkritischen Exegese aufgegriffen und anerkannt. Gleichzeitig aber wird die traditionelle Bibelhermeneutik, wie sie vor allem in der frühen Kirche konzipiert und über Jahrhunderte hin praktiziert wurde, beibehalten“41. Mit Joseph Ratzinger wertet er allerdings das Gegenüber als „Antagonismus zweier Grundeinstellungen“, die einander gegenläufig sind42. Tendenziell sieht er in der diametralen Entgegensetzung eine Programmatik, deren Lösung von den Konzilsvätern zwar angelegt, aber nicht vollzogen sei. „Eine theologisch reflektierte Vermittlung beider Modelle der Schriftauslegung steht noch aus. Sie dürfte zu den vorrangigen Aufgaben zukünftiger Bibelwissenschaft gehören“43. Er plädiert seinerseits dafür, „dass die Ergebnisse der historischen Forschung in das traditionelle Modell der Bibelhermeneutik zu integrieren sind, nicht umgekehrt“44. Nun sollten keine Zweifel daran bestehen, dass in den Konzilstexten tatsächlich eine Spannung zwischen den Auslegungsmethoden besteht und der Stellenwert der historisch-kritischen Exegese vor dem Hintergrund der traditionellen Schrifthermeneutik nicht wirklich geklärt ist. Es darf aber diskutiert werden, wie weit die vorgeschlagene Lösung, die einerseits den Gegensatz beider Seiten verstärkt und zugleich eine Subordination der historisch-kritischen Forschung empfiehlt, trägt.

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L. Schwienhorst-Schönberger, Wiederentdeckung (s. Anm. 10), 402, vgl. den Wiederabdruck in: ders., Modelle (s. Anm. 10). 42 L. Schwienhorst-Schönberger, Wiederentdeckung (s. Anm. 10), 403 mit Zitat von J. Ratzinger, Die Bedeutung der Väter für die gegenwärtige Theologie, in: ThQ 148 (1968) 257–282, 260. 43 L. Schwienhorst-Schönberger, Wiederentdeckung (s. Anm. 10), 423. 44 Ebd., 422.

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Meine These ist, dass darin die kritische Funktion des methodischen Zugangs zu gering bewertet wird und unter der Voraussetzung, dass Schriftauslegung und Exegese identifiziert werden, einer wissenschaftlichen Exegese die Basis genommen wird. Das gilt es im Folgenden zu entfalten. Gesprächspartner dabei ist an vielen Stellen Ludger Schwienhorst-Schönberger, der sich in jüngerer Zeit prononciert zur Exegese geäußert hat. Dabei sollen weder Anliegen noch Leistung des Ansatzes von Ludger Schwienhorst-Schönberger in Frage gestellt werden, sondern vielmehr einige der darin erkennbaren hermeneutischen Grundentscheidungen zur Diskussion gestellt werden. Das Bemühen um eine theologische Aufwertung der Heiligen Schrift verdient uneingeschränkte Zustimmung. Dass dazu die auf die ganze Schrift aus zwei Teilen gerichtete kanonische Perspektive wesentlich ist, bedarf ebenfalls keiner ausdrücklichen Zustimmung. Schon alleine die theologische Kategorie „Wort Gottes“ impliziert eine Einheit, die über die bloße Zusammenstellung von Texten hinausgeht45. Diese gilt es immer neu zu erschließen, soll die Heilige Schrift „Seele der Theologie“ (DV 24) bleiben. Ebenso ist das Einbringen der Kirchenväterexegese in den gegenwärtigen Diskurs notwendig und richtig, wenn auch über die Frage der Bedeutung der Kirchenväterhermeneutik für das heutige Schriftverständnis keine Einigkeit besteht. Es soll auch nicht bestritten werden, dass Ludger Schwienhorst-Schönberger die historisch-kritische Exegese hoch achtet und ihre Ergebnisse im Grundsatz akzeptiert46. 45

Die Tragfähigkeit dieser Kategorie für die theologische Einheit der Schrift jenseits aller ekklesial garantierten Einheit lotet Thomas Söding aus. T. Söding, Die Lebendigkeit des Wortes Gottes. Das Verständnis der Offenbarung bei Joseph Ratzinger, in: F. Meier-Hamidi/F. Schumacher (Hrsg.), Der Theologe Joseph Ratzinger (Quaestiones disputatae 222), Freiburg i. Br. 2007, 12–55. 46 „‚wo die Liebe, dort öffnet sich ein Auge‘. Damit ist ein erstes, und zwar grundlegendes Anliegen historisch-kritischer Bibelauslegung genannt: es geht ihr um eine besondere Form der Aufmerksamkeit; eine Aufmerksamkeit, die den anderen und das andere in seiner Andersartigkeit zunächst einmal wahrnimmt und beläßt. Damit entsteht aber notwendigerweise eine gewisse Distanz. Es ist aber nicht die kühle Distanz des Unbetroffenen, sondern die raumschaffende Nähe des wahrhaft Liebenden“ (L. Schwienhorst-Schönberger, Historisch-kritische Bibelauslegung, in: Unsere Seelsorge 42 (1992) 20f., 20). Ganz so verständnisvoll und mit Zuneigung geht L. Schwienhorst-Schönberger mit der Methode allerdings in den jüngeren Veröffentlichungen nicht mehr um.

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Streit besteht lediglich über a) den Stellenwert der allegorischen Interpretation als Auslegung der Heiligen Schrift, b) den Stellenwert der historisch-kritischen Forschung und c) das Verhältnis von Exegese, Auslegung und einer mystischen Erschließung der Schrift. Nur darum soll es im Folgenden gehen. Eine umfassende Evaluation der hermeneutischen Bedeutung der Rezeption der Kirchenväter in der Exegese (etwa H. de Lubac, R. Voderholzer) ist nicht angezielt. Wie oben angedeutet wurde, geht es dabei auch um ein Verständnis der Konzilstexte und die Einordnung der aufgezeigten Spannung. Mit einem kommentierenden Aufgreifen der Aussagen in Dei Verbum zur Wahrheit der Schrift einerseits und zur Rolle des Auslegers sei im Folgenden auf zwei „Bausteine“ Bezug genommen, die für die Diskussion um die Tragfähigkeit des Fundaments der Exegese weichenstellend sind: „Weil also all das, was die inspirierten Verfasser bzw. Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt festgehalten werden muss, daher ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, dass sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, von der Gott wollte, dass sie um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet werde“ (DV 11)47. Diese maßgebliche Aussage über die Wahrheit und die damit verbundene Inspiration der Heiligen Schriften sollte weder essentialistisch noch instruktionstheoretisch missverstanden werden, da das hermeneutisch zu hochproblematischen Modellen des Textverstehens führt. Aus den Formulierungen – so problematisch sie im Einzelnen auch erscheinen mögen – ist auch nicht abzuleiten, dass der Text die angesprochene Wahrheit in einem bestimmten Sinn enthält, sondern dass sich die Offenbarung auf diese Wahrheit bezieht. Jene Wahrheit aber ist Gott selbst, der sich in der Heiligen Schrift offenbart (DV 1, 6, 11). Ein relationales Wahrheitsverständnis kommt also dem Gemeinten näher als ein instruktionstheoretisches. Genau betrachtet ist auch darin eine Entlastung der historisch-kritischen 47

Cum ergo omne id, quod auctores inspirati seu hagiographi asserunt, retineri debeat assertum a Spiritu Sancto, inde Scripturae libri veritatem, quam Deus nostrae salutis causa, Litteris Sacris consignari voluit, firmiter, fideliter et sine errore docere profitendi sunt. Übersetzung nach P. Hünermann, Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, Freiburg i. Br. 2004, 373.

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Exegese zu sehen, deren Aufgabe nicht darin gesehen werden kann, eine in der Schrift verborgene Wahrheit freizulegen. Schaut man genauer hin, ergibt sich hier ein markanter Punkt des Dissenses. Der Wahrheitsbegriff oder genauer das Verhältnis von „Text“ und „Wahrheit“ stellt sich als wesentlich in der gegenwärtigen Methodendiskussion heraus. Vor diesem Hintergrund begreift man vielleicht die polemische Unterstellung Ludger Schwienhorst-Schönbergers, die historisch-kritische Exegese würde „auf unangenehme Weise an ein instruktionstheoretisches Offenbarungsverständnis erinner(n), welches die Offenbarung Gottes primär oder gar ausschließlich als Mitteilungen ‚geoffenbarter Wahrheiten‘ versteh(e)“48. Dass das personale Moment in der Selbstoffenbarung Gottes in der Schrift nicht ausreichend ernst genommen würde, ist ein schwerer Vorwurf an die Exegese, dessen Basis m. E. in Frage steht. Da die Schrift fundamentales Zeugnis der Selbstoffenbarung Gottes ist, geht ihre Bedeutung ohne Zweifel nicht im Literalsinn auf. Mir wäre kein Exeget bekannt, der das ernsthaft behaupten würde. Entscheidend ist vielmehr, dass auch das personale Moment nicht ohne den Literalsinn gegeben ist. Dass also ein personales Offenbarungsverständnis erst in der geistigen Schriftlektüre durch die Begegnung mit Christus in der Schrift (des Alten wie des Neuen Testaments!) zur Entfaltung kommt, ist m. E. eine theologisch problematische Position49. Auch Sätze Schwienhorst-Schönbergers wie: „Die für alle Menschen und Zeiten geltende Wahrheit hat sich in der Zeit geoffenbart“50, lassen das Glashaus erkennen, aus dem da mit Steinen geworfen wird. Die diametrale Zuordnung der patristischen Exegese zu einem personalen Offenbarungsverständnis und der historischkritischen Exegese zu einem instruktionstheoretischen Modell, ist jedenfalls ebenso wenig hilfreich wie deren Umkehrung. Vielmehr 48

L. Schwienhorst-Schönberger, Wiederentdeckung (s. Anm. 10), 423. L. Schwienhorst-Schönberger, Modelle (s. Anm. 10), 459 weist selbst darauf hin: „Dieser Vorschlag der Zuordnung (der Väterexegese zu dem dialogisch personalen Offenbarungsverständnis des II. Vat.) mag Irritationen auslösen. Ich will mich nicht darauf fixieren“. 50 L. Schwienhorst-Schönberger, „Keine rein akademische Angelegenheit“. Zum Verhältnis von Erklären und Verstehen in den Jesus-Büchern von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., in: J. H. Tück (Hrsg.), Der Theologenpapst. Eine kritische Würdigung Benedikts XVI., Freiburg i. Br. 2012, 184 –206, 192; vgl. ders., Sinn (s. Anm. 16), 88. 49

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sollte man sich m. E. darauf verständigen, dass für die hermeneutische Debatte ein relationales Wahrheitsverständnis insgesamt weiterführender ist. Die zweite Passage zur Rolle des Exegeten entstammt dem ersten und letzten Abschnitt aus Dei Verbum 12: „Da aber Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muss der Ausleger der Heiligen Schrift, um zu durchschauen, was Er uns mitteilen wollte, aufmerksam erforschen, was die Hagiographen wirklich deutlich zu machen beabsichtigten und Gott durch ihre Worte kundzutun beschloss … Sache der Exegeten aber ist es, gemäß diesen Regeln auf ein tieferes Verstehen und Erklären des Sinnes der Heiligen Schrift hinzuarbeiten, damit gleichsam aufgrund wissenschaftlicher Vorarbeit das Urteil der Kirche reife.“51 (DV 12) „Schrifterklärer“ (interpres Sacrae Scripturae) wird in der Diskussion häufig einfach gleichgesetzt mit „Exeget“. „Hier geht es, wenn vom interpres Sacrae Scripturae, dem ‚Ausleger der Heiligen Schrift‘ die Rede ist, um den Exegeseprofessor im Hörsaal“52. Das ist auch zunächst naheliegend, denn der interpres wird im Folgenden mit der Aufgabe betraut, „nach dem Sinn zu forschen, wie ihn aus einer gegebenen Situation heraus der Hagiograph den Bedingungen seiner Zeit und Kultur entsprechend – mit Hilfe der damals üblichen literarischen Gattungen – hat ausdrücken wollen“ (DV 12). Insgesamt geht aber das, was in dem Abschnitt als Aufgabe beschrieben wird, über ein traditionelles Verständnis von Exegese deutlich hinaus. Peter Hünermann übersetzt daher zu Recht mit „Ausleger“, was deutlich offener ist als „Exeget“. Zudem gebraucht Dei Verbum am Ende „exegetarum“ und es fragt sich, ob die Differenz nicht doch bedeutsamer ist als auf den ersten Blick erkennbar. „Schrifterklärer“ 51 Cum autem Deus in Sacra Scriptura per homines more hominum locutus sit, interpres Sacrae scripturae, ut perspiciat, quid Ipse nobiscum communicare voluerit, attente investigare debet, quid hagiographi reapse significare intenderit et eorum verbis manifestare Deo placuerit. Exegetarum autem est secundum has regulas adlaborare ad Sacrae Scripturae sensum penitus intelligendum et exponendum, ut quasi praeparatio studio, iudicum Ecclesiae maturetur. Übersetzung P. Hünermann, Dokumente (s. Anm. 47). 52 N. Lohfink, Der weiße Fleck (s. Anm. 38), 81.

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erscheint demgegenüber offener und weiter. Unklar bleibt aber, in welchem Verhältnis das, „was die Hagiographen wirklich zu sagen beabsichtigen“ (quid hagiographi reapse significare intenderint), und das, „was Gott mit ihren Worten kundtun wollte“ (eorum verbis manifestare Deo placuerit), durch die Zeit hindurch stehen. Wenn beides nicht das Gleiche ist – das dazwischenstehende „et“ also nicht einfach identifizierend explikativ gemeint ist –, und davon scheint das Konzil ausgegangen zu sein53, dann ist beides auch unabhängig voneinander zu erheben, ohne dass es voneinander unabhängig wäre. Im Gegenteil, beides wäre im Inneren aufeinander bezogen, also eher ein komplementäres als ein antagonistisches Verhältnis. Dass also die historisch-kritische Exegese und das Erheben des geistlichen Schriftsinns zwei Seiten einer Medaille sind, die aber niemals in Deckung zu bringen sind. Die entscheidende Frage ist also, was die Aufgabe der historischkritischen Exegese ist, und da scheint ein weiterer Dissenspunkt in der Debatte auf. Mir scheint, dass sie als wissenschaftliche Disziplin überfordert ist, wenn die Relationen zwischen beiden Teilen, also der Aussageabsicht der Hagiographen (das ist n.b. mehr als der sensus litteralis) und der Kundgabeabsicht Gottes (auch das ist mehr als der sensus divinus), geklärt werden sollen. Das „sorgfältig erforschen“ (attente investigare) jedenfalls sollte prozessual verstanden und auf beide Teile bezogen werden: die approximative Annäherung an die Selbstoffenbarung Gottes in der Schrift54. Die anschließende Aussage zur Erforschung der Gattungen möchte ich hier überspringen; es ist offensichtlich, dass hier ein sehr weiter Gattungsbegriff leitend ist. Das ist stark zeitgebunden und auch den Auseinandersetzungen geschuldet – über die Bedeutung von Textgattungen konnte man sich am einfachsten verständigen. Spannend dabei ist lediglich der Bezug auf die historische Welt des Textes („den Bedingungen seiner Zeit und Kultur entsprechend“/„pro sui temporis et suae culturae condicione“), von dem der maßgebliche Textsinn nicht gelöst werden kann. Kultur ist also dezidiert als Faktor geschichtlicher Variabilität von Sinn verstanden, auf den sich Exegese erklärend, interpretierend und rekonstruierend richtet. Die erforderliche Erforschung der 53

Zum Problem ebd., 82f.89, auch L. Schwienhorst-Schönberger, Wiederentdeckung (s. Anm. 10), 421; ders., Modelle (s. Anm. 10), 457. 54 S. hierzu die Diskussion im Kommentar A. Grillmeier, Kommentar (s. Anm. 32), 540.

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Welt(en) des Textes, die die Kontextualisierung der Offenbarung als unhintergehbar beschreibt, macht die Erforschung des sensus litteralis zum Ausgangs- und Bezugspunkt aller weiteren Textsinne. Und diese unaufhebbare Bezogenheit der weiteren Sinne auf den (durchaus plural zu verstehenden, s.u.) Literalsinn ist m. E. ein sehr entscheidender Punkt für die Aufgabenstellung der Exegese. Welche Bedeutung hat nun, dass die Konzilsväter die Lehre vom vierfachen Schriftsinn nicht explizit erwähnen? Hier glaube ich, dass Ludger Schwienhorst-Schönberger Recht hat, wenn er die „Furcht vor übertriebenen Allegorisierungen“ als Grund nennt55. Und hier muss auch sicher noch weiter investiert werden, um Kriterien für eine Begrenzung der Vielfalt der Sinne zu finden.

4. Kann Wissenschaft frommen? Zur Exegese als wissenschaftlicher Disziplin Welchen Nutzen hat es nun, Exegese und Wissenschaft in der Erforschung der Schriftsinne zusammenzubinden? Mit dem Bezug auf die alte Bedeutung von „frommen“ sei schon angedeutet, dass an der Frage der Wissenschaftlichkeit ein weiterer Dissenspunkt zu der Position Ludger Schwienhorst-Schönbergers aufbricht. Zunächst sei noch einmal die Aufmerksamkeit auf die Umschreibung der Aufgabe der Exegeten am Ende des Abschnitts von DV 12 gelenkt. Exegetarum autem est secundum has regulas adlaborare ad Sacrae Scripturae sensum penitius intelligendum et exponendum (zur deutschen Übersetzung s.o.). Sehr wichtig scheint mir, dass dabei das Ergebnis der Exegese nicht identisch mit der tieferen Erfassung der Schrift ist, sondern vorbereitend (praeparatio) auf diese hinarbeitet (adlaborare). Diesbezüglich wird die Exegese entlastet. Die Exegese bleibt auf den weiteren Sinn hin offen und auf ihn hingeordnet, entwirft aber ihre Methodik und ihre einzelnen Methoden nicht von dem weiteren und tieferen Sinn her. Das halte ich für ebenso entscheidend wie die Tatsache, dass die Exegese nicht als identisch mit der kirchlichen Auslegung gesehen wird. Umgekehrt wird damit der Stellenwert der Arbeit am Text betont, denn ohne Bezug auf die Vorarbeit (praeparatio studio) ist die Weiterarbeit im Reifen des kirchlichen

55

L. Schwienhorst-Schönberger, Wiederentdeckung (s. Anm. 10), 421.

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Urteils (iudicium Ecclesiae maturetur) nicht denkbar. Die Weiterarbeit kann sich auch nicht einfach von der Vorarbeit lösen. Dass dieser Vorarbeit zumindest in der deutschen Übersetzung der Status „wissenschaftlich“ zugesprochen wird56, ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung: Die Methodik der Exegese muss also darauf hinzielen, dass diese vernunftverantwortet, in sich widerspruchsfrei, intersubjektiv vermittelbar und nachprüfbar bleibt. Oder anders gesagt: Alles, was diese Kriterien nicht erfüllen will oder erfüllen kann, sollte weder „wissenschaftlich“ noch „Exegese“ genannt werden. Auch wenn so kaum von den Konzilsvätern intendiert, legt sich über den Gebrauch von exegeta und interpres eine Differenz von Exegese und Auslegung nahe. Das Verständnis der Exegese als wissenschaftlicher Disziplin kann aber nur dann sinnvoll gefüllt werden, wenn die Auslegung nicht in der Exegese aufgeht, sondern es auch legitime und plurale Auslegung neben der Exegese oder über die Exegese hinaus geben kann, ja geben muss. D. h. Exegese und Auslegung sind nicht identisch und stehen auch nicht notwendig in denselben Kontexten. Der Stellenwert der Exegese für die Auslegung der Glaubensgemeinschaft wird damit aber zum kritischen Punkt. Ist diese lediglich ein superadditum, das verzichtbar wäre, oder bleibt es auch hier bei der Unverzichtbarkeit der Exegese und damit der historisch-kritischen Perspektive als einem zwar nicht exklusiven, aber doch essentiellen methodischen Feld in den methodischen Zugängen? Damit ist sehr grundsätzlich das Verhältnis von Glaube und Vernunft angesprochen. Auch hier ist unzweifelhaft von Bedeutung, von welchem Vernunftbegriff aus man sich in die Verhältnisbestimmung begibt. Das kann hier allerdings nicht vertieft werden. Ludger Schwienhorst-Schönberger hat sich nun jüngst noch einmal gegen das Kriterium der Wissenschaftlichkeit der Exegese im Sinne einer intersubjektiven Nachprüfbarkeit ausgesprochen. Hier bleibe Exegese „bewusst auf der Ebene der Deskription“57. In seiner Auslegung der Position Joseph Ratzingers benennt er im Anschluss an Wilhelm Dilthey die Differenz zwischen einem erklärend-analytischen Wissenschaftsmodell und einem am Verstehen orientierten. 56 Norbert Lohfink versteht auch schon das investigare zu Beginn des Abschnitts im Sinne von „wissenschaftlich erforschen“ N. Lohfink, Der weiße Fleck (s. Anm. 38), 82.91. 57 L. Schwienhorst-Schönberger, Angelegenheit (s. Anm. 50), 196.

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Während ersteres einem korrespondenztheoretischen Wahrheitsverständnis verpflichtet sei, gehe es dem Verstehen um „die Bedeutung, den Sinn und den Wahrheitsgehalt literarischer Texte oder Kunstwerke“58. Das „Ideal des erklärenden Wissenschaftsmodells“, dem die Exegese verpflichtet sei, sei „im Grunde dasjenige der Naturwissenschaften … So wie der Naturwissenschaftler im Experiment auf die Natur zugreift, so der Exeget auf den Text“59. Die Exegese habe „nicht mehr viel zu sagen“60, weil sie in der Deskription gefangen sei: „Generell lässt sich in der Exegese eine gewisse Scheu beobachten, sich auf die Inhalte biblischer Texte einzulassen, geschweige denn, sie in ihrem Wahrheitsgehalt zu erschließen. Es geht ihr gewöhnlich nicht darum, die Sache zu verstehen, die im Text zur Sprache kommt, sondern darum, exakt zu beschreiben, wie die Sache (von anderen) verstanden wurde“61. Dieser Skizze muss man sich von zwei Seiten aus nähern: Zum einen scheint mir die Beschreibung in der Engführung unzutreffend62, zum anderen sind die Grundlagen der Wertung nach dem oben Gesagten nicht unproblematisch. Exegese stellt sich den Ansprüchen und Kriterien der einschlägigen Methoden der Geisteswissenschaften, insbesondere wenn sie sich im Kontext der universitas verortet63. Dabei begreift sich Exegese überwiegend als Textwissen58 Ebd., 194, in engem Bezug auf A. Vasilache, Erklären – Verstehen – Debatte, in: A. Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 52013, 182f. 59 L. Schwienhorst-Schönberger, Angelegenheit (s. Anm. 50), 197. 60 Ebd. 61 Ebd., 196. 62 Der Tenor der zitierten Aussage ist auch in der gegenwärtigen Systematik keinesfalls selten. Er arbeitet mit falschen Frontstellungen, wie z. B. in der Unterstellung von J. H. Tück, es gäbe eine Exegese, die sich weigern würde, „dem Auftrag einer theologischen Auslegung des Evangeliums nachzukommen. Gerade in dieser Weigerung aber lässt sie die Gläubigen mit ihrer Sehnsucht nach dem ganz Anderen obdachlos zurück“ (J. H. Tück, Hintergrundgeräusche. Liebe, Tod und Trauer in der Gegenwartsliteratur, Ostfildern 2010, 131). Derartige Aussagen sind in der überzogenen Polemik und Vermischung von Zuständigkeiten wenig hilfreich (zur Kritik daran auch W. Eisele, Metzgerszunft [s. Anm. 7], 237f.). Sonst käme noch jemand auf die Idee, ähnliche Überforderungen für die Dogmatik zu formulieren. 63 Zur Kontextualität der „Wissenschaftlichkeit“ der Exegese auch H. Utzschneider, Alttestamentliche Literatur (s. Anm. 17), 80; auch T. Söding, Theologie (s. Anm. 31), 446f.

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schaft und zugleich als Teil der transdisziplinär arbeitenden Geistesund Kulturwissenschaften. Bei aller Pluralität der wissenschaftstheoretischen Grundlagen, denen sich diese Wissenschaften verpflichtet wissen, lässt sich darin wohl kaum ein naturwissenschaftliches Wissenschaftsverständnis erkennen. Voraussetzungslosigkeit oder Objektivität im strengen Sinne sind dabei hermeneutischen Reflexionen der Kontextualität jeglichen Verstehens schon lange gewichen. Methoden, Theorien und Konzepte sind different, ausgerichtet auf argumentative Begründbarkeit, Intersubjektivität und widerspruchsfreie sprachliche Präzision. Die methodisch in den Geisteswissenschaften oft leitende Foucaultsche Diskursanalyse, auf die Schwienhorst-Schönberger freilich nicht unpolemisch – „wie die Sache (von anderen) verstanden wurde“ – anspielt, nähert sich ihrem Gegenstand beschreibend, aber nicht ohne Deutung. Zumindest geht sie nicht in der Beschreibung auf. Das führt zu der Voraussetzung der Kritik, die den holistischen Ansatz Diltheys64 einschließlich einer Trennung von Erklärung und Verstehen als wissenschaftstheoretische Basis nimmt. Obwohl ohne Zweifel zuzustimmen ist, dass Dilthey mit der Unterscheidung bis in die Gegenwart nachwirkt, wird diese in jüngeren wissenschaftstheoretischen Diskursen keinesfalls mehr unhinterfragt als trennende Leitunterscheidung begriffen65. Deutli64 Zur Darstellung s. M. Jung, Dilthey zur Einführung, Hamburg 1996, 26 –75, bes. 53 „Allerdings wurde Dilthey zunehmend klar – die ‚hermeneutische‘ Ausrichtung seines Spätwerks bezeugt das am deutlichsten –, daß auch die wissenschaftliche Erschließung innerer Erfahrung diese nie in der vortheoretischen Unmittelbarkeit des Innewerdens zugänglich machen kann, sondern nur in ihren objektivierten Ausdrucksgestalten“. 65 Vgl. etwa den Band von A. Frings/J. Marx (Hrsg.), Erzählen, Erklären, Verstehen. Beiträge zur Wissenschaftstheorie und Methodologie der Historischen Kulturwissenschaften (Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften 3), Berlin 2008 oder mit pointierter Position H. U. Ruegger, Verstehen statt Erklären? Zur Logik der Interpretation in den Geisteswissenschaften, in: ThZ 64 (2008) 49 – 64, bes. 50f. D. Teichert, Erklären und Verstehen. Historische Kulturwissenschaften nach dem Methodendualismus, in: J. Kusber u. a. (Hrsg.), Historische Kulturwissenschaften. Positionen, Praktiken und Perspektiven, Bielefeld 2010, 13 – 42, 14.29, der festhält, dass der Methodendualismus „Erklären-Verstehen“ keine trennende Rolle mehr spielt. „Die Zeit dieser Denkweise ist passé“ (14). Kontrovers diskutiert wurde der Gegensatz durchgehend, ablehnend z. B. schon bei Max Weber, s. bei U. Laucken, Verstehen gegen Erklären. Nekrolog auf einen Gegensatz, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 7 (1976) 113 –118. Zur frühen Kritik an Dilthey durch Edmund Husserl, s. M. Jung, Dilthey

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chen Widerstand gibt es jedenfalls gegen die dichotome Aufteilung, die das Erklären den Naturwissenschaften und das Verstehen den Geisteswissenschaften zuordnet, weil beides den jeweiligen Selbstverständnissen nicht gerecht wird. Auch ein Naturwissenschaftler wird kaum widersprechen, dass ein „rein analytisch-erklärende(r) Zugang für das Erfassen kultureller Äußerung … unzureichend“ ist66, aber kaum ein Naturwissenschaftler wird sich auf einen solchen vom Verstehen getrennten Zugang engführen lassen. Auch für die Exegese dürfte in der Pauschalität kaum zutreffen, dass sie eine kontextlose Geltung ihrer Methoden beansprucht, sich in der Deskription erschöpft und im Verstehen die strenge Dichotomie von Gegenstand und erkennendem Subjekt durchhält. Szientistische, idealistische, positivistische oder naturalistische Missverständnisse mag es im Einzelfall geben, aber man wird sie doch nicht ernsthaft als kennzeichnend für die Exegese betrachten wollen. Die Engführung Schwienhorst-Schönbergers kann vielleicht als Anstoß genommen werden, auch in der Exegese noch einmal die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Geisteswissenschaften zu reflektieren. Wenn das der Exegese gegenüberstehende Verstehen auf den Wahrheitsgehalt der Texte gerichtet ist, fragt sich erneut, welches Wahrheitsverständnis eigentlich hinter dem methodischen Ansatz steht, zumal es ja offenbar nicht der Korrespondenztheorie verpflichtet sein soll67. Das führt Schwienhorst-Schönberger aus, wenn er den Ansatz Ratzingers in die Nähe poststrukturalistischer Ansätze stellt: „Die ‚Wahrheit eines Textes‘ ist nicht einfachhin identisch mit der von einem historischen Autor intendierten Bedeutung. Sie erschließt sich erst in einer (langen) Geschichte des Hörens. Der ent(s. Anm. 64), 196f. Husserl sah anfänglich in dem Ansatz die Fehlformen des Skeptizismus, des Relativismus und des Subjektivismus, was die von Schwienhorst-Schönberger reklamierte Rezeption durch Joseph Ratzinger umso erstaunlicher scheinen lässt. Zur frühen Kritik bei Max Weber, s. K. Borchard, E. Hanke, W. Schluchter, Einleitung, in: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919 –1920 (MWG I,23), Tübingen 2013, 37. 66 L. Schwienhorst-Schönberger, Angelegenheit (s. Anm. 50), 194. 67 Zu den unterschiedlichen Wahrheitsverständnissen, ihren Ansprüchen und ihrer Diskursfähigkeit, s. die Überblicke in dem Band M. Enders/J. Szaif (Hrsg.), Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit, Berlin 2006. Das dort skizzierte patristische Wahrheitsverständnis kommt den Ausführungen Schwienhorst-Schönbergers sehr nahe.

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scheidende Unterschied zu den poststrukturalistischen Literaturtheorien dürfte aber darin zu sehen sein, dass sich die Öffnung des Textes und seiner Wahrheit bei Benedikt XVI. nicht in einer Beliebigkeit von Deutungen verliert, sondern ekklesiologisch eingegrenzt wird. Die Sinnoffenheit der Texte wird durch Sinnfestlegungen der Rezeptionsgemeinschaft (‚Kirche‘) in Grenzen gehalten, wobei allerdings die Rezeptionsgemeinschaft nicht als ein in sich stehendes Subjekt verstanden wird, sondern als eine Größe, die ihr Sein von einer anderen, der göttlichen Wirklichkeit her empfängt“68. Unter der Voraussetzung, dass unter „Hören“ alle in der Rezeptionsgemeinschaft zur Geltung kommenden Sinne des Textes gemeint sind, ist dem ohne Vorbehalte zuzustimmen, zumal die Sätze im Ansatz ein ekklesiologisches Schriftverständnis formulieren. Problematisch wird es m. E. erst, wenn dieses weite Schriftverständnis mit der Exegese gleichgesetzt wird, die als wissenschaftliche Disziplin etwa an Universitäten verankert ist. Hier kann a) die Sinnfestlegung nur formal analog gedacht werden, insofern die sinnbegrenzende Rezeptionsgemeinschaft der academia sich nicht von der göttlichen Wirklichkeit her bestimmt, und b) das „Hören“ auf die Textsinne beschränkt ist, die methodisch kontrolliert und einer argumentativen, widerspruchsfreien Logik verpflichtet bleiben. Damit soll nicht bestritten werden, dass auch wissenschaftliche Exegese eine ekklesiologische Dimension hat. Das würde bedeuten, die oben entfaltete Komplementarität nicht ernst zu nehmen. Es ist auch schon deshalb selbstverständlich, weil Exegese immer auch Teil der Schriftauslegung ist und sich mit der norma normans befasst, die ihren normativen Anspruch für die Gläubigen ja nicht dadurch verliert, dass sie Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung wird. Mit Michael Theobald kann unterstrichen werden, dass „unübersehbar ist, dass es faktisch stets unterschiedliche Lesegemeinschaften in der communio ecclesiarum gab und gibt“69. Das öffnet auch die Tür, Schriftauslegung der Kirche und wissenschaftliche Exegese nicht einfachhin gleichzusetzen und damit der Exegese ihren doppelten Ort zu bewahren: in der communio ecclesiarum und der communio scientia68

L. Schwienhorst-Schönberger, Angelegenheit (s. Anm. 50), 197. M. Theobald, Offen – dialogisch – (selbst)kritisch. Die grundlegende Bedeutung historisch-kritischen Arbeitens für die theologische Auslegung des Neuen Testaments, in: BiKi 63 (2008) 240 –245, 245. 69

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rum. Denn dass die hermeneutischen Voraussetzungen zu einem Problem der Disziplin werden, erkennt auch Ludger SchwienhorstSchönberger: „Konkret heißt das, dass es neben der Schulung im Wissen und in den Methoden, die sich auf das Erklären der Schrift beziehen, einer Übung, eines Exerzitiums bedarf, das den Leser und Interpreten der Schrift hinsichtlich des Verstehens formt. Das ist eine für das moderne Wissenschaftsverständnis höchst heikle Angelegenheit. Sie dürfte lebhaften Widerspruch hervorrufen, erweckt sie doch den Eindruck, die Exegese in den Raum subjektiver Erbaulichkeit und persönlicher oder kirchlicher Frömmigkeit zu verbannen und sie damit ihres Charakters als Wissenschaft zu entkleiden“70. Erforderlich sei – so formuliert er mit Benedikt XVI. – die via purgativa, d. h. ein mystischer Weg: „Konsequent durchdacht, wird damit die Schriftauslegung in den Raum einer spirituellen Praxis gestellt“71. Wenn dies nun auch der wissenschaftlichen Exegese angedient wird, diese aber nicht zugleich dem Raum der Wissenschaft entzogen wird, kommt es zum unversöhnlichen Konflikt mit dem gegenwärtigen Wissenschaftsbegriff. Deswegen beschwört Ludger Schwienhorst-Schönberger eine Wende der gesamten Kulturwissenschaft, deren Hermeneutik im Verstehen dem Erklären entgegengesetzt ist72. Dabei liegt aber das Problem nicht in den Geisteswissenschaften, sondern in der vorausgesetzten Dilthey’schen unversöhnlich diametralen Gegenüberstellung von Erklären und Verstehen. Sonst bekämen doch die Unkenrufe am Ende Recht, nach denen die Geisteswissenschaften keine Wissenschaft im eigentlichen Sinn sind. Es 70

L. Schwienhorst-Schönberger, Angelegenheit (s. Anm. 50), 203. Ebd., 205, vgl. ders., Wiederentdeckung (s. Anm. 10), 411: „In diesem Sinn ist das Verstehen der Heiligen Schrift eine Gabe Gottes“; ders., Sinn (s. Anm. 16), 89: „Problematisch und ‚unwahr‘ ist nicht die Bibel, sondern sind unsere als ‚normal‘ angesehenen Bewusstseinszustände. Doch unser Bewusstsein kann sich – nicht zuletzt durch spezifische spirituelle Übungen – weiten und öffnen lassen für jene Dimension der Wirklichkeit, aus der heraus biblische Texte stammen und die sie bezeugen“. 72 Schon in der ersten programmatischen Stellungnahme hatte SchwienhorstSchönberger das Problem gesehen, das er jetzt mit Dilthey zu lösen versucht. Dort hatte er den Begriff „Wissenschaft“ mit einem Zitat von Henri de Lubac aufzulösen versucht: „Ist das aber noch Wissenschaft? ‚Das Wort »Wissenschaft« ist eben mehrdeutig‘“ (Einheit [s. Anm. 2], 415). Verbunden war das auch dort schon mit der unzureichenden Qualifizierung der Exegese als „positive Wissenschaft“. 71

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bleibt also auch im Verstehen dabei, dass sich Exegese „objektivierbaren Kriterien zu unterstellen (hat), um Eintragungen von Wunschvorstellungen in die Texte zu wehren, im Wissen darum, dass alle Auslegungen und historischen Re-Konstruktionen prinzipiell überholbar sind“73. Oder in den klaren Worten Karl Lehmanns: „Es gibt zwar noch andere Wege zur Wahrheit der Schrift, aber im Horizont der theologischen Wissenschaft kann es keine nebenkritischen Reservate geben“74.

5. Vielfalt der Textsinne – Überlegungen zum Standort der Exegese In den oben an Dei Verbum entfalteten Überlegungen, die sehr grundsätzlich bei Fragen der Wissenschaftlichkeit von Exegese landeten, sind bereits Chancen wie Grenzen der historisch-kritischen Methode erkennbar geworden. Zuvor war deutlich geworden, dass die Kritik an der Methode oft von überzogenen Erwartungen und verzerrten Darstellungen bestimmt ist. Darauf soll in einem abschließenden Teil noch einmal in Form von Thesen, die an dem einen oder anderen Punkt auch als Klarstellung gedacht sind, Bezug genommen werden. Die Thesen sind unterschiedlich ausführlich begründet, sie verstehen sich als Anregung zu weiterem Gespräch. Das Textverstehen geht nicht in der Exegese auf Eine erste These ist, dass das Textverstehen nicht in der Exegese der Texte aufgeht. Obwohl wegen der Geschichtlichkeit des christlichen Offenbarungsverständnisses notwendig, ist sie nicht zureichend. Dieser Anspruch sollte der historisch-kritischen Exegese nicht unterstellt werden, und es ist eine Überforderung, wenn diese nicht nur einen Beitrag zum Textverstehen leisten soll, sondern dieses Textverstehen darstellt: „Sie ist eine der grundlegenden Dimensionen der Auslegung, aber sie schöpft den Auftrag der Auslegung für den nicht aus, der in den biblischen Schriften die eine Heilige Schrift sieht und sie als von Gott inspiriert glaubt“75. Das Zitat macht zum einen deutlich, dass es um mehr geht als um die eingeübte Unterscheidung von explicatio 73 74 75

M. Theobald, Offen (s. Anm. 69), 245. K. Lehmann, Horizont (s. Anm. 6), 67. J. Ratzinger, Jesus von Nazareth (s. Anm. 8), 15.

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und applicatio der Schrift, zum anderen benennt es die Kategorien, unter denen das „Plus“ steht. Implizit sind darin auch die Begrenzungen und Bedingungen auch der geistlichen Schriftlektüre zum Ausdruck gebracht, wenn sie vom Glauben an den inspirierten Sinn getragen ist. Deshalb – darin ist Ludger Schwienhorst-Schönberger Recht zu geben – kann die geistliche Auslegung nicht einfach ein ergänzender Teil der historisch-kritischen Methode sein. Insofern Exegese ein methodisch gerichtetes, kontrolliertes und nachvollziehbares Verfahren zur Verfügung stellt, das intersubjektiv vermittelbar bleiben will und wissenschaftlichen Grundsätzen verpflichtet bleibt, sind ihr entsprechend Grenzen gesetzt. Während sie auf der einen Seite Gesprächsfähigkeit gewinnt, verliert sie auf der anderen Seite an Zuständigkeit. Das ist weniger Begrenzung als Chance, wenn begriffen wird, dass auch innerhalb der Grenzen Theologie betrieben wird. In der gegenwärtigen Diskussion wird hingegen der Bezug auf die Vergangenheit als Begrenzung stark betont: „Ihre erste Grenze besteht für den, der in der Bibel sich heute angeredet sieht, darin, dass sie ihrem Wesen nach das Wort in der Vergangenheit belassen muss … Aber ‚heutig‘ machen kann sie es nicht – da überschritte sie ihr Maß“76. Dabei darf jedoch nicht der Eindruck erweckt werden, die Bedeutung der Schrift ginge in dem „heutig“ machen auf oder die Beschränkung auf die Literalsinne hätte keine Bedeutung für heute. Auch das wäre ein fatales Missverstehen, das der Geschichtlichkeit der Offenbarung nicht ausreichend Rechnung trägt. Die historisch-kritische Methode begrenzt sich nicht auf einen Textsinn Die historisch-kritische Methode verabsolutiert nicht einen Textsinn und leugnet auch nicht die Einheit der Schrift als sinnkonstitutiven und sinnproduktiven Kontext. Wenn das methodische Plädoyer von der Synchronie seinen Ausgangspunkt nimmt und die synchrone Textgestalt diachron reflektiert, ergibt sich über die Bestimmung des Ausgangspunktes bereits der Endpunkt. Eine kanonische Perspektive kann demnach integrativ in den Methodenkanon eingebracht werden. Jede Analyse eines Textes setzt eine Begrenzung des Kontextes voraus, die meist pragmatisch erfolgt. Die Exegese biblischer Texte kann den Kanon bzw. einen der historisch gewachsenen

76

Ebd.

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Kanones als sinnvollen Kontext wählen. Auch wenn „der“ Kanon für die Exegese ein privilegierter, weil ekklesiologisch unverzichtbarer Kontext ist, kann sich Exegese nicht prinzipiell auf diesen Kontext beschränken. Erweiterungen und Begrenzungen des Kontextes sind legitim und dienen der Kontextualisierung der Literalsinne77. Da die diachrone Entwicklung von Sinnpotentialen in der historischkritischen Exegese wenngleich hypothetisch, so doch methodisch gestützt erhoben wird, ist deutlich, dass die historisch-kritische Exegese nicht von einem Textsinn ausgeht. Das würde der historischen Kontextualisierung in sich widersprechen. Ein konstanter Kritikpunkt von Ludger Schwienhorst-Schönberger gegenüber der historisch-kritischen Exegese ist, dass sie lediglich einen Textsinn zulasse, die von ihm favorisierte Form der Schriftauslegung, jedoch von der Polysemie, Sinnoffenheit und Vieldeutigkeit der Texte ausgehe. „Die die neuzeitliche Exegese heimlich leitende Vorstellung, ein biblischer Text habe nur eine Bedeutung und diese sei im Rahmen eines intersubjektiv überprüfbaren Verfahrens mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit zu ermitteln, erweist sich zusehends als unhaltbar. Literarische Texte wie die der Heiligen Schrift sind bis zu einem gewissen Grade mehrdeutig“78. In meinen Augen ist der Vorwurf unbegründet, auch wenn es durchaus Stimmen gibt und gab, die missverständlich von einem historischen Textsinn reden79. Dass die Einheit eines Textsinns aber bis in die moder77 Aus feministischer Perspektive kritisiert I. Müllner den Zusammenhang von Kanon und Macht und plädiert in eine ähnliche Richtung: I. Müllner, Dialogische Autorität. Feministisch-theologische Überlegungen zur kanonischen Schriftauslegung, in: Lectio difficilior 2/2005 o.S. (http://www.lectio.unibe.ch/ 05_2/muellner_dialog_autor.htm; letzter Zugriff 15.1.2014). 78 L. Schwienhorst-Schönberger, Eines hat Gott (s. Anm. 10), 52, vgl. auch ders., Einheit (s. Anm. 2), 412. 79 So z. B. K. Finsterbusch/M. Tilly, Plädoyer (s. Anm. 8), 9. L. SchwienhorstSchönberger führt ein Zitat von F. Hoffmann aus einem Methodenbuch an: Dort sei als Ziel jeder Exegese angegeben, „einen Text auf Eindeutigkeit engzuführen“ (G. Fohrer u. a., Exegese des Alten Testaments, Heidelberg u. a. 51989, 155). Das Methodenbuch betont jedoch durchgehend das approximative dieses Zugangs, denn „das ‚Ideal‘, ihn genauso zu verstehen, wie ihn der damalige Hörer oder Leser verstand, sowie die mit ihm verbundene Intention genau zu erfassen, (kann) im allgemeinen nur in je unterschiedlichem Grad der Annäherung erreicht werden“ (ebd., 155). Das Approximative des Zugangs deutet ja bereits an, dass die Vorstellung der Eindeutigkeit nur ein Ideal ist, das auf die Nachprüfbar-

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ne Exegese hinein eine heimlich leitende Vorstellung sei und dass die Intersubjektivität und Nachprüfbarkeit einer Exegese an diese Monosemie geknüpft sei, halte ich für überzogen, ja sogar für eine verzerrende Unterstellung. Es wird der Eindruck erweckt, als sei eine der Basisannahmen kulturwissenschaftlicher Forschung der Neuzeit, dass sich Sinn in Abhängigkeit vom Rezipierten nur im rezipierenden Subjekt konstituiert, an der historisch-kritischen Exegese vorbeigegangen. Auch wenn das Streben nach einer monosemen Bedeutung des Textes für die ältere Exegese in Einzelfällen (!) zugetroffen haben mag, ist diese Annahme einem jüngeren Textverständnis nicht angemessen. Zumindest wird man über sie nicht mehr die historisch-kritische Exegese charakterisierend beschreiben können. Richtig ist, dass die methodische Reflexion darüber auch in der Literatur intensiver sein könnte. Aber weder konstruktivistische noch dekonstruktivistische, strukturalistische oder poststrukturalistische Spielarten der Literaturwissenschaft sind ohne Einfluss auf die Exegese geblieben80. Umgekehrt wird für die sog. „kanonische Exegese“ die Behauptung aufgestellt, dass sie den Paradigmenwechsel der Literaturwissenschaft vollzogen habe und dies – oder genau dies – die Brücke zum altkirchlichen Schriftverständnis schlage: „Die kanonische Exegese greift zudem die aus den Literaturwissenschaften bekannte Einsicht auf, dass literarische Texte mehr als eine Bedeutung aufweisen. Aufgrund der Sinnoffenheit literarischer Texte gewinnt ein biblischer Text in je unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen. Diese aus der inneren Entwicklung der modernen Bibelwissenschaft erwachsene Einsicht weist nun deutliche Affinitäten zur Bibelhermeneutik der frühchristlichen Autoren auf“81. Dazu zwei basale hermeneutisch-methodische und eine polemische Anmerkung: keit und Nachvollziehbarkeit der Exegese hin angelegt ist, aber nicht ein grundsätzliches Textverständnis wiedergibt. Das ließe sich an einer Fülle von Zitaten aus demselben Buch aufweisen, z. B. von Georg Fohrer „Auslegung ist also nie fertig, nie vollkommen, nie abgeschlossen – dennoch notwendig, weil sie auf Verstehen zielt und Verstehen ermöglicht, wenn überhaupt verstanden werden will“ (ebd., 11). In anderen Aufsätzen greift Schwienhorst-Schönberger auf die Kontroverse der frühen 80er Jahre um „Exegese als Literaturwissenschaft“ zurück. 80 Vgl. auch M. Nissinen, Reflections (s. Anm. 35), 480. 81 L. Schwienhorst-Schönberger, Wiederentdeckung (s. Anm. 10), 418f, vgl. ders., Eines hat Gott (s. Anm. 10), 54.

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1. Ich kann nicht sehen, dass die kontextuelle Sinnpluralität von Texten methodisch in der kanonischen Exegese eingeholt und schon gar nicht methodisch operationalisiert wäre82. Vielmehr wird ein kanonischer Sinnzuwachs behauptet. Die Vielfalt kanonischer Sinne, die nicht in einem kanonischen Textsinn aufgeht, verlangt jedoch wiederum nach Kriterien, die im Sinndiskurs gesetzt werden. Was bestimmt die Auswahl und Perspektive der kanonischen Bezüge? Auch das sollte kanonische Exegese leisten, dass sie nämlich nicht jedes Verständnis eines Textes zulässt, sondern die Verständnismöglichkeiten im Sinne einer intentio operis begrenzt. Vom Ansatz mag es eine natürliche Nähe von patristischer Exegese und kanonischer Lektüre geben, in der konkreten Durchführung ist das m. E. nicht der Fall. Die Allegorese etwa ist m.W. bisher ebenso wenig wie eine christologische Lektüre des Alten Testaments Gegenstand der Entwürfe gegenwärtiger kanonischer Exegese. Die Nähe zwischen beiden hat bisher auch nicht zu einem Austausch über die Grenzen oder die Kriterien der allegorischen Interpretation oder zu einer hermeneutischen Reflexion der Fehlentwicklungen (Stichwort: Eisegesen) geführt83. Von einem Konsens, welche Kriterien für die Bewertung der Relevanz intertextueller Bezüge für das Textverstehen gelten sollen, ist die derzeitige Debatte – wenn ich es recht überblicke – ebenfalls immer noch weit entfernt84.

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Das gilt trotz der vielen maßgeblichen Beiträge zur methodologischen Grundlagendiskussion vor allem von Georg Steins. Die von Egbert Ballhorn und Georg Steins herausgegebene Aufsatzsammlung „Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexionen und Beispielexegesen, Stuttgart 2007“ geht in die angesprochene Richtung. Der Band zeigt die Vielfalt der Zugänge innerhalb des kanonischen Paradigmas, ist aber kein Methodenbuch. Am weitesten im Ansatz einer methodischen Anleitung ist vielleicht G. Steins, Kanonisch lesen, in: H. Utzschneider/E. Blum, Lesarten der Bibel. Untersuchungen zu einer Theorie der Exegese des Alten Testaments, Stuttgart 2006, 45 – 64; vgl. auch T. Hieke, Vom Verstehen biblischer Texte. Methodologisch-hermeneutische Erwägungen zum Programm einer „biblischen Auslegung“, in: BN 119/120 (2003) 71– 89. 83 Vgl. z. B. die Ausführungen E. Zenger, Unverzichtbarkeit (s. Anm. 8), 10f. Man bräuchte nur an die Frontstellungen zwischen Exegese und lectio divina im Mittelalter oder die Allegorisierungen in Catenen-Kommentaren zu erinnern. 84 Zu Ansätzen s. z. B. S. Seiler, Intertextualität, in: H. Utzschneider/E. Blum, Lesarten der Bibel. Untersuchungen zu einer Theorie der Exegese des Alten Testaments, Stuttgart 2006, 275 –293, 275 –288; ders., Text-Beziehungen. Zur intertextuellen Interpretation alttestamentlicher Texte am Beispiel ausgewählter Psalmen (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament 202), Stuttgart 2013, 25 –29.

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Man sollte also nicht so tun, als hätte nur die historisch-kritische Exegese „ihre Hausaufgaben“ nicht gemacht. 2. Dass ein Text in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen annehmen kann, ist gerade ein zentraler Punkt der historisch-kritischen Exegese, die durch die Perspektive von Redaktionen oder Fortschreibungen sinntransformierende literarische Prozesse beschreibt. Dass die Aussage „unter meinem Namen YHWH habe ich mich nicht zu erkennen gegeben“ (Ex 6,3) im Kontext einer selbstständigen Priesterschrift anders aufzufassen ist als im Kontext des sog. Endtextes im Pentateuch, darf als selbstverständlich erachtet werden. Auch dass die Verkündigung des Jesaja zur Zeit Hiskijas eine andere Stoßrichtung hat, als dieselben Textteile im Kontext des späten Jesajabuches entfalten, dürfte für historisch-kritisch arbeitende Exegeten selbstverständlich sein. Mindestens ebenso unhinterfragt dürfte selbst unter eingefleischten Diachronikern sein, dass die Textverständnisse im Mittelalter von denen im 19. Jh. und diese wiederum von den gegenwärtigen abweichen. Die Äußerungszusammenhänge sind einschließlich ihrer kulturellen Bedingtheit für das Verstehen im historisch-kritischen Sinne maßgeblich. Es ist also kaum richtig, die Kontextualität des Verstehens der historisch-kritischen Exegese abzusprechen, sondern es scheinen für SchwienhorstSchönberger die falschen Kontexte zu sein. Die Differenz besteht offenbar darin, dass diachron reflektierende Exegese sinnbestimmende Kontexte nicht erst mit Abschluss des Produktionsprozesses in die Analyse einbezieht, sondern über den Methodenschritt der Redaktionsgeschichte die pluralen Kontextualisierungen im Produktionsprozess als maßgeblich sinnkonstituierend mit einbezieht. Es ist die Einsicht, dass die in den Schriften manifestierten historischen Diskurse für das Verständnis der theologischen Bedeutung der Texte relevant sind, diese aber nicht ohne ihre Kontexte verständlich werden. „Much of the work of biblical critics is analyzing how the theological discourse works in their sources“85. Dabei bleibt ebenso unbestritten, dass es eine historische Objektivität nicht gibt, d. h. das „wie es eigentlich gewesen“ (Leopold von Ranke) prinzipiell nicht erreichbar ist86. Dennoch bleibt die historische und von der jeweili85

M. Nissinen, Reflections (s. Anm. 35), 486, vgl. 491. Aus der Fülle der Literatur sei hier lediglich auf den Band von J. Schröter/ A. Eddelbüttel (Hrsg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus geschichts-

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gen Diskursgemeinschaft gelenkte (Re-)Konstruktion notwendig, wenn Offenbarung als geschichtlich wie relational verstanden werden soll. 3. Über Synchronie und Diachronie wird nun bald ein halbes Jahrhundert kontrovers diskutiert. Dennoch findet sich in der Diskussion immer wieder die Attitüde, die eine synchron ansetzende Exegese als „modern“ kennzeichnet und die diachrone Exegese als einen „veralteten“ Ansatz von „gestern“. Abgesehen davon, dass diachrone Zugänge vor dem Hintergrund der mehr als zweitausendjährigen Auslegungsgeschichte wohl eher Neuheitswert gegenüber der Synchronie beanspruchen dürften, ist die Frontstellung kaum richtig und noch weniger hilfreich. Die Etiketten „neu“ oder „modern“ sollten nach gut 25 Jahren auch der kanonischen Exegese nicht mehr angeheftet werden. Die kanonische Exegese ist nicht mehr neu und auch nicht mehr innovativ! Die Frontstellung ist verbraucht und es wäre an der Zeit, sie aufzugeben. Anstelle der immer neuen Auseinandersetzung mit Wolfgang Richters „Exegese als Literaturwissenschaft“ (1971)87 ist das Gespräch mit der gegenwärtigen Vielfalt der rezenten Ansätze in der historisch-kritischen Bibelwissenschaft zu suchen. Der Literalsinn ist nicht „einer“ Es ist bereits oben angedeutet worden, dass die Annahme eines einzigen Sinnes angesichts der rezeptionsästhetischen Wende nicht angemessen ist. Der Text ist also schon lange den einen Sinn los, ohne dass damit die Frage nach dem Literalsinn „sinnlos“ geworden wäre. Bei der Sinnpluralität von Texten aber – und das scheint mir ein häufiges Missverständnis in der Gegenüberstellung von traditionellem und literaturwissenschaftlichem Zugang zu sein – handelt es sich nicht nur um die Sinne jenseits des „offenbaren Sinns“, d. h. theoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive, Berlin 2004 hingewiesen. 87 Die starke Betonung der formalen Seite des Ausdrucks, die Wolfgang Richter im Sinne einer sprach- und literaturwissenschaftlichen Gründung der Exegese wichtig war, tritt heute meist hinter einer integrativen Sicht zurück. Dabei steht aber außer Frage, dass die Exegese sich auch der formalen Seite des Ausdrucks zuzuwenden hat, will sie eine verantwortete Auslegung des Textes vorlegen. S. dazu auch T. Hieke, Verhältnis (s. Anm. 16), 287; W. Eisele, Metzgerszunft (s. Anm. 7), 236f. u. v. a. m.

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des Literalsinns. Vielmehr ist auch der Literalsinn nicht nur einer. Denn dass es einen „buchstäblichen“ Sinn geben würde, so dass der Literalsinn ein einziger und unbestrittener wäre, lässt sich nicht einmal mehr unter der Voraussetzung einer starken Autorenfiktion aufrechterhalten88. Die wiedergewonnene „Einsicht in die Mehrdimensionalität menschlicher Rede“, die Joseph Ratzinger in kirchlichen Dokumenten zu Recht als Errungenschaft herausstellt89, betrifft den geistigen Sinn wie den wörtlichen Sinn. Auch der wörtliche Sinn ist eine Interpretationsleistung des Rezipienten und damit der Vielfalt von Sinnmöglichkeiten ausgesetzt. Dazu kann noch einmal an Ecos Grenzen der Interpretation erinnert werden. Es gibt unendlich viele, aber eben nicht beliebige Interpretationen: „Die Initiative des Lesers besteht im Aufstellen einer Vermutung über die intentio operis. Diese Vermutung muß vom Komplex des Textes als einem organischen Ganzen bestätigt werden. Das heißt nicht, daß man zu einem Text nur eine einzige Vermutung aufstellen kann. Im Prinzip gibt es unendlich viele. Zuletzt aber müssen sich diese Vermutungen auf der Kongruenz des Textes bewähren, die Textkongruenz wird zwangsläufig bestimmte voreilige Vermutungen als falsch verwerfen“90. Die Polyvalenz von Texten bleibt unhintergehbar und das nicht nur für die historisch-kritische Exegese. Ja, es gibt die „‚Theorievergessenheit‘, ja ‚Theorievermeidung‘ der gegenwärtigen exegetischen Wissenschaft“91, die Helmut Utzschneider beklagt, aber deshalb ist die historisch-kritische Exegese nicht bei dem Textverständnis des 19. und frühen 20. Jh.s stehen geblieben92. Die Einsicht, dass Texte, je komplexer sie werden, nicht auf einen Literalsinn festzulegen sind und sich der Literalsinn eines Textes nicht aus der Summe des buchstäblichen Verstehens einzelner Sätze ergibt, dürfte weite Zustimmung finden. Einerseits zeigt sich von daher noch einmal die Oppo88 Zur Unterscheidung von „buchstäblichem“ Sinn und dem sensus litteralis s. Johannes Paul II., Päpstliche Bibelkommission: Die Interpretation der Bibel in der Kirche 1993, 1994 (VAS 115), 69, ebd. auch zu der Frage, ob der Literalsinn einer ist. 89 J. Ratzinger, Vorwort, in: Päpstliche Bibelkommission: Das jüdische Volk und seine heilige Schrift in der christlichen Bibel 2001 (VAS 152), 7. 90 U. Eco, Die Grenzen der Interpretation, München 32004, 49. 91 H. Utzschneider, Text (s. Anm. 26), 69. 92 S. dazu auch M. Nissinen, Reflections (s. Anm. 35), 479f.

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sition von historisch-kritischer Exegese und neuerer Literaturwissenschaft als unzutreffend, andererseits ist damit die Exegese vor die Aufgabe gestellt, mit der Vielfalt der Sinne auch methodisch besser umzugehen. Hier hat die Methode Entwicklungspotential, das noch nicht ausgeschöpft worden ist. Mit der Diachronie wird die synchrone Textgestalt nicht abgewertet Ein weitverbreitetes Missverständnis ist, dass die diachrone Rekonstruktion eines Textes prinzipiell mit einer Wertung verbunden ist. Je älter, desto ursprünglicher, desto wertiger: Das Jesus-Logion ist wertiger als die Gemeindetheologie, das ursprüngliche Prophetenwort zählt mehr als die verwässerte Schülerperspektive und der aufklärerische Jahwist ist wertiger als die depravierte und erstarrte Priesterschrift. Die Zuspitzung zeigt die Schieflage. Die Kritik daran wird nicht zu Unrecht vorgetragen, denn in der Tat ist in Anfängen historisch-kritische Exegese im missverstandenen recursus ad fontes tatsächlich oft so betrieben worden, dass späteres Textwachstum theologisch über Bord geworfen wurde. Der Wunsch nach Authentizität und Ursprünglichkeit hat hier die Feder, zugleich aber historistisch in die Irre geführt93. Es ist umgekehrt aber ebenso ein Missverständnis, wenn die theologische Wertigkeit ausschließlich im Endtext gesehen wird. Das wird im Dokument der päpstlichen Bibelkommission ausdrücklich hervorgehoben94 und soll unten durch eine grundsätzliche hermeneutische Bemerkung noch abgestützt werden. Die folgenden Thesen beziehen sich auf das Schriftverständnis, das als Gegenpol zur historisch-kritischen Exegese aufgebaut wird und vom „Endtext“ ausgehend nach einem geistigen Schriftsinn fragt.

93 H. J. Fabry spricht scharf von einer „irrige(n) Sicht, die leider vielen Theologen, die im Tunnelblick erstarrter Traditionen sozialisiert sind, einen Zugang zur lebendigen Dynamik biblischer Texte verstell(t)“ (H. J. Fabry, Kirche und Bibel – ein spannungsvolles Verhältnis. Bibelhermeneutische Aspekte, in: F. Bruckmann/R. Dausner [Hrsg.], Im Angesicht der Anderen. Gespräche zwischen christlicher Theologie und jüdischem Denken. Unter Mitarbeit von Josef Wohlmuth [FS J. Wohlmuth] [Studien zu Judentum und Christentum 25], Paderborn 2013, 239 –255, 241). 94 VAS 115, 35 (s. Anm. 88): „Das bedeutet freilich nicht, daß Vorstufen des Textes theologisch ohne Bedeutung wären“.

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Die Vielfalt der Textformen ist für die Sinnkonstitution ernster zu nehmen Der sog. „Endtext“ ist nicht eine gegebene Größe, sondern der in der Regel pragmatisch gewonnene Ausgangspunkt der Auslegung. Das gilt unabhängig davon, ob die Vulgata, die Septuaginta oder eine andere Textfassung die Grundlage der Exegese stellt. Die Entscheidung für einen auszulegenden Text muss auf eine gewachsene Pluralität der Textformen Bezug nehmen, was in begrenztem Maße auch schon für die Kirchenväter und für das Mittelalter gilt95. Nicht der Endtext, sondern die Pluralität der Textformen ist ein Gegebenes und diese ist für den wissenschaftlichen Ausleger unhintergehbar. Sie bestimmt die Exegese als eine unaufhebbare historische Dimension mit – jede Entscheidung für eine Textform, sei es eine aus den Textsträngen der Vulgata, der Septuaginta, des Masoretischen Textes, oder die EÜ etc., ist eine pragmatische Begrenzung der Bedeutungsvielfalt unter Einschluss einer historischen Dimension. Wenn man nun nicht im Sinne der hebraica veritas eine begründete Entscheidung für eine Textform fällen kann, die die Offenbarung in normativer Form enthalten würde, bleibt die Pluralität der Textformen als kritisches Korrektiv jeder Auslegung bedeutsam. Auslegung ohne Bezug auf eine historische Dimension ist dann Augenwischerei. Denn es macht einen Unterschied, ob in Jes 7,14 hml( „junge Frau“ oder parq¤noj „Jungfrau“ den Ausgangspunkt der Auslegung bildet oder ob in Num 24,17 statt +b$ „Szepter“ /nqrwpoj „Mensch“ oder gar mit dem Targum mšjh.’ „Messias“ gelesen wird. Und so einfach ist eine Festlegung in den genannten Fällen bekanntlich nicht, der Grad der Hypothetik ist auch in der Rekonstruktion der Textgeschichte nicht zu unterschätzen. Daraus folgt nichts weniger, als dass auch eine kanonische Exegese gezwungen ist, eine historisch diachrone Perspektive zu integrieren. Es gibt dann aber keinen vernünftigen Grund, diese auf die verschiedenen Textgestalten, also die Pluralität der Formen der Textrezeption, zu begrenzen und die hypothetische Pluralität der Formen der Textproduktion außen vor zu lassen. Die Einheit der Schrift ist keine gegebene Größe Auch wenn es theologisch die Sache nicht einfacher macht, darf nicht verkannt werden, dass die „Einheit der Schrift“ ein Konstrukt ist, das nicht einfach als Gegebenes gesetzt werden darf. Diese Ein95

Vgl. dazu die ausführlichen Reflexionen bei H. J. Fabry, Kirche (s. Anm. 93), 241–250.

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heit wird durch den jeweiligen Kanon konstituiert, aber erst durch selektive Textbezüge innerhalb dieses Rahmens realisiert; sie erschöpft sich aber nicht darin. Auch die „Einheit der Schrift“ ist nicht ohne die vorgängige und unaufgebbare Sinnpluralität und Pluriformität zu haben. Die Einheit der Schrift bildet also nicht einen festen Bezugspunkt der Auslegung, sondern ist eher ein perspektivischer Fluchtpunkt. Aus einem anderen Blickwinkel hat auch Michael Theobald auf diesen Punkt hingewiesen: „Angesichts solchen Befundes ist von der Vorstellung Abschied zu nehmen, die ‚Einheit der Schrift‘ sei in ihr selbst, d. h. in einer wie auch immer gearteten Kombination, Verschmelzung oder Harmonisierung ihrer Teile zu suchen. Sie liegt vielmehr außerhalb ihrer, oder anders gesagt, stets vor uns: die Lesegemeinschaft der Kirche ist es, welche die ‚Einheit der Schrift‘ in ihrer praktischen und theoretischen Rezeption durch ihre Glaubensexistenz verwirklicht“96. In methodischer Hinsicht wird meist unterschlagen, dass der auf die Einheit der Schrift bezogene geistliche Schriftsinn notwendig mit einem erheblichen Maß an Selektionen und Abstraktionen einhergeht. Diese Selektion erfordert aber Kriterien. Es ist nicht zu verkennen, dass der geistige Schriftsinn nicht ausschließlich vom gegebenen Text und seiner kanonischen Gestalt ausgeht, sondern darüber von dogmatischen Voraussetzungen abhängt. Der hermeneutische Rahmen, z. B. die Präexistenz Christi, die Anlage der Heilsgeschichte auf die Geburt des Messias, der Erfüllungsunterschuss des AT etc., wird gesetzt und bestimmt die Auswahl der Bezüge zwischen den Kanonteilen. Das macht es notwendig, dass über die hermeneutischen und methodischen Grundlagen der Väterexegese und ihre Bedeutung für die Exegese erneut gehandelt werden muss. Hier muss die Problemanzeige genügen. Im selben Kontext ist aber darauf hinzuweisen, dass die geistliche Dimension der Schrift die literarische Bedeutungsebene nicht ersetzt oder ihr aus theologischen Gründen auch nicht prinzipiell übergeordnet werden muss. Sondern die ganze Heilige Schrift – einschließlich ihrer Literalsinne – gibt Zeugnis von der Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte. Dabei ist der sensus litteralis nicht auf den geistigen Sinn hin zu entwickeln, der geistige Sinn wenn nicht sogar

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M. Theobald, Offen (s. Anm. 69), 245.

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vom buchstäblichen her, so doch jedenfalls nicht vollständig abgelöst von diesem. Hier ist auf Augustinus zurückzugreifen, dass jeder allegorische Sinn an einer anderen Stelle literal bezeugt sein muss, um standhalten zu können. Die Rede von Eigentlichkeit in Bezug auf den geistigen Sinn führt auf Abwege. Auch der sensus litteralis ist und bleibt inspirierter Sinn und besitzt theologische Relevanz97. Gleiches gilt für die Normativität, die sich nicht auf jene Bedeutung einschränken lässt, „die der Text im vorliegenden kanonischen Kontext entfaltet“98. Daraus leitet Schwienhorst-Schönberger, wie oben gesehen, die Vorordnung der kanonischen vor der historisch-kritischen Exegese ab99. Die Verkürzung in der Aussage wird erkannt, wenn man danach fragt, was denn jene Bedeutung ist, die der Text im vorliegenden kanonischen Kontext (welchem konkret?) entfaltet. Es wird hier der Eindruck erweckt, als sei dieser Sinn a) unabhängig von dem historischen Textsinn bzw. den historischen Textsinnen und b) einer und nicht viele, was aber doch gerade das Beharren auf Polysemie und Vieldeutigkeit durchkreuzt. Denn SchwienhorstSchönberger schreibt treffend an anderer Stelle: „Der Kanon schreibt eine begrenzte Vielstimmigkeit (Polyphonie) fest und grenzt darüber hinaus die Mehrdeutigkeit (Polysemie) biblischer Texte ein … Kanonisierung ist folglich nicht nur ein Akt der Sinnbegrenzung, sondern auch der Sinneröffnung“100. Zum anderen erscheint der normative Sinn vollkommen abgelöst vom Literalsinn. Unzweifelhaft geht die Normativität nicht in den Literalsinnen auf, aber sie ist auch nicht unabhängig davon. Normativ ist nicht der „eine“, sondern die Summe der durch „den Kanon“ begrenzten Textsinne. Die Engführung der Normativität auf den geistlichen Sinn ist daher 97 Das impliziert zugleich eine Verantwortung des Exegeten, diese theologische Dimension einzubringen. Theologie und Exegese dürfen (und können) nicht auseinandertreten, vgl. K. Lehmann, Horizont (s. Anm. 6), 67. 98 L. Schwienhorst-Schönberger, Modelle (s. Anm. 10), 457 = Wiederentdeckung (s. Anm. 10), 422. 99 „Das hieße dann allerdings hinsichtlich der Bestimmung des Verhältnisses von historisch-kritischer und traditioneller Hermeneutik, dass die Fragen und Ergebnisse der historischen Forschung in das traditionelle Modell der Bibelhermeneutik zu integrieren sind, nicht umgekehrt“ (L. Schwienhorst-Schönberger, Wiederentdeckung [s. Anm. 10], 422). 100 L. Schwienhorst-Schönberger, Einheit (s. Anm. 2), 415 und mit einem Zitat H. J. Siebens, ebd., 416.

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m. E. nicht nur unzutreffend, sondern auch eine gefährliche Ausblendung der Geschichtlichkeit der Texte: Normativ ist die Schrift nur in ihrer Ganzheit einschließlich ihrer Literal- und Ursprungssinne, die sich in der Text- wie Rezeptionsgeschichte entwickelt haben und sich zum Teil widerstreiten. Auch Normativität wird daher in Bezug auf den Text zu einem relationalen und diskursiven Konstrukt, das die Rezeptionsgemeinschaft als Subjekt der Auslegung erfordert. Alle Schriftinterpretation muss im Angesicht des Judentums vertretbar bleiben Abschließend ist noch auf die hermeneutische Besonderheit Bezug zu nehmen, dass unser erster Teil der Heiligen Schrift im Judentum zum großen Teil als Schriftgrundlage akzeptiert ist. Aus dem bleibenden Existenzrecht des ungekündigten Bundes Gottes mit unseren älteren Geschwistern ergibt sich das hermeneutische Erfordernis, dass es eine (in sich wiederum plurale) nicht-christliche Lektüre dieser Schrift gibt, die legitim bleibt. Dabei handelt es sich nicht um eine besondere Form der Rücksichtnahme, sondern theologisch entscheidend dabei ist, dass diese Leseweise Teil der geoffenbarten Wahrheit ist und daher auch aus christlicher Perspektive unaufhebbar und unaufgebbar bleibt101. Das geht über den bloßen Respekt vor den jüdischen Leseweisen hinaus, denn es ist, wie es Johannes Paul II. 1986 in der Synagoge in Rom ausgedrückt hat, „nicht etwas ‚Äußerliches‘, sondern gehört in gewisser Weise zum ‚Inneren‘ unserer Religion“102. Schon das sollte uns davor bewahren, die Normativität der nicht allegorischen Sinne zu leicht über Bord zu werfen. Es reicht nicht, die jüdische Schriftlektüre, die ja ebenso über den Literalsinn 101

Das hat E. Zenger mit Verve in seiner Streitschrift eingefordert und danach immer wieder aufgegriffen, s. E. Zenger, Das erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen, Düsseldorf 1991, 198 –202. Erinnert sei in diesem Kontext auch an das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission „Das jüdische Volk und seine heilige Schrift in der christlichen Bibel“, 2001 (s. Anm. 89). 102 Ansprache Johannes Paul II. beim Besuch der Großen Synagoge Roms am 13. April 1986, in: H. H. Henrix/W. Kraus (Hrsg.), Die Kirchen und das Judentum. Bd. II: Dokumente von 1986 –2000, Paderborn 2001, 106 –111, 109. Zur Problematik einer dichotomen Trennung von jüdischer und christlicher Leseweise s. die Reflexionen von G. Langer, Eine Erfolgsgeschichte? Das Jüdische in Katholisch-alttestamentlicher Wissenschaft, in: ders./G. M. Hoff (Hrsg.), Der Ort des Jüdischen in der katholischen Theologie, Göttingen 2009, 15 – 43, 19.

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hinaus mehrere Sinne kennt, als eine Parallelwelt eigener Sendung zu skizzieren. Das „Innere“, von dem Johannes Paul II. spricht, geht darüber hinaus und impliziert eine Anerkennung, die von der Annahme einer Gleichwertigkeit getragen wird. An diesem Punkt erhebt Michael Theobald meines Erachtens nach zu Recht gegen Joseph Ratzinger Einspruch, dass nämlich die christliche in der Tradition verwurzelte Schriftlektüre letztlich zu einer Enteignung der Juden führt, wenn sie christologisch engführt. „Was Not täte, wäre ein Paradigmenwechsel von einer autorbezogenen hin zu einer leserorientierten oder rezeptionsgeschichtlichen Sicht der Schrift, geleitet von der Einsicht, dass diese selbst ambivalent bleibt und auch unterschiedliche ‚Ausgänge‘ hat, einen jüdischen und einen christlichen (E. Zenger). Nur so ließe sich die christologische Lesart der Schrift mit dem Respekt vor ihrer jüdischen Auslegung verbinden“103. Auch Ludger Schwienhorst-Schönberger sieht das Problem und spricht es offen an: „Mit der Annahme zweier Bedeutungsebenen vermag die christliche Tradition ein weiteres Problem zu lösen: Warum wird ein und derselbe Text, das von Christen so genannte Alte Testament, von Juden und Christen unterschiedlich verstanden? Dies ist möglich, weil die Heilige Schrift zwei Bedeutungsebenen aufweist. Die Juden, so Origenes, bleiben beim Wortsinn des Alten Testamentes stehen – eine Aussage, die im Horizont des christlichen-jüdischen Gesprächs noch einmal neu und gründlich zu bedenken wäre, auf die in diesem Beitrag aber nicht näher eingegangen werden kann. Das Christentum zielt letztlich auf ein geistiges Verständnis der Schrift. Diese Unterscheidung ist bei Origenes nicht antijüdisch zu verstehen. Origenes war kein Antisemit“104. Die Ausführungen beschreiben eine Gratwanderung, die über die gegenüber Origenes eingebrachte Apologetik hinausgeht105. Zwar erkennt Ludger Schwienhorst-Schönberger das Problem, kann es aber nicht lösen, weil er sich auf die ausschließliche Normativität des geistigen Schriftsinns beschränkt. Das

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M. Theobald, Joseph Ratzinger verabschiedet die historisch-kritische Schriftauslegung! Anmerkungen zu seinem Jesus-Buch, dritter Teil „Jesus von Nazareth, Prolog. Kindheitsgeschichten“, in: BiKi 68 (2013) 46f., 47. 104 L. Schwienhorst-Schönberger, Wiederentdeckung (s. Anm. 10), 409. 105 Die Einschätzung des Origenes, Juden würden am Wortsinn festhalten, ist schlichtweg falsch. Darüber bedarf es keines erneuten Nachdenkens. S. zu den Ansätzen mit Literatur, z. B. G. Langer, Erfolgsgeschichte (s. Anm. 102), 19f.

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„geistige“ wird implizit mit „christlich“ gleichgesetzt, durch den Wahrheitsbegriff exklusiv aufgeladen und als Gabe Gottes, wenn nicht der kritischen Vernunft entzogen, so doch gegen sie immunisiert106. Dann bleibt für das literale Verständnis ebenso wie für das jüdische gleichermaßen kein angemessener Raum. Es erscheint mir offensichtlich, dass in der Bewertung der geistigen Schriftlektüre durch Ludger Schwienhorst-Schönberger ein Problem liegt, das sich vor dem Horizont der christlich-jüdischen Geschichte verschärft. Und darin liegt tatsächlich weiterer theologischer Gesprächsbedarf.

6. Schluss Mit meinen Überlegungen wollte ich deutlich machen, dass die rezeptionsästhetische Wende nicht das Ende der historisch-kritischen Exegese bedeutet und dass deren Unverzichtbarkeit etwas mit dem christlichen Offenbarungs- und Geschichtsverständnis zu tun hat. Darin liegt auch begründet, dass biblische Texte zwar ins Heute sprechen sollen und müssen, aber darin auch nicht aufgehen dürfen. Es gibt ein Recht der Texte, vergangen zu sein und in der Vergangenheit wie aus der Vergangenheit Sinn zu entfalten. Das meint der Titel, wenn er vom Recht des Textes spricht. Die Geschichtlichkeit der Offenbarung lässt sich nicht einfach überspringen oder gegenwärtig machen. Die historische Dimension ist notwendig, wenn auch nicht zureichend. Die Bedeutungspluralität von Texten ist unhintergehbar, auch in Bezug auf die historischen Textsinne. Die Vielfalt der historischen Sinne ist Teil der Offenbarung und auch relevant für heute. Die Geltung, also die Akzeptanz als „Wort Gottes“, schließt die Geschichtlichkeit des Textes mit ein und auch das lässt sich nicht hintergehen oder überspringen. „Exegese muss daher Wert legen auf die geschichtliche Distanz“107 oder wie Joseph Ratzinger es in seinem Jesusbuch schreibt, die historisch-kritische Methode muss „das Wort nicht nur als vergangenes aufsuchen, sondern auch im Vergangenen stehen lassen“108, selbstredend ohne den hermeneutischen Zirkel aufheben zu können. Es gibt weder ein objektives Verstehen der 106 107 108

Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, Wiederentdeckung (s. Anm. 10), 411. K. Kertelge, Schriftauslegung (s. Anm. 3), 71. J. Ratzinger, Jesus von Nazareth (s. Anm. 8), 15.

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Texte noch einen historischen Sinn, der rein und ohne Brechung erreichbar wäre. Aber bei allem Bemühen um die weiteren Sinne, kommt den Literalsinnen mehr als nur eine historische Bedeutung zu. Daher bleibt die historisch-kritische Methodik unverzichtbar und bleibt auch über den Raum der Wissenschaft hinaus relevant: „Historisch-kritische Exegese leitet an zur Respektierung und zum Verstehen der biblischen Botschaft aus ihren eigenen Voraussetzungen. Sie verwehrt dem interessierten Bibelleser ‚ein vorschnelles Einverständnis‘“109. Der Text – selbst eine in hohem Maße geschichtliche Größe – bleibt kritische Instanz, an dem sich jede Auslegung, auch die geistliche messen lassen muss. Einen Paradigmenwechsel, der die historisch-kritische Perspektive ablösen würde, sehe ich nicht. Dennoch befindet sich die Exegese in einem Wandel, der auch die historisch-kritische Methode verändert. Thomas Söding bringt es mit Verweis auf das nachapostolische Schreiben Verbum domini auf den Punkt: „Auf eine kurze Formel gebracht lautet die Lösung, die von einer Intervention des Papstes (Benedikt XVI.) vorformuliert worden war: Die historisch-kritische Exegese ist notwendig, aber nicht hinreichend“110. Es gibt bekanntlich weder ein objektives noch ein richtiges Textverstehen, weder auf Seiten des einen noch des anderen Zugangs zum Text, doch es gibt auf beiden Seiten falsche – und das ist meistens dann der Fall, wenn ein Zugang verabsolutiert wird. Auslegung ist Interpretation und muss sich am Text und am Werk messen lassen – so oder so. Das gilt für den sensus litteralis ebenso wie für den sensus spiritualis. Das Bemühen um die Offenbarung im Wort eint beide.

109 So K. Kertelge, Schriftauslegung (s. Anm. 3), 72 mit Zitat von L. SchwienhorstSchönberger, Bibelauslegung (s. Anm. 46), 20. Vgl. auch K. Lehmann, Horizont (s. Anm. 6), 69 –73. 110 T. Söding, Theologie (s. Anm. 31) 441.

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„Damit die Bibel nicht ein Wort der Vergangenheit bleibt“1 – Historische Kritik und geistige Schriftauslegung Ludger Schwienhorst-Schönberger

In der Offenbarungskonstitution Dei Verbum des II. Vatikanischen Konzils stehen zwei Modelle der Schriftauslegung unvermittelt nebeneinander: das Modell der historisch-kritischen Exegese und das Modell der traditionellen kirchlichen Bibelhermeneutik. Diese These wurde erstmals von Joseph Ratzinger aufgestellt.2 Sie ist nicht unumstritten,3 ich halte sie jedoch im Kern für richtig. Ich habe die These aufgegriffen, die beiden Formen der Schriftauslegung charakterisiert und einen Ansatz vorstellt, der es erlaubt, beide Richtungen miteinander zu verbinden. Das von mir vorgeschlagene Modell läuft auf eine Integration der historisch-kritischen Exegese in das Modell der traditionellen kirchlichen Bibelhermeneutik hinaus.4 Christian Frevel hat sich in seinem Vortrag auf der theologischen Fachtagung „Gottes Wort in Menschenwort – die eine Bibel als Fundament der Theologie“ im Erbacher Hof, Akademie des Bistums Mainz, im Mai 2013 ausführlich und kritisch mit meinem Vorschlag auseinandergesetzt. Dabei hat er auf weitere meiner Veröffentlichun1

Zitat aus: Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini von Papst Benedikt XVI. über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche vom 30. September 2010 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 187), 5. 2 J. Ratzinger, Die Bedeutung der Väter für die gegenwärtige Theologie, in: ThQ 148 (1968) 257–282: In Dei Verbum stehen „das Ja zur historisch-kritischen Methode und das Ja zur Auslegung von der Überlieferung, vom Glauben der Kirche her, friedlich nebeneinander … aber in diesem doppelten Ja verbirgt sich der Antagonismus zweier Grundeinstellungen, die in ihrem Ursprung wie in ihrer Zielrichtung einander durchaus gegenläufig sind“ (260). 3 T. Söding, Theologie mit Seele. Der Stellenwert der Schriftauslegung nach der Offenbarungskonstitution Dei Verbum, in: J.-H. Tück (Hrsg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg i. Br. 22013, 491–516, beispielsweise spricht von einer optischen Täuschung, wenn „die beiden Teile von Dei Verbum 12 oft als Widerspruch gesehen werden“ (505). 4 L. Schwienhorst-Schönberger, Zwei antagonistische Modelle der Schriftauslegung in Dei Verbum?, in: J.-H. Tück (Hrsg.), Erinnerung (s. Anm. 3), 517–529.

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gen, in denen ich Aspekte und Perspektiven dieses integrativen Modells vorgestellt und erläutert habe, Bezug genommen. Christian Frevel stimmt meinem Anliegen in vielen Punkten zu. Seiner Ansicht nach verdient mein „Bemühen um eine theologische Aufwertung der Heiligen Schrift … uneingeschränkte Zustimmung“.5 Er hebt eine Reihe von Gemeinsamkeiten hervor. Einige Differenzen betreffen meines Erachtens unterschiedliche Akzentsetzungen. Trotz der zahlreichen Gemeinsamkeiten kann ich mich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass unsere bibelhermeneutischen Modelle deutlich voneinander abweichen. Sie scheinen unterschiedlichen Denkformen mit je unterschiedlichen erkenntnistheoretischen und metaphysischen Voraussetzungen geschuldet zu sein. Christian Frevel denkt im Grunde historisch. Meine Denkform würde ich als eine philosophisch-theologische bezeichnen. Der Streit dreht sich um die Frage: Was ist die der Bibel angemessene Denkform? Wird die Wahrheit aus der Bibel historisch-induktiv gewonnen, oder wird die Bibel im Lichte der Wahrheit gelesen? Meines Erachtens ist Letzteres der Fall. Das „Licht der Wahrheit“ ist allerdings nicht mit einer fixen Idee oder einem Konzept zu verwechseln, das sich jemand ausdenkt und mit dessen Hilfe er sich die Bibel nach seinem eigenen Geschmack zurechtlegt. Sie ist vielmehr jenes Licht, das – theologisch gesprochen – aus der Begegnung mit dem lebendigen Gott zu leuchten beginnt.6 In diesem Licht ist die Bibel zu lesen. Aus der Dynamik dieser Sinnerschließung nährt sich jener Prozess des Lesens der Heiligen Schrift, der zu einem immer tieferen Verstehen dieser Wahrheit führt. In den damit eröffneten Horizont sind alle weiteren Elemente exegetischer Methodik einzuzeichnen. Dazu gehört selbstverständlich auch die historische Kritik. Wenn aber nicht zumindest anfänglich gewusst wird, worum es in der Bibel überhaupt geht, hängt alles andere in der Luft. Paradigmatisch hat Augustinus diese Zusammenhänge in seinem bibelhermeneutischen Grundlagenwerk De doctrina christiana erschlossen. Das erste Buch befasst sich ausschließlich mit philosophischen und theologischen 5

C. Frevel, Vom bleibenden Recht des Textes vergangen zu sein. Wie tief gehen die Anfragen an die historisch-kritische Exegese?, in diesem Band, 149. 6 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, Erleuchtungserfahrung und Schriftverständnis, in: P. Lengsfeld (Hrsg.), Mystik – Spiritualität der Zukunft. Erfahrung des Ewigen, Freiburg i. Br. 2005, 251–264.

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Grundsatzfragen. Erst im zweiten Buch beginnt er mit den einzelnen Methodenschritten. Natürlich kann der Weg auch mit der Lektüre der Bibel selbst eröffnet werden. Das dürfte sogar gewöhnlich der Fall sein. Aber selbst dann kommt es darauf an, dass das Lesen von dem Ziel, den Sinn der Heiligen Schrift insgesamt zu erfassen, geleitet wird. Deshalb sagt Augustinus zu Recht, dass man erst einmal alle Bücher der Schrift gut kennen muss, bevor man sich mit schwierigen Fragen der Textauslegung befasst.7 Dieses Wissen um das Ganze der Schrift begegnet in konkreter historischer Gestalt und über die Zeiten hinweg in den Grundvollzügen der Kirche. In ihnen erschließt sich – bei aller Defizienz und Unvollkommenheit – der Sinn der Schrift. Das meint die Lehre von der regula fidei, die bei der Auslegung der Bibel zu beachten ist. Damit wird die kritische Funktion der Bibel – auch in ihrem Gegenüber zur Kirche –, die Christian Frevel in besonderer Weise einfordert, nicht aufgehoben, sondern überhaupt erst ermöglicht. Christian Frevel scheint in seinem hermeneutischen Ansatz ein historisch-induktives Modell zu bevorzugen. Deshalb kommt er über ein asymptotisches Wahrheitsverständnis nicht hinaus. Oder vertritt er gar die Auffassung, dass es aufgrund der restlosen historischen Bedingtheit der biblischen Schriftzeugnisse gar keinen Kern an wahrer Erkenntnis in der Bibel geben kann? Landet er damit letztlich nicht im Skeptizismus und Relativismus? In meinem Modell wird Wahrheit erkannt, gleichwohl bleibt sie für das menschliche Erkennen unausschöpfbar. Es handelt sich hierbei um zwei unterschiedliche philosophische, metaphysische und erkenntnistheoretische Zugänge. Das biblische Modell für die von mir vertretene Hermeneutik der Schrift kommt im Wort aus Lk 2,19 zur Sprache. Hier wird gesagt, dass Maria „alle diese Dinge in ihrem Herzen bewahrte und darüber nachdachte.“ Michael Wolter übersetzt: „Maria aber bewahrte alle diese Dinge – deren Bedeutung sie verstand – in ihrem Herzen.“8 Die Theo-

7

Augustinus, De doctrina christiana II,31: „Die erste zu beachtende Vorschrift bei diesem mühevollen Unterfangen ist, wie ich gesagt habe, jene Bücher gründlich zu kennen und, wenngleich sie noch nicht verstanden werden, sie durch Lektüre dennoch entweder auswendig zu lernen oder wenigstens gut mit ihnen vertraut zu sein“ (Übersetzung nach K. Pollmann, Aurelius Augustinus. Die Christliche Bildung [De doctrina christiana], Stuttgart 2012). 8 M. Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 123.

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logie hat darin das Modell gesehen, wie das Verstehen des Wortes Gottes zu verstehen ist. Das Wort Gottes bleibt für den Menschen nicht unerreichbar. Es ist „nicht im Himmel … und auch nicht jenseits des Meeres … Das Wort ist ganz nahe bei dir, in deinem Mund und in deinem Herzen“ (Dtn 30,11–14). Es kann als Ganzes aufgenommen und in einem immerwährenden Prozess des Denkens und des Tuns verstanden und angeeignet werden (vgl. Ps 1). Auf die Kirche und jeden einzelnen Christen bezogen ist dieser Prozess als eine Einführung „in die ganze Wahrheit durch den Geist der Wahrheit“ (Joh 16,13) zu verstehen. Der prospektive Aspekt des in Lk 2,19 angedeuteten Verstehens tritt in der Übersetzung von François Bovon noch deutlicher hervor: „Maria aber bewahrte all diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“9 Offensichtlich stehen im Hintergrund zwei unterschiedliche Vorstellungen, wie das Christentum als Offenbarungsreligion zu verstehen ist. Auch wenn er es nicht ausdrücklich sagt, so scheint bei Frevel doch die Vorstellung leitend zu sein, das Christentum sei eine Buchreligion. Vor diesem Hintergrund ist das Fazit seiner Ausführungen konsequent, wenn es dort heißt: „Es gibt weder ein objektives Verstehen der Texte noch einen historischen Sinn, der rein und ohne Brechung erreichbar wäre.“10 Ferner: „Es gibt bekanntlich weder ein objektives noch ein richtiges Textverstehen“.11 Im Hinblick auf literarische Texte mögen beide Aussagen nachvollziehbar sein. Das Wesen der Heiligen Schrift bleibt damit jedoch unterbestimmt. Deshalb ist es wichtig, auf die Nichtidentität von Schrift und Offenbarung hinzuweisen. Die Schrift ist nicht die Offenbarung Gottes, sondern sie bezeugt die Offenbarung Gottes. Das Christentum ist keine Buchreligion.12 Dadurch wird die Bibel nicht abgewertet. Das 9

F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas (EKK III/1), Neukirchen-Vluyn 1989, 114. 10 C. Frevel, Recht des Textes (s. Anm. 5), 175f. 11 Ebd. 12 Vgl. dazu R. Voderholzer, Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung. Bausteine zu einer christlichen Bibelhermeneutik, Regensburg 2013, 37– 49: „Offenbarung ist ein personales Geschehen … Daraus folgt für das Wesen der Heiligen Schrift die alles entscheidende Einsicht, dass sie nicht unmittelbar selbst Offenbarung ist. Vielmehr ist die Heilige Schrift als Buch der Kirche Offenbarungszeugnis … Das Christentum ist dementsprechend keine ‚Buchreligion‘, wenn darunter verstanden werden soll, dass die Bibel unmittelbar das Wort Gottes

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Gegenteil ist der Fall. Sie rückt damit in das Licht, in dem sie in rechter Weise zu verstehen ist. Deshalb halte ich an meinem Plädoyer fest, „dass die Ergebnisse der historischen Forschung in das traditionelle Modell der Bibelhermeneutik zu integrieren sind, nicht umgekehrt.“13 Christian Frevel zitiert den Satz korrekt, interpretiert ihn aber im Sinne einer „Subordination der historisch-kritischen Forschung“.14 Seine Kritik lautet, dass in meinem Modell der Schriftauslegung das historisch-kritische Element unterbestimmt sei.15 Ich möchte im Folgenden darlegen, dass das nicht der Fall ist. Weder verliert die Exegese dadurch ihre kritische Funktion, noch büßt sie dabei ihren Charakter als Wissenschaft ein.

1. Das Problem der Vielstimmigkeit Christian Frevel äußert den Verdacht, dass sich in „der Ablehnung der methodisch gebundenen Exegese … zunehmend eine Ablehnung der Vielstimmigkeit der Moderne“ maskiere. Sie erfreue sich „vor allem in neokonservativen Kreisen großer Beliebtheit.“16 Darauf ist zu antworten, dass die Ursache der von ihm diagnostizierten Problematik eine andere ist. Zunächst ist daran zu erinnern, dass gerade die Exegese der Frühen Kirche und des Mittelalters selbstverständlich davon ausging, dass biblische Texte vielfältige Auslegungen zulassen. Die Vielfalt konnte sich sowohl in vertikaler enthält. Gerade darin unterscheidet sich das Christentum vom Islam und dessen heiligem Buch, dem Koran. Der Islam mit seiner Identifizierung von Koran und unmittelbarem Wort Gottes erfüllt die Definition von Buchreligion. Es ist in diesem Zusammenhang, Christentum und Islam vergleichend, auch schon von Inkarnation (Fleischwerdung des Wortes) und Inlibration (Buchwerdung des Wortes) gesprochen worden“ (46f.). 13 L. Schwienhorst-Schönberger, Wiederentdeckung des geistigen Schriftverständnisses. Zur Bedeutung der Kirchenväterhermeneutik, in: ThGl 101 (2011) 402– 425, 422. Vgl. ders., Zwei antagonistische Modelle (s. Anm. 4), 527. 14 C. Frevel, Recht des Textes (s. Anm. 5), 148. 15 Christian Frevels These ist, „dass darin die kritische Funktion des methodischen Zugangs zu gering bewertet wird und unter der Voraussetzung, dass Schriftauslegung und Exegese identifiziert werden, einer wissenschaftlichen Exegese die Basis genommen wird“; ebd., 149. 16 Ebd., 138.

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als auch in horizontaler Weise entfalten. Eine vertikale Vielfalt kommt in der Lehre vom vierfachen Schriftsinn zum Vorschein. Dieser beginnt mit der wörtlichen Auslegung (sensus litteralis – nicht zu verwechseln mit einer buchstäblichen Auslegung) und schreitet über die allegorische und tropologische zur anagogischen Auslegung hinauf. Die letzten drei Schriftsinne werden auch als der geistige Sinn (sensus spiritualis) der Schrift bezeichnet. Den vierfachen Schriftsinn sah man in den vier Flüssen des Paradieses (Gen 2,10 –14) und in den vier auf die Evangelien verweisenden Lebewesen in der Vision des Propheten Ezechiel angedeutet (Ez 1). Der dreifachen Entfaltung des geistigen Sinnes entsprechen die drei göttlichen Tugenden Glaube („allegorisch“), Liebe („tropologisch“), Hoffnung („anagogisch“). Die Tradition ging mit diesem Modell in sehr kreativer Weise um. Nicht jeder biblische Text konnte und sollte in dieses Schema gepresst werden.17 Es gibt rein fiktive Texte, so Origenes, denen hinsichtlich des in ihnen erzählten Geschehens keine historische Bedeutung zukommt.18 Und doch spiegelt sich in dem bekannten Distichon: „Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia“ so etwas wie der „Gesamtbau des christlichen Denkens“.19 In ihm zeigt sich, dass die theologische Wissenschaft wesentlich als Wissenschaft von der Heiligen Schrift verstanden wurde.20 Auch auf der horizontalen Ebene der einzelnen Schriftsinne gab es eine Vielzahl an unterschiedlichen Auslegungen. Zumindest galt dies für die drei geistigen Schriftsinne. Die Vielzahl wurde als Reichtum und nicht als Problem empfunden. Um der Gefahr willkürlicher Deutungen zu begegnen, entwickelte die Tradition ein reflek17 Vgl. H. de Lubac, Typologie – Allegorie – Geistiger Sinn. Studien zur Geschichte der christlichen Schriftauslegung. Aus dem Französischen übertragen und eingeleitet von R. Voderholzer, Freiburg i. Br. 1999, 319 –341. 18 Origenes, De principiis IV,2,5 (Ausgabe: H. Görgemanns/H. Karpp [Hrsg.], Origenes: Vier Bücher von den Prinzipien, Darmstadt 1976). 19 H. de Lubac, Ein altes Distichon. Die Lehre vom „vierfachen Schriftsinn“ (1948), in: Ders., Typologie (s. Anm. 17), 319 –341, 328f. Zur Problematik und zum rechten Verständnis des Merkverses vgl. M. Reiser, Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift (WUNT 217), Tübingen 2007, 139 –145. 20 Vgl. C. Lohr, Mittelalterliche Theologien, in: P. Eicher (Hrsg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe. Bd. 3, München 1985, 128: „Im Grunde genommen war und blieb die mittelalterliche Wissenschaft Exegese.“

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tiertes Verfahren der Sinnbegrenzung. Dazu gehörten vor allem die Berücksichtigung der Einheit der Schrift und die Rückbindung der Auslegung an die regula fidei. Beide Prinzipien sind keine der Bibel von außen auferlegte Regeln, sondern regulative Ideen, die aus dem Studium der Heiligen Schrift selbst hervorgegangen sind. Ebenso wusste man, dass die Exegese mit offenen Fragen und Unsicherheiten auskommen muss. Origenes beispielsweise gibt zu bedenken, dass es oft schwer zu entscheiden ist, ob eine biblische Erzählung einen historischen Kern aufweist oder rein fiktiv zu verstehen ist: „Der wissenschaftlich Gebildete wird … in manchen Fällen schwanken und ohne eingehende Prüfung nicht entscheiden können, ob der betreffende als geschichtlich geltende Bericht im Wortsinne geschehen ist oder nicht und ob der Wortlaut eines bestimmten Gebotes zu befolgen ist oder nicht.“21 Augustinus wusste um unterschiedliche Deutungen der Schöpfungserzählung. Er konnte alle unterschiedlichen Deutungen akzeptieren, vorausgesetzt, sie führen zur Erkenntnis der Wahrheit.22 Der letzte Punkt ist allerdings entscheidend. Darauf wird noch näher einzugehen sein. Ein Unbehagen an der Vielheit der Interpretationen kam mit Beginn der neuzeitlichen Schriftauslegung auf. Den unkontrollierten Allegorisierungen sollte durch eine strenge, am mathematisch-na-

21

Origenes, De principiis IV,3,5 (s. Anm. 18). Augustinus, Confessiones XII, 17–31 (Übersetzung von Joseph Bernhart, München 31966): „All diese Deutungen höre ich und bedenke sie, aber ich will nicht um Worte streiten, es taugt zu nichts als zur Verstörung der Zuhörer – da man doch Verschiedenes, aber gleichwohl die Wahrheit Treffendes, unter diesen Worten verstehen kann“ (18). „Wenn also einer mich fragt, was von all dem nun eigentlich Dein Diener Moses gemeint habe, so wäre dieses Werk hier nicht das Buch meiner Bekenntnisse, wollte ich Dir nicht bekennen: ich weiß es nicht. Gleichwohl, das weiß ich, dass die angeführten Deutungen wahr sind“ (30). „Also, wenn einer sagt: ‚Das hat Mose so gemeint, wie ich es versteh‘, und ein anderer: ‚Nein, so wie ich‘, dann ist es, glaube ich, ehrfürchtiger, wenn ich sage: Warum nicht lieber beides, wenn doch beides wahr ist (si utrumque verum est)? Und wenn einer noch einen dritten, einen vierten und irgend sonst einen wahren Sinn in diesen Worten sieht, – warum soll man diese Gedanken alle nicht auch dem Manne zutrauen, durch den der Eine Gott durch seine Heilige Schrift dem Verstande der Vielen so entsprochen hat, dass sie darin Wahres auch bei verschiedener Deutung sollten erschauen können (per quem deus unus sacras litteras vera et diversa visuris multorum sensibus temperavit)“ (31). Vgl. auch De genesi ad litteram libri duodecim I,36 – 41. 22

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turwissenschaftlichen Modell orientierte Methode der Schriftauslegung Einhalt geboten werden. Baruch de Spinoza hat bekanntlich ein solches Programm in Grundzügen entworfen.23 Mit diesem Programm einer wissenschaftlichen Exegese verband sich die Hoffnung, konfessionelle Gegensätze überwinden zu können. Von daher handelt es sich nicht um eine Einzelstimme, wie Christian Frevel behauptet, wenn in einem einflussreichen exegetischen Methodenbuch der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts „das Ziel jeder Exegese“ darin gesehen wird, „einen Text auf Eindeutigkeit hin einzuengen“.24 Darin drückt sich eine Mentalität aus, die das Verständnis der neuzeitlichen Exegese tief und nachhaltig prägte. Es war durchaus üblich, Studierenden im exegetischen Proseminar beizubringen, dass die Lehre vom vierfachen Schriftsinn wissenschaftlich nicht zu halten sei. Dieses monolithische Wahrheitsverständnis: „ein Text – eine Bedeutung“ ist nun, wie allseits bekannt, postmodern aufgebrochen worden. An der Einsicht in die Vieldeutigkeit (Polysemie) und Vielstimmigkeit (Polyphonie) literarischer und folglich auch biblischer Texte geht kein Weg mehr vorbei. Das sieht auch Christian Frevel so. Formal gesehen besteht in dieser Erkenntnis eine Affinität zur patristischen und mittelalterlichen Schrifthermeneutik, die immer mit einer mehrfachen und vielschichtigen Bedeutung biblischer Texte rechnete. Allerdings gibt es zwischen der postmodern (wieder-)entdeckten Vielstimmigkeit und der Vielstimmigkeit, wie sie von der christlichen Bibelhermeneutik verteidigt wurde, einen gravierenden Unterschied. Vor dem Hintergrund dieses Unterschieds lässt sich das seit einigen Jahrzehnten aufgebrochene Unbehagen an der modernen Vielstimmigkeit der Exegese verstehen. Dieses, so scheint mir, entzündet sich nicht an der Vielstimmigkeit an sich, sondern an einer damit verbundenen Einstellung. Wenn die Einsicht in die Vielstimmigkeit

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Vgl. dazu L. Schwienhorst-Schönberger, Einheit und Vielheit. Gibt es eine sinnvolle Suche nach der Mitte des Alten Testaments?, in: F.-L. Hossfeld (Hrsg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie (QD 185), Freiburg i. Br. 2001, 48 – 87. Zum Verhältnis von Spinoza und Richard Simon vgl. M. Reiser, Bibelkritik (s. Anm. 19), 185 –217. 24 G. Fohrer/H. W. Hoffmann/F. Huber/L. Markert/G. Wanke, Exegese des Alten Testaments. Einführung in die Methodik, Heidelberg 1973, 31979, 155.

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der Bibel und in die Vieldeutigkeit ihrer Texte verbunden mit der Vielstimmigkeit der Auslegungen zu der Auskunft oder zu dem Eindruck führt, dass die von der Bibel bezeugte Wahrheit nicht mehr zu erkennen sei, sondern eben nur noch eine Vielfalt an Meinungen, dann ist ein Punkt erreicht, der als höchst problematisch anzusehen und der mit der kirchlichen Lehre von der Heiligen Schrift als dem Zeugnis des Wortes Gottes und dem Selbstverständnis der Bibel nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen ist. Faktisch begegnet man nicht selten dieser Auffassung. Wer nach der Wahrheit der Bibel fragt, bekommt nicht selten die Auskunft, dass es „die“ Wahrheit der Bibel nicht gibt. Hierin scheint mir ein signifikanter Unterschied zwischen dem zeitgenössischen, postmodern inspirierten „vielfachen“ Schriftsinn und dem vierfachen Schriftsinn der kirchlichen Tradition zu liegen. Die Tradition vertrat die Ansicht, dass die eine Wahrheit in der Vielfalt und im Reichtum ihrer Stimmen vernehmbar sei. Die eine Wahrheit artikuliert sich in der Vielfalt ihrer Stimmen. Die Tradition bemühte sich um eine reflektierte Vermittlung von Einheit und Vielheit. Die Einheit der Schrift steht nicht im Widerspruch zu den vielen Büchern der Heiligen Schrift, sondern drückt sich in ihnen aus. So konnte das Wort „Biblia“ als Plural und Singular zugleich aufgefasst werden. Die vielen Bücher der Bibel sind zugleich ein Buch. Dass darin eine Entsprechung zum trinitarischen Gottesbild des christlichen Glaubens gesehen wurde, sei an dieser Stelle nur angemerkt. Diese biblische Hermeneutik entspricht einer Philosophie, in der sich Einheit und Vielheit gegenseitig bedingen und nicht getrennt voneinander gedacht werden können. Als einer der wichtigsten Vertreter dieses Denkansatzes ist Nikolaus Cusanus zu nennen. Seiner Auffassung zufolge spiegelt sich die eine göttliche Wahrheit in allen Geschöpfen stets auf je eigene Weise. Dass sie von den Menschen in je einzigartiger perspektivischer Einschränkung erkannt wird, bedeutet nicht, dass es keine Wahrheit gibt. Der Pluralismus der Perspektiven besagt vielmehr, dass immer die ganze Wahrheit auf je eigene Weise erkannt wird. Die Vielzahl der Ausfaltungen, in denen sich die eine Wahrheit zeigt, verweist auf die Fruchtbarkeit und den Reichtum des Ursprungs. In der Neuzeit ging die Fähigkeit, Einheit und Vielheit zusammenzudenken, nicht selten verloren. Das hing nicht nur mit neuen

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historischen Erkenntnissen zusammen, wie oft behauptet wird, sondern auch und vor allem mit fundamentalen Verschiebungen im Offenbarungsverständnis, aber auch im philosophischen und wissenschaftlichen Denken insgesamt.25 Mit einem univoken Verständnis von Einheit konnte die Vielheit nicht mehr als Ausdruck der Einheit verstanden werden. Die Einheit der Schrift, so sagte man nun, sei ein dogmatisches Konstrukt und historisch nicht mehr haltbar.26 In der Bibel sah man jetzt nur noch eine Bibliothek. Das Bild hat in viele Religionsbücher Einzug gehalten. Es ist nicht falsch, doch es zeigt nur die halbe Wahrheit an. Diese Entwicklung zeitigt mittel- und langfristige Auswirkungen in der Pastoral und in der Glaubensvermittlung, die wir heute zu spüren bekommen. Wer sich bei der Suche nach der Wahrheit an die Heilige Schrift wendet und von Fachleuten, die sich von Berufs wegen mit der Auslegung der Bibel befassen, die Auskunft erhält, dass es die Wahrheit, die sie suchen, dort nicht gibt, sondern nur sehr unterschiedliche theologische Konzepte, die sich in einigen Punkten sogar widersprechen, wird zu Recht enttäuscht sein. Eine solche Auskunft mag zwar historisch interessant sein, letztlich ist sie jedoch unbefriedigend. Das Wort Henri de Lubacs: „Der Gläubige wird in der Bibel immer mehr suchen als das ‚Verständnis der Vergangenheit‘“27 gilt nicht nur für den Gläubigen, sondern für jeden Menschen, der nach der Wahrheit sucht. Wenn dem Suchenden im hehren Gestus eines historischen Problembewusstseins von Seiten der Bibelwissenschaft eine solche Auskunft verweigert wird, kann dies auf kurz oder lang zu fundamentalistischen Gegenreaktionen führen, die die Vielstimmigkeit der Bibel und die Vielstimmigkeit ihrer Auslegungen ebenso wie die historisch-kritische Forschung als eine Bedrohung empfinden und nach einer Eindeutigkeit rufen, die es so nicht gibt. Möglicherweise ist auch 25

Mit Blick auf den Ursachenbegriff lässt sich zwischen dem Ende des Spätmittelalters und dem Beginn der Neuzeit eine ähnliche Tendenz zur Reduktion eines ursprünglich komplexeren Prinzipienschemas beobachten wie in der Geschichte der exegetischen Methode: Das vierfache Ursachenmodell der aristotelischen Naturphilosophie und Metaphysik wird von der neuzeitlichen Physik verworfen, so dass allein die Wirkursächlichkeit (causa efficiens) als wissenschaftlich sinnvoller Kausalitätsbegriff übrig bleibt. 26 Zu den Belegen vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, Einheit und Vielheit (s. Anm. 23), 49 –53. 27 H. de Lubac, Typologie (s. Anm. 17), 74.

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der neuerdings zu vernehmende Ruf, dass die Bibel zu wichtig sei, als dass man sie den Exegeten überlassen dürfe, als Reaktion auf eine solche Entwicklung zu verstehen. Es ist zu wenig, fundamentalistische Bibelauslegungen zu verurteilen, wir müssen uns auch selbstkritisch fragen, ob wir als Exegeten zur Entstehung dieser problematischen Entwicklung beigetragen haben. Es wäre zu fragen, ob das fundamentalistische Verständnis der Schrift nicht in gewisser Weise als eine spiegelbildliche Entsprechung zu der historisch-kritischen Behauptung eines vermeintlich „eindeutigen“ historischen Schriftsinnes zu verstehen ist. Beide können mit der „Vielfalt der Weisen“ (Cusanus), in der sich die eine Wahrheit artikuliert, nicht umgehen. Interessant ist jedenfalls, dass das Nachsynodale Apostolische Schreiben Verbum Domini von Papst Benedikt XVI., das sich für ein erneutes „Hören auf die Kirchenväter und ihren exegetischen Ansatz“ ausspricht (37), die fundamentalistische Auslegung der Schrift ausdrücklich verurteilt: „Die von der fundamentalistischen Lesart befürwortete ‚Wörtlichkeit‘ ist nämlich in Wirklichkeit ein Verrat sowohl am wörtlichen als auch am geistlichen Sinn … Das Christentum vernimmt … in den Wörtern das Wort, den Logos selbst, der sein Geheimnis durch diese Vielfalt und durch die Wirklichkeit einer menschlichen Geschichte hindurch ausbreitet“ (44).28 Das Problem ist also nicht die Vielstimmigkeit an sich, sondern die damit verbundene Überzeugung, dass die Wahrheit in den vielen Stimmen nicht mehr zu finden sei. Zur Veranschaulichung sei ein Vergleich aus der Medizin herangezogen. Bei der Heilung einer Krankheit gibt es oft unterschiedliche Methoden. Ein gut ausgebildeter Arzt weiß darum. Einige dieser Methoden mögen in Spannung und Widerspruch zueinander stehen. In einer konkreten Situation muss sich der Arzt für die Anwendung einer Methode oder einer Kombination von Methoden entscheiden. Dabei gibt er sein Wissen um die Vielfalt der Methoden nicht auf. Würde sein Wissen um die Vielfalt der Methoden aber dazu führen, dass er bei einer vorliegenden Krankheit seine ärztliche Heilkunst nicht zur Anwendung bringt, weil es eben unterschiedliche Methoden gibt und niemand mit Sicherheit sagen kann, was die wahre Methode sei, würde er

28

Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini (s. Anm. 1).

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dem Anspruch seines Berufes nicht gerecht. Das wäre ein Relativismus, der leicht zum Tode führen kann.

2. Die geschichtliche Dimension der Texte Nicht erst die historisch-kritische Exegese ist „als Anwalt der geschichtlichen Dimension der Texte“29 in Erscheinung getreten. Hier gilt es zu unterscheiden. Bei den klassischen biblischen Erzählungen rechnete die Tradition gewöhnlich mit einem bedeutend höheren Grad an Historizität, als es die neuzeitliche Bibelwissenschaft tat und tut. Natürlich war man mit dem literarischen Phänomen der Fiktionalität vertraut. Auch wusste man, dass die von der Tradition den biblischen Büchern zugeschriebenen Autoren nicht immer mit den tatsächlichen Autoren übereinstimmen. Hieronymus beispielsweise vertrat die Ansicht, dass die Sapientia Salomonis nicht von Salomo verfasst sei, was auch heute so gesehen wird. Gregor der Große diskutierte die Frage, ob das Buch Ijob von Ijob selbst oder von einem anderen verfasst worden sei. Er kommt nach Abwägung des Pro und Contra zu der Ansicht, dass es doch wohl wahrscheinlich sei, dass derjenige, der all das erlitten habe, auch die Erzählung, die davon handelt, verfasst habe. Gewöhnlich ging die Tradition davon aus, dass das in der Bibel Erzählte mehr oder weniger auch so geschehen sei. Diesbezüglich ist die neuzeitliche Exegese weitaus zurückhaltender eingestellt. Da die Tradition die Wahrheit eines biblischen Textes aber nicht mit seiner historischen oder naturwissenschaftlichen Richtigkeit identifizierte, hatte sie in dieser Hinsicht einen gewissen Spielraum. Nach Augustinus will die Bibel uns nicht über den Lauf der Gestirne in Kenntnis setzen.30 Die Probleme zu 29

C. Frevel, Recht des Textes (s. Anm. 5), 131. Augustinus, Contra Felicem Manichaeum I,10: „non legitur in Evangelio Dominum dixisse: Mitto vobis Paracletum qui vos doceat de cursu solis et lunae. Christianos enim facere volebat, non mathematicos. Sufficit autem ut homines de his rebus, quantum in schola didicerunt, noverint propter humanos usus. Christus autem venturum Paracletum dixit, qui inducat in omnem veritatem; sed non ibi ait: Initium, medium et finem; non ait: Solis et lunae cursus. Aut si putas hanc doctrinam ad illam veritatem pertinere, quam per Spiritum sanctum Christus promisit, interrogo te quot sint stellae.“ Vgl. auch: De genesi ad litteram I,39. 30

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Beginn der Neuzeit und vor allem im 19. Jahrhundert entstanden, als man den geistigen Sinn der Schrift aus den Augen verlor und die Wahrheit eines biblischen Textes mit der positivistischen Verifizierbarkeit der in ihm enthaltenen historischen oder naturwissenschaftlichen Aussagen gleichsetzte. In diesen Auseinandersetzungen gehörten interessanterweise die Verteidiger eines allegorischen Verständnisses zu der „modernen Richtung“. Henri de Lubac weist darauf hin, dass sich Kirche und Theologie viel Ärger erspart hätten, wenn sie hinsichtlich der biblischen Schöpfungserzählung der Auslegung des Origenes gefolgt wären, der die Ansicht vertrat, dass es sich hierbei nicht um einen historischen Bericht handele.31 Was die exakte historische Verortung biblischer Texte anbelangt, so ist die moderne Bibelwissenschaft der Tradition in vielen Fällen weit überlegen. Sie stellt ein enormes Wissen über die antiken Kulturen zur Verfügung, welches für das Verständnis biblischer Texte von großer Bedeutung ist. Vor allem im Hinblick auf die mittelalterliche Schriftauslegung ist hier von einem echten und bedeutenden Fortschritt zu sprechen. Auch die Theologen der Frühen Kirche waren keine Historiker im modernen Sinn. Allerdings ist zu bedenken, dass sie aufgrund ihrer zeitlichen und kulturellen Nähe zu den biblischen Texten und ihren Denkformen manches vielleicht doch besser verstanden haben als eine Exegese, die zwar viele Quellen kennt, sich oft aber schwertut, die in diesen Quellen zur Sprache kommenden Lebens- und Denkformen von innen her zu verstehen. Zumindest bin ich beim Vergleich alter und moderner Auslegungen zurückhaltend geworden, der modernen Auslegung, die sich als

31 Origenes, De principiis, IV,3,1 (s. Anm. 18): „Welcher vernünftige Mensch wird annehmen, ‚der erste, zweite und dritte Tag sowie Abend und Morgen‘ (vgl. Gen. 1,5 –13) seien ohne Sonne, Mond und Sterne geworden und der sozusagen erste sogar ohne Himmel? Wer ist so einfältig zu meinen, ‚Gott habe‘ wie ein Mensch, der Bauer ist, ‚im Osten einen Park in Eden gepflanzt‘ und darin einen sichtbaren und mit den Sinnen wahrnehmbaren ‚Baum des Lebens‘ geschaffen, so dass man, wenn man seine Frucht mit den leiblichen Zähnen genoss, das Leben empfing, dagegen am ‚Guten und Bösen‘ Anteil erhielt, wenn man von dem entsprechenden Baum nahm und aß? (vgl. Gen. 2,8f.) Wenn es weiter heißt, ‚Gott sei am Abend im Park gewandelt‘ und ‚Adam habe sich unter dem Baume versteckt‘ (vgl. Gen. 3,8), dann wird, glaube ich, niemand daran zweifeln, dass dies bildlich mittels einer nur scheinbar und nicht leibhaftig geschehenen Geschichte auf gewisse Geheimnisse hinweist.“

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„wissenschaftlich“ präsentiert, von vornherein mehr Vertrauen entgegenzubringen als der älteren. Oft zeigt sich erst in einem gewissen zeitlichen Abstand, wie sehr doch auch die vermeintlich „wissenschaftlichen“ Auslegungen der Neuzeit bis in unsere Gegenwart hinein von den Anschauungen und Vorlieben ihrer jeweiligen Zeit und den konfessionellen Prägungen ihrer Vertreter durchdrungen sind. Generell lässt sich beobachten, dass in den zurückliegenden Jahren die Wertschätzung der Auslegungsgeschichte deutlich gestiegen ist. Darin sehe ich eine große Bereicherung für das Verständnis der Heiligen Schrift. Deshalb plädiere ich dafür, dass sich die heutige Bibelwissenschaft in eine Tradition stellt, die mit den ersten Auslegungen der Schrift beginnt. Soweit ich sehe, geht der Trend eindeutig in diese Richtung. Die noch vor einigen Jahren verbreitete Einstellung, Exegese in einem wissenschaftlichen Sinn beginne erst im 18. oder 19. Jahrhundert mit der protestantisch geprägten Bibelwissenschaft, ist eindeutig im Rückzug begriffen. Im 18. und 19. Jahrhundert entstand in Europa ein spezifisches Wissenschaftsmodell, das auch auf die Erforschung der Bibel angewandt wurde.32 Dieses Modell hatte Stärken und Schwächen. Bedingt durch die Grundlagenkrise der Wissenschaften Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts waren vor allem die Naturwissenschaften, die Mathematik und die Logik dazu genötigt, ihre vermeintlich unerschütterlichen Prinzipien, Grundbegriffe und methodologischen Fundamente auf den Prüfstand zu stellen und teilweise zu revidieren bzw. neu zu fassen. Gerade insofern die Bibelwissenschaft beansprucht, eine Wissenschaft zu sein, kann und darf auch sie sich einer kritischen Prüfung ihrer Grundbegriffe und Prinzipien nicht verweigern. Henri de Lubac weist darauf hin, dass auch bei der starken Betonung der allegorischen Auslegung, wie sie im Mittelalter üblich war, das historische Gewebe der Texte niemals aufgelöst wurde.33 Es ist also nicht so, dass erst die historisch-kritische Exegese die historische Dimension biblischer Texte entdeckt hat und so ein unaufgebbares Bollwerk gegen eine gnostische Auslegung der Schrift errichte32

Vgl. T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 –1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983 (Nachdruck 2013), 484 –533; ders., Deutsche Geschichte 1866 –1918. Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990 (Nachdruck 2013), 602– 691. 33 H. de Lubac, Typologie (s. Anm. 17), 329.

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te. Gegen die Gnostiker hat bereits Irenäus von Lyon die Bibel verteidigt und dabei einige nach wie vor gültige Regeln der Schriftauslegung entwickelt. Eine davon ist die Lehre von der Einheit der Schrift, eine andere die der regula fidei. Die neuzeitliche Bibelwissenschaft hat die historische Frage im Rahmen eines veränderten Wissenschaftsmodells differenziert. Einige ihrer Differenzierungen haben sich bewährt und sind unaufgebbar. Andere haben sich im Laufe des wissenschaftlichen Fortschritts als überholt erwiesen. Prinzipiell also steht die neuzeitliche Bibelwissenschaft mit der Akzentuierung der historischen Fragestellung in einer Tradition, die sie nicht begründet, sondern vorgefunden hat. Die Erforschung der historischen Dimension biblischer Texte ist wichtig und unaufgebbar. Sie darf jedoch nicht zur einzigen Aufgabe der Exegese werden. Andernfalls droht die Gefahr, dass die Bibel zu einem Buch der Vergangenheit wird und nur noch von historischem Interesse ist. Das aber widerspräche ihrem Selbstverständnis. Auch in wissenschaftlicher Hinsicht wäre mit einem rein historischen Ansatz nichts gewonnen. Edmund Husserl hat gezeigt, „dass der Historizismus konsequent durchgeführt in den extremen skeptischen Subjektivismus übergeht. Die Ideen Wahrheit, Theorie, Wissenschaft würden dann, wie alle Ideen, ihre absolute Gültigkeit verlieren.“34

3. Zum Begriff „historisch-kritische Exegese“ Bei der Diskussion hängt viel an der Frage, was unter „historischkritischer Exegese“ zu verstehen ist. Gewöhnlich wird darunter eine Form der Schriftauslegung verstanden, die im 18. Jahrhundert mit der Entstehung der historischen Disziplinen entstanden ist und die sich hinsichtlich der von ihr präsentierten Ergebnisse deutlich von den Auslegungen der vorangehenden Jahrhunderte unterschied. Sie trat gewöhnlich mit dem Anspruch auf, die Bibel frei von den theologischen und spirituellen Traditionen ihrer Rezeptionsgemeinschaften, Kirche und Synagoge, zu erforschen. Sie verstand sich als eine streng historische Disziplin, die nach der Entstehung und der ursprünglichen Bedeutung der biblischen Schriften fragt. Viele bis da34

E. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, 1911, 69 (zitiert nach der Ausgabe: Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M. 1965, 51).

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hin gültige Ansichten vor allem über die Entstehung und die zeitliche Verortung biblischer Bücher wurden mit guten Gründen widerlegt. Deshalb spricht man in diesem Zusammenhang auch von der modernen Bibelkritik. Sie wird gewöhnlich mit der geistigen Epoche der Aufklärung in Verbindung gebracht. Thomas Söding nennt sie „ein hermeneutisches Projekt der Neuzeit, das den ursprünglichen Schriftsinn vom Traditionssinn unterscheiden will und deshalb in großer Flexibilität eine Vielzahl von philologischen, historischen, soziologischen Methoden akzentuiert und integriert.“35 Marius Reiser hat in einer Reihe von Studien gezeigt, dass viele verbreitete Vorstellungen über die Entstehung der historisch-kritischen Exegese nicht mehr haltbar sind.36 Er findet ihre Anfänge bei den Humanisten des 16. Jahrhunderts. Unter den humanistischen Gelehrten, die abseits der scholastisch geprägten Universitätstheologie forschten und miteinander in Verbindung standen, verlagerten sich die biblischen Untersuchungen von den theologischen und spirituellen Deutungen hin zu philologischen und historischen Forschungen. Reiser verweist in diesem Zusammenhang auf die Blüte der Bibelwissenschaft im katholischen Spanien des 16. Jahrhunderts, wo unter der Leitung des Kardinals Ximénez de Cisneros die große Complutenser Polyglotte entstand. Der im Jahre 1514 erschienene Band mit dem Neuen Testament enthielt das erste griechisch-lateinische Lexikon der im Neuen Testament verwendeten Begriffe. Reiser weist mit anderen Forschern darauf hin, dass die spanische Bibelphilologie des 16. Jahrhunderts nicht durch die Reformation angestoßen wurde, sondern, zumindest was das Alte Testament betrifft, „als eine letzte Blüte mittelalterlicher hebräischer Wissenschaft“ zu verstehen ist.37 Die hermeneutischen Grundannahmen der Schriftauslegung, die seit der Väterzeit in Geltung standen, wie vor allem die Inspiration der Schrift und die Bedeutung der regula fidei für die Auslegung, blieben bei den Humanisten wie bei den Reformatoren weiterhin in Geltung. Die Hinwendung zu philologischen und historischen Fragen „war nur eine Akzentverschiebung, nicht etwas wirklich Neues. Auch Origenes und Hieronymus waren, wie Richard Simon immer wieder hervorhebt, kompetente Kritiker, und sie 35 36 37

T. Söding, Theologie mit Seele (s. Anm. 3), 506. M. Reiser, Bibelkritik (s. Anm. 19), 1–38. Ebd., 19; 31.

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konnten ein geradezu modernes Niveau historischer Reflexion erreichen.“38 Zu einem Bruch mit der Tradition führte erst die Entwicklung im 18. Jahrhundert. Die bisher gültigen hermeneutischen Prinzipien wurden aufgegeben. An die Stelle der regula fidei trat die Vernunft des Einzelnen mit den durch die Aufklärung vorgegebenen Plausibilitäten. Der Bibel wurde ihr übernatürlicher Charakter abgesprochen. „Die biblischen Autoren wurden als fehlbare Kinder ihrer unaufgeklärten Zeit hingestellt.“39 Vor diesem Hintergrund ist die Einstellung der Katholischen Kirche zur historisch-kritischen Exegese zu verstehen. Ihre streckenweise konfliktreiche Entwicklung soll hier nicht nachgezeichnet werden.40 Inzwischen ist eine sehr ausgewogene und intellektuell redliche Position erreicht, die auch von protestantischer Seite Anerkennung gefunden hat. Die katholische Bibelhermeneutik ist aus der Krise gestärkt hervorgegangen. Verworfen werden lediglich einige nicht haltbare hermeneutische Prämissen der historisch-kritischen Exegese, die vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Gemeingut intellektueller Kreise geworden sind und in popularisierter Form bis in unsere Zeit hinein wirken. Natürlich kann man den Begriff „historisch-kritische Exegese“ auch in einem normativen Sinn verstehen und so weit fassen, dass sich darunter jede Form von Exegese subsumieren lässt, die die historische Dimension der Bibel ernst nimmt und zwischen wahrer und falscher, zwischen angemessener und weniger angemessener Auslegung unterscheidet (krinein). Nimmt man noch die angeführten hermeneutischen Prinzipien hinzu, dann war eine so verstandene Exegese in der Geschichte der Theologie immer eine historisch-kritische. Ein solcher Sprachgebrauch wäre allerdings ungewöhnlich. Deshalb empfiehlt es sich, die Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament einfach Bibelwissenschaft zu nennen. Ihre Auslegung wäre dann als Schriftauslegung oder als Exegese zu bezeichnen. In ihrer langen Geschichte hat sie unterschiedliche Entwicklungen durchlaufen. Verschiedene Richtungen und Methodenschritte haben sich herausgebil38

Ebd., 18. Ebd., 22. 40 Vgl. H. W. Seidel, Die Erforschung des Alten Testaments in der katholischen Theologie seit der Jahrhundertwende. Herausgegeben und eingeleitet von C. Dohmen (BBB 86), Frankfurt a.M. 1993. 39

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det. Einige haben sich gehalten, andere sind wieder verschwunden. Im 18. und 19. Jahrhundert entstand eine Richtung, die gewöhnlich als „historisch-kritisch“ bezeichnet wird. Diese war aber nicht etwas völlig Neues, sondern eine Entfaltung dessen, was in den Anfängen der Exegese bereits angelegt war. Wenn gesagt wird, die historisch-kritische Exegese sei aufgrund der inkarnatorischen Struktur des christlichen Glaubens notwendig, muss man sich über die genaue Bedeutung dieses Begriffs verständigen. Hin und wieder wird die Aussage so verstanden, als habe erst die in der Neuzeit entstandene Gestalt der historisch-kritischen Exegese den inkarnatorischen Charakter des christlichen Glaubens ernst genommen. Das ist natürlich Unfug. Notwendig ist „historisch-kritische Exegese“ hinsichtlich des inkarnatorischen Charakters des Christentums insofern, als die biblischen Geschichten nicht ausschließlich und durchgehend als rein fiktionale Texte zu verstehen sind. Sie sind nicht nur „ausgedacht“, sondern ihnen liegen Fakten zugrunde – in welcher Form und in welchem Ausmaß auch immer. In diesem Sinne war auch die Exegese der Kirchenväter historisch und kritisch. Darin unterschied sie sich von den hermeneutischen Systementwürfen der Gnosis.

4. Integration der historisch-kritischen Exegese in die Bibelwissenschaft Das Nachsynodale Apostolische Schreiben Verbum Domini von Papst Benedikt XVI. spricht ausdrücklich vom Nutzen, „der dem Leben der Kirche aus der historisch-kritischen Exegese und den anderen Methoden der Textanalyse, die in jüngerer Zeit entwickelt wurden, erwachsen ist“ (32). Das Schreiben weist allerdings auch darauf hin, dass dabei die zentralen Elemente der katholischen Bibelhermeneutik zu berücksichtigen sind: „1) Auslegung des Textes mit Rücksicht auf die Einheit der ganzen Schrift – das wird heute kanonische Exegese genannt, 2) Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche, und schließlich 3) Beachtung der Analogie des Glaubens. ‚Nur dort, wo beide methodologischen Ebenen, die historisch-kritische und die theologische, berücksichtigt werden, kann man von einer theologischen Exegese sprechen, die allein der Heiligen Schrift angemessen ist‘“ (34). Zu Recht weist das Dokument auf die Gefahr hin, „wenn die Exegese nur auf die erste Ebene reduziert wird“. Dann nämlich „wird

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die Schrift selbst zu einem Buch der Vergangenheit, ‚aus dem man wohl moralische Erkenntnisse ziehen und die Geschichte erfahren kann, aber das Buch als solches spricht nur von der Vergangenheit und es handelt sich um eine nicht wirklich theologische, sondern eine rein historiographische Exegese, Geschichte der Literatur‘. In einer derartigen Verkürzung wird das Ereignis der Offenbarung Gottes durch sein Wort, das in der lebendigen Überlieferung und in der Schrift an uns weitergegeben wird, natürlich in keiner Weise verständlich“ (35). Auch Marius Reiser weist auf die Gefahren einer rein historischen Betrachtung hin: „Die Beschränkung der Exegese auf die historische Forschung und Betrachtungsweise, die eine zeitlang durchaus heilsam war, ist heute zu einer unbefriedigenden Beschränktheit geworden … Die historische und literaturwissenschaftliche Betrachtungsweise muss wieder ergänzt werden durch eine theologische und geistliche Deutung, die auf den Gesamtsinn und die Einheit in der Vielfalt der biblischen Aussagen achtet.“41 Vor diesem Hintergrund wird der von Benedikt XVI. verwendete und von Christian Frevel kritisierte Begriff der eigentlichen Theologie verständlich. Christian Frevel schreibt: „Unverzichtbar, gut und wichtig, das sind zwar auch die Attribute, die Joseph Ratzinger der historisch-kritischen Exegese beilegt. Die historisch-kritische Exegese stehe am Anfang und bilde die unverzichtbare Basis der Auslegung, doch bleibe sie unvollständig und unzureichend. Die kanonische Exegese ‚ist eine wesentliche Dimension der Auslegung, die zur historisch-kritischen Methode nicht in Widerspruch steht, sondern sie organisch weiterführt und zu eigentlicher Theologie werden lässt‘.42 Da es kaum ‚uneigentliche‘ Theologie gibt, scheint es so, als würde sich historisch-kritische Exegese dem ‚inneren Mehrwert des Wortes‘43 gegenüber verschließen. Theologie gibt es nur ‚jenseits‘ der historisch-kritischen Exegese, die damit nur Präliminarien für das ‚Eigentliche‘ zu klären hat.“44 Die hier von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. vorgenommene und von Christian Frevel kritisierte Verortung historisch-kritischer 41

M. Reiser, Bibelkritik (s. Anm. 19), 48. J. Ratzinger, Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg i. Br. 2007, 18. 43 Ebd. 44 C. Frevel, Recht des Textes (s. Anm. 5), 133f. 42

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Exegese im Gesamtgefüge der Schriftauslegung ist meines Erachtens völlig korrekt. Eine Exegese, die sich auf die klassischen Fragen historisch-kritischer Forschung beschränkt, bleibt im Hinblick auf das Selbstverständnis der Schrift defizitär. Noch problematischer wird es, wenn aufgrund dieser Beschränkung und unter Nichtbeachtung der hermeneutischen Prinzipien der Einheit der Schrift und der Analogie des Glaubens weitreichende theologische Aussagen getroffen werden. Gewöhnlich führt das zu Reduktionismen, die dem Ansehen der Exegese geschadet und zu einem verzerrten Verständnis der Heiligen Schrift geführt haben.

5. Wissenschaftliche Exegese und geistliche Schriftlesung (lectio divina) Eine nicht leicht zu klärende Frage ist die nach dem Verhältnis von wissenschaftlicher Exegese und geistlicher Schriftlesung.45 Christian Frevel plädiert für eine deutliche Unterscheidung, um nicht zu sagen: für eine Trennung, wenn er schreibt: „Die Homilie, das Schriftgespräch oder das Bibelteilen sind jedoch im strengen Sinne keine Exegese, sondern Orte, an denen Schriftauslegung in der einen oder anderen Form stattfindet. Jeder Ort erfordert unterschiedliche Methoden und Perspektiven. Es kommt zu fatalen Missverständnissen und Schieflagen, wenn alles über einen Leisten geschlagen wird.“46 Zwischen geistlicher Schriftlesung und wissenschaftlicher Exegese ist in der Tat zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. Wenn der geistige Schriftsinn grundsätzlich aus der wissenschaftlichen Exegese verbannt wird, wird diese steril und geistlos. Zudem widerspräche eine solche Trennung dem biblischen Verständnis von Geschichte. Der Geist zeigt sich in der Geschichte, der geistige Sinn ist im wörtlichen Sinn in verborgener Weise enthalten. Deshalb warnt das Nachsynodale Schreiben Verbum Domini vor der großen Gefahr eines Dualismus, „der heute bei der Beschäftigung mit der Heiligen Schrift aufkommt. Wenn zwischen den beiden Ansatzebenen unterschieden wird, so geschieht dies keinesfalls in der Absicht, sie voneinander zu trennen, noch sie gegeneinander auszuspielen oder sie 45

Zur geistlichen Schriftlesung vgl. grundlegend M. Casey OCSD, Lectio divina. Die Kunst der geistlichen Lesung, St. Ottilien 2010. 46 C. Frevel, Recht des Textes (s. Anm. 5), 135.

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auch einfach nebeneinanderzustellen. Allein in gegenseitiger Abhängigkeit sind sie sinnvoll. Eine Trennung zwischen ihnen, die zu nichts führt, lässt leider nicht selten Exegese und Theologie einander fremd erscheinen, ‚selbst auf höchster akademischer Ebene‘“ (35, Hervorhebung von L. S.-S.). Verbum Domini weist in diesem Zusammenhang „auf die in besonderer Weise besorgniserregenden Folgen“, „die vermieden werden müssen“, hin (35). Fehlt die „Hermeneutik des Glaubens“, so tritt an ihre Stelle unweigerlich eine „positivistische, säkularisierte Hermeneutik“ (60).47 Die Kehrseite der Medaille ist eine „Theologie, die in eine Spiritualisierung des Schriftsinnes abdriftet“ (35). „All das kann sich auch auf das geistliche Leben und auf die Seelsorge nur negativ auswirken: ‚Die Abwesenheit dieser zweiten methodologischen Ebene hat einen tiefen Graben zwischen der wissenschaftlichen Exegese und der lectio divina aufgerissen. So kommt es auch gerade deshalb manchmal zu Ratlosigkeit bei der Vorbereitung der Homilien‘“ (35). In einigen der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften scheint dieser Dualismus besonders stark ausgeprägt zu sein. Einer rationalistischen universitären Exegese und Theologie steht nicht selten eine spiritualistische und vernunftfeindliche Frömmigkeit fremd oder gar ablehnend gegenüber. Ich sehe es als eine wichtige Aufgabe der Theologie und der Bibelwissenschaft an, beide Elemente zusammenzuhalten. Letztlich geht es um den Zusammenhang von Glaube und Vernunft. John Henry Newman, dem man sicherlich nicht den Vorwurf machen kann, er habe sich nicht um die venunftgemäße Durchdringung des christlichen Glaubens bemüht, schreibt: „Es kann nahezu als historisches Faktum gelten, dass mystische Auslegung und Rechtgläubigkeit miteinander stehen und fallen.“48 Ähnlich weist Rudolf Voderholzer im Anschluss an Henri de Lubac darauf hin, dass die „Lehre vom vierfachen Schriftsinn … zutiefst als Anleitung und Hinführung zu einer christlich-mystischen Schriftauslegung zu verstehen“ ist.49

47

Darauf weist auch M. Reiser, Bibelkritik (s. Anm. 19), 46f. hin. Zitiert nach ebd., 151. 49 R. Voderholzer, Die Einheit der Schrift und ihr geistiger Sinn. Der Beitrag Henri de Lubacs zur Erforschung von Geschichte und Systematik christlicher Bibelhermeneutik, Freiburg i. Br. 1998, 488. 48

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Vor diesem Hintergrund kommt der Theologie der Kirchenväter eine besondere Bedeutung zu. Verbum Domini verweist ausdrücklich darauf: „Wie die Synodenversammlung gesagt hat, ergibt sich ein wichtiger Beitrag zur Wiedererlangung einer angemessenen Schrifthermeneutik auch aus dem erneuten Hören auf die Kirchenväter und ihren exegetischen Ansatz. Tatsächlich besitzt die Theologie der Kirchenväter noch heute großen Wert, weil in ihrem Mittelpunkt das Studium der Heiligen Schrift in ihrer Ganzheit steht. Die Väter sind nämlich zunächst einmal und im wesentlichen ‚Kommentatoren der Heiligen Schrift‘“ (37). Das Schreiben gelangt zu dem klugen Urteil: „Letztendlich erkennen wir den Wert und die Notwendigkeit der historisch-kritischen Methode trotz ihrer Grenzen an und lernen gleichzeitig von der patristischen Exegese“ (37).

6. Erkenntnis und Lebensform In diesem Sinne sind die von mir gegebenen Anregungen und angestoßenen Diskussionen zu verstehen. Es geht mir nicht um eine Verwerfung der bleibend gültigen Einsichten und Methoden historischkritischer Exegese. Diese haben sich jedoch in einigen ihrer maßgeblichen Richtungen in einer Weise entwickelt, dass die Verbindungen zu den grundlegenden hermeneutischen Prinzipien und zur geistigen Tradition der Schriftauslegung abgerissen sind. Das wiederum führt zu einem oft diffusen Unbehagen und bisweilen zu einer scharfen Kritik oder sogar einer vollständigen Verwerfung dieser Methode. Hier ist ein Umdenken vonnöten, das schon seit einigen Jahren lebhaft in Gang gekommen ist. Deshalb habe ich in einigen meiner früheren Veröffentlichungen von einem Paradigmenwechsel gesprochen und zu zeigen versucht, dass ein solcher aus den Aporien und der inneren Dynamik historisch-kritischer Exegese notwendig ist. Ebenso ist mein Vorschlag, die Exegese der Kirchenväter wieder stärker in den Prozess der Schriftauslegung mit einzubeziehen, nicht Ausdruck eines restaurativen Denkens und einer romantisch verklärten Sehnsucht nach einer vermeintlich heilen Welt der Vergangenheit. Das Gegenteil ist der Fall. Es geht darum, den Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden und Theologie und Exegese aus einer selbstgefälligen Isolierung herauszuführen. Dass solche Versuche zu vorübergehenden Irritationen führen, ist verständlich.

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Im Dialog kann manches geklärt werden. Die Theologie der Kirchenväter vermag nicht nur den Gefahren einer sich zersplitternden Exegese und Theologie durch theologische Kohärenz und spirituelle Tiefe zu wehren, sondern sie weist auch ein überraschendes Modernitätspotenzial auf, auch wenn nicht alle ihre Ansichten heute noch Gültigkeit beanspruchen können. Der im interreligiösen Dialog engagierte Judaist und Provinzial der Schweizer Jesuitenprovinz Christian M. Rutishauser spricht der Theologie der Kirchenväter im Zusammenhang mit der Wiederentdeckung der christlichen Mystik eine hohe Aktualität zu. „Aufgeklärter Glaube“, so schreibt er, „bedeutet nicht Vernunftreligion der Aufklärer von einst … Paradoxerweise gewinnen gerade Spiritualität und Mystik in der heutigen Zeit an Bedeutung … Überarbeitung, Leistungsdruck und Dauerüberlastung der Sinne laugen aus. Rein innerweltliche Erholung und Bedürfnisbefriedigung greifen nicht tief genug. Das Üben auf einem mystischen Weg jedoch bietet innere Verankerung, spirituelle Sinngebung und religiös-philosophische Bildung. Seit gut zwei Jahrzehnten finden Zen-Buddhismus, Vipassana-Meditation, Yoga und andere spirituelle Übungswege aus dem Osten denn auch großen Anklang. Achtsamkeit, Loslassen, Nicht-Dualität, Not-knowing usw. sind spirituelle Schlagworte geworden. Diese Konzepte aus der Zen- und Yoga-Schule werden in der säkularisierten Gesellschaft willig aufgenommen … Aber auch die Mystik des Christentums wird neu entdeckt. Christen und Christinnen suchen spirituelle Verwurzelung und eigene existenzielle Erfahrung. Was die klassische Moderne als Irrationalität und Aberglauben verdrängt hat, wird wieder zugänglich gemacht. Herzensgebet und biblische Meditation, Schulung der geistlichen Sinne, die theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe werden neu durchbuchstabiert sowie in Kontemplation und Exerzitien eingeübt … Vor allem die mit Spiritualität durchtränkte Theologie der alten Kirche von den Wüstenvätern bis zu Dionysius Areopagita (um 500), dem Klassiker der mystischen Theologie, erhält Aktualität. Das frühe Christentum hat zahlreiche Elemente von Platonismus, Stoa und anderen philosophischen Schulen umgeformt und integriert. Wir begegnen im 21. Jahrhundert einer ähnlichen geistlichen Welt. Zen-Buddhismus hat viel mit der alten Stoa zu tun. Die geistlichen Schulen Indiens ähneln dem Neuplatonismus. Die

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globalen Begegnungen lassen heute interreligiösen Dialog und Spiritualität zu Wetterecken gegenwärtiger Religionsentwicklung werden und erweitern die Alltagsvernunft der Moderne.“50 Ich kann den Analysen von Rutishauser aus eigener Erfahrung zustimmen. Mit der Öffnung des historisch-kritischen Paradigmas und der reflektierten Wiedergewinnung von Grundeinsichten geistiger Schriftauslegung findet zugleich eine Öffnung der Exegese auf die Erfordernisse und Herausforderungen unserer Zeit statt. „Man ist der Absicht der biblischen Texte nur in dem Maß treu, in dem man versucht, durch ihre Formulierungen hindurch die Wirklichkeit des Glaubens zu erreichen, die in ihnen zur Sprache kommt und diese mit der Glaubenserfahrung der heutigen Zeit verbindet“, heißt es in dem von der Päpstlichen Bibelkommission erstellten Schreiben Die Interpretation der Bibel in der Kirche.51 Es geht dabei gerade nicht um eine binnenkirchliche Abgrenzungsstrategie, sondern um eine Öffnung aus dem Kern der biblischen Tradition heraus. Das gilt auch für den Versuch, wissenschaftliche Exegese und geistliche Schriftauslegung so miteinander zu verbinden, dass eine wechselseitige Befruchtung und ein lebendiger Dialog daraus entstehen. Es geht dabei nicht um eine Flucht in ein vorkritisches Ghetto kirchlicher Behaglichkeit, sondern um die konsequente Umsetzung der Einsichten bezüglich der wechselseitigen Durchdringung von Erkenntnis und Lebensform. Den Prozess des Übergangs vom Buchstaben zum Geist bezeichnet Benedikt XVI. in Verbum Domini als einen Prozess des Verstehens, der zugleich ein Prozess des Lebens sein muss: „Wenn die Gliederung zwischen den verschiedenen Sinngehalten der Schrift festgestellt wird, ist es also entscheidend, den Übergang vom Buchstaben zum Geist zu erfassen. Dieser Übergang findet nicht automatisch und von sich aus statt; vielmehr bedarf er einer Überschreitung des Buchstabens: ‚Denn das Wort Gottes selber ist nie einfach schon in der reinen Wörtlichkeit des Textes da. Zu ihm zu gelangen verlangt eine Transzendierung und einen

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C. M. Rutishauser SJ, Religion und Aufklärung heute, in: Stimmen der Zeit 139 (5/2014) 303 –312, 309f. 51 Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche vom 23. April 1993 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 115) II. A.2 (Hervorhebung von L. S.-S.).

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Prozess des Verstehens, der sich von der inneren Bewegung des Ganzen leiten lässt und daher auch ein Prozess des Lebens werden muss‘. So entdecken wir, warum ein authentischer Interpretationsprozess niemals nur ein intellektueller Prozess ist, sondern auch ein Prozess des Lebens“ (38).52 Auch wenn die Universität selbstverständlich nicht der Ort ist, an dem geistliche Schriftlesung im eigentlichen Sinne zu praktizieren ist, widerspricht es nicht dem modernen Verständnis von Wissenschaft, diese Dimension der Auslegung in der wissenschaftlichen Exegese mitzubedenken. Die Verbindung von Theorie und Praxis widerspricht nicht dem Selbstverständnis universitärer Wissenschaft. Ohne Übung und regelmäßige Praxis bleiben die in einem Studium der Medizin erworbenen Kenntnisse totes Wissen. Wer kein Instrument spielen kann, wird sich mit dem Studium der Musik und ihrer Geschichte schwertun. Ein Sportwissenschaftler ohne Erfahrungen aus eigener sportlicher Aktivität ist nur schwer vorstellbar. Ein Ethnologe, der die von ihm zu erforschenden Kulturen aus eigener Anschauung nicht kennt, wird sich schwertun, ihre Lebensvollzüge zu verstehen. Wenn in der Theologie also die Forderung erhoben wird, dass sich diejenigen, die sie betreiben, um eine echte Beziehung zu der Wirklichkeit bemühen sollten, die in den Texten der Heiligen Schrift, die sie auszulegen haben, bezeugt wird, dann nimmt sie damit keineswegs eine Sonderstellung im Konzert der universitären Wissenschaften ein. Im Gegenteil: Sie setzt die alte und immer wieder neu bestätigte Einsicht in den Zusammenhang von Theorie und Praxis konsequent um. Das führt nicht zu einer Verwässerung ihres Wissenschaftscharakters, sondern zu dessen Stärkung und Vertiefung. „Das richtige Verständnis des biblischen Textes ist nur dem zugänglich, der eine lebendige Beziehung zu dem hat, wovon der Text spricht.“53 Wissenschaft und Leben werden so aufeinander bezogen, entspringt doch alle Wissenschaft dem Bestreben des vernünftigen Bewusstseins, die verschiedenen Weisen seines ursprünglichen Welterlebens reflektierend zu durchdringen und sich selbst auf diese Weise besser zu verstehen. 52 Vgl. dazu L. Schwienhorst-Schönberger, „Keine rein akademische Angelegenheit“. Zum Verhältnis von Erklären und Verstehen in den Jesus-Büchern von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., in: J.-H. Tück (Hrsg.), Der Theologenpapst. Eine kritische Würdigung Benedikts XVI., Freiburg i. Br. 2013, 184 –206. 53 Die Interpretation der Bibel in der Kirche II.A.2 (s. Anm. 51).

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Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12. Gotteswort in Menschenwort Thomas Hieke

1. Einstieg „Wort des lebendigen Gottes – muss ich das nach dieser Lesung sagen?“ Diese Frage kommt selbst bei Lektorinnen und Lektoren1, die schon länger im Dienst sind, immer wieder auf. Bei Lektorenschulungen wird sie diskutiert, und mancher Vorsteher der Liturgie rät bisweilen dazu, diese Rahmenformulierung, die mit der Akklamation der Mitfeiernden – „Dank sei Gott“ – verbunden ist, ersatzlos wegzulassen. Dass damit ein grundlegender liturgie- und bibelhermeneutischer Glaubensaspekt aufgegeben, zumindest aber in Frage gestellt wird, möchten die folgenden Ausführungen zeigen und damit nicht nur für die Beibehaltung der liturgischen Akklamation, sondern auch für ein erneuertes Bewusstsein der Rolle der Heiligen Schrift in der Liturgie werben. Führt man sich die „doppelte Autorschaft der Bibel“ in recht verstandener Weise vor Augen, so ist die Rahmenformel für die Lesungen zusammen mit der Akklamation der an der Feier tätig Teilnehmenden ein geradezu genialer Ausdruck dessen, was tatsächlich geschieht; zugleich wird deutlich, welcher Anspruch damit verbunden ist. Im Blick auf das Jubiläum der Verabschiedung der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“ des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965) ist es gut, diese bibel- und liturgiehermeneutischen Überlegungen zu aktualisieren.

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Nicht immer wird es im Folgenden möglich sein, „männliche“ und „weibliche“ Formen (Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen etc.) zu verwenden. Der Text würde sonst sehr überfrachtet wirken. Grundsätzlich sind daher immer Frauen und Männer gemeint, sofern es nicht anders angezeigt wird. „Juden“, „Christen“, „Israeliten“ etc. bezeichnen damit keine ausschließlich männlich besetzten Gruppen.

Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12

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Der Ruf „Wort des lebendigen Gottes“ ist Eigengut des deutschsprachigen Messbuchs seit 19752 und lautet auf Latein schlicht „Verbum Domini“. Während die lateinische Wendung missverstanden werden könnte (wer ist der dominus?), trifft die deutschsprachige Wendung eine wichtige biblische Aussage über Gott und entspricht in ihrer Theozentrik der theologischen Hauptlinie der christlichen Bibel Alten und Neuen Testaments: „Gott und sein zugewandtes Wirken, das ist der tragende, durchgängige Inhalt der biblischen Überlieferung“3. Dazu ist gleich noch mehr zu sagen. Doch zunächst ist auf einen möglicherweise latenten Vorbehalt gegen die Formel einzugehen. Manchmal ist es der Inhalt eines Lesungstextes, der, wenn es wieder einmal menschlich, allzu menschlich in den biblischen Geschichten zugeht, Anstoß erregt („Das soll Gottes Wort sein?“), manchmal ist es die offenkundige oder aus der Erwachsenenbildung erfahrene Autorschaft des jeweiligen Abschnittes: Das sagt doch „nur“ der Prophet Amos! Oder: Der Brief ist gar nicht von Paulus selbst! Nicht, dass man keinen Respekt vor den Propheten des Alten Bundes hätte, aber – ist das gleich „Wort des lebendigen Gottes“?4 Die bisweilen plakativ geäußerte Frage „Wer schrieb die Bibel?“ zielt allermeist auf den historischen Autor und die mögliche Entstehungszeit einzelner biblischer Texte. Die historische Neugier der heutigen Menschen ist dabei von der Bibelwissenschaft kaum zu befriedigen.

2

S. „Die Feier der Heiligen Messe. Messbuch“, Nr. 39 (Arbeitshilfen, S. 96); ferner die Pastorale Einführung in das Messlektionar (PEM), Nr. 18 (Arbeitshilfen, S. 197); Gotteslob (2013), S. 653f. Für diese Auskunft und eine Reihe weiterer liturgiewissenschaftlicher Hinweise danke ich Herrn Kollegen Alexander Zerfaß. 3 Vgl. O. H. Steck, Gott in der Zeit entdecken (Biblisch-Theologische Studien 42), Neukirchen-Vluyn, 2001, 71. 4 Ein anderer Vorbehalt, der in diesem Zusammenhang nur in der Fußnote erwähnt sei, ist eine falsche Bescheidenheit des/der Vortragenden: Wer bin ich, dass ich „Gottes Wort“ vortrage? Ich lese doch „nur einen Abschnitt aus der Bibel“ vor. Hier ist in bibelpastoraler Weise für ein größeres Selbstbewusstsein, aber mehr noch für ein größeres Bewusstsein dessen, was man als Lektor/in eigentlich tut, zu werben – in Schulungsmaßnahmen und in Gesprächen der hauptamtlichen Theologen und Theologinnen mit den ehrenamtlichen Laien ist dies alles immer wieder zu thematisieren.

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2. Komplexe Entstehungs- und Transmissionsprozesse Die Bibelwissenschaft im Allgemeinen und die so genannte „historisch-kritische Exegese“ im Besonderen muss dabei zunächst diagnostizieren, dass „die Bibel“ (schon dieser Begriff ist zu problematisieren!) in sehr komplexen Prozessen entstanden und überliefert worden ist. Es ist gerade nicht so, dass beim Aufschlagen einer „Einheitsübersetzung“ unter der Rubrik „Das Buch Amos“ sofort das Originalwort des historischen Amos zugänglich ist – und es ist auch nicht so, dass man durch Erlernen der althebräischen Sprache und der historisch-kritischen Methoden dieses Originalwort detailgetreu rekonstruieren könnte. Vielmehr ist es ein wertvolles Ergebnis der historischen Forschung an „der Bibel“, dass jedes biblische Buch über einen längeren Zeitraum entstanden ist, dass es neben einem – oft kaum greifbaren – „Erstautor“ eine Zahl von Tradenten gab, die das Werk fortgeschrieben, erweitert, korrigiert und schließlich in einen größeren Zusammenhang eingebettet haben. Es ist gut und unerlässlich, dass Menschen, die sich beruflich mit „der Bibel“ befassen und in Katechese, Verkündigung im Gottesdienst und in der Lehre tätig sind, grundlegende Kenntnisse dieser Entstehungs- und Überlieferungsverhältnisse besitzen und diese bei ihrer Auslegung der Bibel berücksichtigen. Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass „die Bibel“ als „Kanon“ ein Konzept ist, das in den sich auf sie berufenden Religionen und Konfessionen unterschiedliche Ausprägung erfährt: Juden und Christen besitzen unterschiedliche „Bibeln“ (Kanonausprägungen), die sich im Umfang und Arrangement unterscheiden, ebenso gibt es Unterschiede zwischen den christlichen Konfessionen. Die vielfach gemeinsamen Texte sollten nicht die Unterschiede im Arrangement und in der Lese- und Auslegungsweise verschleiern. Damit ist nicht nur die Entstehung der „Bibel“, sondern auch ihre heutige Verwendungsweise (ihre Auslegung) ein komplexer Vorgang. Was aber bedeutet es nun, wenn die Bibelwissenschaft herausfindet, dass bestimmte Teile der Bibel nicht von dem vorgeblichen historischen Autor (Mose, Amos, Paulus) stammen? Boulevardmagazine versuchen in regelmäßigen Abständen, meist zu den Feiertagen, ihre Auflage zu steigern, indem als Sensation dargestellt wird, dass vieles, von dem in der Bibel die Rede ist, historisch gar nicht so stattgefunden habe und auch die Bücher nicht von denen

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stammen, deren Namen sie tragen. Oft sind diese Artikel durchaus seriös recherchiert und spiegeln den Stand heutiger Palästinaarchäologie und Bibelwissenschaft wider. Das Problem daran ist nur, dass falsche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden, der „Wahrheitsgehalt“ der Bibel und ihre Ernsthaftigkeit insgesamt in Frage gestellt und glaubende Menschen als „rückschrittlich“ oder gar fundamentalistisch eingestuft werden. Das funktioniert deswegen immer noch so gut, weil sich im Zuge der Herausbildung der Moderne in den christlichen Kirchen, vor allem der katholischen, eine hermeneutische Sackgasse aufgetan hat, die mittlerweile an sich überwunden, aber unterschwellig immer noch wirksam ist. Lange Zeit insistierte v.a. die Katholische Kirche auf den Begriffen der Irrtumslosigkeit der Bibel auch im naturwissenschaftlichen und der Wahrheit im historischen Sinne. Gegenüber den umwälzenden Veränderungen und Erkenntnissen der Neuzeit sollte „die Bibel“ ein Bollwerk des Althergebrachten (auch der alten Machtverhältnisse) sein. Als die Bibelwissenschaft neue Methoden der historischen und literaturwissenschaftlichen Forschung übernahm und zu Ergebnissen kam, die die traditionellen Auffassungen über Entstehung und Autorschaft der Bibel sowie die Reichweite ihrer Aussagen über die Welt (den Kosmos) in Frage stellten, wurde diese „moderne Exegese“ von den kirchlichen Autoritäten zunächst vehement abgelehnt. Zeitversetzt über 100 bis 200 Jahre fanden relativ ähnliche Debatten in den protestantischen Kirchen wie in der katholischen Kirche statt. In letzterer hielt die Diskussion bis ins 20. Jahrhundert an. Es ist nie gut, die Augen vor der wissenschaftlich erhobenen Wahrheit zu verschließen; das erkannte auch die Katholische Kirche. Mit der Enzyklika Divino afflante Spiritu von Papst Pius XII. (1943) und der Dogmatischen Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die göttliche Offenbarung Dei Verbum (DV) (1965) hat die „historisch-kritische Methode“ auch in der Katholischen Kirche Heimatrecht gefunden5.

5

Vgl. R. Kühschelm, Nicht nur legitim, sondern unerlässlich … Die historischkritische Methode nach Dei Verbum 12 und den folgenden kirchlichen Dokumenten, in: J.-H. Tück (Hrsg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg i. Br. 2012, 462– 476, 466.

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Damit können sich katholische Bibelwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler an den internationalen Forschungen zur „Bibel“ (und ihren verschiedenen Ausprägungen in Judentum und Christentum) beteiligen. Auch wenn in Details noch vieles unklar ist und daher notwendigerweise weiter diskutiert wird, so gibt es doch auch gewisse Konsenslinien in der historisch-kritischen Forschung über die Entstehung wichtiger Teile der Bibel. Der Pentateuch wird von einer Mehrheit in der Bibelwissenschaft mittlerweile in seiner Endfassung ins 5. Jh. v. Chr. datiert (wobei noch spätere Ergänzungen nicht ausgeschlossen sind). Die Psalmen sind so wenig vom historischen David wie der Pentateuch vom historischen Mose, wobei die genaue historische Ausprägung beider Persönlichkeiten weitgehend im Dunkel bleibt. Die meisten Psalmen sind nach dem Babylonischen Exil des 6. Jh. v. Chr. anzusetzen. Auch die Prophetenbücher haben einen langen Entstehungsprozess über Jahrhunderte durchlaufen, und nur wenige Worte sind mit gewisser Wahrscheinlichkeit auf historische Prophetenpersönlichkeiten zurückzuführen. Bei den synoptischen Evangelien ist immer noch die so genannte „Zwei-Quellen-Theorie“ die stichhaltigste Erklärung des Befundes, was aber bedeutet, dass die Evangelien erst in den letzten Jahrzehnten des ersten Jahrhunderts n. Chr. entstanden sind. Älter sind die Paulus-Briefe, aber nicht alle sind wirklich vom Apostel. Die „deuteropaulinischen“ Briefe sind in Namen und Autorität des Apostels (ebenso wie die Petrus- und Johannesbriefe) Jahrzehnte nach dem Wirken der historischen Persönlichkeiten entstanden, dabei jedoch ohne Probleme diesen wichtigen Identifikationsfiguren zugeschrieben worden. Wenn dem aber so ist – wie können sie dann als „Wort des lebendigen Gottes“ tituliert werden?6 Die Wahrheit der Schrift und ihre Relevanz hängen nicht von der historischen Autorschaft oder vom historischen Ereignis (von seiner „Tatsächlichkeit“) ab. Anders, pointierter formuliert: Der Glaube bestimmt sich nicht durch hypothetische Ergebnisse der Bibelwissenschaft und ist damit nicht auf rekonstruierte „Originalworte“ (der Propheten, des Mose, des Paulus oder Jesu) zu reduzieren, sondern 6

Vgl. T. Söding, Wort des lebendigen Gottes? Die neutestamentlichen Briefe im Wortgottesdienst der Eucharistiefeier, in: B. Kranemann (Hrsg.), Wie das Wort Gottes feiern? Der Wortgottesdienst als theologische Herausforderung (QD 194), Freiburg i. Br., 2002, 41– 81, 41f.

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stützt sich auf das gesamte Zeugnis der „Heiligen Schrift“, die als Glaubensurkunde aus der Vergangenheit ins heutige Leben hereinkommt. Das Ganze geschieht aber nicht in einem naiven Fundamentalismus unter Verzicht auf die Ergebnisse der Bibelwissenschaft, sondern in vernünftig reflektierter Form (insofern ist „Theologie“ eine Wissenschaft), die Glauben auch unter den Fragestellungen und Bedingungen der Moderne ermöglicht. Das war letztlich auch das zentrale Anliegen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Es hat mit seinem Dokument „Dei Verbum“ (DV) zur angesprochenen Frage einen ganz bemerkenswerten Lösungsvorschlag gemacht.

3. Die Doppelautorschaft der Bibel nach DV 12 Das im Vorfeld heftig umstrittene Dokument wurde 1965 dennoch mit großer Mehrheit verabschiedet und publiziert. Der Text aus dem Abschnitt 12 lautet in der zeitlich näher am originalen Konzilstext stehenden deutschen Übersetzung7 wie folgt: „(1) Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muß der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte. (2) Um die Aussageabsicht der Hagiographen zu ermitteln, ist neben anderem auf die literarischen Gattungen zu achten. (3) Denn die Wahrheit wird je anders dargelegt und ausgedrückt in Texten von in verschiedenem Sinn geschichtlicher, prophetischer oder dichterischer Art, oder in anderen Redegattungen. (4) Weiterhin hat der Erklärer nach dem Sinn zu forschen, wie ihn aus einer gegebenen Situation heraus der Hagiograph den Bedingungen seiner Zeit und Kultur entsprechend – mit Hilfe der 7

Zitiert nach der Ausgabe im Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Auflage, 1967, Das Zweite Vatikanische Konzil, Dokumente und Kommentare, Teil II, Freiburg i. Br. 1967 (Einleitung und Kommentar von Joseph Ratzinger: 498 –528.571–583; Kommentar von Aloys Grillmeier: 528 –557; Kommentar von Béda Rigaux: 558 –570). Diese deutsche Textfassung findet sich auch im Internet auf der entsprechenden Seite des Heiligen Stuhls (2013).

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damals üblichen literarischen Gattungen – hat ausdrücken wollen und wirklich zum Ausdruck gebracht hat. Will man richtig verstehen, was der heilige Verfasser in seiner Schrift aussagen wollte, so muß man schließlich genau auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen achten, die zur Zeit des Verfassers herrschten, wie auf die Formen, die damals im menschlichen Alltagsverkehr üblich waren.“ Neben dem zeitbedingten Stil ist in Rechnung zu stellen, dass das Dokument eine Kompromissformulierung ist. Daher erklärt sich die etwas dunkle oder – positiver ausgedrückt – offene Redeweise. Fast wie bei der Bibel selbst ist es nicht ganz zweifelsfrei zu erheben, was sich die Konzilsväter bei diesem Text wirklich gedacht haben. Dennoch ist der Text versteh- und interpretierbar, und er muss wie jeder literarische Text interpretiert werden. Zunächst ist für DV grundsätzlich und als hermeneutisches Prinzip festzuhalten, dass der theologische Begriff der Offenbarung fundamental geändert wurde: „Offenbarung“ wird nicht mehr nach Art einer „Instruktionstheologie“ als Mitteilung Gottes von oben verstanden, also nicht mehr als ein gleichsam vom Himmel gefallenes Buch, nach dem sich die Menschheit zu richten habe. Vielmehr folgt „Offenbarung“ dem Prinzip der Inkarnation: Wie Gott in Jesus Christus in die Niedrigkeit und Hinfälligkeit der Menschen hinabgestiegen ist, so ist – vorher und nachher – das Wort Gottes in Menschenzunge ergangen, wie DV 13 formuliert: „Denn Gottes Worte, durch Menschenzunge formuliert, sind menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst des ewigen Vaters Wort durch die Annahme menschlich-schwachen Fleisches den Menschen ähnlich geworden ist.“ Dieses offenbarungstheologische Grundprinzip wird gerne auf die Formel „Gotteswort in Menschenwort“ gebracht8. Damit aber ist bereits der Grundgedanke einer doppelten Autorschaft angedeutet, wie 8

Vgl. z. B. H. Hoping, Theologischer Kommentar zur Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung, Dei Verbum, in: P. Hünermann/J. Hilberath (Hrsg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 3, Freiburg i. Br. 2005, 695 – 831, 772. Zu den folgenden Ausführungen s. v.a. auch C. Dohmen, Vom Umgang mit dem Alten Testament (NSK.AT 27), Stuttgart, 1995, 74 – 80.

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er in DV 12,1 fast beiläufig ausgedrückt wird. Der Schrifterklärer (die maskuline Form ist zeitbedingt und schließt Bibelwissenschaftlerinnen nicht aus) muss aufgrund des inkarnatorischen Prinzips (Gott hat „durch Menschen nach Menschenart gesprochen“) sorgfältig erforschen, (a) was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und (b) was Gott mit ihren Worten kundtun wollte. Beide Aspekte sind durch ein einfaches „und“ (et) verbunden. Hinter der „Doppelaufgabe“ des Schrifterklärers steht mithin – nicht ausgedrückt, aber wohl mitgemeint – eine doppelte Urheberschaft (Autorschaft) der biblischen Texte, die jedoch untrennbar ineinander verwoben ist. Mein Lese- und Verstehensvorschlag für DV 12 sei im Folgenden skizziert. Ad (a): Die Wendung „was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten“ bezieht sich auf die menschliche Seite der Heiligen Schrift. Sie ist mit den geeigneten Methoden der Bibelwissenschaft zu analysieren, insbesondere im Blick auf die Entstehung und Zeitbedingtheit der Texte. DV 12,2–3 hebt – dem exegetischen Trend der 1960er Jahre geschuldet – vor allem die Forschung an den literarischen Gattungen heraus, betont aber auch die Umstände der biblischen Zeit und Kultur, die den menschlichen Verfasser geprägt haben und daher mit den Mitteln der Geschichts-, Sprach- und Literaturwissenschaft, ferner auch der Archäologie, der Anthropologie sowie der Kultur- und Sozialwissenschaft zu erhellen sind. Damit ist die Methodenvielfalt der Bibelwissenschaft nicht nur erlaubt, sondern auch gefordert. Ad (b): Die mit „und“ verbundene Wendung „was Gott damit sagen wollte“ bezieht sich auf den göttlichen Urheber der Heiligen Schrift. Dabei ist eine Begrifflichkeit, die mit dem Wort „Zweitoder Zweiter“ operiert, tunlichst zu vermeiden, um weder eine zeitliche noch eine bedeutungsmäßige Hierarchisierung zu insinuieren. Wie in der Christologie bei den „Naturen“ darf auch hier nicht die eine oder die andere Autorschaft zu Lasten der anderen überbetont werden. Redet man von Gott als „Autor“ oder „Urheber“ der Schrift, so ist damit die dynamische und lebendige Inspirationsquelle gemeint, die hinter den biblischen Texten steht9 und bis heute aktiv wirksam ist („Wort des lebendigen Gottes“). 9

In den Worten von O. H. Steck, Gott in der Zeit (s. Anm. 3), 74: „Fragt Exegese nach dem, was ihr als Gegenstand in der Bibel vorliegt, dann richtet sie sich – das

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Dabei handelt es sich nicht um ein geheimnisvoll-magisches Verständnis im Sinne einer Verbalinspiration, wie es bisweilen auf barocken Gemälden zu sehen ist (die „Taube“, die als „Heiliger Geist“ dem schreibenden Menschen, etwa dem Evangelisten, in die Feder diktiert). Ein solches Verständnis degradiert den menschlichen Schriftsteller zu einer Marionette und bleibt statisch in der Zeit verhaftet, in der die Verschriftung stattgefunden hat. Dieses instruktionstheologische Verständnis, nach dem die Menschen nur Werkzeuge der göttlichen Mitteilung sind, ist überwunden. Seine latent vorhandenen Reste müssen in bibelpastoraler Anstrengung in Katechese und Verkündigung, in Schule und universitärer Theologie beseitigt werden. Die Gefahren eines solchen Verständnisses der Verbalinspiration bestehen nicht nur in einem Fundamentalismus, der „Irrtumslosigkeit“ der Schrift unter Aufopferung jeder Vernunft dreist behauptet, sondern auch in einem „Tod Gottes“, da dann eben die göttliche Mitteilung zur Abfassungszeit der Schrift erging und seither hoffnungslos überholt und irrelevant ist. Die Rede vom lebendigen Gott als Autor der Schrift geht in eine andere Richtung. Sie greift eine zutiefst biblische Redeweise auf10. „Vom ‚lebendigen Gott‘ wird immer wieder dort gesprochen, wo in besonders kräftiger oder feierlicher Weise die aktive Wirksamkeit Gottes hervorgehoben werden soll. Dies geschieht zugleich häufig mit der Absicht, verkehrte, nichtige Gottesvorstellungen oder daraus resultierende menschliche Handlungen zu kontrastieren“11. Der lebendige Gott hat aus dem Feuer zum Volk geredet, so dass es Mose als Mittler der Offenbarung vorgeschickt hat (Dtn 5,26). Im Moselied Dtn 32 stellt sich Gott mit dieser überwältigenden Dynamik selbst vor: „Jetzt seht: Ich bin es, nur ich, und kein Gott tritt mir entgegen. Ich bin es, der tötet und der lebendig macht. Ich habe verwundet; nur ich werde heilen. Niemand kann retten, wonach meine zeigen … die Texte nach Inhalt und Überlieferungsmovens mit aller Deutlichkeit – im wesentlichen auf Gott in der dargestellten Wahrnehmung, also in zeitbezogener Kundgabe, in zeitbezogenem Wirken und insgesamt in Langzeitvorgängen seines Handelns und seiner Wahrnehmung als den direkten oder indirekten Inhalt aller biblischen Aussagen.“ 10 Vgl. T. Söding, Wort (s. Anm. 6), 66f., mit Verweis auf S. Kreuzer, Der lebendige Gott. Bedeutung, Herkunft und Entwicklung einer alttestamentlichen Gottesbezeichnung (BWANT 116), Stuttgart u. a., 1983. 11 S. Kreuzer, Der lebendige Gott (s. Anm. 10), 1.

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Hand gegriffen hat. 40Ich hebe meine Hand zum Himmel empor und sage: So wahr ich ewig lebe“ (Dtn 32,39 – 40)12. Es ist der lebendige Gott, der sein Volk Israel aus Ägypten herausgeführt und in das verheißene Land gebracht hat, und das Volk soll die Lebendigkeit Gottes daran erkennen, dass am Jordan das Meerwunder wiederholt wird und die Bundeslade zusammen mit dem ganzen Volk trockenen Fußes den Fluss durchschreitet (Jos 3,10). Später kämpft der lebendige Gott auf der Seite Israels gegen die Philister (1 Sam 17,26.36), freilich so, dass er den kleinen David befähigt, den Riesen Goliat zu besiegen und damit jede menschliche Kriegslogik durchkreuzt. Der Psalmist bekennt sich zum lebendigen Gott („Es lebt der Herr! Mein Fels sei gepriesen“, Ps 18,47 par. 2 Sam 22,4713) und drückt seine Sehnsucht nach Gott so aus: „Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann darf ich kommen und Gottes Antlitz schauen?“ (Ps 42,3; s. auch Ps 84,3). Mit diesem lebendigen Gott hadert Ijob und wirft ihm vor, sein Leben verbittert zu haben (Ijob 27,3) – nur im Glauben an einen wirksamen, relevanten Gott kann man so sprechen! Die Psalmen kennen auch die positive Erfahrung, die in der Not beschwörend wachgerufen wird: „Bei Tag schenke der Herr seine Huld; ich singe ihm nachts und flehe zum Gott meines Lebens“ (Ps 42,9). Im Buch des Propheten Hosea findet sich nach der verhängnisvollen Ansage „Ihr seid nicht mein Volk“, die sich im Namen eines Kindes des Hosea spiegelt („Lo-Ammi“, Hos 1,9) der hoffnungsvolle Ausblick, dass in einer fernen Zukunft das Gottesvolk wieder hergestellt wird und an die Stelle des „Nicht mein Volk“ die Anrede „Kinder des lebendigen Gottes“ tritt (Hos 2,1; s. auch Jer 16,14 –15; 23,7– 8). Besonders Jeremia spricht vom lebendigen Gott (Jer 10,10) und von den „Worten des lebendigen Gottes“ (Jer 23,36)14. Das Neue Testament greift diese Redeweise auf (s. z. B. Apg 14,15 und 1 Thess 1,9; 2 Kor 3,3; 1 Tim 3,15; 4,10; Offb 7,2; 15,7). Paulus zitiert Hos 2,1 in Röm 9,26; mehrfach begegnet die Wendung im Hebräerbrief (Hebr 3,12; 9,14; 10,31; 12,22). Jesus wird in Mt 16,16 von Petrus als „Sohn des lebendigen Gottes“ bekannt. 12 Die Dynamik des lebendigen Gottes findet ihren Ausdruck v.a. auch in der Schwurformel „so wahr JHWH lebt“ (s. dazu ebd., 37–145) sowie in der Gottesrede in erster Person „so wahr ich lebe“ [spricht JHWH] (s. dazu ebd., 162–235). 13 Vgl. ebd., 159. 14 Zu den Belegen der Rede vom „lebendigen Gott“ s. ebd., 259 –298.

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Dies sind nur einige Beispiele dafür, dass sowohl der Tanak (die jüdische Bibel) als auch die christliche Bibel Alten und Neuen Testaments Gott als den „Lebendigen“ kennt und bekennt. Damit ist aber der „lebendige Gott“ als Autor der Heiligen Schrift von grundsätzlich anderer Qualität als der menschliche Schriftsteller. Gott diktiert nicht einfach einem menschlichen Griffel, der abwechselnd Mose, Jesaja oder Paulus heißt. Vielmehr verschriften die Menschen der biblischen Zeit, Israeliten, Juden, die ersten Christen, ihre mitreißenden Erfahrungen mit diesem lebendigen Gott auf vielfältige Weise und in vielfältigen Gattungen und Redeweisen. Sie reden (und schreiben) durchweg eigenständig, nie jedoch aus eigenem Antrieb und mit eigenen Interessen, sondern „vom Heiligen Geist getrieben“ und „im Auftrag Gottes“ (2 Petr 1,21). Auf diese geheimnisvolle – lebendige und dynamische – Weise steht Gott als „Urheber“ (auctor) hinter den Schriften, die eine glaubende Gemeinschaft als „heilig“, maßgeblich normierend („kanonisch“) und autoritativ (göttlichen Ursprungs), mithin als Kanonausprägung (Bibel) ansieht. Die Aussage des biblischen Textes ist damit nicht auf das beschränkt, was der menschliche Schriftsteller „wirklich zu sagen beabsichtigte“, sondern geht darüber hinaus. Das ist eine wesentliche Grundeinsicht der modernen Literaturwissenschaft, dass sich ein Text nicht in dem erschöpft, was ein (menschlicher) Autor in ihn hineingelegt hat: Insbesondere ein geschriebener Text entfaltet im Lektüreprozess Sinndimensionen, an die der Autor ursprünglich nicht gedacht hat oder überhaupt denken konnte. Das ist – in literaturwissenschaftlicher Beschreibung – der Weg, auf dem Gott als dynamischer Autor bei der Erstellung und bei der Lektüre der biblischen Texte ins Spiel kommt. Theologisch gesprochen ist dann nicht nur die Niederschrift vom Geist Gottes inspiriert, sondern auch die jeweilige Lektüre, sofern sie in rechter Absicht geschieht, also das biblische Wort als „Wort des lebendigen Gottes“ wahrgenommen wird. Unter diesen Bedingungen ist es dann auch möglich, dass Gott nicht nur in die Zeit der Entstehung der Schriften spricht (oder zur Zeit des verkündenden Propheten), sondern auch in die jeweilige Zeit hinein, in der gläubige Menschen Orientierung in der Heiligen Schrift suchen. Das meint wohl auch der zweite Timotheusbrief, wenn es da heißt: „Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit; 17 so wird der Mensch Gottes zu jedem guten Werk bereit und gerüs-

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tet sein“ (2 Tim 3,16 –17)15. Solches ist nur möglich, wenn der Urheber nicht nur ein begrenzter und an seine Zeit und Kultur gebundener Mensch ist, sondern auch der lebendige Gott bei Abfassung und Lektüre mitwirkt. Gewiss, man kann manche antike Schrift, etwa von Platon und Aristoteles, zur Belehrung und Erziehung lesen, doch bleibt dies ins freie Belieben der Menschen gestellt und ohne wirklichen Anspruch. Hinter den biblischen Texten steht, insbesondere wenn sie in der gottesdienstlichen Gemeinschaft wahrgenommen werden, ein stärkerer Anspruch der Unmittelbarkeit und heutigen Gültigkeit. Eine Schrifthermeneutik, die den Formulierungen von DV 12 und damit der Lehre der Katholischen Kirche entspricht und ihre Korrelation in der gottesdienstlichen Praxis findet, beruht also auf folgender Grundannahme: Gott wollte und will jeder Generation (und damit auch der heutigen), also jedem(jeder) Bibelleser(in) mit den Menschenworten der historischen Autoren und Redaktoren (vielleicht sogar auch der Übersetzer?) „etwas sagen“. Ein gläubiges Annehmen der Heiligen Schrift bedeutet somit, dass über das hinaus, was der „heilige Schriftsteller“ seiner Zeit mitteilen wollte, in den gelesenen und gehörten Worten ein unmittelbarer Anruf Gottes in die Gegenwart hinein ergeht, der zugleich ein Anspruch, eine Mahnung, Aufforderung und Ermutigung ist. Das ist nicht mit einer platten Buchstabengläubigkeit, einer „Hermeneutik der Unmittelbarkeit“ oder der „Nachahmung“ zu verwechseln. Was Gott mit den „alten“ Worten heute kundtun will, ist oft nicht auf den ersten Blick oder beim schnellen Hören deutlich. Nicht jedes Bibelwort kann sofort 1:1 umgesetzt werden. Insbesondere wenn von Gewalt die Rede ist, legitimiert dies keinesfalls heutige Gewalttaten – wenn wir uns über manchen biblischen Text entsetzen, so kann gerade dies der heutige Anspruch Gottes sein: dass wir es eben nicht so machen wie die biblischen Protagonisten. Ohne eine Mühe des Verstehens und ohne ein intensives Gespräch über die Auslegung der Texte – wie immer das aussehen kann – wird es nicht funktionieren. Was nötig ist, ist die „Unterscheidung der Geister“: Die Auslegungsgemeinschaft muss prüfen, ob eine bestimmte Leseweise und Exegese des Textes wirklich eine dynamische Herausforderung des lebendigen Gottes darstellt oder ob damit nur – wie lei15 Vgl. auch T. Söding, Wort (s. Anm. 6), 62. Im Übrigen zitiert diese Stelle auch DV 11.

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der oft geschehen – persönliche, politische, militärische oder wirtschaftliche Interessen von Menschen dürftig mit einem Mantel religiöser Legitimation versehen werden. Somit gilt: „Wort des lebendigen Gottes“ – ja, aber nicht ohne die Leistung des Verstehens und des Verständigens untereinander in der glaubenden Gemeinschaft.

4. Konsequenzen Dieser Ansatz der doppelten Autorschaft bedeutet viel und bedarf einer sorgfältigen (bibel-)theologischen Reflexion und Begleitung. Einige Konsequenzen seien im Folgenden angedeutet. Wenn aus der Tora vorgelesen wird, dann sind das nicht einfach „Geschichten von den alten Israeliten“, sondern Grundaspekte des Glaubens, eines Glaubens, den die Christen noch dazu mit den Juden gemeinsam haben. Juden wie Christen können Vieles aus der Tora nicht mehr „wörtlich“ umsetzen (z. B. die Opfervorschriften). Dennoch sind die Texte nicht obsolet. Keine der beiden Religionen fand es im Laufe der Jahrhunderte für richtig, die biblischen Bücher „durchzuforsten“ und nicht mehr praktikable Passagen zu eliminieren. Vielmehr wurde und wird alles weiterhin überliefert (als „Wort des lebendigen Gottes“, an dem man sich tunlichst nicht vergreifen soll). Beide Religionen haben in der Rezeptionsgeschichte Anstrengungen unternommen, die Texte für ihre eigene Zeit fruchtbar zu machen – der Grund dafür ist die oben skizzierte Basisannahme, nämlich dass Gott über dieses „heilige Wort“, die Heilige Schrift autoritativ (!) in die jeweilige Gegenwart spricht und dazu die alten Texte der „heiligen Schriftsteller“ verwendet. Mithin ist danach zu fragen, „was Gott mit ihnen kundtun wollte“ – und will! Es gilt nach Impulsen für heutige Diskurse zu suchen. Dabei gibt es in der Tora zum einen Sätze, die sind wie in Stein gemeißelt: Sie gelten immer und überall und sind (fast) unmittelbar anwendbar. Dazu gehören sicherlich die Sätze aus dem Dekalog, etwa „Ehre deinen Vater und deine Mutter“ (Ex 20,12; Dtn 5,16), oder das Gebot der Nächstenliebe und der Liebe zum Fremden (Lev 19,18.33 –34). Das gilt aber nicht für alle Sätze, und schon beginnt die Schwierigkeit der Unterscheidung. Sicherlich sind die Vorschriften zum Jobeljahr in Lev 25 völlig utopisch, zumal sie aller Wahrscheinlichkeit nach nie Anwendung gefunden haben – dennoch steckt darin der bis heute

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dringende Impuls, dafür zu sorgen, dass in einer Gesellschaft die Verarmung eingedämmt und zurückgedrängt wird. Das Auseinanderdriften von Arm und Reich ist zu jeder Zeit ein Problem – die Texte der Tora drängen, auch wenn sie nicht „wörtlich“ umzusetzen sind, darauf, hier steuernd einzugreifen. Wenn aus den Propheten vorgelesen wird, dann ist das keine Verbeugung vor den großen Männern der Vergangenheit, sondern eine aktualisierende Aufnahme: Ihr Wort gilt uns heute (auch noch). Es fragt sich nur wie – da kommt heutige Auslegung, Biblische Auslegung, ins Spiel: eine wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe, die sich von der wissenschaftlichen Erarbeitung bis zur Verkündigung im Kindergottesdienst erstreckt. Im Übrigen ist dieser Prozess bereits innerbiblisch greifbar: Prophetenworte, die sich in konkreten geschichtlichen Ereignissen, wie etwa dem Untergang des Nordreichs 722 v. Chr. bewahrheitet haben, werden nicht als „erledigt“ abgehakt, sondern weiter überliefert, in neue geschichtliche Situationen hinein: Das einst in eine bestimmte Situation hinein wirksame Wort wird aus seinem geschichtlichen Zusammenhang gelöst – und „gilt“ in jeder Zeit. Die Leute im Südreich fanden es durchaus passend, die Warnungen des Propheten Amos vor der Ausbeutung der Armen auch auf ihre Zeit zu beziehen. So blieben die Worte erhalten und kamen schließlich in ein Buch, das Teil eines größeren Ganzen (Kanon) wurde und nun als Teil einer Bibel (Kanonausprägung) „Heilige Schrift“ einer Glaubens- und Auslegungsgemeinschaft ist. Wenn aus den Briefen des Paulus und seiner Schüler vorgelesen wird, dann ist das keine bloße dankbare Erinnerung an einen „großen Theologen“, sondern eine aktualisierende Aufnahme: Paulus verhandelt in seinen Schriften Dinge, die uns heute und unseren heutigen Glauben an Jesus Christus angehen. Diese „bleibende Bedeutung“ haben die ersten Christen sehr früh gespürt, deshalb haben sie die Briefe des Paulus aufgehoben, gesammelt und untereinander ausgetauscht, auch wenn Paulus immer nur eine bestimmte Gemeinde angeschrieben hat. Was Paulus den Korinthern schrieb, war und ist offenbar von bleibendem Anspruch. Dieser bleibende Anspruch geht aber nicht allein auf die Autorität des Paulus oder des Amos oder des Mose zurück – denn warum sollten die Worte von Platon oder Aristoteles weniger Autorität haben? Für die Glaubensgemeinschaft ist entscheidend, dass sie hinter den als „kanonisch“ anerkannten Texten die Urheberschaft Gottes sieht und

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glaubt. Unter dieser Grundannahme gilt: Die Menschenworte aus der grauen Vergangenheit der Entstehung der Bibel (2000 bis 2500 Jahre alt und vielleicht manches noch älter) sind das Vehikel, mit dem der lebendige Gott uns heute noch etwas sagen will. Zu dieser Auffassung gibt es keine Alternative: Eine UnmittelbarHermeneutik, die die geschichtliche Distanz und die menschliche Autorschaft in der Weise überspringen will, so dass die Bibel als vom Himmel gefallenes ewiges Wort Gottes gilt, wird zum Fundamentalismus. Das sogenannte „Wörtlich-Nehmen“ der Bibel geht faktisch am Phänomen Bibel vorbei und nimmt sie nicht als das wahr, was sie ist: Gotteswort in Menschenwort16. Umgekehrt ist die Reduktion der Bibel auf ein historisches Dokument von hohem Alter eine (auch historisch gesehen) unzulässige Einebnung. Man würde damit die Bibel in die Bibliothek des Antiken Vorderen Orients neben dem Gilgamesch-Epos und dem Schriftsteller Flavius Josephus einreihen. Als ein solches „nur“ historisches Schriftwerk ist die Bibel aber weder im Judentum noch im Christentum über Jahrhunderte hinweg überliefert worden – immer schon haben Menschen beider Religionen in den alten Worten Gottes Anspruch an sie entdeckt. Die Reduktion von „Gotteswort in Menschenwort“ auf das reine „Menschenwort“ ist ein modernes Phänomen – und eine Einseitigkeit, die dem historischen Befund nicht gerecht wird. Denn es ist eine historische Tatsache, dass die Bibel von Anfang an als „Gottes Wort“ gelesen wurde und wird. Auch eine rein religionswissenschaftliche (religionshistorische) Sichtweise wird den sich aus der Rezeptionsgeschichte ergebenden qualitativen Unterschied zwischen der „Bibel“ und der übrigen antiken Literatur zu berücksichtigen haben.

16 S. dazu die Position der Päpstlichen Bibelkommission im Dokument von 1993/1996, „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“, Città del Vaticano 1993; dt. Übersetzung in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Päpstliche Bibelkommission: Die Interpretation der Bibel in der Kirche (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 115), Bonn ²1996: Alle methodischen Zugänge zur Bibel werden wohlwollend geprüft und für positiv befunden; abgelehnt wird mit bemerkenswerter Prägnanz der fundamentalistische Zugang.

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5. Die liturgischen Rahmenformeln Es dürfte mittlerweile deutlich geworden sein, dass die liturgischen Rahmenformeln die vorstehenden Überlegungen zur Hermeneutik der Heiligen Schrift und ihrer bleibenden Gültigkeit auf geradezu ideale Weise zum Ausdruck bringen. Die doppelte Autorschaft der Bibel wird so im liturgischen Vollzug beim Vortrag der Lesung hörbar gemacht. a) Die Einleitung mit „Lesung aus dem Buch …“ bzw. „Lesung aus dem Brief des …“ macht die menschliche Seite der Autorschaft deutlich. Die Bibel ist eben kein vom Himmel gefallenes Buch, das auf magisch-mysteriöse Weise zu unserer Kenntnis gelangte. Menschen waren es, die ihre Erfahrungen mit Gott und Gottes Anspruch niedergeschrieben haben, oder, um noch einmal den zweiten Petrusbrief zu zitieren, „vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet“ (2 Petr 1,21). Auch sei noch einmal an das inkarnatorische Offenbarungsverständnis von DV erinnert: „Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat …“ (DV 12), „Gottes Worte, durch Menschenzunge formuliert“ (DV 13). Der schlagende Vorteil dieser Mitteilungsweise besteht darin, dass die Menschen auf diese Weise die Rede Gottes überhaupt erst verstehen können. Der Nachteil ist jedoch, dass geschriebene Texte, selbst wenn sie von „heiligen Schriftstellern“ stammen, der Auslegung bedürfen (was DV 12 in umfangreicher Weise auch betont). b) Am Ende jedoch wird der doppelten Autorschaft insofern Rechnung getragen, als die Wendung „Wort des lebendigen Gottes“ zum Ausdruck bringt, dass hier nicht „nur“ irgendein Wort eines ehrwürdigen alten Mannes (Mose, Amos, Paulus) vorgetragen wurde, sondern dass gerade in diesen Menschenworten der bleibende und aktuelle Anspruch Gottes steckt. Paraphrasiert könnte man auch sagen: „Das alte Wort, das ihr eben gehört habt, gilt heute immer noch; Gott spricht jetzt zu uns und rüttelt uns auf, ermahnt uns, ermutigt uns usw.“ Vielleicht ist es manchen unangenehm, dass sich Gott so direkt in unser Leben einmischt – auch dies könnte ein Grund für die Aversion gegen die Formel sein, allerdings ein sehr fadenscheiniger und unberechtigter. Die bisweilen vorgeschlagenen Alternativen (etwa „Dies sind die Worte der Lesung“) sind an Banalität nicht zu überbieten: Sie leisten keinerlei Beitrag zum Verstehen

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des gehörten Textes oder zu seiner liturgisch-hermeneutischen Verortung. Die lateinische Formulierung „Verbum Domini“ ist mehrdeutig und damit problematisch17: Es ist nicht klar, wer der dominus ist. Versteht man darunter den deus unus, den Jesus als Vater geglaubt und verkündet hat, mag das angehen. Aber dominus kann in der Liturgie auch Jesus, der Herr, sein – dann wäre die Formel eine unstatthafte christologische Vereinnahmung. Trotz der Präexistenz des Messias Jesus Christus spricht im Alten Testament nicht der Kyrios Christus, sondern Gott Vater. Die insgesamt theozentrische Gesamtausrichtung der christlichen Bibel in ihren beiden Teilen sollte nicht verschleiert werden. Der deutschsprachige Ruf „Wort des lebendigen Gottes“ liegt „sehr gut auf der Linie Biblischer Theologie, wenn sie die Theozentrik akzentuiert“18. Freilich darf dies wiederum nicht über Gebühr dramatisiert und mystifiziert werden, so als hätte man plötzlich einen unmittelbaren Kontakt mit dem Göttlichen – schließlich darf der Anfang, der die menschliche Autorschaft betont, nicht vergessen werden: Das „Wort des lebendigen Gottes“ ist nicht direkt, sondern „nur“ im „Buch Amos“, im „Brief des Apostels Paulus“ usw. zugänglich. Auf den Ruf „Wort des lebendigen Gottes“ antwortet die Gemeinde zustimmend mit „Dank sei Gott“. Damit wird nicht nur der göttliche Anspruch des Vorgetragenen anerkannt, sondern auch dessen aktuelle Gültigkeit und Maßgeblichkeit: „Die Zustimmung der Ekklesia zum Schriftwort aber macht einen wesentlichen Teil seiner Kanonizität aus“19. Kanon und Auslegungsgemeinschaft bestimmen sich gegenseitig: Die Heilige Schrift wird zu einer solchen, weil die Glaubensgemeinschaft ihr diese Rolle zubilligt; die Glaubensgemeinschaft wiederum findet als Auslegungsgemeinschaft ihre Identität in der gemeinsamen Heiligen Schrift, die zu hören und zu befolgen sie sich versammelt. All dies wird in den wenigen Worten der liturgischen Rahmenformeln ausgedrückt und bekannt – sollte darauf ohne Not verzichtet werden?

17 18 19

S. dazu T. Söding, Wort (s. Anm. 6), 65f. Ebd., 66. Ebd., 64f.

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6. Herausforderungen und Aufgaben Die doppelte Autorschaft der Bibel mit ihrem Anspruch, in den alten Menschenworten der Bibel das Wort des lebendigen Gottes zu finden, bringt große Herausforderungen und Aufgaben mit sich. Es gilt zunächst einmal, das historische Umfeld zu klären und nach Möglichkeit und mit allen Methoden der Bibelwissenschaft (historisch-kritisch, literatur- und sozialwissenschaftlich etc.) herauszufinden, was der menschliche Autor zu sagen beabsichtigte, in welches soziale Umfeld er hinein sprach und schrieb, welche kulturellen Voraussetzungen zum Verstehen nötig sind und dergleichen mehr. Es ist dabei unerlässlich, die Zeitbedingtheit der Rede von Gott immer mit zu bedenken und sich nicht auf (wenige, vielleicht so gar nicht vorhandene) vermeintliche „ewige Wahrheiten“ zu beschränken. Exegese richtet sich „auf lebensbezogene, lebensbreite Gotteswahrnehmungen, die sich auf Zeitliches und d. h. im Fluß, im Wandel Befindliches mit Vorher und Nachher, richten, die in der Zeit wahrgenommen wurden und die zeitlich übermittelt werden sollen, wenn man die Texte beim Wort nimmt. … Solche mit der Zeit eingebrachten, zu ihrer Zeit oder auch weit darüber hinaus bewährten und darum für Verstehen, Handeln aus weitreichender Orientierung als fortan maßgebend bewahrten Gotteswahrnehmungen sind es, die in den Texten überliefert werden. Sie sind eben wegen der lebendigen Gottesperson, der von ihr in Dienst genommenen Künder und den auf sie bezogenen Zeiten und Konstellationen entsprechend alles andere als uniform, sondern haben eigene Konturen. Exegese fragt diesen besonderen Konturen nach“20. Die exegetische Aufgabe, wie sie DV 12 skizziert, geht aber noch weiter: Es gilt auch zu fragen, welche Impulse diese „alten Worte“ als „Wort des lebendigen Gottes“ in heutige Diskurse einbringen können (DV 12: „was Gott damit sagen wollte“ – und will!). „Gott und sein zugewandtes Wirken sind für die biblische Wahrnehmung nicht nur mit damaliger Zeitlichkeit, sondern mit dem Zeitraum im Ganzen bis in alle Ferne als dem Raum göttlichen und menschlichen Handelns korreliert. So betrifft die Bibel zeitlich schon in sich selbst auch alles Spätere nach ihrer Formierung und vertritt den Anspruch, die

20

O. H. Steck, Gott in der Zeit (s. Anm. 3), 74f.

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grundlegende Kunde von dem Subjekt zu sein, das ohnehin auch vorausweisend künftig alles zu aller Zeit betrifft – Gott“21. Die Frage nach dem, was die Bibel heute über Gott sagt und welche Impulse sie in heutige Fragestellungen einspeist, ist nicht allein über eine intuitiv vorgenommene „Applikation“ (nach Art einer „Moral von der Geschicht‘“) am Ende einer Predigt zu erledigen, sondern muss ebenfalls mit wissenschaftlicher Reflexion und hermeneutischer Verantwortung erfolgen. Dazu sind mittlerweile eine Reihe von Methoden entwickelt worden, für die es verschiedene Bezeichnungen gibt: „Kanonische Exegese“, „kanonisch-intertextuelle Lektüre“, „Biblische Auslegung“. Hinweise und Hilfe für die Erhebung dessen, „was Gott damit sagen wollte“, ergeben sich aus dem Gesamtkontext der Heiligen Schrift (Intertextualität) und aus der Auslegungsgemeinschaft (Diskurs, Gespräch über das gelesene/gehörte Wort Gottes)22. Der menschliche Autor eines biblischen Textes hatte nicht nur einen zeitlich und kulturell, sondern auch literarisch begrenzten Horizont. Durch die Einbettung seiner Schrift in einen größeren Zusammenhang, wenn aus dem griechischen „ta biblia“ („die Bücher“, Mehrzahl) das lateinische „biblia“ („die Bibel“, Einzahl) wird und sich so ein literarischer Großkontext ergibt, treten neue Sinndimensionen hervor23. Da solche Prozesse nicht einem willkürlichen Zufall zugeschrieben werden müssen, kann hier das Wirken von Gottes Geist und damit die göttliche Urheberschaft angesiedelt werden – anders ausgedrückt: Durch die Lektüre eines bestimmten, von einem Menschen geschriebenen Textes in einem größeren Zusammen21

Ebd., 128. Vgl. z. B. T. Hieke, Zum Verhältnis von Biblischer Auslegung und historischer Rückfrage, in: Internationale Katholische Zeitschrift communio 39 (2010), 264 –274. 23 Das lässt sich exemplarisch zeigen, wenn man als Versuchsfeld etwa die Schlussverse biblischer Schriften heranzieht und diese nicht nur als Einzelsätze, sondern als Sätze am Ende eines größeren Zusammenhangs oder als Übergang zu einem weiteren Teil wahrnimmt, etwa die alttestamentlichen Sätze am Übergang zum Neuen Testament. Die Abfolge Maleachi – Matthäus ist dabei ein Phänomen der Neuzeit seit der Lutherbibel; ältere Handschriften kennen andere Übergänge vom Alten zum Neuen Testament. S. dazu insgesamt T. Hieke, Jedem Ende wohnt ein Zauber inne … Schlussverse jüdischer und christlicher Kanonausprägungen, in: Ders. (Hrsg.), Formen des Kanons. Studien zu Ausprägungen des biblischen Kanons von der Antike bis zum 19. Jahrhundert (SBS 228), Stuttgart, 2013, 225 –252. 22

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hang religiöser Texte (in der „Heiligen Schrift“) kann der glaubende Mensch neue Hinweise und Impulse entdecken, an die der menschliche Autor in seiner Begrenztheit nie gedacht haben konnte. Der Kontext ist zugleich aber auch eine Grenze der Interpretation: Willkürliche Vereinnahmung einzelner Sätze aus der Heiligen Schrift, die aus dem Kontext gerissen sind, ist abzulehnen. Gerade durch den weiteren und näheren Kontext werden solche Sätze oft „relativiert“, also in die richtige Beziehung gesetzt. Damit hier keine Willkür einkehrt und doch wieder interessengeleitete Ideologie aufkommt, ist das Gespräch in der Auslegungsgemeinschaft unerlässlich. Eine Auslegung, eine Kommentierung, eine Predigt ist immer nur ein Lesevorschlag, dessen Beobachtungen von den anderen Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft nachvollzogen werden müssen. Kommt man zu dem Ergebnis, dass die vorgeschlagene Deutung und Aktualisierung des Schriftwortes vernünftig und hilfreich ist, also „zum Leben führt“ (vgl. Lev 18,5), dann hat sie ihren Wert. Empfindet die Gemeinschaft jedoch eine Auslegung als einseitig, abseitig, engstirnig, lebensfeindlich und lebensabträglich, dann wird sie den Vorschlag mit Recht zurückweisen. „Prüft alles und behaltet das Gute“ (1 Thess 5,21) – diesen Ratschlag des Apostels Paulus kann man hier sehr gut aktualisieren.

7. Fazit Die doppelte Autorschaft der Bibel und die inkarnatorische Schrifthermeneutik nach dem Prinzip „Gotteswort in Menschenwort“ macht eine fundamentalistische „Hermeneutik der Unmittelbarkeit“ unmöglich: Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen, sondern als von Menschen geschriebene Literatur nach den Methoden der Literaturwissenschaft in synchroner und diachroner Methodik zu analysieren. Weder ist eine bestimmte Methodik ausgeschlossen, noch sind die Ergebnisse einer irgendwie gearteten systematischen „Zensur“ zu unterwerfen. Es ist mit Fug und Recht nach dem zu fragen, was die menschlichen historischen Autoren sagen wollten, wann und unter welchen Umständen sie geschrieben haben und in welchen literarischen Formen und Gattungen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass nicht jedes Schriftwort sofort und unmittelbar zur „Nachahmung“ aufgegeben oder „wörtlich“ zu nehmen ist. Auch wenn

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die Heilige Schrift als „Wort des lebendigen Gottes“ verkündet und geglaubt wird, dispensiert dies nicht von der Notwendigkeit einer vernunftgemäßen Auslegung innerhalb einer Auslegungsgemeinschaft und im Gesamtkontext der Bibel. Die Bibel darf auf der anderen Seite aber auch nicht auf ein historisches Dokument des Alten Orients (von zweifelhaftem Quellenwert) reduziert und in die sonstige Literatur des Alten Orients oder der hellenistisch-römischen Zeit einfach eingeordnet werden. Es gilt vielmehr ernst zu nehmen, dass von Anfang an Generationen von Menschen jüdischen und christlichen Glaubens in diesem Textkorpus, das sich in Umfang und Arrangement je nach Glaubensgemeinschaft unterscheidet, eine Orientierung für ihr Leben gesucht haben. Das ist eine rezeptionsgeschichtliche Tatsache und wirkt sich auf die Qualität des Gegenstandes aus24. Auf die Notwendigkeit der Auslegung wurde bereits hingewiesen; damit verbunden ist aber auch die Notwendigkeit der Aktualisierung25. Wenn die Rede vom „Wort des lebendigen (!) Gottes“ keine leere Phrase bleiben soll, muss schon von der Exegese, dann aber auch von den anderen theologischen Disziplinen, von der Katechese, Verkündigung und Lehre die Frage gestellt werden, welche Impulse diese „alten Worte“ in die heutige Zeit einbringen können. Das kann eigentlich nur im Diskurs gelingen, im gegenseitigen Gespräch zwischen den verschiedenen Gruppen und Fachkompetenzen, aber auch im Dialog mit anderen Wissenschaften.

24

Vgl. O H. Steck, Gott in der Zeit (s. Anm. 3), 128: „Die Bibel hat in dieser ihrer Eigenart, über die Entstehungszeit selbst vorauszuweisen, Vorstufen in ihrer eigenen Entstehungsgeschichte. Schon die Bewegung des inneralttestamentlichen Überlieferungsvorgangs und die frühe Rezeption in ältesten Handschriften zeigen dies. Dieser alte Text Bibel will demnach fortan Gültiges nicht in begrenzte Zeitkonstellationen, sondern – diese auch unexpliziert einschließend – in offene Zeit übermitteln. Der alte Text Bibel umschließt … die Lebenswelten als Zeit lebendigen Gotteshandelns auch noch weit über die Offenbarungszeit der Formierung biblischer Bücher hinaus.“ 25 S. dazu auch ebd., 129: „Dieses alte Wort muß vielmehr bei Späteren auf eigene Weise und in jeweils lebensnaher Fassung erst wieder ankommen.“ Steck optiert für ein kreatives „Wachstum“ der Heiligen Schrift, für eine „geistige Aneignung“, die entsprechende Veränderungen einschließt, die aber auf der Sachlinie der biblischen Aussagen liegt und im Sinne des Sach- und Zeitgefälles der Bibel im ganzen legitim ist.

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Die Verkündigung der Heiligen Schrift und ihre Auslegung müssen in Liturgie und Pastoral, aber auch in der Schulung des „professionellen Personals“ höhere Priorität gewinnen. Es beginnt bei der Bewusstseinsbildung: Bei welcher Gelegenheit auch immer mit biblischen Texten umgegangen wird, ist zu reflektieren, worum es sich hier handelt, welche Qualität und welchen Stellenwert dieses besondere Textkonvolut hat. Dem Zweiten Vatikanischen Konzil gebührt Dank dafür, dass es den Weg der Vernunft gewiesen hat, der vor Fundamentalismus und Bibelvergessenheit bewahrt. Mit der doppelten Autorschaft der Bibel hat das Konzil eine theologische Sprachform zur Beschreibung der göttlichen Offenbarung gefunden, die der wissenschaftlichen Erforschung und Auslegung weiten Raum lässt, zugleich aber in untrennbarer Verbindung dem Glauben an die Nähe Gottes größere Tiefe verleiht.

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Die Bedeutung der Rückfrage nach dem historischen Jesus für die Theologie an einem Beispiel Die Johannestaufe als Indikator für ein Sündenbewusstsein Jesu Angelika Strotmann

Die dogmatische Konstitution Dei Verbum äußert sich weder explizit zur Relevanz historischer Fakten für den christlichen Glauben im Allgemeinen, noch zur Bedeutung der Rückfrage nach dem „historischen“ Jesus für diesen Glauben im Besonderen. Allenfalls ist in DV eine Annäherung zu erkennen, so wenn DV 121 konstatiert, dass „Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat“ und im Folgenden auf die Gattungskritik verweist: „Um nämlich das, was der heilige Verfasser schriftlich aussagen wollte, richtig zu verstehen, ist in gehöriger Weise sowohl auf jene gewohnten angeborenen Denk-, Sprech- und Erzählweisen zu achten, die zu Zeiten des Hagiographen herrschten, als auch auf jene, die zu jener Zeit beim Umgang der Menschen untereinander allenthalben verwendet zu werden pflegten.“ Am nächsten kommt DV 19 der Frage nach dem historischen Jesus2, wo das Konzil zunächst an der Geschichtlichkeit der Evangelien festhält, direkt im Anschluss jedoch nicht nur davon sprechen kann, dass die Apostel „nach dem Aufstieg 1

Die dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“ wird im Folgenden in der deutschen Übersetzung zitiert nach: P. Hünermann (Hrsg.), Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe (HThK Vat. II 1 – Sonderausgabe), Freiburg i. Br. 2009, 363 –385. 2 So auch Rahner/Vorgrimler in ihrer Einleitung zu DV, meiner Meinung nach etwas zu optimistisch: „Damit nimmt das Konzil auf seine Art die Frage nach dem ‚historischen Jesus‘ auf.“ K. Rahner/H. Vorgrimler (Hrsg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums mit Einführungen und ausführlichem Sachregister. Mit einem Nachtrag vom Oktober 1968: Die konziliare Arbeit der römischen Kirchenleitung, in: Herders Theologisches Taschenlexikon, Freiburg i. Br. 41979, 365.

Die Bedeutung der Rückfrage nach dem historischen Jesus für die Theologie

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des Herrn“ seine Worte und Taten in einem „volleren Verständnis“ überlieferten, sondern auch, dass die biblischen Verfasser die vier Evangelien redigierten, in dem sie „aus dem vielen“ auswählten, zusammenfassten, die Lage der Kirche (= ihrer Adressaten) berücksichtigten etc. Am Beispiel des historischen Faktums der Taufe Jesu durch Johannes und der sich daraus ergebenen Frage nach dem Sündenbewusstsein Jesu möchte ich im Folgenden die Bedeutung so genannter „historischer Fakten“ für die biblische Theologie, in unserem Fall für die Vorstellung von der Sündlosigkeit Jesu, aufzeigen.

1. Das neutestamentliche Bekenntnis der Sündlosigkeit Jesu Das Bekenntnis der Sündlosigkeit Jesu ist tief verankert im christlichen Glauben. Praktizierende Katholiken und Katholikinnen kennen die Formulierung „in allem uns gleich außer der Sünde“ aus dem Hochgebet IV der röm.-kath. Messe, die auf das Konzil von Chalcedon (451) zurückgeht. Dort heißt es: „Christus ist … wesensgleich dem Vater der Gottheit nach, wesensgleich uns derselbe der Menschheit nach, in allem uns gleich außer der Sünde“.3 Die Vorstellung von der Sündlosigkeit Jesu ist allerdings viel älter als Chalcedon und findet sich im NT zuerst bei Paulus in 2 Kor 5,21: „Den, der keine Sünde kannte, machte er [Gott] für uns zur Sünde, damit wir Gerechtigkeit Gottes würden in ihm.“ Doch bleibt es seine einzige Aussage zur Sündlosigkeit Jesu. Im Zentrum seiner eindrucksvollen Anthropologie der Sünde fehlt Vergleichbares (vgl. bes. Röm 1– 8)4. Das ändert sich in den späteren ntl Schriften, wo 3

Nach J. Wohlmuth (Hrsg.), Concilium oecumenicorum decreta. Band 1, Paderborn 31998, 86. 4 Vgl. dazu G. Röhser, Metaphorik und Personifikation der Sünde. Antike Sündenvorstellung und paulinische Hamartia (WUNT 2/25), Tübingen 1987; H. Merklein, Paulus und die Sünde, in: H. Frankemölle (Hrsg.), Sünde und Erlösung im Neuen Testament (QD 161), Freiburg i. Br. 1996, 123 –163. Zum paulinischen Sündenverständnis vgl. jüngst auch M. Wolter, Die Rede von der Sünde im Neuen Testament, in: R. Preul/W. Härle (Hrsg.), Marburger Jahrbuch Theologie XX. Sünde, Marburg 2008, 15 – 44, 33 – 41, sowie S. Hagenow, Heilige Gemeinde – Sündige Christen. Zum Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus und in weiteren Texten des Urchristentums (TANZ 54), Tübingen 2011.

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vor allem das Corpus Johanneum (vgl. Joh 7,18; 8,24.34 –36.46; 1 Joh 3,5)5, 1 Petr 1,18f.; 2,22–246 und der Hebr die Sündlosigkeit Jesu in unterschiedlichen Zusammenhängen thematisieren. Besonders eindrücklich formuliert Hebr 4,15, aus dem das Konzil von Chalcedon wiederum zitiert: „Denn nicht haben wir einen Hohenpriester, der nicht mitleiden kann mit unseren Schwächen, vielmehr einen, der versucht worden ist in allem, gemäß (seiner) Gleichheit, (doch) ohne Sünde.“ Die Rede von der Sündlosigkeit Jesu hat ihren Ursprung in den frühen Bekenntnissen über die Heilswirksamkeit des Todes Jesu als eines Sterbens „für uns“ bzw. „für unsere Verfehlungen / Sünden“ (vorpaulinisch schon in 1 Kor 15,3; vgl. auch Gal 1,4; Röm 4,25; 5,8 u.ö.), die neben jüdischer Märtyrertheologie (2 Makk 7,37f.; Weish 2–3) vor allem an das Schicksal des leidenden und von Gott gerechtfertigten Gottesknechts aus Jes 53 anknüpfen, der wegen „unserer Verbrechen“ (V. 5) und „der Sünden von vielen“ (V. 12) getötet wurde, „obwohl er kein Unrecht getan hat und kein trügerisches Wort in seinem Mund war“ (V. 9). Auch die synoptischen Evangelien stehen in dieser Tradition und deuten den Tod Jesu soteriologisch7, sind aber noch zurückhaltend mit expliziten Aussagen zur Sündlosigkeit des irdischen Jesus, obwohl es nicht zuletzt in den Perikopen zur Taufe Jesu durch Johannes Hinweise gibt, dass sie zumindest vorausgesetzt wird.8 5 Zum johanneischen Sündenverständnis vgl. M. Wolter, Rede (s. Anm. 4), 29 –33, sowie ausführlich: R. Metzner, Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium (WUNT 122), Tübingen 2000. Zu 1 Joh vgl. J. Beutler, Die Johannesbriefe (RNT), Regensburg 2000, 78 – 90; zum Hebr vgl. H. Löhr, Umkehr und Sünde im Hebräerbrief (BZNW 73), Berlin/New York 1994, 11–136; S. Fuhrmann, Vergeben und Vergessen. Christologie und Neuer Bund im Hebräerbrief (WMANT 113), Neukirchen-Vluyn 2007. 6 1 Petr 2,22 zitiert Jes 53,9, wobei er statt „#nomËa tat er nicht“ liest: „$martËa tat er nicht“. 7 Vgl. z. B. die Deuteworte über den Kelch beim letzten Mahl Jesu in Mk 14,24 par Lk 22,20 und bes. in Mt 26,28, wo der Evangelist „zur Vergebung der Sünden“ hinzufügt; vgl. schon im ältesten Evangelium Mk 10,45 die Rede von der Lebenshingabe als Lösegeld für viele. 8 Genaueres dazu unten. Im Mk scheint darauf schon der Einschub in die Erzählung von der Heilung des Gelähmten hinzuweisen (Mk 2,(5)6 –10), insbesondere die Identifizierung des markinischen Jesus mit dem von Gott zur Sündenvergebung bevollmächtigten Menschensohn (V. 10).

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Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass die Vorstellung von der Sündlosigkeit Jesu ein theologischer Topos ist, der sich aus der soteriologischen Deutung seines Todes heraus entwickelt hat und zur Christologie der ntl Schriften gehört. Trotz der kerygmatischen Überformung der Evangelien ist jedoch ansatzweise zu erkennen, dass der irdische Jesus sich eigener menschlicher Fehler, Schwächen und Sünden bewusst war. Ein eindrückliches Beispiel dafür bietet die Perikope vom reichen Jüngling, in der Jesus seine Anrede durch den jungen Mann mit „guter Meister“ ziemlich brüsk abweist: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut außer dem einen, Gott“ (Mk 10,17f. par Lk 18,19; anders Mt 19,16f.).9 Ohne die Frage nach dem Verständnis des „Guten“ an dieser Stelle vertiefen zu können, das sicher nicht mit dem sittlich Guten späterer christlicher Theologie identisch ist, ist zu fragen, ob die Zurückweisung der Anrede „gut“ durch Jesus nicht auch ein Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit impliziert,10 da Jesus sich in seiner Antwort mit allen anderen Menschen zusammen schließt, denen der eine Gott in seiner absoluten „Gutheit“ gegenübersteht. Einen noch deutlicheren Hinweis auf ein Sündenbewusstsein des historischen Jesus geben uns die Erzählungen über seine Taufe durch Johannes in Mk 1,9 –11; Mt 3,13 –17; Lk 3,21f., zumal die Historizität der Taufe im Unterschied zur Begegnung Jesu mit dem reichen Jüngling in der Forschung kaum bezweifelt wird.11 Die folgenden 9

Dieses Bewusstsein Jesu von der eigenen Schwäche und Unvollkommenheit wird auch durch die Darstellung des sogenannten Gebetskampfes Jesu in Getsemani durch das Mk bestätigt (14,32– 42 par Mt 26,36 – 46 par Lk 22,39 – 46) und ansatzweise durch den Verlassenheitsruf Jesu am Kreuz (Mk 15,34 par Mt 27,46). Auf weitere Irrtümer und Mängel Jesu, allerdings aus nachneutestamentlicher bzw. moderner Perspektive weist Wolfgang Pfüller hin: „… uns in allem ähnlich, die Sünde ausgenommen“? Die Behauptung der Sündlosigkeit und das Menschsein Jesu, in: ThZ 56 (2000) 215 –232, 227–230. 10 Diese Frage wird in den gängigen deutschsprachigen Kommentaren zur Stelle nicht gestellt: z. B. R. Pesch, Das Markusevangelium 8,27–16,20 (HThKNT II,2) Freiburg i. Br. 31984, 137–139; J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus. 2. Teilband. Mk 8,27–16,20 (EKK II/2), Neukirchen-Vluyn/Düsseldorf 62008, 85 – 87; W. Eckey, Das Markusevangelium. Orientierung am Weg Jesu. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 22008, 331–333; P. Dschulnigg, Das Markusevangelium (ThKNT 2), Stuttgart 2007, 276. 11 Auf einzelne moderne Bestreiter der Historizität der Taufe Jesu durch Johannes verweist J. P. Meier, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus. Bd. 2:

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Ausführungen zum Sündenbewusstsein Jesu setzen daher bei der Taufe Jesu an, die im Kontext der Umkehrpredigt des Johannes und des Verständnisses seiner Taufe als „Umkehrtaufe zur Vergebung der Sünden“ (b!ptisma metanoËaj eÙj /fesin $martiãn Mk 1,4; Lk 3,3) interpretiert wird.12 Für das Thema entscheidend ist dabei die Frage, aus welchen möglichen Gründen sich Jesus der Johannestaufe unterzog.13

2. Die Taufe Jesu durch Johannes Alle vier Evangelien und die Apostelgeschichte verbinden das Wirken und die Predigt des Täufers mit dem Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu (Mk 1,2–13; Mt 3,1–17; Lk 3,1–22; Apg 1,22; 10,37f.; 13,24f.). Darüber hinaus berichten die drei synoptischen Evangelien (Mk 1,9 –11; Mt 3,13 –17 und Lk 3,21f.) und Apg 1,22, dass sich Jesus der Johannestaufe unterzog. Doch auch viele andere in den Evangelien beschriebene Ereignisse aus dem Leben Jesu sind mehrfach bezeugt, werden aber nicht so selbstverständlich und „beinahe universal“14 wie die Taufe Jesu durch Johannes als eines der sichersten historischen Fakten im Leben Jesu behauptet. Genau genommen

Mentor, Message, Miracles, New York 1994, 101; 182 Anm. 2+3. Er setzt sich insbesondere mit Ernst Haenchen und Morton S. Enslin auseinander. 12 Aus der kaum noch zu überblickenden Literatur zum historischen Jesus und seiner Taufe durch Johannes vgl. z. B. J. D. Crossan, Der historische Jesus, München 21995, 315 –321; J. D. G. Dunn, Jesus Remembered (Christianity in the making 1), Grand Rapids, Mich. u. a. 2003, 339 –382; M. Ebner, Jesus von Nazareth in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge (SBS 196), Stuttgart 22004, 91– 96; J. P. Meier, Jew (s. Anm. 11), 100 –116; L. Schenke, Jesus und Johannes der Täufer, in: Ders. u. a., Jesus von Nazareth – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, 84 –105; J. Schröter, Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt (Biblische Gestalten 15), Leipzig 2006, 135 –142; G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 32001, 184 –198. 13 Vgl. die einzigen explizit exegetischen Aufsätze zum Thema: E. K. Wong, Was Jesus without sin? An inquiry into Jesus’ baptism and the redaction of the Gospels, in: Asia journal of theology 11 (1997) 128 –139; A. Puig i Tàrrech, Pourquoi Jésus a-t-il reçu le baptême de Jean? In: NTS 54,3 (2008) 355 –374. 14 Z. B. J. D. G. Dunn, Jesus (s. Anm. 12), 339, der die Taufe Jesu durch Johannes und Jesu Tod am Kreuz als die zwei Fakten im Leben Jesu nennt, die beinahe universal Zustimmung finden.

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hat diese hohe „historische“ Wertschätzung der Johannestaufe nur wenig mit ihrer Bezeugung in den genannten Quellen zu tun. Denn wenn es auch Indizien dafür gibt, dass Q und die johanneische Tradition unabhängig voneinander und vom Mk von der Taufe Jesu wussten15, kann sicher nur das Mk als gemeinsame Quelle ausgemacht werden, so dass das in der historischen Jesusforschung wichtige Kriterium der mehrfachen unabhängigen Überlieferung für dieses Ereignis nur unter Vorbehalt zutrifft. Entscheidend für die behauptete Historizität der Taufe Jesu durch Johannes ist das Kriterium der „Verlegenheit“ (engl. „embarrassment“) oder nach Knut Backhaus das der „Gegentendenz“ („counter-tendency“)16, da das Faktum der Taufe Jesu durch Johannes den Interessen der frühchristlichen Christologie, die nicht nur erzählerisch Johannes als Vorläufer Jesu stilisiert, sondern in allen Überlieferungsschichten des NT Jesus als sündenlosen Sohn Gottes und daraus folgend als Quelle der Sündenvergebung bekennt (s.o.), deutlich entgegensteht. Tatsächlich ist den ntl Texten zur Taufe Jesu diese Verlegenheit deutlich anzumerken, da sie alle die Bedeutung Jesu gegenüber Johannes deutlich aufwerten, bis dahin dass im Mt und Joh der Täufer sich sogar selbst Jesus unterordnet. Am sublimsten geht das älteste Evangelium vor. Nur durch die erzählerische Platzierung der Taufe Jesu in Mk 1,9 –10a zwischen der Ankündigung des kommenden Stärkeren durch Johannes (Mk 1,7f.) und der ausführlich erzählten Vision und Audition Jesu, in der er durch Geistsendung und Himmelsstimme als Sohn Gottes proklamiert wird (Mk 1,10b–11), suggeriert es den Adressat(inn)en zum einen, dass Jesus dieser angekündigte Stärkere sein muss, und zum anderen, dass er durch seine Proklamation zum Sohn Gottes dem Täufer deutlich überlegen ist. Der knapp und schlicht berichtete Taufakt wird dadurch beinahe zur Nebensache. Der Täufer selbst scheint nicht zu wissen, wen er da tauft. Er kann es auch gar nicht, da die Herabkunft des Gottesgeistes und die Himmelsstimme nur von Jesus selbst und vom Leser bzw. der Leserin wahrgenommen werden. 15

Zum Quellenproblem ausführlich J. P. Meier, Jew (s. Anm. 11), 103 –105. K. Backhaus, Echoes from the Wilderness. The Historical John the Baptist, in: T. Holmen (Hrsg.), Handbook for the Study of the Historical Jesus. Bd. 2, Leiden 2011, 1755.

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Diese eher sublime Aufwertung Jesu gegenüber dem Täufer hat den anderen Evangelisten nicht mehr genügt. Nach Mt 3,13 –17 weiß der Täufer, dass Jesus mehr ist als er, konkret wohl der von ihm in V. 11 angekündigte Stärkere, der eigentlich ihn taufen müsste. Daher weigert er sich zunächst Jesus zu taufen, bis dieser ihn überzeugt, dass sie beide durch die Taufe alle Gerechtigkeit (Gottes) erfüllen, d. h. dass durch sie das sich in Jesus realisierende Heil Gottes allen Anwesenden kundgetan wird (V. 15). Entsprechend sind die Herabkunft des Geistes Gottes auf Jesus und insbesondere die Himmelsstimme nicht für Jesus selbst gedacht, sondern proklamieren im Unterschied zu Mk 1,11 öffentlich seine Gottessohnschaft: „Dieser ist mein Sohn, der geliebte …“17 Merkwürdig ist die Taufe Jesu in Lk 3,21f. erzählt, da die unmittelbar vorhergehenden Verse den Konflikt des Täufers mit Herodes Antipas und die darauf folgende Inhaftierung erwähnen (V. 19f.), so dass der Eindruck entsteht, dass Johannes bei der Taufe Jesu gar nicht anwesend ist, zumal sein Name in der eigentlichen Taufperikope nicht vorkommt. Wird Jesus eventuell durch Gott selbst getauft? Das Verschwinden des Täufers, bevor Jesus auf ihn trifft, gehört zur lukanischen Überbietungstheologie, wie sie schon in der Kindheitserzählung kompositorisch deutlich wird (Lk 1,5 – 80). Lk 3,19 –22 leugnet nicht die Taufe Jesu durch Johannes, doch durch seine geschickte Komposition zeigt der Evangelist, dass die Aufgabe des Täufers erfüllt ist und mit Jesus etwas Neues beginnt. „Es geht Lukas nicht um eine chronologische Vorordnung des Johannes vor Jesus, sondern um seine theologische Unterordnung.“18 Obwohl Johannes

17 Nicht näher eingehen kann ich an dieser Stelle auf die gleichzeitig im Mt zu beobachtende und zur Hierarchisierung beider Gestalten gegenläufige Tendenz der „parallelen Zuordnung“ (vgl. z. B. Mt 3,2 mit 4,17 – Jesus und Johannes verkünden beide exakt dasselbe, nämlich Umkehr und das nahe gekommene Königreich der Himmel). Dazu genauer U. B. Müller, Johannes der Täufer. Jüdischer Prophet und Wegbereiter Jesu (Biblische Gestalten 6), Leipzig 2002, 124 –134. Vgl. auch J. Ernst, Johannes der Täufer. Interpretation – Geschichte – Wirkungsgeschichte (BZNW 53), Berlin/New York 1989, 155 –185, bes. 182–185. Mit einer etwas anderen Zuordnung auch H. Frankemölle, Johannes der Täufer und Jesus im Matthäusevangelium: Jesus als Nachfolger des Täufers, in: NTS 42 (1996) 196 –218. 18 P. Böhlemann, Jesus und der Täufer. Schlüssel zur Theologie und Ethik des Lukas (SNTS.MS 99), Cambridge 1997, 54.

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in keinem anderen Evangelium so oft vorkommt und so präsent ist wie bei Lukas19, wird er letztlich auf seine Aufgabe als Wegbereiter und Ankündiger des Messias reduziert und damit enteschatologisiert und zum bloßen Tugendlehrer.20 In Joh 1,29 –34 schließlich wird die Taufe Jesu nicht einmal mehr erwähnt. Jesus kommt nur zum Täufer, damit dieser von ihm als Geistträger und Sohn Gottes Zeugnis geben kann und ihn dadurch dem Volk bekannt macht. Das Motiv der Geistsendung aus der Taufvision wird nun Johannes in den Mund gelegt, der den Geist Gottes auf Jesus herabkommen und auf ihm bleiben sieht. Johannes wird damit zum bloßen Christuszeugen und jeder eigenen theologischen Bedeutung entkleidet.21 Fazit: der Taufakt Jesu durch Johannes wird in den Evangelientexten immer mehr zurückgedrängt, bis er im Joh ganz verschwindet und damit auch das Problem der Überordnung des Täufers. Historisch am wahrscheinlichsten ist die Markusvariante in Mk 1,9 ohne die erwähnte Christologisierung: Jesus kam von Galiläa und ließ sich von Johannes im Jordan taufen, ohne dass der Täufer wusste, mit wem er es zu tun hatte.

3. Umkehrpredigt und Wassertaufe des Johannes Um die Frage zu beantworten, warum Jesus sich von Johannes taufen ließ, ist es notwendig das Verständnis der Johannestaufe und die mit ihr verbundene Umkehrpredigt des Täufers zu erschließen. Dabei ist auch die Darstellung des Täufers in den Antiquitates Iudaicae des jüdischen Historikers Flavius Josephus (ca. 37–100) zu berücksichtigen. 19

33x wird der Täufer namentlich im lukanischen Doppelwerk erwähnt, davon 24x in der Apg (vgl. U. B. Müller, Johannes (s. Anm. 17), 134). Erzählerisch präsent ist er vor allem in der Kindheitsgeschichte des Lk. 20 Zum Ganzen ebd., 134 –162. Etwas weniger radikal beurteilt J. Ernst, Johannes (s. Anm. 17), 81–112, das Verhältnis zwischen dem Täufer und Jesus im Lk: „Die ursprünglich eschatologisch, dann christologisch verstandene Vorläuferidee ist von Lukas typologisch umgewandelt worden. Das Geschick Jesu ist für Lukas in der Täufergeschichte vorausdargestellt.“ (111) 21 Vgl. U. B. Müller, Johannes (s. Anm. 17), 162. Zum Täuferbild des Joh vgl. ausführlich J. Ernst, Johannes (s. Anm. 17), 186 –216.

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3.1 Die Umkehrpredigt des Johannes Wie bei der Darstellung der Taufe Jesu gibt es auch bei der Darstellung der Umkehrpredigt des Johannes zwischen den Quellen große Unterschiede. Auf der einen Seite stehen die Logienquelle mit den ihr folgenden Evangelien und ansatzweise das Mk, die die Umkehrpredigt des Täufers eschatologisch verstehen. Auf der anderen Seite stehen das Joh und Flavius Josephus. Während das Joh gar keine Umkehrpredigt des Täufers kennt, sondern seine Funktion auf Ankündigung und Bezeugung des kommenden Geisttäufers reduziert, wird der Täufer bei Josephus als hellenistischer Tugendprediger und Philosoph22 dargestellt, der die Menschen zu Frömmigkeit gegenüber Gott und Gerechtigkeit gegenüber den Mitmenschen auffordert (Ant 18,116/18,5.2)23. Da Josephus auch sonst in seinen Werken dazu neigt, das den Römern verdächtige eschatologische Denken im antiken Judentum zu verschweigen, dürfen wir auch hier von derselben Tendenz ausgehen.24 Es bleiben daher als historisch verlässliche Quellen das Mk und vor allem Q, die Johannes als eschatologischen Propheten darstellen, der ganz Israel zu Buße und Umkehr aufruft. Während Mk jedoch von der Umkehrpredigt nur die Ankündigung eines kommenden Stärkeren übrig lässt, der statt der Wassertaufe eine Geisttaufe durchführen wird, überliefert uns Q auch ihren harschen Wortlaut (Mt 3,7–10.12 par Lk 3,7– 9.17). Erst auf dem Hintergrund dieser eschatologischen Gerichtspredigt werden die Dringlichkeit der Johannestaufe und ihr von allen Autoren geschilderter Erfolg verständlich.

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J. P. Meier, Jew (s. Anm. 11), 21, bestimmt das Täuferbild bei Josephus noch genauer. Danach zeichnet er ihn als „a popular moral philosopher of Stoic hue, with a somewhat neo-Pythagorean rite of lustrations.“ 23 Die Zählung der Abschnitte (nicht der Kapitel) in den Ant stimmt in der verbreiteten deutschen Übersetzung von H. Clementz, Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer, Darmstadt 61985, nicht mit der kritischen Ausgabe des griechischen Textes von B. Niese, Flavius Josephus, Antiquitatum Iudaicarum. Bd. 1– 4, in: Flavii Iosephi opera. Edidit et apparatu critico instruxit Benedictus Niese, Berlin 21955, überein. 24 So auch M. Ebner, Jesus (s. Anm. 12), 88f.

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Mt 3,7–10.12 (Q)

Lk 3,7– 9.17 (Q)

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Ihr Schlangenbrut, wer hat euch gezeigt, dass ihr vor dem kommenden Zorn fliehen könnt? 8 Bringt also Frucht hervor, die der Umkehr würdig ist, 9 und meint nicht, bei euch sagen (zu können): Wir haben ja Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erstehen lassen. 10 Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum also, der keine gute Frucht bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen …

7

Ihr Schlangenbrut, wer hat euch gezeigt, dass ihr vor dem kommenden Zorn fliehen könnt? 8 Bringt also Früchte hervor, die der Umkehr würdig sind, und fangt nicht an bei euch zu sagen: Wir haben ja Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erstehen lassen. 9 Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum also, der keine gute Frucht bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen …

Ankündigung des kommenden Stärkeren 12 Seine Worfschaufel ist in seiner Hand und er wird seine Tenne (von Spreu) reinigen und den Weizen in seine Scheune sammeln; die Spreu aber wird er in unauslöschlichem Feuer verbrennen.

Ankündigung des kommenden Stärkeren 17 Seine Worfschaufel ist in seiner Hand, um seine Tenne (von Spreu) zu reinigen und den Weizen in seine Scheune zu sammeln; die Spreu aber wird er in unauslöschlichem Feuer verbrennen.

Der Täufer erwartet in allernächster Zukunft ein die bisherige Geschichte abschließendes, endgültiges Zorngericht Gottes: Die Axt ist schon an die Wurzel derjenigen Bäume gelegt, die bisher keine Frucht gebracht haben, und der kommende Stärkere hält die Worfschaufel in der Hand, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Danach beginnt von Gott her etwas völlig Neues, das Johannes aber nur durch das Sammeln des Weizens andeutet und nicht näher beschreibt.25 Die Predigt des Täufers mit ihrer starken bildhaften Sprache, die vor Pauschalisierungen, ja Beleidigung (Anrede „Schlangenbrut“; wörtl. „Abkömmlinge von Giftschlangen“) nicht zurückschreckt, erinnert an die Sprache der ersttestamentlichen Gerichtsprophetie. Höhepunkt ist das 25

Mehrfach wird in diesem Zusammenhang in der Forschung darauf hingewiesen, dass es sich bei dem erwarteten Endgericht des Täufers nicht um ein Weltgericht oder eine kosmische Katastrophe handele, sondern „nur (sic!) um die Vernichtung der Sünder (Jes 66,15f.), die Schöpfung bleibt erhalten.“ (U. B. Müller, Johannes (s. Anm. 17), 36).

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Bild von den Steinen, aus denen Gott dem Abraham Kinder erwecken kann, ein Bild, das die selbst bezogene Heilsgewissheit der Judäer(innen), insbesondere der religiösen Elite, radikal in Frage stellt. Nach Johannes ist ganz Israel ohne Ausnahme von Gott abgefallen und muss entsprechend das Gericht Gottes erwarten. Jede Erwählungsvorstellung, wie die Berufung auf die Abstammung von Abraham, ist im unmittelbar bevorstehenden Gericht völlig unerheblich, da nur die gerettet werden, die Frucht der Umkehr bringen26, das heißt die, die ihr Leben von nun an ganz an dem in der Tora geoffenbarten Willen Gottes ausrichten. Konkret angesprochen ist dabei nicht ein Kollektiv, sondern der Einzelne, dessen Umkehr oder Nicht-Umkehr entscheidend für sein Geschick im Gericht ist (vgl. V. 10).27 Das Gericht durchführen wird nach Johannes ein kommender „Stärkerer“, dem er sich selbst unterordnet. Die von den Quellen suggerierte Identifizierung dieser Gestalt mit Jesus von Nazaret wird von der Forschung mit guten Gründen abgelehnt.28 Umstritten ist, wen der Täufer mit dem Kommenden gemeint haben könnte. Vorgeschlagen werden Gott selbst29 oder eine Mittlergestalt entsprechend dem Menschensohn in Dan 730, sehr selten Elija31. James Dunn vermutet gar, dass Johannes selbst nicht wusste, wer der Stärkere sein werde.32 Letztlich ist das auch nicht entscheidend, entscheidend ist vielmehr die Verbindung, die der Täufer zwischen seiner Wassertaufe und

26

Die Pluralversion „Früchte“ der Umkehr geht mit einiger Wahrscheinlichkeit auf das Konto des Lukas, der insgesamt zur Ethisierung der Täuferpredigt neigt. Vgl. dazu u. a. ebd., 146 –156. 27 Dazu passt gut die folgende Aussage von Knut Backhaus zur Johannestaufe: „… in some way baptism was an act of individualisation.“ (K. Backhaus, Echoes (s. Anm. 16), 1763). 28 S.o. S. 229–231 zum christlichen Interesse an einer solchen Identifizierung. Zudem legt sie sich auch durch die narrative Einbindung der Täuferpredigt in den jeweiligen Kontext nahe. 29 So z. B. J. Ernst, Johannes (s. Anm. 17), 305.309; U. B. Müller, Johannes (s. Anm. 17), 34f., und zuletzt sehr ausführlich K. Backhaus, Echoes (s. Anm. 16), 1770 –1773. 30 So z. B. J. P. Meier, Jew (s. Anm. 11), 33 –35; G. Theißen/A. Merz, Jesus (s. Anm. 12), 189f., wobei selbstredend davon ausgegangen wird, dass hinter dieser Mittlergestalt Gott selbst steht. 31 J. D. G. Dunn, Jesus (s. Anm. 12), 370, nennt nur J. A. T. Robinson. 32 Ebd., 371.

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dem als Feuer- und/oder Geisttaufe vorgestellten analogen Gerichtshandeln des kommenden Stärkeren herstellt. Mk 1,7f.

Mt 3,11

Lk 3,16

Es kommt einer nach mir, der stärker ist als ich; ich bin es nicht wert, mich zu bücken, um ihm seine Schuhriemen zu lösen. Ich habe euch mit Wasser getauft, er [aber = de] wird euch mit Heiligem Geist taufen.

Ich taufe euch [nur] mit Wasser zur Umkehr. Der aber nach mir kommt, ist stärker als ich, und ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe auszuziehen.

Ich taufe euch [nur] mit Wasser. Es kommt aber einer, der stärker ist als ich, und ich bin es nicht wert, ihm seine Schuhriemen zu lösen.

Er wird euch mit Heiligem Geist und Feuer taufen.

Er wird euch mit Heiligem Geist und Feuer taufen.

3.2 Die Wassertaufe des Johannes als Umkehrtaufe zur Vergebung der Sünden Nichts ist so typisch für Johannes wie seine Wassertaufe. Alle Quellen stimmen darin überein und geben ihm – mit Ausnahme des Joh – den Beinamen „Täufer“ (griech. baptistûj). Innerhalb des zeitgenössischen Judentums war die Wassertaufe das Alleinstellungsmerkmal des Johannes, da sie im Unterschied zu rituellen Waschungen nur einmal vollzogen wurde und nicht in einer „Selbstwaschung“ bestand, sondern Johannes als Mittler brauchte. Er war der aktive Part, der die Taufe eingeführt hatte und sie auch durchführte bzw. von seinen Schülern durchführen ließ.33 Schließlich verbinden die Quellen (wieder mit Ausnahme des Joh) die Johannestaufe mit einer Umkehrpredigt des Täufers und siedeln sie zwischen Umkehr und Vergebung bzw. zwischen Hinwendung zu einer ethischen Lebensführung und Annahme durch Gott an.34 Konsens in der Jesusforschung besteht nun darin, dass das historisch wahrscheinlichste Verständnis der Johannestaufe uns in ihrer Qualifizierung als „Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ 33

K. Backhaus, Echoes (s. Anm. 16), 1759. Ebd.: „… it becomes clear that the baptismal act stands between repentance and forgiveness … or turning to ethical conduct and acceptability to God (Ant. 18.117).“ 34

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(Mk 1,4 par Lk 3,3) zugänglich ist. Wie die redaktionelle Interpretation der Taufe Jesu ist ihr Fehlen bei Mt und Joh ein deutlicher Hinweis auf die theologischen Schwierigkeiten einer nicht an Jesus gekoppelten Sündenvergebung. Ganz eindeutig ist das in Joh 1,25 –34 zu erkennen, wo die Wassertaufe des Johannes allein den Zweck hat Israel mit Jesus von Nazaret bekanntzumachen, dem Sohn Gottes, der mit dem Heiligen Geist taufen wird. Er ist „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt“ (1,29), so dass eine wie auch immer geartete Sündenvergebung durch die Johannestaufe schlicht überflüssig ist. Nicht ganz so eindeutig aus dem Kontext zu erschließen ist die christologische Begründung für das Fehlen der Formel „Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ im Mt, da der Evangelist immerhin noch eine Verbindung zwischen Taufe und Sündenbekenntnis herstellt („… ließen sich von ihm im Jordan taufen und bekannten dabei ihre Sünden“ Mt 3,6).35 Dafür dass die Christologie im Hintergrund dieser Änderungen steht, sprechen jedoch neben der Unbestimmtheit der Ersatzformulierung vor allem zwei Stellen am Anfang und Ende des Evangeliums, die ausschließlich dem Tod Jesu Sünden vergebende Kraft zuschreiben: die auf Jesus bezogene Verheißung des Immanuels, der sein Volk von den Sünden erretten wird in Mt 1,21 und der möglicherweise aus der Täuferperikope stammende Zusatz „zur Vergebung der Sünden“ im Kelchwort der Abendmahlsperikope (Mt 26,28). Probleme mit der Johannestaufe hat auch der jüdische Historiker Flavius Josephus, selbstverständlich nicht aus christologischen Gründen, sondern weil er ein eschatologisch-politisches und magisches Verständnis der Johannestaufe auszuschließen sucht.36 Ausdrücklich lehnt er daher die Inanspruchnahme der Taufe zur Abbitte bzw. Entschuldigung einzelner Sünden ab – der Begriff der Vergebung fällt hier nicht, da für Johannes allein die schon im Alltag vollzogene Umkehr Voraussetzung für die Taufe gewesen sei. Ihr Sinn hätte in der Heili-

35

Ähnlich z. B. P. Fiedler, Das Matthäusevangelium (ThKNT 1), Stuttgart 2006, 73; G. Theißen/A. Merz, Jesus (s. Anm. 12), 190; skeptisch gegenüber einer christologischen Deutung dieser Veränderung äußert sich U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. Mt 1–7 (EKK I/1), Neukirchen-Vluyn 52002, 205. 36 S.o. Anm. 22. Zur Johannesdarstellung des Josephus vgl. insgesamt die Ausführungen bei J. P. Meier, Jew (s. Anm. 11), 56 – 62.

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gung des Leibes gelegen, denn „die Seele sei dann ja schon vorher durch ein gerechtes Leben gereinigt worden“ (Ant 18,117/18,5.2). Dass alle drei Quellen die Qualifizierung der Johannestaufe als „Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ bzw. ihr Verständnis als Sünden vergebende Kraft bewusst vermeiden, zeigt noch eine weitere Beobachtung, nämlich dass ohne dieses Verständnis die Funktion der Johannestaufe deutlich an Plausibilität verliert. So ist kaum nachvollziehbar, warum Menschenmassen an den Jordan gezogen sein sollen und sich taufen ließen, um sich wie bei Josephus nur einem besseren rituellen Reinigungsbad zu unterziehen oder wie bei Mt ihre Sünden zu bekennen. Noch unwahrscheinlicher ist das Verständnis der Johannestaufe im Joh. Jedes eigene Profil fehlt, und es gibt noch nicht einmal mehr eine „attraktive“ Umkehr- und Gerichtspredigt wie bei Mt und wohl auch bei Josephus.37 Was aber bedeutet die Qualifizierung der Johannestaufe als „Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“? Nach John P. Meier ist der erste Teil der Formel relativ klar. Die Johannestaufe erfordert die Umkehr vom bisherigen sündigen Leben des Täuflings im Sinne der Umkehrpredigt des Täufers. Durch die Taufe erkennt er die Wahrheit dessen an, was Johannes verkündet, bekennt und bereut seine Sünden, verspricht ein neues und besseres Leben und hofft auf die Bewahrung vor dem unmittelbar bevorstehenden Gericht Gottes. Probleme bereitet hingegen der zweite Teil der Formel, insbesondere sein Anschluss an den ersten Teil durch die final zu verstehende Präposition eÙj. Wann und wie werden die Sünden vergeben? Während der Taufe oder erst am letzten Tag? Verursacht oder vermittelt die Taufe die Sündenvergebung, ist sie nur ein Ausdruck menschlicher Hoffnung auf sie oder eine göttliche Zusicherung, dass die Sünden vergeben werden?38 Ganz so schwierig, wie John P. Meier hier suggeriert, ist das Verständnis der Sünden vergebenden Kraft der Johannestaufe dann aber doch nicht. Kaum jemand in der gegenwärtigen Forschung versteht den Taufakt, zu dem wesentlich Sündenbekenntnis und Umkehrversprechen gehören, als bloßen Ausdruck menschlicher Hoffnung auf göttliche Sün37 Eine hilfreiche Zusammenfassung aller Argumente für ein auf Johannes zurückgehendes Verständnis der Sünden vergebenden Kraft seiner Taufe findet sich ebd., 53f. 38 Ebd., 54.

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denvergebung.39 Das widerspräche den in den ntl Quellen erkennbaren Schwierigkeiten mit der Taufe Jesu und der Sünden vergebenden Kraft der Johannestaufe. Beides setzt voraus, dass Johannes – und seine Schüler nach seinem Tod – seine Taufe tatsächlich als Sünden vergebend verstanden und kommuniziert haben. Allerdings muss eine angemessene Interpretation der Formel „Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ die Ankündigung des unmittelbar bevorstehenden Gerichts durch den Täufer und die deutliche Zuordnung seiner Taufe zu diesem Gericht berücksichtigen, was nicht immer geschieht.40 3.3 Die Wassertaufe zur Vergebung der Sünden und die Rettung im Zorngericht Gottes Auf diesem Hintergrund ist Verständnis und Botschaft der Johannestaufe folgendermaßen zu (re)konstruieren: Gott bietet selbst in dieser Situation, in der sich ganz Israel von ihm abgewandt und damit das Gericht verdient hat, noch die Möglichkeit der Umkehr an – durch die Wassertaufe des Johannes. Diese ist als prophetische Zeichenhandlung zu deuten41, als performativer Akt, der jetzt schon für die Zukunft bewirkt, was er in Handlung und Bekenntnis aus39 Nicht ganz eindeutig einzuordnen ist A. Puig i Tàrrech, Jésus (s. Anm. 13), der sprachlich und inhaltlich merkwürdig changiert zwischen einer bloßen Ankündigung der Vergebung durch die Johannestaufe mit allerdings sicherer Gewährung („le baptême est le rite qui exprime l’engagement de la conversion dans le présent et qui annonce la grâce du pardon que Dieu va accorder dans le futur à ceux qui se font baptiser.“ (362)) und einem durch sie gegebenen Versprechen der Vergebung, das die Vergebung aber nicht garantiert („Ce baptême promet le pardon mais il ne peut pas le garantir, et cette promese se base sur la conversion du coeur, qui, pour cette raison, devient necessaire.“ ebd., Anm. 20). Was ist das für ein Versprechen, das nicht gehalten wird – und dann auch noch von Gott? Puig i Tàrrech kann auch deshalb nur so argumentieren, weil er den Taufakt von Sündenbekenntnis und Umkehrversprechen der Täuflinge abkoppelt. 40 Die fehlende Berücksichtigung dieser beiden Faktoren führt dann zu sehr offenen und wenig greifbaren Formulierungen, wie z. B. zu der von Vincent Taylor entlehnten Formulierung bei J. D. G. Dunn, Jesus (s. Anm. 12), 360: „a baptism which brought to expression the repentance-seeking-forgiveness of sins.“ Das hängt nicht nur bei Dunn auch damit zusammen, dass die Ausführungen über das Verständnis der Johannestaufe den Ausführungen zu seiner Umkehrpredigt vorangehen und nicht umgekehrt. 41 So z. B. U. B. Müller, Johannes (s. Anm. 17), 39.

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drückt:42 die leibliche Unterstützung des Umkehrprozesses und die verlässliche Zusage der Sündenvergebung Gottes und seines unbedingten Heilswillens. Entsprechend bewirkt die Taufe schon in der Gegenwart den Nachlass der Sünden durch Gott und bewahrt vor neuen Sünden, während sie in der unmittelbaren Zukunft den Täufling vor dem Feuer des Endgerichts bewahrt. Dafür dass die Sünden schon in der Gegenwart nachgelassen sind, spricht nicht nur der kaum zu unterschätzende psychologische Effekt einer solchen „Befreiung“ von der Sündenlast, sondern auch die vermutete priesterliche Herkunft des Täufers mit dem entsprechenden Verständnis der Sünd- und Schuldopferrituale (vgl. Lev 4,26 u.ö. die folgende Formel: „So entsühnt der Priester den Betreffenden und löst ihn von seiner Sünde; dann wird ihm vergeben werden.“).43 Die von John P. Meier behauptete Unvereinbarkeit eines solchen Vergebungsverständnisses mit der Geisttaufe im Endgericht kann ich daher nicht erkennen44, zumal die hier und jetzt zugesagte Vergebung in Analogie zum Sühnekult im Tempel allein durch Gott geschieht45. Das Besondere der Johannestaufe besteht vor allem darin, dass die durch sie zugesagte Vergebung die Bewahrung vor dem Feuer des Endgerichts und die daran anschließende Neuzurichtung des Täuflings durch die Geisttaufe bewirkt.46 Zu betonen ist jedoch noch einmal, dass die Johannestaufe nicht automatisch rettet, sondern an die ehrliche Reue des Täuflings und seinen unbedingten Willen zu guten Werken gebunden bleibt, was sich im Sündenbekenntnis während 42

Ähnlich K. Backhaus, Echoes (s. Anm. 16), 1761: „a performative act of sealing“, aber ohne weitergehende Reflexionen zur Sündenvergebung: „How remission ‚functioned‘ we do not know.“ (ebd.). 43 Eine ausgesprochen anregende und kenntnisreiche Abhandlung zur Analogie zwischen Johannestaufe und den Sühneritualen des Jerusalemer Tempels bietet M. Ebner, Jesus (s. Anm. 12), 85 – 87. 44 J. P. Meier, Jew (s. Anm. 11), 55. Ähnlich wie Meier, aber aus deutlich apologetischen Gründen argumentiert A. Puig i Tàrrech, Jésus (s. Anm. 13), 361f., für ein futurisches Verständnis der Sündenvergebung der Johannestaufe: Im Unterschied zu Jesus kündigt Johannes die Vergebung nur an, gewährt sie aber nicht (vgl. auch ebd., 363, Anm. 22). Die Taufe bereitet sie nur vor. Vgl. a. oben Anm. 37. 45 Dasselbe gilt für den Tempelkult. Vgl. oben das passivum divinum in der Vergebungsformel beim Sünd- und Schuldopfer. 46 So auch G. Theißen/A. Merz, Jesus (s. Anm. 12), 191; L. Schenke, Jesus (s. Anm. 12), 92.

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der Taufe manifestiert. Es verwundert daher nicht, dass die Johannestaufe von christlicher Seite mehrfach als Sakrament oder eschatologisches Sakrament bezeichnet wurde.47 Doch ist hier mit Meier und anderen Vorsicht geboten.48 Zu groß ist die Gefahr ein späteres System auf ein früheres allein auf Grund struktureller Ähnlichkeiten zu übertragen. Genau genommen müsste dann auch der Sühnekult am Tempel als sakramental angesehen werden. Welche Rolle spielt Johannes der Täufer bei alledem? Mit Meier ist auf ein gewisses Paradox hinzuweisen, da Johannes auf der einen Seite seine eigene Bedeutungslosigkeit im Licht des angekündigten kommenden Stärkeren proklamiert, auf der anderen Seite sich selbst aber durch seine unlösbar mit dem zukünftigen Heil verbundene Tauftätigkeit zu einer zentralen, unentbehrlichen Gestalt im eschatologischen Drama macht.49 Weniger vorsichtig formuliert, und in Anlehnung an Knut Backhaus, war Johannes als derjenige, der die Taufe als letzte Möglichkeit zur Umkehr vor dem unmittelbar bevorstehenden Endgericht eingesetzt, gepredigt und durchgeführt hat, in gewisser Weise ein Heilsmittler („in some way a mediator of salvation“) oder etwas anders ausgedrückt: „a harbinger of judgment and captain of salvation“.50 Daher ist er nicht ausschließlich Unheilsprophet oder Gerichtsprediger,51 noch nicht einmal in erster Linie, sondern seine Gerichtspredigt ist Umkehrpredigt, da sie ganz im Zeichen des Heils steht, das Gott Israel selbst noch in dieser desolaten und eigentlich hoffnungslosen Situation anbietet. Nicht zu gering einzuschätzen ist schließlich die Authentizität seines Lebensstils, seine asketische Existenz in der Einöde (Mk 1,4 – 6 par) und seine mo47

G. Theißen/A. Merz, Jesus (s. Anm. 12), 190; weitere Vertreter dieser Ansicht nennt J. D. G. Dunn, Jesus (s. Anm. 12), 360 Anm. 103. 48 J. P. Meier, Jew (s. Anm. 11), 54f; J. Ernst, Johannes der Täufer. Der Lehrer Jesu? Freiburg i. Br. 1994, 87– 89; K. Backhaus, Echoes (s. Anm. 16), 1761. 49 J. P. Meier, Jew (s. Anm. 11), 55. 50 K. Backhaus, Echoes (s. Anm. 16), 1764. 51 So z. B. durchgehend J. Becker, Jesus von Nazaret, Berlin/New York 1996, 37–58, in seiner Darstellung des Täufers. Der von ihm angestellte Vergleich mit Jehoschua ben Hananja, der nach Josephus (Bell 6,300 –309) ab 64 n. Chr. den Untergang Jerusalems, ja des ganzen Volkes prophezeite (41f.), trifft schon allein deshalb nicht zu, weil Jehoschua das Gericht tatsächlich apodiktisch ankündigte, ohne auch nur ansatzweise eine Umkehrmöglichkeit anzubieten. Ähnlich differenziert K. Backhaus, Echoes (s. Anm. 16), 27.

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ralische Integrität (Lk 3,10 –14; Mk 6,17–29; Ant 18,116 –118), die ihn und seine unbequeme Umkehrbotschaft glaubwürdig machten und in mehreren Jesusworten der Logienquelle einen Nachhall gefunden haben (z. B. QLk 7,24 –28 oder QLk 7,31–35). Von diesem Propheten und seiner Botschaft wurde Jesus von Nazaret wie viele vor ihm und mit ihm so angezogen, dass er sich nicht nur von ihm taufen ließ, sondern dass mit ihm auch seine Lebenswende begann.

4. Die Taufe Jesu durch Johannes als Hinweis auf das Sündenbewusstsein Jesu Erstaunlich wenig wurde lange Zeit in der christlich orientierten Jesusforschung darüber nachgedacht, warum Jesus sich von Johannes taufen ließ. Zwar wurde auf Grund der christologischen Tendenzen in den Taufberichten der Evangelien die Taufe Jesu durch Johannes durchgehend als ein großes Problem für die (früh)christliche Theologie beurteilt, doch ohne im Anschluss daran eine eigene Position als Historiker einzunehmen, wie Paul W. Hollenbach gut beobachtet hat.52 Hollenbach vermutet dahinter – meiner Meinung nach zu Recht – ein übermäßig theologisches Interesse, das die historische Forschung überlagert (hat), und besonders das christliche Bekenntnis der Sündlosigkeit Jesu betrifft.53 Oder anders formuliert: Das durch die Darstellung der Taufe Jesu in den Evangelien erkennbare christologische Problem der frühen Christen mit dieser, war und ist z.T. auch noch heute für christliche Jesusforscher ein Problem. Jüngstes Beispiel dafür ist der Aufsatz des katalanischen katholischen Neutestamentlers Armand Puig i Tàrrech aus dem Jahr 2008, 52 P. W. Hollenbach, The Conversion of Jesus. From Jesus the Baptizer to Jesus the Healer (Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 2. Principat Bd. 25.1), Berlin 1982, 196 –219, 201: „without himself as an historian taking up an historical position of his own.“ Er bezieht sich beispielhaft auf eine Studie von C. H. H. Scobie aus dem Jahre 1964. 53 Ähnlich ausweichende Positionen, wie die von Hollenbach zitierte, finden sich in der jüngeren deutschsprachigen historisch-kritisch orientierten Jesus- und Johannesliteratur: z. B. J. Ernst, Lehrer (s. Anm. 48), 108 –111; J. Gnilka, Jesus von Nazaret. Botschaft und Geschichte, 4. Aufl. der Sonderausgabe, Freiburg i. Br. 1995, 83 – 85; J. Roloff, Jesus, München 42004, 60 – 63; G. Bornkamm, Jesus von Nazareth, Stuttgart u. a. 151995 (1. Aufl. 1956), 40 – 47.

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der sich mit der Frage beschäftigt, warum Jesus sich taufen ließ.54 Er kommt zu dem Ergebnis, dass Jesus nicht getauft worden sei, damit er von seinen Sünden gereinigt würde, sondern weil die Taufe das Zeichen für den Anbruch der Gnadenzeit, des jetzt hereinbrechenden Eschatons sei.55 Das apologetische Interesse ist dem Aufsatz durchgehend anzumerken, nicht zuletzt durch seinen völlig unkritischen, harmonisierenden Umgang mit den Quellen, aus denen er die Hauptargumente für seine These zieht.56 Für die historische Frage nach der Motivation Jesu sich von Johannes taufen lassen, tragen diese Argumente nichts aus. 4.1 Erste Schlussfolgerungen Die folgenden Überlegungen basieren auf den Ergebnissen der vorangegangenen Untersuchung zu Umkehrpredigt und Taufe des Johannes und suchen sie im Hinblick auf die Frage nach Jesu Sündenbewusstsein weiterzuführen. Unumstritten ist, dass Jesus von Johannes und seiner Umkehrtaufe zur Vergebung der Sünden hörte. Wo er von Johannes erfuhr, muss offen bleiben, doch spricht mit Jerome Murphy-O’Connor einiges dafür, dass er nicht in Nazaret alles stehen und liegen ließ, um an den Jordan zu Johannes zu pilgern, 54

A. Puig i Tàrrech, Jésus (s. Anm. 13). Ebd., 371: „Par conséquent, d’après Mt 3.14 –15, même si Jésus a été baptisé par Jean, il n’a pas reçu ce baptême comme purification de ses péchés (v. 14), mais comme signe de l’irruption du temps de la grâce et du pardon, expression du dessein divin (v. 15). Jésus n’a donc pas péché pour ‚mériter‘ un baptême!“ (vgl. auch ebd., 374: „Il faut donc exclure, que Jésus ait voulu se purifier de ses péchés.“) 56 Ebd., 370f., stützt seine These vor allem mit zwei Argumenten: (1) mit einer Kombination aus vier frühchristlichen Quellen über die Sündlosigkeit Jesu, die er als solide Basis für die früheste Tradition über die Taufe Jesu behauptet. Es handelt sich dabei um Mt 3,14f., das in der Forschung durchgehend als sekundär beurteilte Gespräch zwischen Johannes und Jesus (s.o. Kap. 2), um ein Zitat des Hieronymus (AdPel 3,2) aus dem EvHeb bzw. EvNaz, um Joh 8,45f. und EvThom 104; (2) mit Hinweis auf die der Taufe folgende Vision Jesu (Mk 1,10f. par) als Bestätigung seiner Erkenntnis, dass die Übernahme der Johannestaufe Zeichen der Ankunft des Gottesreiches sei: „La vision qui suit le baptême de Jésus est une sorte de réponse divine à son choix d’accepter ce baptême comme signe de l’arrivée du kairos. Jésus a interprété correctement le dessein de Dieu, c’est-à-dire, la signification eschatologique du baptême de Jean, et la vision du Jourdain sert à le confirmer.“ (Ebd., 373). 55

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sondern dass er während einer der üblichen Pilgerreisen nach Jerusalem zu Johannes gelangte.57 Dessen eschatologische Predigt fiel bei ihm auf fruchtbaren Boden, so dass er sich taufen ließ, (seine) Sünden bekannte und sich verpflichtete sein Leben ganz nach dem Willen Gottes auszurichten. Ein solches Verhalten setzt voraus, dass er mit der Predigt des Johannes in den wesentlichen Punkten übereinstimmte, nämlich (1) dass das Ende der Heilsgeschichte Gottes mit Israel unmittelbar bevorsteht und Gott durch ein großes Gericht hindurch etwas völlig Neues schaffen wird; (2) dass Israel als Ganzes sich von Gott und seinem Willen abgewandt hat und nun in der Gefahr steht, in diesem Zorngericht vernichtet zu werden; (3) dass die einzige Möglichkeit, diesem Gericht zu entgehen, für jeden Einzelnen darin besteht, die eigene Sünd- und Fehlerhaftigkeit zu erkennen, seine bösen Taten zu bereuen und mit ganzem Herzen zu Gott umzukehren und seinen Willen zu tun; (4) dass diese Umkehr besiegelt wird durch die Unterordnung unter die Taufe des Johannes, als Zeichen des unbedingten Heils- und Vergebungswillen Gottes, und dass er (5) Johannes als einen oder sogar den von Gott gesandten eschatologischen Propheten anerkannte.58 Dass Jesus sich nicht nur der Taufe des Johannes unterordnete, sondern sich auch an ihm als Prophet und Lehrer orientierte, kann zusätzlich aus der Nähe seiner Gerichts- und Umkehrpredigt zu der des Johannes59 sowie aus der 57

J. Murphy-O’Connor, John the Baptist and Jesus. History and Hypotheses, in: NTS 36/3 (1990) 359 –374. Er begründet seine These mit der Überlegung, dass allein die Hinreise von Nazaret an die Taufstelle des Johannes am Jordan vier Tage dauerte „and no artisan could afford the loss of earnings represented by such idle time.“ (361). Ihm folgt M. Ebner, Jesus (s. Anm. 12), 95f. 58 Ich orientiere mich hier im Wesentlichen an J. P. Meier, Jew (s. Anm. 11), 109f. 59 In der gegenwärtigen Jesusforschung wird eine solche Nähe zwischen Johannes und Jesus grundsätzlich angenommen, wenn auch in unterschiedlichem Grad. In der Regel wird sie darauf zurückgeführt, dass Jesus in einem nicht näher bestimmbaren Zeitraum Schüler des Johannes gewesen sei: so z. B. ausführlich und mit einer interessanten These J. Murphy-O’Connor, John (s. Anm. 57), passim; J. P. Meier, Jew (s. Anm. 11), 116 –130; J. Becker, Jesus (s. Anm. 51), 58 – 99; M. Ebner, Jesus (s. Anm. 12), 96 –100; L. Schenke, Jesus (s. Anm. 12), 94 –101; J. D. G. Dunn, Jesus (s. Anm. 12), 350 –355; U. B. Müller, Johannes (s. Anm. 17), 52– 62; J. Schröter, Jesus (s. Anm. 12), 135 –142; etwas vorsichtiger: G. Theißen/ A. Merz, Jesus (s. Anm. 12), 194; anders J. Ernst, Lehrer (s. Anm. 48), 109 –111; K. Backhaus, Echoes (s. Anm. 16), 1782f., der den Einfluss des Täufers auf Jesus zwar hochschätzt, Jesus selbst aber „nur“ der Täuferbewegung zurechnet, die er

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Hochachtung, mit der die Evangelien Jesus über Johannes sprechen lassen60, geschlossen werden. 4.2 Die Bedeutung des Sündenbekenntnisses für die Frage nach einem Sündenbewusstsein Jesu Die crux interpretum bei der Frage nach dem Sündenbewusstsein Jesu ist das Sündenbekenntnis Jesu, mit dem folgende Fragen verbunden werden: Hat Jesus überhaupt ein Sündenbekenntnis abgelegt? Wenn ja, hat er seine eigenen Sünden bekannt? Oder hat er nur ein allgemeines Sündenbekenntnis abgelegt, in dem der Beter sich als Teil seines sündigen Volkes sieht und sich mit diesem solidarisiert? Dass Jesus im Zusammenhang mit der Taufe durch Johannes ein Sündenbekenntnis abgelegt haben muss, wird in der gegenwärtigen historischen Jesusforschung, sofern sie sich mit diesem Aspekt beschäftigt, kaum in Frage gestellt. Wenn das Sündenbekenntnis zur Johannestaufe dazu gehört hat, worauf nicht nur Mk 1,5 par Mt 3,6 hinweisen, sondern der Charakter der Johannestaufe als „Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“61, muss davon ausgegangen werden, dass Jesus ebenfalls bei seiner Taufe ein Sündenbekenntnis abgelegt hat, auch wenn die Evangelien es aus nachvollziehbaren Gründen nicht erwähnen. Was aber war das für ein Sündenbekenntnis? John P. Meier betont in Auseinandersetzung mit Paul Hollenbach, dass wir nicht selbstverständlich davon ausgehen können, dass das Sündenbekenntnis bei der Johannestaufe ein Bekenntnis der persönlichen Sünden des Täuflings war.62 Mit Hinweis auf das Gebet Esras in Esra 9,6 –15 und das Gebet der Kandidaten bei Eintritt in die Bundesgemeinschaft von Qumran (1QS 1,18 –2,2) rechdeutlich vom „inneren Schülerkreis“ unterscheidet. (Vgl. schon K. Backhaus, Die ‚Jüngerkreise‘ des Täufers Johannes. Eine Studie zu den religionsgeschichtlichen Ursprüngen des Urchristentums (PaThSt 19), Paderborn 1991, 47–112.) Warum Wolfgang Stegemann sich in seinem bahnbrechenden Jesusbuch (Jesus und seine Zeit (BE 10), Stuttgart 2010) nirgends mit dem Täufer beschäftigt, ist mir ein Rätsel. 60 Ausführlich J. P. Meier, Jew (s. Anm. 11), 130 –171, und mit Ausnahme von Stegemann fast alle der oben in Anm. 59 genannten Autoren. 61 Zu weiteren Argumenten s. oben Kap. 3. 62 J. P. Meier, Jew (s. Anm. 11), 113 –116.

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net Meier mit der Möglichkeit, dass sich Jesus wie diese Beter, die aus Solidarität mit ihrem Volk und ihren Vorfahren ihr Sündenbekenntnis sprachen63, als Teil eines sündigen Volkes und Teil der Heils- wie Unheilgeschichte dieses Volkes verstand. Aus dem bloßen Faktum der Taufe Jesu (unter Einschluss des Sündenbekenntnisses) kann daher nicht entschieden werden, „whether Jesus considered himself a sinner in the sense of having a consciousness of personal sins [Kursive von Verf.in]. In this matter his baptism is open to a number of interpretations, and the data available do not allow us to probe the depths of Jesus’ individual psyche for a definitive answer.“64 Meiers Argumentation überzeugt jedoch aus zwei Gründen nicht. Zum einen ist die Vergleichbarkeit der genannten Sündenbekenntnisse zu hinterfragen. Das Sündenbekenntnis bei der Taufe des Johannes war weder ein privates, stellvertretendes Bußgebet wie das Esras, noch ein kollektives Bußgebet wie am Versöhnungstag oder ein Gebet bei einem Aufnahmeritual wie in Qumran. Die Umkehrpredigt des Täufers richtete sich an jeden einzelnen Israeliten und forderte von ihm bzw. ihr Abkehr von seinem bzw. ihrem bisherigen sündigen Tun und „Frucht der Umkehr“ (Mt 3,8). Entsprechend sagte die Johannestaufe auch nur dem einzelnen Täufling die Vergebung seiner Sünden und seine Rettung im unmittelbar bevorstehenden Gericht zu (vgl. oben 3.1).65 Dass der Einzelne nur aus Solidarität mit seinem Volk ein Sündenbekenntnis vor oder während seiner Taufe ablegt, ohne sich selbst einzubeziehen, widerspricht grundlegend der Täuferpredigt von der Gerichtsverfallenheit ganz Israels, ohne Ausnahme (vgl. Mt 3,7–10 par Lk 3,7– 9). Zum anderen argumentiert Meier selbst nicht konsequent, wenn er die Mög63

Ähnlich J. Gnilka, Jesus (s. Anm. 53), 80, der jedoch seine Annahme anders als Meier nicht weiter diskutiert: „Die Täuflinge legen vor ihm ein Sündenbekenntnis ab, das allgemeiner Art gewesen sein dürfte, vergleichbar dem Sündenbekenntnis am jüdischen Versöhnungsfest oder am Bundeserneuerungsfest in Qumran (Mk 1,5 vgl. 1 QS 1,22–2,1).“ 64 J. P. Meier, Jew (s. Anm. 11), 116. 65 Ähnlich K. Backhaus, Echoes (s. Anm. 16), 1763: „John addressed the people of Israel, and those who were baptized would anticipate the renewed Israel, but did not enter a new social body or any ‚remnant of Israel‘ as a socially discernible in-group. On the contrary, in some way baptizm was an act of individualization.“ Vgl. auch A. Puig i Tàrrech, Jésus (s. Anm. 13), 371 Anm. 52, in Auseinandersetzung mit der These Meiers.

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lichkeit einräumt, dass diejenigen, die die Sünden des Volkes bekennen, besonders die Führer des Volkes wie z. B. Esra, gespürt haben könnten „that they personally had not done enough to prevent others from transgressing but instead were somehow accomplices by their silence or inaction.“66 Das heißt, aus dem Fehlen eines individuellen Sündenbekenntnisses im Sinne eines spezifischen Sündenkataloges ist nicht zu schließen, dass die Sprecher(innen) eines allgemeinen Sündenbekenntnisses kein Sündenbewusstsein hatten bzw. schärfer formuliert, sich frei von jeder Sünde wussten.67 Hier rächt es sich, dass Meier sich nicht mit dem biblischen und frühjüdischen Sündenverständnis auseinandersetzt und noch nicht einmal die so wichtige Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten Sünden erwähnt.

Exkurs: Biblisches und frühjüdisches Sündenverständnis An dieser Stelle ist es notwendig kurz auf den schwierigen Begriff der „Sünde“ (griech. $martËa) einzugehen, der in Bezug auf die Johannestaufe weder bei Meier, noch sonst in der von mir gelesenen Literatur reflektiert wird. Das biblische Grundverständnis von „Sünde“ ist zunächst klar: „Sünde“ kennzeichnet die folgenreiche Störung bis hin zum Bruch der auf Gott zurückgeführten sozialen, rechtlichen und kultischen Ordnung, so dass jede Sünde gegen Gott gerichtet ist und Auswirkung auf alle Bereiche des Lebens hat.68 Schwierig ist der Begriff deshalb, weil er nicht nur unspezifisch menschliche Verfehlungen ganz unterschiedlicher Art in den biblischen Texten bezeichnet, sondern auch wie z.T. bei Paulus und in frühjüdischer apokalyptischer Literatur als eine unabhängig von

66

J. P. Meier, Jew (s. Anm. 11), 115. Darüber hinaus ist mit Johann Maier für frühjüdische Texte, insbes. aus Qumran, aber auch für die spätere synagogale Liturgie zu berücksichtigen, dass selbst das „Ich“ in Gebeten und im Sündenbekenntnis des Einzelnen nicht individuell, sondern repräsentativ gedacht werden muss (J. Maier, Jüdisches Grundempfinden von Sünde und Erlösung in frühjüdischer Zeit, in: H. Frankemölle (Hrsg.), Sünde und Erlösung im Neuen Testament (QD 161), Freiburg i. Br. 1996, 53 –75, 55). 68 Vgl. K. Bieberstein/L. Bormann, Sünde, in: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 570 –573, 570, an die ich mich z.T. anlehne. 67

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Menschen agierende Macht vorgestellt wird69. Dafür nur zwei Beispiele, die für unsere Diskussion von Bedeutung sind: 1) Unter den hebr. Begriff chattat (= t)5=2x) – übrigens nur einer von mehreren Sündenbegriffen in der Hebräischen Bibel – der in der LXX immer mit griech. $martËa übersetzt wird, fallen sowohl „moralische“ Vergehen, also Sünden gegen den Nächsten, als auch Vergehen gegen kultische Vorschriften, so genannte „Unreinheiten“ (vgl. z. B. die Vorschriften zum chattat-Opfer in Lev 4; 5,1–13). Darüber hinaus wird in der priesterlichen nachexilischen Literatur grundsätzlich zwischen bewussten und unbewussten Sünden sowie zwischen beabsichtigten und nicht beabsichtigten Sünden unterschieden.70 2) In den jüngeren Schriften des Ersten Testaments, z. B. in den Weisheitsschriften, aber auch bei Ez, können sowohl notorische Frevler als auch gelegentlich sündigende Gerechte als Sünder (griech. } $martwl{j) bezeichnet werden bzw. Sünden begehen.71 Eindeutiger formulieren die synoptischen Evangelien. Bei ihnen werden nur notorische Sünder als $martwl{j (Subst.) bezeichnet, während das Adjektiv $martwl{j (z. B. die Selbstbezeichnung Petri in Lk 5,8) und $martËa (z. B. Mt 1,21; Lk 11,4 Vaterunserbitte) auch gelegentlich sündigende Gerechte einschließt. Für das Frühjudentum und damit auch für Johannes den Täufer und Jesus muss zusätzlich in Betracht gezogen werden, dass Sündenschuld einschließlich ritueller Unreinheiten nicht mehr nur wie bisher nachexilisch als real vorhandene unheilvolle Potenz verstanden wurde, die durch konkrete Sühneriten beseitigt werden konnte (vgl. Lev 16 zum Jom-Kippur)72, sondern dass die Unheil wirkende Potenz dieser Sündenschuld infolge ungesühnter Schuld, gleich ob unwissentlich begangen oder nicht, sich nicht mehr rückgängig machen ließ.73 69

Vgl. dazu oben Anm. 4 besonders S. Hagenow, Gemeinde (s. Anm. 4), und seine Auseinandersetzung mit der Forschung über den Charakter der Sünde bei Paulus (8 –22). 70 Vgl. dazu z. B. A. Schenker, Sünde (I) AT, in: NBL III (2001) 728 –734. 71 Vgl. S. Hagenow, Gemeinde (s. Anm. 4), bes. zu Sir, aber auch zu PsSal: „Man kennt und rechnet mit der Gewalt und dem Zwang der Sünde auch im Bereich grundsätzlicher Gerechtigkeit.“ (61). 72 J. Maier, Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des Zweiten Tempels (NEB.AT Erg. 3), Würzburg 1990, 228. 73 J. Maier, Grundempfinden (s. Anm. 67), 56.

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4.3 Fazit Nicht nur nach dem Kriterium der „Verlegenheit“ bzw. dem der „Gegentendenz“, sondern auch nach dem von Gerd Theißen geprägten Kriterium der historischen Kontextplausibilität, wonach das Handeln Jesu in einen jüdischen Kontext passen und in ihm plausibel sein muss, ist davon auszugehen, dass Jesus von Nazaret sich von Johannes taufen ließ, weil er sich selbst als Sünder erkannte, der unter dem Zorngericht Gottes stand und Vergebung nötig hatte. Darin unterschied er sich nicht von den anderen Täuflingen. Ebenso wird er wie jeder andere Täufling auch das zur Johannestaufe als „Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden“ wesentlich gehörende Sündenbekenntnis gesprochen haben. Ob es ein persönliches und „freies“ Sündenbekenntnis war oder ob der Täufling ein standardisiertes Gebet sprach, wissen wir nicht. Wahrscheinlich aber verband der Täufling in beiden Fällen seine eigenen Sünden mit denen seines Volkes und bat Gott um die Vergebung beider.74 Dass die eigenen Sünden dabei ausgeschlossen sein könnten, ist sowohl vom Charakter der Umkehrpredigt des Täufers als auch vom biblischen und frühjüdischen Sündenverständnis her äußerst unwahrscheinlich. Welche Sünden, wie viele und welchen Grad von Sündenschuld der Täufling auf sich geladen hatte, spielt in den Texten zur Johannestaufe wie in vielen anderen frühjüdischen Texten keine Rolle. Mehr noch, gerade in der Gerichts- und Umkehrpredigt des Täufers wird jeder Art der Relativierung von Sünde und Schuld eine Absage erteilt. Von daher ist es müßig darüber zu spekulieren, ob Jesus seiner eigenen Ansicht nach nur unbewusste oder unbeabsichtigte Sünden begangen hat.75 Genauso spekulativ sind psychologisierende moderne Hypothesen zur Sündenschuld Jesu wie die von Paul Hollenbach, 74

Vgl. ebd., 55. Vgl. schon das evtl. aus dem 2. Jh. stammende EvNaz (zit. bei Hier. Pelag. 3,2): „Siehe, die Mutter des Herrn und seine Brüder sagten zu ihm: Johannes tauft mit einer Taufe zur Vergebung der Sünden; wir wollen hingehen und uns von ihm taufen lassen. Er aber sprach zu ihnen: Was habe ich gesündigt, dass ich hingehe und mich von ihm taufen lasse? Es sei denn, das, was ich gesagt habe, (ist) Unwissenheit.“ Zur unsicheren Datierung vgl. J. Frey, Die Fragmente des Nazoräerevangeliums, in: C. Markschies/J. Schröter (Hrsg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. 1. Band: Evangelien und Verwandtes. Teilbd. 1, Tübingen 2012, 634. 75

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wonach Jesus als Handwerker und Angehöriger der Mittelklasse durch die Predigt des Täufers entdeckte, dass er direkt oder indirekt an der Unterdrückung der Schwachen in der Gesellschaft beteiligt war.76

5. Die Bedeutung historischer Fakten für die biblische Theologie 5.1 Wie sinnvoll ist für Theolog(inn)en die Rückfrage nach dem historischen Jesus? Eine Auseinandersetzung mit Klaus Wengst77 In seiner fulminanten Abrechnung mit der historischen Jesusforschung bezeichnet Klaus Wengst sie als „theologisch verantwortungslos“ (229), weil sie von dem für die Evangelien und für das ganze Neue Testament entscheidenden Punkt absehen muss, nämlich den Glauben an den von Gott auferweckten und damit lebendigen Jesus. Als Folge dieser Ausblendung der grundlegenden Quellen des Christentums muss sie nach Wengst „vom Menschen Jesus, um ihn ‚glaubwürdig‘ zu machen, Außerordentliches aussagen. Der Glaube wird so aber abhängig von historischer Wissenschaft …“ (212) Wengst hält die weitere Suche nach dem historischen Jesus daher für überflüssig und betrachtet das Projekt als solches für gescheitert. Am Schluss appelliert er daher an seine exegetischen Kolleg(inn)en sich mit der Auslegung der „vier kanonisch vorliegenden Evangelien in ihrer Unterschiedenheit“ zu begnügen (303f.), wobei er die Reflexion auf die historische Entstehungssituation der Texte bis hin zu ihrer Wirkungsgeschichte einschließt (304f.), nicht aber einen Vergleich der Evangelien in diachroner Hinsicht. Ohne an dieser Stelle adäquat auf Wengsts faktenreiche und gründliche Auseinandersetzung mit der vergangenen und gegenwärtigen Jesusforschung eingehen zu können, möchte ich doch auf folgende Aspekte hinweisen, die Wengst meiner Meinung nach in seinem Werk zu wenig berücksichtigt: 76

P. W. Hollenbach, Conversion (s. Anm. 52), 199f. K. Wengst, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem „historischen“ Jesus, Stuttgart 2013. Der Übersichtlichkeit halber werden die Seitenzahlen aus diesem Buch im Folgenden direkt in den Text geschrieben.

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1. Historische Jesusforschung, auch wenn sie von Theolog(inn)en betrieben wird, ist keine theologische Forschung, sondern gehört wie jede andere historische Forschung, z. B. innerhalb der Theologie die Kirchengeschichte, zur Geschichtswissenschaft. Sie muss daher ihren Gegenstand im Rahmen ihrer Bezugswissenschaft hermeneutisch und methodisch verantwortet untersuchen. Die von Wengst postulierte Außerordentlichkeit, Einzigkeit und Absolutheit der Person Jesu gehört selbstredend nicht dazu, wohl aber ihre individuelle Besonderheit innerhalb eines bestimmten Kontextes, hier des palästinischen antiken Judentums Anfang des 1. Jh. Ergebnisse der historischen Jesusforschung bzw. der historischen Rückfrage nach Jesus können allerdings Folgen für eine genuin theologische Forschung haben, wie z. B. die Frage nach dem Sündenbewusstsein Jesu in diesem Aufsatz zeigt. 2. Wengst geht gar nicht auf die insgesamt schwierige Quellenlage für jede historische Forschung zur Antike ein (dasselbe gilt auch noch für das Mittelalter). Das betrifft z. B. die gegenüber der Moderne relativ geringe Anzahl der literarischen Quellen, das Problem ihrer Glaubwürdigkeit aus der Perspektive des westlichen Wissenschaftsparadigmas, ihre geringe Repräsentanz unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen. Damit suggeriert er nun seinerseits und ohne Begründung die Außerordentlichkeit, ja Unvergleichlichkeit der vier Evangelien als antike Biographien: „In ihrem [der Evangelisten, Verf.in] Erzählen ist die Geschichte Jesu unlösbar mit dem Zeugnis des in ihr wirkenden und zur Wirkung kommenden Gottes verbunden.“ (204) Von einer nichttheologischen Perspektive aus kann man statt von „Zeugnis“ auch einfach nur vom „Interesse“ der Evangelisten sprechen, Jesus als Auferweckten und Sohn Gottes zu deuten. Eine nur schwer zu lösende Verbindung zwischen (möglichem) Interesse der Autoren und der historischen „Realität“ besteht aber auch für viele andere antike und mittelalterliche Texte. 3. Wengst nimmt die beiden Grundprobleme zu wenig ernst, die sich aus der Existenz von vier verschiedenen Biographien über Jesus den Christus und Sohn Gottes ergeben und sowohl Außenstehende als auch Christen selbst verunsichern können. Problem (a): wie ist das Verhältnis zwischen den Jesusdarstellungen in den vier kanonischen, nicht zu reden von den apokryphen Evangelien zu dem einen Menschen Jesus aus Nazaret zu bestimmen angesichts zahlreicher Widersprüche zwischen den Evangelien? Problem (b): wie ist

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das Verhältnis zwischen dem Menschen Jesus von Nazaret und seiner göttlichen Vollmacht in den Evangelien zu erklären? Von jedem dieser Probleme her stellt sich die Frage nach Leben, Verkündigung und Wirken des irdischen Jesus von Nazaret. Problem a) begleitet die gesamte Geschichte des Christentums bis heute.78 Problem b) betrifft vor allem die Menschen, die Teil der westlichen Wissensordnung sind. 4. Nicht nur theologische Forscher(innen) einer bestimmten Zeit, Epoche, Gesellschaft etc., sondern auch die einzelnen Christgläubigen partizipieren an den jeweils herrschenden Wissensordnungen. Für die westlichen Theologien und ihre Einflussbereiche ist das die westliche, in der Aufklärung entstandene Wissensordnung, die durch das empirisch und naturwissenschaftlich fundierte Rationalitätsmodell geprägt ist.79 Dieses Modell prägt nicht nur Bestreiter der durch und an Jesus geschehenen göttlichen Vollmachtstaten in den Evangelien, sondern auch konservative Verfechter einer historischen (!) Übereinstimmung zwischen irdischem Jesus und seiner kerymatischen Darstellung in den Evangelien. Wengst selbst partizipiert mit seiner Streitschrift an dieser Wissensordnung, allein schon wenn er den Jesus der Evangelien vom irdischen Jesus unterscheidet. 5. Die historische Jesusforschung und die mit ihr verbundene historisch-kritische Erforschung der Bibel haben erst den Weg dafür bereitet, um die Evangelien in ihrem jeweiligen theologischen Eigenwert nicht nur zu erkennen, sondern auch ihre Bedeutung zu würdigen. Anders gesagt: nur wer davon ausgeht, dass es eine Referenzgestalt vor bzw. hinter den Evangelien gibt, kann die Evangelien als jeweils spezifische charakteristische theologische Deutung der Person Jesu und ihres Schicksals erkennen. Dafür brauchen wir nicht unbedingt eine eigene Forschungsrichtung in der Theologie, die sich dezidiert mit dem historischen Jesus beschäftigt – darin gebe

78 Ab dem 3. Jh. wurde von Kritikern des Christentums die Glaubwürdigkeit der vier Evangelien immer wieder mit Hinweis auf ihre Widersprüchlichkeit in Frage gestellt (von Celsus 180 bis Kaiser Julian 360 –363). Aber auch in den frühchristlichen Gemeinden selbst ließen die Widersprüche in den Evangelien „Zweifel aufkommen, konnten im Extremfall sogar zur Abkehr vom Glauben führen.“ (T. R. Karmann, Das eine Evangelium und die vier Evangelien. Einheit und Vielfalt im frühen Christentum, in: WuB 72 (2014) 53 –57, 55). 79 Dazu ausführlich W. Stegemann, Jesus (s. Anm. 59), 393 –399, bes. 397.

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ich Wengst recht –, aber ein Bewusstsein dafür, dass der Jesus der Evangelien nicht mit dem irdischen Jesus identisch ist. 5.2 Die (bibel)theologische Relevanz der historischen Rückfrage nach der Taufe Jesu durch Johannes für das Sündenbewusstsein Jesu Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Frage nach dem historischen Faktum der Johannestaufe und ihrer Bedeutung für die Frage nach dem Sündenbewusstsein des irdischen Jesus. Von einem konsequent historischen Standpunkt musste ich davon ausgehen, dass Jesus als galiläischer Jude des 1. Jh. ein Sündenbewusstsein hatte und sich entgegen der Tendenz der ntl Taufperikopen, ein solches Sündenbewusstsein auszuschließen, u. a. aus diesem Grund von Johannes taufen ließ. Die Analyse der relevanten Texte unter Berücksichtigung ihres frühjüdischen Hintergrundes hat diese These bestätigt und die prinzipiell mögliche Alternative, dass Jesus sich nicht aus diesem Grund von Johannes taufen ließ, ausgeschlossen. Diese Alternative hätte die Frage nach einem Sündenbewusstsein Jesu offen gelassen und wie der Beitrag von Armand Puig i Tàrrech zeigt80, auch die Möglichkeit, dass Jesus sich selbst für sündlos hielt. Allerdings ist die bei Puig i Tàrrech implizit erkennbare Vorstellung obsolet, damit auch die Sündlosigkeit Jesu bewiesen zu haben, denn historisch ist weder die Sündlosigkeit noch die Sündhaftigkeit Jesu erkennbar und damit entscheidbar. Auf der anderen Seite schließt ein Sündenbewusstsein Jesu noch nicht das theologische Bekenntnis seiner Sündlosigkeit aus, es zwingt aber dazu genauer zu erklären, was denn mit diesem theologischen Satz gemeint ist bzw. gemeint sein kann. Das trifft auch auf die biblischen Texte selbst zu. Im Zusammenhang mit der Johannestaufe müsste das Sündenverständnis in frühjüdischen biblischen (z. B. Sir; Weish) wie nichtbiblischen Texten genauer untersucht werden als bisher, besonders in eschatologisch-apokalyptischen Kontexten. Dazu gehört auch die Untersuchung derjenigen Texte des Ersten Testaments, die die Entwicklung der ntl Christologie maßgeblich beeinflusst haben, wie z. B. Jes 53, der ja von einer Art Sündlosigkeit des leidenden Gottesknechtes spricht. Welche Art von Sünde, welche Art

80

A. Puig I Tàrrech, Jésus (s. Anm. 13).

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von Sündlosigkeit sind hier gemeint, gerade auch angesichts eines unspezifischen, breiten Sündenbegriffs im Ersten Testament wie in den Schriften des frühen Judentums? Oder anders formuliert, gibt es Sünden, die Menschen grundsätzlich vermeiden können? Für die Klärung des möglichen Sündenverständnisses des Täufers und seiner Anhänger(innen) könnte auch die Beantwortung der Frage interessant sein, wie diese sich den postbaptismalen Zustand vor dem Endgericht vorgestellt haben. Sind sie in einen quasi von der Sündenmacht freien Raum eingetreten analog zu paulinischen Vorstellungen? Und welche Auswirkungen hatte es, wenn der Getaufte doch wieder sündigte? Ist auch das vielleicht mit paulinischen Vorstellungen zur postkonventionellen Sünde zu vergleichen bzw. umgekehrt?81 Hier könnte auch ein Anknüpfungspunkt für die Rede von Jesu Sündlosigkeit bei Paulus liegen. Selbstverständlich können und dürfen wir uns, entsprechend dem Vorschlag von Wengst, ausschließlich mit den Taufperikopen der Evangelien beschäftigen und ihre Bedeutung für das jeweilige Evangelium und seine Christologie untersuchen. Wir werden zu interessanten und spannenden Ergebnissen kommen, werden aber nur en passant danach fragen, wie Johannes und seine Anhänger einschließlich Jesus seine Taufe auf dem Hintergrund frühjüdischer Eschatologie und Apokalyptik verstanden haben könnten – immerhin gibt es ja noch die Gerichts- und Umkehrpredigt des Täufers z. B. in Mt 3,7–12, die zur angemessenen Interpretation Kenntnisse frühjüdischer Eschatologie voraussetzt. Und ob wir durch die Vermeidung der historischen Rückfrage nach Jesus und Johannes die inhaltliche Verbindung zwischen der Umkehrpredigt des Täufers und der basileia-Verkündigung Jesu erkennen würden und dadurch letztere besser verstehen können, wage ich eher zu bezweifeln. Schon gar nicht wäre ich ohne historische Rückfrage auf die Idee gekommen, dass Jesus sich von Johannes taufen ließ, weil er wie alle anderen Täuflinge auch die Vergebung seiner Sünden und die Bewahrung im unmittelbar bevorstehenden Endgericht erwartete. Die Leserlenkung der Evangelien macht es mir unmöglich. Tatsächlich bin ich selbst erst durch die konsequent historische Rückfrage nach der Taufe Jesu durch Johannes auf das Problem des Sündenbewusstseins Jesu gestoßen.

81

Vgl. zu Paulus S. Hagenow, Gemeinde (s. Anm. 4), passim.

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Und schließlich: auch wer nicht zu den Jesusforscher(inne)n zählt, fragt sich bei dem einen oder anderen Evangelientext unwillkürlich, vor allem wenn er mehrfach vorliegt, was wohl die ältere Fassung und damit eher jesuanisch gewesen sein könnte. Ähnliches gilt für die in verschiedenen Fassungen überlieferten Sachverhalte der Evangelien, mit denen Christen heute Schwierigkeiten haben, wie z. B. für das Scheidungsverbot Jesu. Die Frage nach dem historischen Jesus ist mit Stegemann gesprochen tatsächlich „ein unausweichliches Moment der westlichen Wissensordnung“82. Aus ihr können Forscher wie Laien des westlichen Kulturkreises, seien sie gläubig oder nicht, nur sehr bedingt aussteigen.

82

W. Stegemann, Jesus (s. Anm. 59), 393.

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Normativität und Sinnpflege in der Tora Zur hermeneutischen und theologischen Bedeutung der Fortschreibung biblischer Texte Ralf Rothenbusch

1. Kanon, Sinnpflege, Geschichte Jeder kanonisierte, normative Text bedarf der Sinnpflege durch Auslegung. Soll er für eine Lesegemeinschaft über lange Zeit eine identitätsstiftende und orientierende Bedeutung haben, muss er immer wieder aktualisiert und auf veränderte Lebensbedingungen und Bedürfnisse seiner Rezipienten hin bezogen werden1. Begründet ist das nicht nur in der Fixierung eines historischen Textes, den ein zeitlicher, sozio-kultureller und religionsgeschichtlicher Graben von der Gegenwart seiner Leser trennt, den es zu überwinden gilt. Die Notwendigkeit der Auslegung ergibt sich auch aus dem schon zur Entstehungszeit notwendigerweise partiellen und selektiven, in gewissem Maß sogar widersprüchlichen Charakter einer komplexen kanonischen Überlieferung, deren impliziter Sinn nicht kanonisierbar ist2. Dass literarische Texte zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung einen eindeutig festlegbaren und abgeschlossenen Sinn haben, gilt, wie die Literaturwissenschaft zeigt, nicht einmal für das Werk eines einzelnen Autors, noch weniger für ein so vielschichtiges literarisches Gebilde wie die Bibel3. 1 Vgl. A. Assmann/J. Assmann, Kanon und Zensur, in: dies. (Hrsg.), Kanon und Zensur (Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation 2), Bd. II, München 1987, 7–27, 13 –15. 2 Vgl. etwa A. Hahn, Kanonisierungsstile, in: A. Assmann/J. Assmann (Hrsg.), Kanon (s. Anm. 1), 28 –37, 28 –30. 3 Vgl. bzgl. der biblischen Literatur etwa die Ausführungen von C. Dohmen, Biblische Auslegung. Wie alte Texte neue Bedeutungen haben können, in: F.L. Hossfeld (Hrsg.), Das Manna fällt auch heute noch. Beiträge zur Geschichte und Theologie des Alten, Ersten Testaments (FS E. Zenger; HBS 44), Freiburg i. Br. 2004, 174 –191; ders., Vom vielfachen Schriftsinn – Möglichkeiten und Grenzen neuer Zugänge zu biblischen Texten, in: T. Sternberg (Hrsg.), Neue For-

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Die biblische Überlieferung selbst stellt die kanonische Geltung und die Auslegungsbedürftigkeit eines biblischen Textes in Neh 8 vor Augen. Diese Erzählung in einem Buch des dritten Kanonteils, den sog. Schriften/Ketubim, schildert, wie eine Lesung aus dem ersten Kanonteil, der Tora, dem versammelten Volk vorgetragen wird. Die gottesdienstliche Szenerie, in der sich die Versammlung beim Öffnen der Torarolle durch Esra erhebt, und deren liturgische Verehrung durch Proskynese (V. 5f.) sprechen für eine schon kanonische, normative Bedeutung dieses Textes und damit für seine identitätsbegründende Funktion in der Gemeinschaft4. Nach der Lesung legen Leviten den Text aus (V. 7f.) – vermutlich im Sinn der babylonischen Diaspora. Darauf weist zumindest die große Bedeutung hin, die der Sammlung von Leviten in Babylonien (Esra 8,15 –20) in der Esraerzählung, zu der Neh 8 gehört (Esra 7–10; Neh 8)5, zukommt6. Was man aus der Bibel selbst über die Eigenart des Kanons und ihre eigene Kanonizität erkennen kann, ist m. E. von erheblicher hermeneutischer Relevanz für den Umgang mit ihrer Überlieferung in der religiösen Gemeinschaft, für die sie Heilige Schrift ist, fundierende Bedeutung hat und in der sie ausgelegt wird. Dem möchte ich im Folgenden etwas nachgehen. Die kanonische Geltung der Tora Esras in Neh 8 ist ganz unabhängig von der literaturgeschichtlichen Frage, ob man dabei schon an ihre uns bekannte Form in der Gestalt des Pentateuchs denken muss, was ich für unwahrscheinlich halte7. Möglich ist diese Offenheit deshalb, weil sich die Bezeichnung „Tora (des Mose)“ im Laufe

men der Schriftauslegung? (QD 140), Freiburg i. Br. 1992, 13 –74, 61– 64; G. Steins, Die „Bindung Isaaks“ im Kanon (Gen 22). Grundlagen und Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre; mit einer Spezialbibliographie zu Gen 22 (HBS 22), Freiburg i. Br. 1999, 85 – 94; sowie die Beiträge von C. Frevel, L. Schwienhorst-Schönberger und T. Hieke in diesem Band. 4 Vgl. R. Rothenbusch, „… abgesondert zur Tora Gottes hin“. Ethnisch-religiöse Identitäten im Esra/Nehemiabuch (HBS 70), Freiburg i. Br. 2012, 338f.; dazu auch J. Blenkinsopp, Ezra-Nehemiah. A Commentary (OTL), Philadelphia 1988, 287; J. Pakkala, Ezra the Scribe. The Development of Ezra 7–10 and Neh 8 (BZAW 347), Berlin u. a. 2004, 155. 5 Vgl. R. Rothenbusch, Identitäten (s. Anm. 4), 142–173. 6 Ebd., 338 –342. 7 Vgl. dazu ebd., 336f.

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der Zeit zwar zum Namen eines literarischen bzw. schließlich kanonisierten Werks entwickelt8, ursprünglich aber ein rechtlich-funktionaler Begriff ist, der den Nukleus der Tora-Konzeption bildet. Über die „Bundes(vertrags)-Urkunde“ (tyrbh rps; vgl. Ex 24,7; 2 Kön 23,2.21) bzw. die „Tora-Urkunde“ (hrwth rps; vgl. 2 Kön 22,8.11; Dtn 28,61; 29,20; 30,10; 31,26; Neh 8,3) wurde er aus der Terminologie des altorientalischen Vasallenvertrags übernommen und hat seinen ursprünglichen Sitz im älteren Bundes(vertrags)konzept, das den Begründungszusammenhang der Gebote bildet9. Von daher lässt sich die Entwicklung von Normativität recht zwanglos verstehen – auch wenn sie darin nicht aufgeht –, da der Vasallenvertrag, Hintergrund des biblischen Bundeskonzepts, für den Vasallen bindend und sein Wortlaut entsprechend gesichert war. So heißt es etwa im Loyalitätseid Asarhaddons Z. 57f. (§ 4): „Das Wort Asarhaddons, des Königs von Assur, sollst du nicht ändern (enû), sollst du nicht abwandeln (šanû D)“10. Eine entsprechende „Kanonformel“ findet sich im Deuteronomium (Dtn 13,1; 4,2)11: „Das ganze Wort, das ich euch gebiete, ihr sollt es bewahren, um es zu tun. Du sollst nichts darüber hinaus hinzufügen (YSP) und nichts von ihm wegnehmen (GR‘).“ Historisch steht dieses Bundeskonzept in Verbindung mit der Sicherung und Behauptung der religiösen und gesellschaftlichen Identität Israels gegenüber der assyrischen Herrschaft im 8. und 7. Jh. v. Chr.12. 8

E. Otto, Wie „synchron“ wurde in der Antike der Pentateuch gelesen? In: F.L. Hossfeld (Hrsg.), Manna (s. Anm. 3), 470 – 485, 473f.; 481– 483, zufolge ist die Vorstellung mosaischer Verfasserschaft des Pentateuch erst nachkanonisch (bzgl. der Tora) bzw. ab dem 1. Jh. v. Chr. belegt. 9 Vgl. R. Rothenbusch, Die kasuistische Rechtssammlung im ‚Bundesbuch‘ (Ex 21,2–11.18 –22,16) und ihr literarischer Kontext im Licht altorientalischer Parallelen (AOAT 259), Münster 2000, 514 –598. 10 Vgl. S. Parpola/K. Watanabe, Neo-Assyrian Treaties and Loyalty Oaths (SAA 2), Helsinki 1988, 31. 11 B. M. Levinson, Esarhaddon’s Succession Treaty as the Source for the Canon Formula in Deuteronomy 13:1, in: JAOS 130 (2010) 337–347, 342–347, betrachtet VTE § 4 (Z. 57– 60) als Vorlage von Dtn 13,1 mit Hinweis auf das Nebeneinander von enû / šanû D-St. im akkadischen und YSP / GR‘ im hebräischen Text. Zu weiteren Belegen der sog. Kanonformel in der Umwelt Israels und in der hebräischen Bibel vgl. C. Dohmen/M. Oeming, Biblischer Kanon. Warum und wozu? Eine Kanontheologie (QD 137), Freiburg i. Br. 1992, 68 – 89. 12 Vgl. dazu etwa E. Otto, Die Ursprünge der Bundestheologie im Alten Testa-

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In der weiteren Geschichte tragen unter verschiedenen Bedingungen noch andere religiöse und soziale Motive zur Konstituierung eines kanonischen und normativen Textes der Tora bei. Der skizzierte Bedeutungszusammenhang des Bundes ist aber sicher ein wichtiger Ansatzpunkt für die Bildung von Normativität und Kanonizität der Tora, die selbst die Keimzelle des biblischen Kanons bildet13. Dass die Bildung des Kanons insgesamt sukzessive vor sich ging und er lange keineswegs randscharf abgegrenzt war, ist aus der Kanongeschichte des Alten und des Neuen Testaments hinlänglich bekannt14. Nicht zuletzt zeigt sich das in unterschiedlichen Kanongestalten, die bis in die gemeinsamen Bücher hinein z.T. erhebliche Unterschiede im Text aufweisen15. Kanonizität kommt also nicht erst zu einem bestimmten Zeitpunkt – soweit man einen solchen überhaupt historisch festmachen kann16 – von außen zu den biblischen Texten hinzu, sondern bildet sich im produktiven Prozess der Überlieferung selbst he-

ment und im Alten Orient, in: ZAR 4 (1998) 1– 84; ders., Das Deuteronomium. Politische Theologie und Rechtsreform in Juda und Assyrien (BZAW 284), Berlin/New York 1999, 15 – 90; 364 –378. 13 G. Steins, Zwei Konzepte – ein Kanon. Neue Theorien zur Entstehung und Eigenart der Hebräischen Bibel, in: G. Steins/J. Taschner (Hrsg.), Kanonisierung – die Hebräische Bibel im Werden (Biblisch-theologische Studien 110), Neukirchen-Vluyn 2010, 8 – 45, bes. 32–37, betont dagegen (im Anschluss an neuere Literatur, v.a. A. de Pury, S. B. Chapman, K. van der Toorn) die Gleichursprünglichkeit der Tora und des Prophetenkanons. Die skizzierten Zusammenhänge sprechen m. E. aber doch eher für die herkömmliche Annahme, die mit einer Kanonisierung zuerst (im Bereich) der Tora rechnet. 14 Vgl. dazu etwa die Beiträge in W. Pannenberg/T. Schneider (Hrsg.), Verbindliches Zeugnis. Bd. I: Kanon – Schrift – Tradition (Dialog der Kirchen 7), Freiburg i. Br./Göttingen 1992, von O. H. Steck, M. Hengel/R. Deines, und K. S. Frank; zu neueren Ansätzen bzgl. der Kanonentstehung G. Steins, Zwei Konzepte (s. Anm. 13), 8 – 45. 15 Vgl. für das Alte Testament bzgl. der Unterschiede im Masoretischen Text und der Septuaginta etwa M. Hengel/R. Deines, Die Septuaginta als „christliche Schriftensammlung“ und das Problem ihres Kanons, in: W. Pannenberg/ T. Schneider (Hrsg.), Verbindliches Zeugnis (s. Anm. 14), 34 –127, 89 – 95; für das Neue Testament etwa B. M. Metzger, Der Kanon des Neuen Testaments. Entstehung, Entwicklung, Bedeutung, Darmstadt 22012, 252–255 u.ö. 16 Zur Revision der Hypothese einer Kanonisierung der Hebräischen Bibel durch die Synode von Jamnia (H. Graetz) vgl. C. Krieg, Javne und der Kanon. Klärungen, in: G. Steins/J. Taschner (Hrsg.), Kanonisierung (s. Anm. 13), 132–152.

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raus. Die formelle Kanonisierung schreibt dann im wesentlichen eine z.T. längst bestehende Faktizität fest. Weder verändert dies den Text inhaltlich, noch erhält er dadurch eine völlig andere und neue Qualität im Sinn einer Autorisierung17. Der biblische Kanon „entwickelt sich“ mit der Entstehung der Bibel und ihre Kanonisierung ist eher ein – wenn natürlich auch höchst wichtiger – Einschnitt im Prozess ihrer Aktualisierung, der nach dem Abschluss der produktiven Phase als Auslegung weitergeht18. Aber so wie jeder kanonische Text auslegungsbedürftig ist, hat umgekehrt der Kanon eine zentrale Bedeutung für die Auslegung – beides hängt zusammen. Die Bedeutung des Kanons für die Auslegung der Bibel als Heiliger Schrift tritt seit einiger Zeit wieder ins Blickfeld der Bibelwissenschaft. Die kanonische Exegese hat diesbezüglich wichtige Aspekte zur Geltung gebracht, die in der historischkritischen Exegese lange gar keine oder eine zu geringe Rolle spielten19: Dazu gehören v.a. die theologisch maßgebliche Bedeutung

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Vgl. C. Dohmen, Mehr als ein Kanon. Die Bibel als Grundlage unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften, in: K. Kollmar-Paulenz u. a. (Hrsg.), Kanon und Kanonisierung. Ein Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften im interdisziplinären Dialog (Tenor – Text und Normativität 2), Basel 2011, 238 –255, 251: „Die normative Kraft des biblischen Kanons entsteht folglich nicht dadurch, dass ein Text fixiert wird und für verbindlich erklärt und als solcher anerkannt wird, sondern dass mit der Konzeption ‚offener Grenzen‘ eine Schriftsammlung tradiert wird.“ T. Ruster und O. Reis sprechen in ihrem Beitrag zu diesem Band, 68, bzgl. der Kanonbildung mit G. Wenz von einer „faktischen Selbstdurchsetzung“ der Schriften des Kanons; vgl. auch B. M. Metzger, Kanon (s. Anm. 15), 266 –271. 18 Vgl. C. Dohmen/M. Oeming, Kanon (s. Anm. 11), 25: „Mit der Endgestalt wird lediglich der Ort der Interpretation verlegt. Geschah sie bis dahin durch produktive Fortschreibung oder Redaktion im Text, geschieht sie von da ab durch Kommentierung und Auslegung neben/zu diesem Text.“ 19 Vgl. u. a. in der deutschsprachigen Lit. N. Lohfink, Der weiße Fleck in Dei Verbum Artikel 12, in: Ders., Studien zur biblischen Theologie (SBAB 16), Stuttgart 1993, 78 – 96; C. Dohmen/M. Oeming, Kanon (s. Anm. 11); C. Dohmen, Biblische Auslegung (s. Anm. 3); G. Steins, Bindung (s. Anm. 3), 10 –102; ders., Kanonisch-intertextuelle Studien zum Alten Testament (SBAB 48), Stuttgart 2009; mit besonderem Bezug auf die Schrifthermeneutik der Kirchenväter L. Schwienhorst-Schönberger, Zwei antagonistische Modelle der Schriftauslegung in Dei Verbum? in: J. H. Tück (Hrsg.), Erinnerung an die Zukunft. Das zweite Vatikanische Konzil, Freiburg i. Br. 2012, 429 – 441; ders., Wiederentdeckung des geistigen Schriftverständnisses. Zur Bedeutung der Kirchenväterhermeneutik, in: ThGl 101 (2011) 402– 425. Vgl. auch den Beitrag von T. Hieke in diesem Band.

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des Kanons bzw. des kanonischen Endtextes – für das Christentum in Gestalt einer Zweieinheit der Bibel aus Altem und Neuem Testament – als Grundlage und Referenzrahmen für die Interpretation der Schrift in der Glaubensgemeinschaft, mit der dieser Kanon unlösbar verbunden ist und dass es in diesem Rahmen eine Sinntiefe der Bibel gibt, die sich nicht im historischen Schriftsinn erschöpft und für deren Aktivierung nicht zuletzt der Leser bzw. Rezipient eine Rolle spielt20. Das sind wichtige theologische und hermeneutische Einsichten und Anliegen, die zu würdigen sind. Die zunehmende Bedeutung des synchronen Endtextes sowie der Redaktionsgeschichte in der – verkürzt so genannten21 – historisch-kritischen Exegese zeigen, dass auch ihr diese Anliegen keineswegs fremd sind22. Dennoch hat sich die kanonische Exegese von Anfang an in deutlicher Abgrenzung von Verkürzungen der historisch-kritischen Exegese positioniert23. Meines Erachtens ist das eine Hypothek der Diskussion. Wie sich Vertreter der kanonischen Exegese von einigen Bibelwissenschaftlern zu Unrecht der Unwissenschaftlichkeit geziehen sehen24, weckt bei historisch-kritisch arbeitenden Exegeten die Festlegung dieses Zugangs zur Schrift auf das Vergangene, letztlich theologisch Irrelevante Be-

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Vgl. zur rezeptionsästhetischen Perspektive in der kanonischen Exegese G. Steins, Bindung (s. Anm. 3), 84 –102; in Verbindung mit dem „geistigen Schriftsinn“ R. Voderholzer, Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung. Bausteine zu einer christlichen Bibelhermeneutik, Regensburg 2013, 151–169. 21 Oft wird pauschal und verallgemeinernd von der „historisch-kritischen Exegese“ (im Unterschied zur „kanonischen Exegese“) gesprochen, die es in dieser eindeutigen Form nicht gibt, vgl. den Beitrag von C. Frevel in diesem Band. Zum Teil fragt man sich, wieviel die problematisierte Form der historischen Kritik überhaupt mit der gegenwärtigen auch „historisch-kritisch“ arbeitenden Forschung zu tun hat; vgl. auch R. Kühschelm, Nicht nur legitim, sondern unerlässlich … Die historisch-kritische Methode nach Dei Verbum 12 und den folgenden kirchlichen Dokumenten, in: J. H. Tück (Hrsg.), Erinnerung (s. Anm. 19), 442– 456, 456; C. Frevel in diesem Band. 22 Vgl. W. Groß, Ist biblisch-theologische Auslegung ein integrierender Methodenschritt? in: F.-L. Hossfeld (Hrsg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie (QD 185), Freiburg i. Br. 2001, 110 –149, 120 –124. 23 Vgl. C. Dohmen/M. Oeming, Kanon (s. Anm. 11), 16 –18. 24 Vgl. etwa G. Steins, Kanonisch lesen, in: Ders., Kanonisch-intertextuelle Studien (s. Anm. 19), 38f.

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fremden25. Die Frage nach der jeweiligen theologischen und wissenschaftlichen Relevanz der beiden Zugangsweisen ist jedenfalls heikel. Gerade da die Frage einer künftigen Orientierung der Bibelwissenschaft v.a. in der katholischen Theologie auf der Tagesordnung steht26, scheint sich die Frontstellung historischer und kanonischer Exegese eher noch zu verschärfen27. Es geht mir im Folgenden nicht um eine Auseinandersetzung mit der kanonischen Exegese. Unter diesem Zugang wurden viele Anliegen formuliert – insbesondere was eine ganzheitliche und theologische Auslegung der Heiligen Schrift anbelangt – die bereichernd und zweifellos beherzigenswert sind. Im Blick ist hier lediglich, ob sich die Frage nach der historischen Dynamik und Tiefendimension der Schrift nicht ebenso im Rahmen des Kanons stellt und theologisch relevant ist. Von Anfang an berücksichtigt die kanonische Bibelauslegung („canonical approach“) den oben angerissenen kanonischen Prozess28. Diese Einsicht in die Entstehung des Kanons impliziert, dass nicht erst die „Kanonisierung“ ex post facto den „kanonischen Prozess“29 von außen reguliert. Deshalb sind die hermeneutischen Regeln zum Verständnis und zur Interpretation des so entstandenen kanonischen Werks aus dessen Eigenart selbst zu erheben. G. Steins fordert zu Recht: „Die gesuchte Methode kanonischer Auslegung muß als textbezogene Methode mit der Eigenart des Kanons als Text … korrespondieren und hat auf der literarischen Funktionsebene anzusetzen.“30 25

Vgl. etwa W. Groß, Auslegung (s. Anm. 22), 115 –120; R. Kühschelm, Methode (s. Anm. 21), 456. 26 L. Schwienhorst-Schönberger, Modelle (s. Anm. 19), 438 – 441, zufolge wird die Klärung des Verhältnisses von historisch-kritischer und kanonischer Exegese in der nächsten Zeit zu den vorrangigsten Aufgaben der Exegese gehören. 27 Vgl. etwa die dezidierte Gegenüberstellung eines „historischen“ und eines „kanonischen Paradigmas“ bei E. Ballhorn, Das historische und das kanonische Paradigma in der Exegese. Ein Essay, in: E. Ballhorn/G. Steins (Hrsg.), Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexionen und Beispielexegesen, Stuttgart 2007, 9 –30; s. dazu oben im Text 3. 28 B. S. Childs, Introduction to the Old Testament as Scripture, London 21983, 57– 62; C. Dohmen/M. Oeming, Kanon (s. Anm. 11), 19 –25 (mit Bezug v.a. auf B. S. Childs und J. Sanders); 56f.; 91– 97; G. Steins/J. Taschner, Einführung, in: dies. (Hrsg.), Kanonisierung (s. Anm. 13), 1–7, 2f. 29 Zur Unterscheidung von „Kanonisierung“ und „kanonischem Prozess“ vgl. G. Steins, Bindung (s. Anm. 3), 10 –21. 30 Ebd., 16.

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Die Tora als Nukleus des Kanonisierungsprozesses ist in diesem Zusammenhang besonders relevant. Der Sinnpflege durch Auslegung des kanonischen Textes entspricht in der produktiven Phase der Textentstehung ein analoger Prozess, in dem die biblische Überlieferung entfaltet und für jeweils neue Situationen adaptiert wird. Für ihre rechtlichen und ethischen Überlieferungen sowie ihren bewussten Fortschreibungscharakter möchte ich einige Beobachtungen vortragen, die m. E. zeigen, wie sich Normativität bzw. Kanonizität in der Tora entwickelt und dass diese historische Dynamik einen wesentlichen Teil auch des kanonischen Textes bildet und für seine Auslegung relevant ist.

2. Die Tora als System „kommunizierender Texte“ In den vergangenen Jahrzehnten ist der erste Kanon-Teil der Hebräischen Bibel stärker ins Bewusstsein auch der christlichen Kirchen und der Theologie getreten. Verbunden ist das mit einem zunehmenden Sinn für die Eigenbedeutung und den Eigenwert des Alten Testaments in der christlichen Bibel31. Die zentrale Stellung der Tora zeigt nicht nur die alttestamentliche Überlieferung selbst an mit ihren zahlreichen Bezügen auf die Tora des Mose als grundlegender Gabe Gottes für sein Volk Israel (vgl. etwa Jos 1,7; 2 Kön 17; 21,8; 2 Chr 6,16; 14,3; 25,4; 31,21; 33,8; 34,19; Esra 10,3; Neh 8f.; 10,35.37; Ps 1,2; 78; 119; Jes 2,3; 42,4.29; 51,4 –7 u.ö.). Auch der Kanon verweist darauf in seiner zeitlichen Sukzession sowie der Erststellung der Tora und der Auffassung der Propheten als ihrer Übermittler und Anwender (vgl. Dtn 18,15 –18; Jos 1,7f.; Mal 3,22)32. 31 Vgl. bzgl. der Eigenbedeutung des Alten Testaments etwa E. Zenger, Das Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen, Düsseldorf 41994, und F. Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011. Vgl. dazu auch die Beiträge von M. Oeming und K. Huber in diesem Band. 32 Vgl. etwa N. Lohfink, Kennt das Alte Testament einen Unterschied von „Gebot“ und „Gesetz“? Zur bibeltheologischen Einstufung des Dekalogs, in: Ders., Studien (s. Anm. 19), 206 –238, 207; R. Kratz, Die Propheten Israels (Beck’sche Reihe 2326), München 2003, 12–14. Das ist freilich erst eine späte Sicht, die keineswegs den vollen Reichtum der prophetischen Überlieferung einholt, vgl. dazu O. H. Steck, Der Abschluß der Prophetie im Alten Testament. Ein Versuch zur

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Vom Neuen Testament her ist eine Abwertung oder Ausblendung der Tora und ihrer rechtlichen und ethischen Überlieferungen sicher nicht gefordert oder auch nur vertretbar (vgl. etwa Mt 5,17–19). Das bedarf mittlerweile keiner besonderen Begründung mehr33. Wenn in der christlichen Exegese die Tora traditionell dennoch v.a. als Pentateuch wahrgenommen wurde, mit starker Konzentration auf ihre narrativen Überlieferungen, hat das v.a. mit einer selektiven Rezeption zu tun, in der für die Juden das weitgehend negativ besetzte „Gesetz“, für die Christen das Evangelium steht. So spielen in der – lange Zeit als Königsdisziplin der Bibelexegese geltenden – Pentateuchkritik die rechtlichen und ethischen Überlieferungen, die immerhin das Gros des kanonisch „Weisung“ (Tora) bzw. „Gesetz“ (Nomos) genannten Pentateuchs bilden, nur eine sehr untergeordnete Rolle, wenn überhaupt eine. Die Tora ist Israel gegeben und es kann nicht darum gehen, ihre Gebote und Verbote insgesamt für Christen zur Geltung bringen zu wollen34. Es besteht aber kein Grund, weshalb dieser grundlegende Teil der biblischen Überlieferung – gerade in kanonischer Perspektive – nicht auch in der christlichen Exegese und Theologie viel mehr Beachtung finden und nach seiner Bedeutung im Rahmen der einen Bibel gefragt werden sollte.35 In der Vergangenheit wurde das weitgehend vernachlässigt. Hier gibt es viel zu entdecken. 2.1 Vermittlungsstrategien Die rechtlichen und ethischen Überlieferungen der Tora sind ein komplexes Gebilde, kein erratischer Block und kein systematisch aufgebautes „Gesetzbuch“ ohne Spuren von Zeit und Geschichte. Das ergibt schon eine erste Lektüre36. Die Tora setzt sich zusammen Frage der Vorgeschichte des Kanons (Biblisch-theologische Studien 17), Neukirchen-Vluyn 1991. 33 Vgl. F. Crüsemann, Wahrheitsraum (s. Anm. 31), 93 –137. 34 Vgl. F. Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, Gütersloh 32005, 10 –12. 35 Zur kanonischen Prae-Position der Tora in der jüdischen und christlichen Bibel vgl. E. Zenger, Der Pentateuch als Tora und als Kanon, in: Ders. (Hrsg.), Die Tora als Kanon für Juden und Christen (HBS 10), Freiburg i. Br. 1996, 5 –34, 5 –7. 36 Um wieviel mehr gilt das für einen mit der hochdifferenzierten Rechtskultur des Alten Orients und Israels vertrauten Leser; vgl. etwa E. Otto, Antike (s. Anm. 8),

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aus einer ganzen Palette spezifischer Überlieferungen, Rechtssammlungen und damit verbundener theologischer Rahmentexte. Aber was auf den ersten Blick wie eine beliebige Zusammenstellung unterschiedlichen Materials erscheinen mag, ist, betrachtet man es genauer – und auch historisch –, ein kunstvolles Gebilde miteinander „kommunizierender Texte“, die sich mittels literarischer Verbindungslinien, Hinweise und Verknüpfungen zu einem beziehungsreichen Geflecht fügen. Ganz offensichtlich ist diese Überlieferung keine ahistorische Kumulation rechtlicher und ethischer Texte, sondern ältere Überlieferungen werden bewusst für sich stehen gelassen, jüngere daran angeschlossen und damit vermittelt, was selbst produktiv wird für textliche Fortschreibungen – ein außerordentlich lebendiger Prozess. Für diese Sicht sind natürlich Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung und Rekonstruktion wichtig, etwa dass die Rechtssammlung des Deuteronomiums das ältere sog. „Bundesbuch“ im Exodus-Buch voraussetzt und teilweise reformuliert37 oder dass die Priesterliche Gebotsmitteilung, d. h. im wesentlichen das Buch Levitikus bzw. „PS“, jünger ist als das ursprüngliche Deuteronomium38. Allerdings trägt die Überlieferung der Tora nicht nur Spuren ihres geschichtlichen Wachstums an sich, die solche literatur- und rechtsgeschichtlichen De- und Rekonstruktionen ermöglichen, sie weist m. E. geradezu darauf hin in Texten, die das Nebeneinander der verschiedenen Überlieferungen narrativ verankern und sie auf der synchronen Ebene miteinander vermitteln. Das betont zugleich aber auch die – nicht zuletzt geschichtliche – Eigenständigkeit dieser Überlieferungen. Zwei Beispiele will ich kurz vorstellen. 1. Im Buch Deuteronomium findet sich nach der deuterono476: „Nur ein Bundesbuch und Dtn oberflächlich zur Kenntnis nehmender Leser in der Antike konnte ein um die ‚Genese der Texte unbekümmerter Leser‘ sein.“ 37 Vgl. dazu etwa B. M. Levinson, Deuteronomy and the Hermeneutics of Legal Innovation, New York 1997; E. Otto, Das Gesetz des Mose, Darmstadt 2007, 126 –136; K. Finsterbusch, Deuteronomium. Eine Einführung (UTB 3626), Göttingen 2012, 153 –155. 38 Vgl. dazu etwa A. Cholewin´ski, Heiligkeitsgesetz und Deuteronomium. Eine vergleichende Studie (An.Bib. 66), Rom 1976; R. Kratz, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments. Grundwissen der Bibelkritik (UTB 2157), Göttingen 2000, 101f.; 113f.; 154f.; J. Stackert, Rewriting the Torah (FAT 52), Tübingen 2007.

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mischen Bundesurkunde, die auf dem Horebbund gründet (vgl. Dtn 5; 9,1–10,11) und ihren Abschluss in Dtn 26*; 28* findet, eine weitere Ebene: Dtn 28,69 besagt ausdrücklich, dass es neben dem Horebbund noch einen Bundesschluss in Moab gab: „Dies sind die Worte des Bundes, den JHWH Mose mit den Israeliten zu schließen hieß im Land Moab, zusätzlich zu dem Bund (tyrbh dblm), den er mit ihnen am Horeb geschlossen hatte.“ Mose erteilt in diesem (literarischen) Zusammenhang den Auftrag, die Niederschrift (rps) der von ihm in Moab vermittelten Tora (Dtn 31,9.10 –13), die regelmäßig verlesen werden soll (Dtn 31,9 –13)39, neben der Bundeslade zu deponieren (31,24 –26), in der die Tafeln mit dem Dekalog als eigentlicher Bundesurkunde des Deuteronomiums liegen, was schon Dtn 5 und 9,1–10,11 (vgl. Dtn 10,2.5) im Rahmen der Vorreden des Deuteronomiums als Erinnerung einer älteren Tradition formuliert (s.u.). So heißt es in Dtn 31,26: „Nehmt diese Tora-Urkunde und legt sie neben die Bundeslade JHWHs ({kyhl) hwhy-tyrb }wr) dcm), eures Gottes. Dort soll sie gegen dich als Zeuge dienen.“40 Die Positionierung der Tora-Urkunde neben der Bundesurkunde mit dem Dekalog hat sicher eine hermeneutische Bedeutung für das Verhältnis beider Texte zueinander41 und – wie wir gleich sehen werden – auch darüber hinaus. 2. Eine ganz analoge Konzeption bietet die Priesterliche Gebotsmitteilung in der Sinai-Perikope: In ihr dient das sog. „Offenbarungszelt“ (d(wm lh)) als Ort, an dem die Gebote mitgeteilt werden. Es heißt so, weil Gott sich dort „offenbaren“ will (Y‘D Hif.; Ex 25,22; vgl. auch Num 17,19): 39

Die regelmäßige feierliche Verlesung, die Vollständigkeit der Niederschrift (Dtn 31,24) und die vielleicht im Vortrag zum Lernen und Halten der Gebote (31,12f.) implizierte Auslegung bzw. Auslegungsbedürftigkeit des Textes, vgl. zu Letzterem E. Otto, Gesetz (s. Anm. 37), 94f., zeigen Merkmale von Kanonizität des verschrifteten Textes. 40 Vgl. zum Motiv des Zeugnisses gegen Israel K. Finsterbusch, Deuteronomium (s. Anm. 37), 186 –188. 41 So K. Finsterbusch, Deuteronomium (s. Anm. 37), 188, der zufolge dies die besondere Verbindung von Dekalog und deuteronomischer Tora zum Ausdruck bringt.

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„Ich werde mich dir dort offenbaren (Y‘D Nif.) und mit dir sprechen von der Deckplatte, (aus dem Raum) zwischen den beiden Keruben, die auf der Bundeslade sind, alles, was ich dir für die Israeliten befehlen will.“ Dass in dieser „Bundeslade“ (td(h }r)) die „(steinernen) Tafeln (des Bundes)“ (Ex 24,12: }b)h txl; 31,18: }b) txl td(h txl) deponiert sind, auf denen nur der Dekalog stehen kann42, wird in der Sinai-Perikope geschildert (Ex 25,16.21b; 40,20)43. Vom Raum über der Bundeslade mit diesen Bundestafeln im Heiligtum aus ergehen die Weisungen der Priesterlichen Gebotsmitteilung im Levitikusund Numeri-Buch, zunächst durch die Vermittlung des Mose, später auch der Priesterschaft44. Auch hier dient also der Dekalog als Grundlage der übrigen Gebotsmitteilung45. In beiden Fällen werden so die Gebote der eigenen Tradition als eine Mitteilung des Gotteswillens neben der Bundesurkunde mit dem Grundtext des Dekalogs bestimmt. Durch die Vermittlung des Mose (bzw. des Heiligtums) sind sie aber dennoch authentischer Teil der Tora, gleichursprünglich – und damit auch gleichrangig – mit den übrigen Tora-Überlieferungen durch Mose. Es geht dabei also – zumindest auf der Ebene der gesamten Tora – nicht in erster Linie um das Verhältnis der weiteren Ausführungen Moses zum Dekalog, wenn das natürlich auch implizit mit gegeben ist und zumindest im Deuteronomium eine Rolle spielt (s.u.). Im Blick ist vielmehr das Verhältnis der jeweils durch Mose vermittelten Tora-Überlieferungen untereinander46. Die Priesterliche Gebotsmitteilung steht so auf derselben Stufe wie die deuteronomische Tora. 42 Vgl. N. Lohfink, Unterschied (s. Anm. 32), 230f.; R. Rothenbusch, Zur Ausgestaltung der Sinaiperikope durch die Priesterliche Gebotsmitteilung, in: E. Gaß/H.-J. Stipp (Hrsg.), „Ich werde meinen Bund mit euch niemals brechen!“ (Ri 2,1) (FS W. Groß; HBS 62), Freiburg i. Br. 2011, 3 –28, 18 –23. 43 Vgl. zum Ganzen ebd., 10f.; 18 –23. 44 Ebd., 7–11. 45 Vgl. M. Konkel, Was hörte Israel am Sinai? Methodische Anmerkungen zur Kontextanalyse des Dekalogs, in: C. Frevel/M. Konkel/J. Schnocks (Hrsg.), Die Zehn Worte. Der Dekalog als Testfall der Pentateuchkritik (QD 212), Freiburg i. Br. 2005, 11– 42, 34: „Der Dekalog bildet dann im wörtlichen Sinne das ‚Fundament‘ sämtlicher Vorschriften, die Mose im Heiligtum empfängt.“ 46 Vgl. ähnlich N. Lohfink, Unterschied (s. Anm. 32), 229: „Vermutlich ist die hier

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Auf der Ebene des kanonischen Endtextes begegnet damit zunächst eine systematische Disposition, es geschieht ja alles in der normativen Mose-Zeit. Doch zeigen die Texte zugleich auch ein deutliches diachrones Profil. Der zusätzliche Moabbund ist jünger als das ursprüngliche Deuteronomium, ein zweiter Rahmenschluss und ein neuer Begründungszusammenhang der deuteronomischen Tora unter den veränderten historischen Bedingungen des Exils47. Und die dem Moabbund vergleichbare Vermittlungsstrategie der Priesterlichen Gebotsmitteilung setzt die des Moabbunds überlieferungsgeschichtlich voraus und greift sie in der jüngeren nachexilischen Zeit bewusst auf, indem sie dieselbe Bundeslade mitsamt dem Dekalog als Bundesurkunde einfach im Allerheiligsten des Sinai-Heiligtums aufstellt48. Die Tora bewahrt so in verschiedenen historischen Situationen entstandene – und in gewissem Maß konkurrierende – Tora-Überlieferungen nebeneinander, die offenbar schon als normativ und anfanghaft als kanonisch angesehen wurden. Sie werden zwar z.T. innerhalb der jeweiligen Traditionen fortgeschrieben, als solche im Deuteronomium erarbeitete Differenzierung zwischen dem Dekalog und allen übrigen Formulierungen des Gotteswillens überhaupt erst die Möglichkeitsbedingung gewesen einerseits für die Ausarbeitung des Heiligkeitsgesetzes (falls dies eine Art Ergänzung, ja Revision des deuteronomischen Gesetzes sein wollte), andererseits für die Komposition des Pentateuch als eines Miteinander verschiedener Gesetzeskorpora.“ Darin sieht er auch den Grund für die Imitation dieser in Dtn 5 entwickelten „narrativen Grundfigur“ in der Sinaiperikope. 47 Vgl. etwa E. Otto, Gesetz (s. Anm. 37), 120f., der die „Moabredaktion“ (Dtn 1,1–3,29*; 29,1–30,20*), welche den Bundeschluss nach Moab verlagert und ein exilisch redigiertes Josua-Buch einschließt, als eine zweite exilische Bearbeitungsstufe des Deuteronomiums betrachtet. Formal stehen die Texte des Moab-Bunds, für die Dtn 28,69 als Überschrift dient, vgl. N. Lohfink, Dtn 28,69 – Überschrift oder Kolophon?, in: Ders., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur III (SBAB 20), Stuttgart 1995, 279 –291; K. Finsterbusch, Deuteronomium (s. Anm. 37), 172f., außerhalb der Gestaltung des Deuteronomiums als „Bundesurkunde“ (Dtn 5 –28*), dazu G. Braulik, Das Buch Deuteronomium, in: C. Frevel (Hrsg.), Einleitung in das Alte Testament (Kohlhammer Studienbücher Theologie 1,1), Stuttgart 82012, 163 –188, 165 –168. Im Unterschied zur Moserede des älteren Deuteronomiums ist der Moab-Bund verbunden mit einer Bundesurkunde (rps), die erst im letzten Teil des Buches auftaucht (Dtn 28,58.61; 29,19.20.26; 30,10; 31,26), vgl. dazu oben im Text. 48 Zur überlieferungsgeschichtlichen Abhängigkeit im Einzelnen vgl. R. Rothenbusch, Ausgestaltung (s. Anm. 42).

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bleiben sie aber für sich bestehen. Dieser historische Fortbildungsprozess wird nicht etwa verdeckt, indem ein einziges Rechtskorpus immer weiter ergänzt würde, sondern die historische Entwicklung der Tora ist in ihren Texten und in ihrer Komposition nachvollziehbar49. Die bislang skizzierte Differenzierung und Vermittlung historischer Tora-Überlieferungen setzt aber schon eine grundlegende Differenzierung im Deuteronomium voraus, in der sich dieses mit der älteren Sinai-Überlieferung auseinandersetzt: die zwischen Dekalog und deuteronomischer Tora. 2.2 Das Deuteronomium und die ältere Überlieferung vom Sinai Die Verankerung der älteren deuteronomischen Rechtssammlung im Horebbund durch Dtn 5; 9,1–10,11 ist, wie gesagt, als eine Erinnerung gestaltet und als relecture älterer Überlieferungen zu betrachten. Das Deuteronomium bezieht sich dabei auf den Bundesschluss und die Gebotsmitteilung am Gottesberg Sinai in der Vorderen und der Hinteren Sinai-Perikope des Exodus-Buchs (Ex 19 –24*; 32–34*)50. Dass darin nicht nur eine identifizierende, sondern auch 49

E. Otto, Antike (s. Anm. 8), 473 – 477, etwa sieht in den Aussagen zur sukzessiven Verschriftung der Tora-Überlieferungen einen bewussten Hinweis auf ihre Diachronie: „Die Abstufung der Verschriftungsnotizen innerhalb der Fabel des Pentateuchs, die zwischen einer mosaischen Verschriftung am Sinai und im Land Moab unterscheiden, weisen dem antiken Leser den Weg, die Diachronie von Bundesbuch und Dtn zu verstehen.“ 50 Zum Verhältnis der beiden Überlieferungen vgl. N. Lohfink, Dtn 9,1–10,11 und Exodus 32–34: Zu Endtextstruktur, Intertextualität, Schichtung und Abhängigkeiten, in: Ders. Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur V (SBAB 38), Stuttgart 2005, 131–180, 145 –176, dem zufolge die ältere Schicht (Dtn 9,9 –21.25 –10,5.10 –11) (vermutlich) aus joschijanischer Zeit stammt, von Ex 32–34 literarisch abhängig ist und die Kenntnis dieses Textes beim Leser auch voraussetzt. Vgl. etwa auch R. Kratz, Komposition (s. Anm. 38), 131f.; ders., „Höre Israel“ und Dekalog, in: C. Frevel u. a. (Hrsg.), Die Zehn Worte (s. Anm. 45), 77– 82. Rechtshermeneutisch notwendig wurde diese literarische Bezugnahme spätestens bei der Verbindung der deuteronomischen Tora mit der Sinai-Überlieferung, unabhängig davon, ob das schon in vorexilischer oder erst in exilischer Zeit erfolgt ist. G. Braulik, Deuteronomium (s. Anm. 47), 173f., zufolge wird ein „joschijanisches Bundesdokument“ noch z.Zt. Joschijas im Rahmen einer joschijanischen Landeroberungserzählung (Dtn 1–Jos 22*) durch Dtn 5; 9f. mit dem Horebbund verbunden und als Moserede gestaltet; ähnlich

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eine bewusst distanzierende Aufnahme zu sehen ist, zeigt m.E. schon die charakteristische Terminologie, wenn dabei der Sinai durch die Chiffrierung als Horeb „Ödnis“51 in weite Ferne gerückt wird. Dtn 5,2–31; 9,1–10,11 schildert, wie Gott mit Israel am Horeb den Bund geschlossen und ihn nach dem Bundesbruch erneuert hat. Was bei einer intertextuellen Lektüre auf der Ebene des Endtextes als höchst markanter Unterschied zwischen dieser Darstellung und der Sinai-Perikope v.a. auffällt, ist das Fehlen des „Bundesbuchs“ (Ex 20,24 –23,19), das in der (Vorderen) Sinaiperikope – allein schon durch seinen Umfang, aber auch seine Verankerung im Bundesschlusstext Ex 24,3 – 8 – eine dominierende Stellung einnimmt. In Dtn 5; 9f. fehlt das „Bundesbuch“ aber nicht nur, es wird geradezu ausgeschlossen52. Dtn 5 zufolge hat Gott bei der Theophanie am Horeb mitten aus dem Feuer – Angesicht in Angesicht – zum Volk gesprochen und ihm den Dekalog mitgeteilt (Dtn 5,(1).2–21), den er auf zwei Steintafeln geschrieben und Mose übergeben hat (Dtn 5,22): „Diese Worte sprach JHWH zu eurer ganzen Versammlung auf dem Berg, mitten aus dem Feuer, aus Gewölk und Wolkendunkel, unter lautem Donner, und er fügte nichts hinzu. Und er schrieb sie auf zwei Steintafeln und gab sie mir“. Ausdrücklich wird betont, dass Gott am Horeb über den Dekalog hinaus nichts hinzugefügt hat. Es ist also gerade der Dekalog, der als einziges von Gott unmittelbar dem Volk mitgeteiltes Wort den Horeb aus deuteronomischer Sicht auszeichnet. Unmittelbar danach wird aber durch die Vermittlungsbitte Dtn 5,24 –27 die Mitteilung weiterer Gebote durch Mose in den Blick genommen. Das Deuteronomium differenziert also zwischen einer grundsätzlichen Gebotsmitteilung JHWHs am Gottesberg, dem Dekalog, der von Gott E. Otto, Gesetz (s. Anm. 37), 120f., allerdings als erste exilische Fassung eines spätvorexilischen Deuteronomiums. 51 Vgl. L. Perlitt, Sinai und Horeb, in: Ders. Deuteronomium-Studien (FAT 8), Tübingen 1994, 32– 49. 52 Vgl. diesbzgl. U. Rüterswörden, Das Buch Deuteronomium (NSK.AT), Stuttgart 2006, 64: „Das Verhältnis zu anderen Gesetzen vom Sinai wird nicht nur nicht geklärt – es gibt sie einfach nicht.“ Implizit wird dieses Verhältnis allerdings sehr wohl bestimmt, s. dazu oben im Text. Das ist sogar das eigentliche Anliegen der skizzierten Vermittlungsstrategien.

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selbst auf den Bundestafeln verschriftet wird, und der weiteren Ausführung durch die Abschiedsreden des Mose in Moab, die das deuteronomische Eigengut formulieren. Der Gedanke ist einfach und genial: Es gibt eine Grundaussage, den Dekalog, den Gott dem Volk unmittelbar mitteilt, und – mit Blick auf das Verhältnis von „Bundesbuch“ und deuteronomischer Tora – verschiedene, aber gleichursprüngliche und autoritative Ausführungen, die durch Mose vermittelt werden53. Das gilt ebenso für die Tora-Überlieferung von Ex 34 in der Hinteren Sinai-Perikope, die durch die bloße Erneuerung der Tafeln mit dem Dekalog ohne weitere Gebotsmitteilung (Dtn 10,1–5) wie das „Bundesbuch“ in der relecture von Dtn 9f. überspielt wird54. Dieser Zusammenhang ist durch die reformulierende Bezugnahme auf die Sinai-Überlieferung zu erschließen. Er hebt die Konkurrenz zwischen „Bundesbuch“ und deuteronomischer Tora bzw. Bundesurkunde auf, die sich in der historischen Entwicklung der Tora ergeben hat, ohne ihr literarisches Nebeneinander zu beseitigen. Es geht der deuterono53

So auch F. Crüsemann, Tora (s. Anm. 34), 410 – 413 (412: „Weil das Volk Gottes Anrede [bei der Mitteilung des Dekalogs; R.R.] nicht erträgt, rückt Mose in die Stellung des Mittlers ein. Alle weiteren Gesetze ergehen in der Zweisamkeit von Mose und Gott auf dem Berg, und alle werden dem Volk erst später mitgeteilt. Dadurch aber werden sie alle dem Range nach gleichartig, keines hat Vorteile vor den anderen.“); A. Graupner, Vom Sinai zum Horeb oder vom Horeb zum Sinai? Zur Intention der Doppelüberlieferung des Dekalogs, in: A. Graupner (Hrsg.), Verbindungslinien (FS W.H. Schmidt), Neukirchen-Vluyn 2000, 85 –101, 98 –101; D. Markl, Der Dekalog als Verfassung des Gottesvolkes. Die Brennpunkte einer Rechtshermeneutik des Pentateuch in Exodus 19 –24 und Deuteronomium 5 (HBS 49), Freiburg i. Br. 2007, 252. 54 Die Tora-Überlieferung in Ex 34 greift selbst schon auf das „Bundesbuch“ in der Vorderen Sinai-Perikope zurück, vgl. etwa E. Otto, Gesetz (s. Anm. 37), 59; E. Blum, Studien zur Komposition des Pentateuch (BZAW 189), Berlin u. a. 1990, 69; N. Lohfink, Prolegomena zu einer Rechtshermeneutik des Pentateuchs, in: Ders. Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur V (SBAB 38), Stuttgart 2005, 181–231, 209f., und wird dazu rechtshermeneutisch in Beziehung gesetzt (ebd., 210: „Neben dem Text auf den Tafeln besitzt Israel am Ende des Buches Exodus also schon zwei weitere schriftliche tyrb-Dokumente [das „Bundesbuch“ und Ex 34; R.R.], die allerdings eng zusammengehören und da das zweite eine verbesserte Auflage des ersten ist, für rechtshermeneutische Fragen als ein einziges betrachtet werden können.“). Ich möchte das an dieser Stelle der Einfachheit halber aussparen, vgl. aber R. Rothenbusch, Rechtssammlung (s. Anm. 9), 542–583.

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mischen Konzeption dabei gerade nicht um den Ausschluss des „Bundesbuchs“55, sondern, wie schon für den Moabbund und die Priesterliche Gebotsmitteilung angedeutet, die diese Strategie dann aufnehmen und fortführen, um die Vermittlung aller Mose zugeschriebenen Überlieferungen, die miteinander ins Spiel gebracht werden müssen56. Zugleich wird damit freilich auch eine Aussage über das Verhältnis des Dekalogs als Grundtext zur deuteronomischen Tora gemacht: Der Dekalog ist der Grundtext, der in den übrigen Rechtssammlungen der Tora ausgeführt bzw. ausgelegt wird57. Die rabbinische Tradition hat dafür später ein Bild gefunden (ySheq 6,1,49d): „Wie im Meer zwischen einer großen Welle und der nächsten kleine Wellen sind, so zwischen den Worten [d. h. den Geboten des Dekalogs] die Details und Buchstaben der Tora.“ In der deuteronomischen Tora hat sich das anscheinend so ausgewirkt, dass sie – vermutlich erst auf einer jüngeren Stufe ihrer Entwicklung – nach dem Vorbild des Dekalogs gestaltet wurde58. 55

Gegen K. Finsterbusch, Deuteronomium (s. Anm. 37), 171; 174. E. Otto, Rechtshermeneutik in der Hebräischen Bibel. Die innerbiblischen Ursprünge halachischer Bibelauslegung, in: Ders., Altorientalische und biblische Rechtsgeschichte. Gesammelte Studien (BZAR 8), Wiesbaden 2008, 464 – 485, 466 – 468, zufolge stellt gerade der Umstand, dass es sich um (an sich unwandelbares) göttliches Recht handelt, eine besonders hohe Anforderung an die rechtshermeneutische Vermittlung der reformulierten Rechtsüberlieferungen. 57 Vgl. etwa N. Lohfink, Unterschied (s. Anm. 32), 227; 236 („Daher würde ich als Aussage, die mit der Unterscheidung von Dekalog und anderen Gesetzen eigentlich gemacht werden sollte, die Unterscheidung zwischen prinzipiellem und unwandelbarem Gotteswillen einerseits und dessen wandelbarer und jeweils zeitbedingter Konkretion andererseits bezeichnen.“); D. Markl, Dekalog (s. Anm. 53), 163–169; 172f.; 252f. 58 Vgl. G. Braulik, Die deuteronomischen Gesetze und der Dekalog. Studien zum Aufbau von Deuteronomium 12–26 (SBS 145), Stuttgart 1991; ders., Die dekalogische Redaktion der deuteronomischen Gesetze. Ihre Abhängigkeit von Levitikus 19 am Beispiel von Deuteronomium 22,1–12; 24,10 –22; 25,13 –16, in: Ders., Studien zum Buch Deuteronomium (SBAB 24), Stuttgart 1997, 147–182; K. Finsterbusch, Deuteronomium (s. Anm. 37), 81f.; 208 –210; sowie die Beiträge von E. Otto (Der Dekalog in den deuteronomistischen Redaktionen des Deuteronomiums, 95 –108) und U. Rüterswörden (Die Dekalogstruktur des Deuteronomiums – Fragen an eine alte Annahme, 109 –121), in: C. Frevel u. a. (Hrsg.), Die Zehn Worte (s. Anm. 45). 56

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Betrachtet man das aus historischer Perspektive, setzt die skizzierte Differenzierung und Vermittlungsstrategie – ein originäres Konzept des Deuteronomiums59 – m. E. die deuteronomische ToraÜberlieferung ins Verhältnis zur älteren des „Bundesbuchs“, das schon zuvor an der exponiertesten Stelle, dem Gottesberg Sinai, verankert war60, und stellt beide retrospektiv auf dieselbe Stufe61. Narrativ kann das nicht völlig ausgeglichen werden, und auf der synchronen Ebene bleiben inhaltliche Spannungen bestehen62. Das ist aber nicht so sehr eine Unvollkommenheit dieses hochkomplexen Beziehungssystems, sondern ein Hinweis auf die historische Entwicklung und Dynamik der Tora, was letztlich auch eine Vorgabe für ihre Auslegung ist, die schon in der produktiven Phase der Tora beginnt63. 59

Der Dekalog wird urspr. im Deuteronomium eingeführt, vgl. F.-L. Hossfeld, Der Dekalog. Seine späten Fassungen, die originale Komposition und seine Vorstufen (OBO 45), Göttingen 1982, 236 –240; 281–284; ders., Vom Horeb zum Sinai. Der Dekalog als Echo auf Ex 32–34, in: C. Frevel u. a. (Hrsg.), Die Zehn Worte (s. Anm. 45), 87– 93; L. Perlitt, Bundestheologie im Alten Testament (WMANT 36), Neukirchen-Vluyn 1969, 89 – 92; N. Lohfink, Unterschied (s. Anm. 32), 222f.; F. Crüsemann, Tora (s. Anm. 34), 408. In einer synchronen Analyse legt C. Dohmen, „Es gilt das gesprochene Wort“. Zur narrativen Logik der Verschriftung des Dekalogs, in: C. Frevel u. a. (Hrsg.), Die Zehn Worte (s. Anm. 45), 43 –56, die im Deuteronomium gegenüber der Sinai-Perikope bessere narrative Verankerung des Dekalogs dar und spricht von einer „narrative[n] Priorität“ des deuteronomischen Dekalogs. Auch das mit dem Dekalog verbundene Tafelmotiv hat seinen urspr. Ort im Deuteronomium und wurde erst von dort sekundär in die Sinai-Perikope eingeführt, vgl. R. Rothenbusch, Ausgestaltung (s. Anm. 42), 18 –23 (mit weiterer Lit.). 60 Dass das „Bundesbuch“ als Vorläufer und Referenztext der deuteronomischen Tora zu betrachten ist, vgl. Anm. 37, und die skizzierte Vermittlungstrategie des Deuteronomiums ist m. E. am besten zu verstehen, wenn das „Bundesbuch“ schon vordeuteronomisch in der Sinaiperikope verankert und damit ein entscheidender Bezugspunkt für das Deuteronomium war, vgl. R. Kratz, Komposition (s. Anm. 38), 99 –155; R. Rothenbusch, Rechtssammlung (s. Anm. 9), 542–583; M. Konkel, Sünde und Vergebung. Eine Rekonstruktion der Redaktionsgeschichte der hinteren Sinaiperikope (Exodus 32–34) vor dem Hintergrund aktueller Pentateuchmodelle (FAT 58), Tübingen 2008, 304. 61 Vgl. ähnlich K. Finsterbusch, Deuteronomium (s. Anm. 37), 203. 62 Das gilt etwa auch für die Verschriftung der „Bundesurkunde“ bzw. des „Bundesbuchs“ in Ex 24,3 – 8 am Gottesberg, die in der weiteren Tora-Überlieferung nicht mehr aufgegriffen wird. 63 Für N. Lohfink, Unterschied (s. Anm. 32), 236, impliziert die Differenzierung von Dekalog und den anderen Rechtsüberlieferungen der Tora ein Movens für

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In dieser Sicht bleiben zwar die durch Mose vermittelten Gebote als historisch distinkte Größen bestehen, sie bilden rechtshermeneutisch aber dennoch einen Komplex, innerhalb dessen die Gebote miteinander zu einem Ganzen zu verbinden sind64. Das zeigt sich punktuell etwa in Dtn 27,1– 8, wenn dort die Errichtung eines dem Altargesetz des „Bundesbuchs“ (Ex 20,24 –26) entsprechenden, der Kultzentralisation des Deuteronomiums (Dtn 12) aber widerspre-

deren stete Aktualisierung: „Mit der Unterscheidung von Dekalog und restlichen Formulierungen des Gotteswillens ist im alttestamentlichen Kanon die Möglichkeit eröffnet, ja die Pflcht gesetzt, daß auch kommende Generationen vom gleichbleibenden Willen Gottes her neu nach der konkreten Formulierung des Gotteswillens für das Gottesvolk der eigenen Zeit fragen.“ 64 Zwei Entwürfe verbinden auf der Ebene des gesamten Pentateuchs die einzelnen Rechtskorpora bei einer Vorrangstellung der deuteronomischen Tora miteinander. So betrachtet E. Otto, Gesetz (s. Anm. 37), 85 – 97, das Deuteronomium als Auslegung der Tora vom Sinai (vgl. B’R in Dtn 1,5 als „Auslegung“ und Num 36,13 als Kolophon, das die Sinaitora abschließt). Ihr Auditorium ist die zweite Generation, die nicht am Sinai war (Dtn 2,14 –16) und die nun die Tora in der Form der Auslegung erhält, was auch auf die Adressaten des Textes zielt, die „Zugang zur Tora nur durch die schriftgelehrte Auslegung dieser Tora haben“ (89f.). E. Otto, Antike (s. Anm. 8), 473 – 477; ders., Gesetz (s. Anm. 37), 85 – 90; ders., Rechtshermeneutik (s. Anm. 56), 466 – 478, zufolge wird der auslegende Text, das Deuteronomium, zum hermeneutischen Schlüssel für den ausgelegten, das „Bundesbuch“, was auch ihrem überlieferungsgeschichtlichen Verhältnis entspricht, und er beschreibt darauf basierend im Einzelnen ein hochkomplexes System von Beziehungen beider Rechtsüberlieferungen untereinander, weshalb beide nicht im Widerspruch zueinander stehen. Zum Teil aufgrund derselben Struktursignale, aber mit anderen Akzentsetzungen, die der deuteronomischen Tora gegenüber den Geboten in Ex-Num eine deutliche funktionale Sonderstellung einräumen, sieht N. Lohfink, Prolegomena (s. Anm. 54), (beruhend auf einer fortschreitenden Novellierung älterer Rechtskorpora) in der deuteronomischen Tora ein „Endprodukt“, das die „ganze Welt des zu Tage getretenen göttlichen Willens zusammen mit den Inhalten der sinaitischen Bundesdokumente in einen repräsentativen und literarisch geschlossenen Gesetzeskomplex hinein“ als Schwurtext verdichtet (vgl. zur Bedeutung von B’R in Dtn 1,5 hier auch N. Lohfink/G. Braulik, Deuteronomium 1,5 t)zh hrwth-t) r)b: „er verlieh dieser Tora Rechtskraft“, in: Ders., Studien V (s. Anm. 54), 233 –251). Nachdem die Tora in nachexilischer Zeit zum präskriptiven Gesetz geworden ist, ergeben sich aus der Rechtspraxis rechtshermeneutische Fragen, für die aufgrund der skizzierten Spitzenstellung des Deuteronomiums dieses die „Zugangsadresse“ zur Tora ist. Erst von ihm her sind auch die anderen Rechtskorpora einzubeziehen: „Im Streitfall hat es [das Dtn; R.R.] zwar das letzte Wort. Aber wo es offen ist, müssen die anderen Gesetze des Pentateuchs einspringen.“

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chenden Altars nach dem Jordanübertritt angeordnet wird, was in Josua 8,30 –35 seine Realisierung findet. Vor der Eroberung Jerusalems gilt also – auch aus deuteronomischer Perspektive – das (ältere) Altargesetz des „Bundesbuchs“65. Wir werden im Folgenden sehen, dass in der Tora das „Bundesbuch“ auch in anderer Hinsicht seine Bedeutung behält. 2.3 Die Priesterliche Gebotsmitteilung in der Tora Die Priesterliche Gebotsmitteilung schließt, wie schon gesehen, konzeptionell an die deuteronomische Vorstellung an, der zufolge alle durch Mose vermittelte Gebotsmitteilung an Israel als weitere – aktualisierende – Ausführung auf der Grundlage der Bundesurkunde mit dem Dekalog erfolgt66. Das Medium dafür ist das zum Offenbarungszelt ausgestaltete Sinai-Heiligtum, wie es jetzt im Exodus-, Levitikus- und Numeri-Buch erscheint, und diese Verankerung am Heiligtum ist ihre eigentliche Besonderheit67. Nach der Inauguration des Kults am Sinai (Lev 8 –10) wendet sich Gott in den wichtigsten Gebotseinleitungen neben Mose auch explizit an Aaron (Lev 10,8; 11,1; 13,1; 14,33; 15,1; Num 2,1; 4,1.17; 16,20; 18,1.8.20; 19,1; 20,12.23), nach dessen Tod (Num 20,23 –29) an dessen Nachfolger Eleasar (Num 26,1). Das bedeutet eine wichtige Entgrenzung der Gebotsvermittlung durch Mose, auch wenn sie außerhalb der Tora in dieser Form keine Fortsetzung findet. Dennoch sind die Gebote in ihrer Anbindung an das Heiligtum offen für einen nicht einmaligen, sondern institutionell dauerhaften Charakter in ihrer notwendigen Auslegung. So formuliert Lev 10,10f. als Aufgabe der Priester68 65

Vgl. ähnlich U. Rüterswörden, Deuteronomium (s. Anm. 52), 172. Dementsprechend wird die Sinai-Perikope ausgestaltet mit Dekalog und Tafelmotiv, vgl. R. Rothenbusch, Ausgestaltung (s. Anm. 42), was auch auf der Endtextebene relevant ist, vgl. N. Lohfink, Unterschied (s. Anm. 32), 235: „Es [das Anliegen der Differenzierung zwischen Dekalog und neuer, historisch notwendig gewordener Konkretisierung des Gotteswillens, R.R.] muß auch noch in Ex 20 beim Vorbau des Dekalogs vor die gesamte sonstige Gesetzgebung wirksam gewesen sein. Denn jetzt galt es, eine Sammlung verschiedenster, aus verschiedenen Perioden und Herkunftsbereichen stammender Gesamtentwürfe des konkreten Gotteswillens Israels in ihrem Nebeneinander und Miteinander verständlich zu machen.“ 67 Dazu im wesentlichen R. Rothenbusch, Ausgestaltung (s. Anm. 42). 68 Vgl. dazu C. Frevel, „Und Mose hörte (es), und es war gut in seinen Augen“ 66

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„zu unterscheiden zwischen dem Heiligen und dem Profanen, zwischen dem Unreinen und dem Reinen und die Söhne Israels (in) allen Vorschriften zu unterweisen (YRH; vgl. to¯ra¯), die JHWH zu ihnen gesprochen hat durch Mose.“ Die fortschreitende „Sinnpflege“ und Aktualisierung der rechtlichen und ethischen Überlieferung im Rahmen der Tora lässt sich besonders in den jüngeren Teilen der Priesterlichen Gebotsüberlieferung beobachten69. Als Beispiel möchte ich aus dem Buch Levitikus den Fall der Nennung bzw. Verfluchung des Gottesnamens (QLL Pi./ NQB šem (JHWH)) durch den Sohn einer Israelitin und eines Ägypters wählen (Lev 24,10 –23). Nach der Schilderung des spezifischen Falls (V. 10 –12) wird von Gott (im Offenbarungszelt) das konkrete Urteil, die Todessanktion, ausgesprochen (V. 13f.) und anschließend noch einmal grundsätzlich formuliert (V. 15f.)70: „Zu den Söhnen Israels sollst du sprechen: Jeder Mann, wenn er seinen Gott verflucht (QLL Pi.), muss seine Sündenstrafe tragen. Und wer (dabei) den Namen JHWHs nennt (NQB), muss auf jeden Fall getötet werden, steinigen soll ihn die ganze Gemeinde. Der Fremde muss ebenso wie der Einheimische wegen seiner Nennung des Namens (JHWHs) getötet werden.“ Die Verfluchung (QLL Pi.) des Gottesnamens berührt sich im Wortlaut deutlich mit dem Verbot einer Schmähung Gottes im „Bundesbuch“ (Ex 22,27a; QLL Pi.) und dürfte als Anwendung dieses Verbots (Lev 10,20). Zum Verhältnis von Literargeschichte, Theologiegeschichte und innerbiblischer Auslegung am Beispiel von Lev 10, in: I. Müllner/L. SchwienhorstSchönberger/R. Scoralick (Hrsg.), Gottes Name(n). Zum Gedenken an Erich Zenger (HBS 71), Freiburg i. Br. 2012, 104 –136, 114 –133. 69 Insbesondere im Numeri-Buch finden sich ähnliche situative Gebotsmitteilungen vom Offenbarungszelt her (Num 9,6 –14; 15,32–36; 27,1–11; 36), die insgesamt einer dem Levitikus-Buch gegenüber jüngeren Überlieferungsstufe der Priesterlichen Gebotsmitteilung zuzuschreiben sind, vgl. E. Otto, Gesetz (s. Anm. 37), 117 mit Verweis auf R. Achenbach, Die Vollendung der Tora. Studien zur Redaktionsgeschichte des Numeribuches im Kontext von Hexateuch und Pentateuch (BZAR 3), Wiesbaden 2003. 70 Die Formulierung der Einleitung zur Gottesrede in V. 13 (mit konkretem Urteil) und 15a (mit allgemeiner Ausführung) entspricht genau der Einführung der Gebotsmitteilung im Offenbarungszelt, vgl. R. Rothenbusch, Ausgestaltung (s. Anm. 42), 7f., das hier nicht explizit genannt wird.

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zu betrachten sein71. Die Todessanktion, die in Ex 22,27a für die Verfluchung Gottes nicht unmittelbar genannt wird, ergibt sich – a minori ad maius – aus dem analog formulierten todesrechtlichen Satz über die Verfluchung von Vater und Mutter (Ex 21,17; QLL Pi.; vgl. auch Lev 20,9). Dass insbesondere die Nennung des Gottesnamens (NQB šem (JHWH); Lev 24,11a.16a.c)72 entsprechend zu beurteilen ist, wird hier erweiternd bzw. spezifizierend hinzugefügt73. Das eigentliche Rechtsproblem begegnet aber in V. 16c: der Fremde – um einen solchen handelt es sich beim Täter in diesem Fall (vgl. V. 10b)74 – muss ebenso für die Schmähung des Gottesnamens getötet werden wie der Israelit, an den die Gebote ursprünglich und primär gerichtet sind

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Vgl. Lev 24,15b: wyhl) llqy-yk $y) $y) mit Ex 22,27a: llqt )l {yhl). Dass Lev 24,15 auf die ältere Gebotsüberlieferung zurückgreift, legt m. E. schon V. 11d nahe, wenn dort von JHWH eine Auslegung der Gebote erwartet wird. So muss man PRŠ im Licht von Neh 8,8 m. E. verstehen, wo es um die Auslegung der Tora durch die Leviten geht, vgl. R. Rothenbusch, Identitäten (s. Anm. 4), 166f. In diesem Sinn ist m. E. auch die knappere Formulierung in Num 15,34 zu verstehen. 72 Ob hier konkret eine schmähende Nennung des Gottesnamens (NQB) bei einer Lästerung Gottes (QLL) gemeint ist, so etwa C. Nihan, Murder, Blasphemy and Sacral Law. Another Look at Lev 24,10 –23, in: ZAR 17 (2011) 211–240; R. R. Hutton, The Case of the Blasphemer Revisited (Lev XXIV 10 –23), in: VT 49 (1999) 532–541; S. T. Kamionkowski, Leviticus 24:10 –23 in Light of H’s Concept of Holiness, in: S. Shectman/J. S. Baden (Hrsg.), The Strata of the Priestly Writings. Contemporary Debate and Future Directions (AThANT 95), Zürich 2009, 73 – 86; oder schon die Aussprache des Gottesnamens schlechthin, vgl. die LXX: ~ nom!zwn d£ t| Ènoma kurËou qan!tÍ qanatoÅsqw (V. 16a), so etwa J. B. Gabel/C. B. Wheeler, The Redactor’s Hand in the Pericope of Leviticus xxiv, in: VT 30 (1980) 227–229; ist schwer zu bestimmen. Beides hängt wohl miteinander zusammen. NQB meint in nachexilischer Zeit die Nennung mit Namen (b), vgl. Num 1,17; Esra 8,20; 1 Chr 12,32; 16,41; 2 Chr 28,15; 31,19, bzw. in Lev 24,11a.16a.c wie auch in Jes 62,2 die Nennung eines Namens, was an sich keineswegs negativ ist und erst bzgl. des Gottesnamens bzw. bei einer Verfluchung Gottes so beurteilt wird. 73 Dabei unterscheidet der Text nicht strikt zwischen zwei Vergehen, weder in der Beschreibung des Tatbestands in V. 11a–b noch in dessen Beurteilung in V. 15f., vgl. auch T. Hieke, Levitikus. Bd. 2: Lev 16 –27 (HThKAT), Freiburg i. Br. 2014, 964f. 74 Entgegen der jüngeren Tradition einer Zugehörigkeit zur judäischen bzw. jüdischen Gemeinschaft durch die Abstammung von der Mutter ist hier noch eindeutig die Patrilinearität für die Volks- oder Gruppenzugehörigkeit entscheidend, vgl. S. J. D. Cohen, The Beginnings of Jewishness: Boundaries, Varieties, Uncertainties (Hellenistic Culture and Society 31), Berkeley u. a. 1999, 264 –273.

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(Lev 24,16c.22)75. Das muss man im umfassenderen Kontext der Priesterliche Gebotsmitteilung sehen, die eine weitgehende Gleichstellung des Fremden mit dem Einheimischen kennt76, was V. 22 grundsätzlich feststellt (vgl. Ex 12,49): „Ein Recht soll bei euch gelten, für den Fremden wie für den Einheimischen soll (es) gelten, denn ich bin JHWH, euer Gott.“ Zwischen diesen beiden Aussagen zur Gleichstellung des Fremden (V. 16c.22) steht in den V. 17–21 eine konzentrisch angeordnete Abfolge von todes- und ersatzrechtlichen Fällen: V. 17 Tötung eines Menschen Todessanktion V. 18 Tötung eines Tieres Ersatzleistung (ŠLM Pi.) V. 19f. Verletzung eines Menschen Talion V. 21a Tötung eines Tieres Ersatzleistung (ŠLM Pi.) V. 21b Tötung eines Menschen Todessanktion Das erinnert – inhaltlich und strukturell – deutlich an den ersten Teil des „Bundesbuchs“. Ausgehend von der Todessanktion für die Tötung eines Menschen (Ex 21,12) in den Todesrechtssätzen Ex 21,12–1777 finden sich die Regelungen zu Ersatzleistung (ŠLM Pi.) bei der Tötung eines Lebewesens (vgl. Ex 21,33 –36.37; 22,9 –14) und die Talion bei der Schädigung eines Menschen (vgl. Ex 21,23 –27) in den beiden Hauptabschnitte im ersten Teil des „Bundesbuchs“, dem Recht über Personen- und dem über Sach- bzw. Tierschäden, das in dieser komplexen Anordnung keine Entsprechung in den anderen Rechtskorpora der Tora hat. Insbesondere die vorliegende Anlage mit einer Generalregel im Zentrum – Talion bei Personenschäden –, von der besondere Fälle – Todessanktion bei der Tötung eines Menschen, aber nur Ersatzleistung bei der Tötung

75 So auch M. Fishbane, Biblical Interpretation in Ancient Israel, Oxford 1985, 100 –102. 76 Vgl. etwa C. Bultmann, Der Fremde im antiken Juda. Eine Untersuchung zum sozialen Typenbegriff „ger“ und seinem Bedeutungswandel in der alttestamentlichen Gesetzgebung (FRLANT 153), Göttingen 1992, 202; R. Rothenbusch, Identitäten (s. Anm. 4), 361–363. 77 Vgl. Lev 24,17/21b: tmwy twm {d) $pn-lk hky yk $y)w/tmwy {d) hkmw mit Ex 21,12: tmwy twm tmw $y) hkm.

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eines Tieres – abgehoben werden, hat dort ihr formales Vorbild78. Wenn diese, den konkreten rechtlichen Zusammenhang von Lev 24,10 –23 deutlich überschreitende Thematik hier eingeführt wird, gerahmt von den Aussagen über die rechtliche Gleichstellung des Fremden mit dem Einheimischen, erklärt das m. E. aus der Perspektive der Priesterlichen Gebotsmitteilung – in diesem Fall einer jüngeren Fortschreibung – dieses Zivilrecht als für Fremde ebenso gültig wie für Einheimische79. Es bedarf, denke ich, keiner weiteren Begründung, dass es sich bei dem angeführten Beispiel für die Aktualisierung der Gebote um einen fiktiven Fall handelt. In seiner spezifischen Gestaltung schließt er an die kasuistischen Rechtssätze mit ihrer Abwägung typischer Fälle und Rechtsfragen an80. Dagegen lässt die namentliche Nennung der Mutter des Täters (V. 11d) ganz bewusst an einen konkreten Einzelfall denken. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf diese jüngere Stufe der Priesterlichen Gebotsmitteilung: Je nach Bedarf werden dem Volk Gebote Gottes mitgeteilt, die dessen Leben grundsätzlich regeln, dabei aber von ganz konkreten Anlässen und Situationen ausgehen. Diese Überlieferung formuliert ganz klar die Notwendigkeit einer steten Aktualisierung der Gebote in den sich wandelnden Lebensumständen. Das geschieht im Rückgriff auf die ältere ToraÜberlieferung und gibt das auch für ihre weitere Auslegung vor81. Hinter den narrativen Verknüpfungen auf der idealen synchronen Ebene der Mose-Zeit stehen historische (auch sozial unterschiedlich verankerte) Überlieferungsgrößen und sie werden in ihrer geschichtlichen Unterschiedenheit belassen. Deshalb ist ein völliger synchroner Ausgleich zwischen ihnen auch nicht möglich bzw. wird gar nicht angestrebt. Diese Spannungen in der Tora sind viel78

Vgl. R. Rothenbusch, Rechtssammlung (s. Anm. 9), 226 –232. Vgl. ähnlich J. Vroom, Recasting Misˇpa¯t.îm: Legal Innovation in Leviticus 24:10 –23, in: JBL 131 (2012) 27– 44, 27– 41. 80 Vgl. Lev 24,10c „und es stritten im Lager der Sohn der Israelitin und der Sohn eines Israeliten“ (yl)r&yh $y)w tyl)r&yh }b hnxmb wcnyw) mit Ex 21,22a „Wenn Männer miteinander streiten“ ({y$n) wcny-ykw). 81 Vgl. ähnlich T. Hieke, Levitikus (s. Anm. 73), 959, zu unserer Stelle: „Durch die Einbettung von legislativen Texten in einen Erzählrahmen fordert die Tora dazu auf, in ein Gespräch über die Konkretion und Applikation der vorgestellten Rechtswelt einzusteigen. Es gilt nicht der „Buchstabe des Gesetzes absolut“, sondern vielmehr die Notwendigkeit der aktualisierenden Auslegung“. 79

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mehr produktiv im Prozess ihrer Aktualisierung. Und diese historische Dynamik ist nicht nur ein wesentliches Charakteristikum der Tora, sondern auch wichtig für ihre weitere Auslegung82, gerade auch im Rahmen des Kanons.

3. Einige hermeneutische Folgerungen Der biblische Text bietet keine „glatte Oberfläche“. Nicht nur Fissuren in einem letztlich monolithischen Überlieferungsblock sind wahrnehmbar. Gerade die Tora bewahrt die Spuren ihres Wachstums und ihrer historischen Dynamik, ihre ganze Gestalt ist geprägt von ihrer geschichtlichen Dimension83. Gehört dann aber das geschichtliche Gewordensein der biblischen Überlieferung nicht zur Eigenart der Bibel als Heiliger Schrift des Judentums und des Christentums? Ist die Textgenese nicht ein wichtiges Element der kanonischen Überlieferung selbst und ihre Beachtung damit auch relevant für die Theologie und nicht bloß eine Übung aus rein historischem Interesse? Gegenüber dem für die kanonische Exegese so gewichtigen Entwurf B.S. Childs’ mit seiner Konzentration auf die „gewordene Gestalt“ des Endtextes, der besonders dessen letzter (kanonischer) Stu-

82

Vgl. etwa N. Lohfink, Unterschied (s. Anm. 32), 229; E. Otto, Gesetz (s. Anm. 37), 98: „Die Tora … bedarf der Auslegung auf konkrete Lebenssituationen hin, wofür die Moabtora bereits innerhalb der Mosebücher das grundlegende und die postmosaische Auslegung legitimierende Vorbild in Gestalt des Deuteronomiums bildet.“; vgl. ebd., 96; K. Finsterbusch, Deuteronomium (s. Anm. 37), 203 (bzgl. des Verhältnisses von deuteronomischer Tora und „Bundesbuch“): „Das Beispiel der Altargesetze zeigt, soviel sei hier noch angedeutet, dass es der „Pentateuchredaktion“ ganz offensichtlich darum ging, ihrer Adressatenschaft deutlich zu machen, dass normative Texte „von Anfang an“ (also schon in der erzählten Welt des Pentateuchs) keine statischen Texte sind, sondern auszulegende bzw. (mehrfach und durchaus diskrepant) ausgelegte Texte. Dies ist mehr als bemerkenswert: Der von der Pentateuchredaktion geschaffene Pentateuch ist ein im gesamten Alten Orient einmalig ‚dynamisches‘ Dokument.“ 83 Zu diesem Ergebnis sieht sich auch die primär auf den kanonischen Endtext ausgerichtete Analyse von D. Markl, Dekalog (s. Anm. 53), 273, hinsichtlich offener Fragen bzgl. des Verhältnisses und der Bedeutung der einzelnen Rechtskorpora in der Tora genötigt: „Wenn sich im Pentateuch, der bewußt Rechtsgeschichte spiegelt, nicht alle rechtshermeneutischen Fragen glatt klären ließen, sollte dies umso weniger verwundern.“ (Hervorhebung R.R.)

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fe hohe Bedeutung beimisst, betont G. Steins für eine angemessene kanonische Schriftauslegung eine „Vergleichzeitigung des Ungleichzeitigen“ und die „Koexistenz des Widerstreitenden“84: „Das Ganze ist … mehr als das Letzte; die älteren Stufen interagieren mit den jüngeren. Gerade dies macht die Komplexität vieler Texte aus.“85 Erfordert aber die literarische Gestalt des kanonischen Endtextes tatsächlich eine Auslegung unter Absehung des Textwachstums und der historischen Verankerung der Texte?86 Durch die Kanonisierung wird der produktive Entstehungsprozess der biblischen Überlieferung zwar abgeschlossen, das dabei entstandene literarische Gebilde aber nicht notwendigerweise per se unhistorisch87. Das zeigen m. E. die angeführten Beobachtungen in der Tora, und solche diachronen Hinweise auf der Ebene der Texte und theologischen Konzeptionen in der biblischen Überlieferung ließen sich vermehren. Eingangs habe ich etwa die Ausbildung des Bundes(vertrags)modells in Auseinandersetzung mit der assyrischen Herrschaft und ihrem – auch religiös verankerten – Weltherrschaftsanspruch angesprochen. Jer 31,31–33 stellt in V. 31f. dem damit zu verbindenden früheren Sinai/Horeb-Bund, den Israel in seiner Geschichte gebrochen hat (vgl. Jer 11,1–14; 22,8f.), explizit die Verhei-

84

G. Steins, Bindung (s. Anm. 3), 28; vgl. zum Ganzen ebd., 26 –32. Ebd., 29. 86 Eine von der diachronen Textgenese völlig gelöste Kontextualisierung biblischer Texte innerhalb des Kanons wird v.a. in der intertextuell-rezeptionsästhetisch ausgerichteten Form kanonischer Exegese vertreten, vgl. etwa ebd., 26 – 44; 68 – 83 (82: „Der genetisch-kausale Aspekt tritt im Kanon hinter dem der Analogie und Ikonizität zurück, entsprechend ist die chronologische Orientierung durch die topologische zu ersetzen. Neue Text-Text-Beziehungen werden unabhängig von der Vorgeschichte einzelner Texte durch die Aufnahme des Textes in den Zusammenhang des Kanons auf der Basis von Ähnlichkeitsbeziehungen (statt Abhängigkeiten) möglich.“ Vgl. auch Ders., Kanonisch lesen, 47f.; E. Ballhorn, Paradigma (s. Anm. 27), 9 („Demgegenüber ist es dem Kanon von seiner Gestalt und Pragmatik her eigen, den Textursprung zugunsten der zeitübergreifenden Gültigkeit der Textaussagen zu übergehen und die Sinnsuche im Leseprozess zu ermöglichen.“); 20 –23. 87 So anscheinend auch C. Dohmen/M. Oeming, Kanon (s. Anm. 11), 25: „Gerade dann, wenn man die Schrift vom Kanon her ernst nimmt, kann und darf es eigentlich keine Priorität oder gar Ausschließlichkeit der Endgestalt des Textes als Gegenstand der Exegese geben. Die Endgestalt der Texte ist weder eine spannungsfreie noch eine die Qualität gewachsener Texte nivellierende.“ 85

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ßung eines „neuen Bundes“ gegenüber, dessen unverbrüchlicher Bestand von Gott für die Zukunft garantiert wird, was mit weiteren Formulierungen eines „ewigen Bundes“ o.ä. in der exilisch/nachexilischen Zeit zu kontextualisieren ist (vgl. Gen 9; 17; Jer 32,40; Ez 37,26 u.ö.). Das bildet einen lebendigen religionsgeschichtlich/theologischen Prozess ab: die Neuformulierung des Bundes Gottes mit seinem Volk angesichts der Erfahrung Israels von Gottes durchgehaltener Treue in der Katastrophe. Die Einsicht in die historischen Entstehungsbedingungen und -voraussetzungen solcher Konzepte und Formulierungen ist m. E. von erheblicher Bedeutung für das Verständnis der Überlieferung und lässt ihr inhaltliches und theologisches Profil sowie viele ihrer Bedeutungspotentiale – auch im Hinblick auf ihre heutige Aktualisierung – deutlicher hervortreten88. In der Offenbarungskonstitution des II. Vatikanischen Konzils kommt die historische Dimension der Bibel als kanonischer Heiliger Schrift deutlich zum Ausdruck. Ihre menschlichen Verfasser haben „durch den Gebrauch ihrer eigenen Fähigkeiten und Kräfte dazu dienen sollen, all das und nur das, was er [der Heilige Geist, R.R.] – in ihnen und durch sie wirksam – geschrieben haben wollte, als echte Verfasser schriftlich zu überliefern“ (DV 11). Bezüglich des ersten Satzes von DV 12 hat N. Lohfink die – gerade in der kanonischen Exegese vielfach aufgenommene89 – Auffassung vorgetragen, dass die Konstitution mit dem „was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten“ und dem „was Gott mit ihren Worten kundtun wollte“ zwei Bedeutungsdimensionen der Schrift differenziere90. Das impliziert aber keine Dichotomie zwischen dem – um es im Rahmen der traditionellen Bibelhermeneutik zu formulieren – wörtlichen und dem geistigen Schriftsinn und trennt letzteren keineswegs vom Wort der menschlichen Verfasser der Bibel91, die am Ende des Kapitels in DV 13, wo es um die Selbst88 Vgl. zur Problematik einer rein synchronen Bundestheologie des Alten Testaments etwa C. Frevel, Verhältnis (s. Anm. 68), 111f. 89 So etwa bei L. Schwienhorst-Schönberger, Modelle (s. Anm. 19), 433f.; 436f.; C. Dohmen, Biblische Auslegung (s. Anm. 3), 186; vgl. auch den Beitrag von T. Hieke in diesem Band. 90 N. Lohfink, Fleck (s. Anm. 19), 82– 92. 91 Vgl. C. Dohmen, Schriftsinn (s. Anm. 3), 16 –27; 61– 67; C. Dohmen/G. Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments (Kohlhammer Studienbücher Theologie I,2), Stuttgart 1996, 161–166.169 –172.

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offenbarung Gottes in der Hl. Schrift geht, unter dem inkarnatorischen Aspekt der Schrift noch einmal ausdrücklich genannt werden. Die historische Erforschung der biblischen Überlieferung trägt diesem Charakter der Bibel als „Wort Gottes in Menschenwort“ hinsichtlich der geschichtlichen Bedingtheit dieses Menschenwortes Rechnung92. „Die historisch-kritische Exegese nimmt die biblischen Texte … als literarische Zeugnisse geschichtlicher Gottes- und Glaubenserfahrung wahr.“93 Es geht dabei in hohem Maß auch um die menschliche Authentizität dieser Glaubenserfahrung und ihrer Bezeugung. Wenn die Offenbarungskonstitution den inkarnatorischen Charakter der Offenbarung und das Heilshandeln Gottes in der Geschichte betont (DV Kapitel I; vgl. v.a. 2), kann eine theologische und kirchliche Schriftauslegung m. E. nicht ohne den Bezug auf diese Geschichte geschehen94. Die in DV 12 – auf dem damaligen Stand der Forschung – erwähnten methodischen Aspekte der (historisch-kritischen) Exegese sind daher grundsätzlich für die Auslegung der Bibel in der Kirche relevant und die Konstitution lässt nicht erkennen, dass die dort angesprochenen Zugangsweisen auf einen nur das Vergangene betreffenden Sinn der Schrift beschränkt und theologisch irrelevant wären

92

Vgl. zur bleibenden bzw. wiederentdeckten Bedeutung des „Autors“ trotz aller Brechungen in der modernen Literatur- und Kulturwissenschaft den Beitrag von C. Frevel in diesem Band, 139–142. 93 T. Söding, Geschichtlicher Text und Heilige Schrift. Fragen zur theologischen Legitimität historisch-kritischer Exegese, in: T. Sternberg (Hrsg.), Neue Formen (s. Anm. 3), 75 –130, 81; vgl. zum Ganzen ebd., 81– 93. 94 Die exegetische Frage nach der historischen Tiefendimension der biblischen Überlieferung hat nicht zuletzt auch eine Bedeutung für die Frage nach dem Wirken Gottes in der Geschichte Israels. Die Bibelwissenschaft der letzten Jahrzehnte ist gerade in der Rekonstruktion dieser Geschichte zunehmend skeptischer geworden, vgl. etwa die Darstellung von L. L. Grabbe, Ancient Israel. What Do We Know and How Do We Know It? London/New York 2007, für die vorexilische Geschichte und die dort im Literaturverzeichnis angeführten, von ihm herausgegebenen Publikationen des „European Seminar in Historical Methodology“ (ESHM). Der Bemühung darum sollte man sich m. E. dennoch nicht entziehen. Es gibt keine „Geschichte Israels“ ohne eine historisch-kritische Auswertung der geschichtlich gewachsenen, vielstimmigen biblischen Überlieferung und eine Erarbeitung ihrer (literar)historischen Schichtung, so wichtig zunehmend außerbiblische, v.a. archäologische Quellen dafür werden.

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(vgl. auch DV 23)95. Neben der besonderen Beachtung der literarischen Gattungen wird dem Erklärer aufgetragen „nach dem Sinn zu forschen, wie ihn aus einer gegebenen Situation heraus der Hagiograph den Bedingungen seiner Zeit und Kultur entsprechend … hat ausdrücken wollen und wirklich zum Ausdruck gebracht hat“ und er soll „genau auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen achten, die zur Zeit des Verfassers herrschten, wie auf die Formen, die damals im menschlichen Alltagsverkehr üblich waren“96. Das lässt sich kaum auf ganz allgemeine lebensweltliche Hintergründe der biblischen Überlieferung eingrenzen. Damit ist sicher auch ihre historische Verankerung und Diachronie im Blick. Nur durch ihre Beachtung und Rekonstruktion lassen sich – bei aller unvermeidlichen Hypothetik und Vorläufigkeit dieses Unterfangens – die von der Konstitution geforderten Vorgaben erfüllen. Diese Würdigung der Relevanz und Bedeutung historisch-kritischer Exegese führen jüngere kirchliche Dokumente explizit fort97. Die Geschichtlichkeit der biblischen Überlieferung war während ihrer produktiven Phase im Bewusstsein ihrer Verfasser und das hat ihre literarische und theologische Entfaltung geprägt. So war etwa, um in dem bislang thematisierten Bereich zu bleiben, den Autoren

95

Vgl. dazu auch R. Kühschelm, Methode (s. Anm. 21), 446f. (unter Berufung auf A. Grillmeiers Kommentar in: LThK Bd. 13, Freiburg i. Br. 21986); 455f. Auch N. Lohfink, Fleck (s. Anm. 19), 90 – 92, sieht keinerlei Bruch in der exegetischen Methode in DV 12; vgl. auch ebd., 92– 95. 96 Hervorhebungen R.R. 97 Vgl. dazu R. Kühschelm, Methode (s. Anm. 21), der sich neben der Offenbarungskonstitution auf das Dokument der Päpstl. Bibelkommission „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ von 1993 und das nachsynodale Apostolische Schreiben „Verbum Domini“ von 2010 bezieht. Er hebt hervor, dass insbesondere das Dokument der Bibelkommission die unerlässliche Bedeutung der historischkritischen Methode wegen des „geschichtlichen Charakter[s] der biblischen Offenbarung“ würdigt (90), aber ebenso die Notwendigkeit betont, „den Sinn des biblischen Textes als gegenwartsbezogenes Wort Gottes“ zu erfassen (90) und – aufbauend auf der diachronen Forschung – die Bedeutung der synchronen Interpretation des Endtextes unterstreicht (115). Vgl. dazu auch die Einführung von L. Ruppert in: Ders./H.-J. Klauck (Hrsg.), Die Interpretation der Bibel in der Kirche. Das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission vom 23.4.1993 mit einer kommentierten Einführung von L. Ruppert und einer Würdigung durch H.J. Klauck (SBS 161), Stuttgart 1995, 9 – 61, 22–26.

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des Textes 2 Kön 22f.* über die feierliche Einsetzung der im Tempel zur Zeit Joschijas aufgefundenen Bundes- bzw. Tora-Urkunde – wie auch seinen ersten Lesern – natürlich bewusst, dass es sich dabei nicht um Geschichtsschreibung, sondern um eine narrativ-theologische Vermittlung dieser „Bundes-“ bzw. „Tora-Urkunde“ mit der normativen Ursprungszeit des Mose und der Gabe der Gebote am Gottesberg handelt98. Das ist durchaus wichtig für das Verständnis dieses Textes und seiner theologischen Bedeutung auch im Kontext des Kanons. Zugänglich ist das aber nur durch die historisch-kritische Erforschung der komplexen Entstehungsgeschichte der Tora. Die historische Kritik hat mit Methoden der modernen Geschichts-, Kultur- und Literaturwissenschaft wieder Zugang gefunden zur ursprünglichen geschichtlichen Dynamik der Bibel99. Das ist unter dem Aspekt ihrer Entstehungsbedingungen weder den Einzeltexten noch ihrer Ganzheit im Kanon gegenüber ein fremder oder verfälschender Zugang, m. E. ganz im Gegenteil100. Es stellt sich mithin die Frage, ob man einfach ein „historisches“ und ein „kanonisches Paradigma in der Exegese“ einander gegenüberstellen kann, unter Umständen sogar mit dem Votum, sie – bei aller möglichen Bedeutungen des einen für das andere – selbständig für sich nebeneinander stehen zu lassen101. Muss nicht das, was wir über die historische Entstehung der biblischen Überlieferung erkennen können – auch im Prozess ihrer Kanonisierung –, dazu führen, beides miteinander zu verbinden? L. Schwienhorst-Schönberger schlägt eine Integration der historisch-kritischen Methode in die Väterhermeneutik vor102. Wie auch immer sich das Verhältnis von historischer und kanonischer Exegese zueinander entwickeln wird103, 98

Vgl. etwa K. Finsterbusch, Deuteronomium (s. Anm. 37), 22. Vgl. für das Bewusstsein einer nichtmosaischen Verfasserschaft der Tora in ihrer produktiven Phase, E. Otto, Antike (s. Anm. 8), 481– 483; ders., Gesetz, 98 –103. 100 Zur Angemessenheit und Notwendigkeit der historisch-kritischen Exegese aufgrund des geschichtlichen Charakters der Offenbarung und zu ihrer theologischen Relevanz vgl. etwa T. Söding, Geschichtlicher Text (s. Anm. 93). 101 So E. Ballhorn, Paradigma (s. Anm. 27), 9; 28 –30. 102 L. Schwienhorst-Schönberger, Modelle (s. Anm. 19), 436; vgl. auch seinen Beitrag in diesem Band; in diese Richtung tendiert anscheinend auch das Apostolische Schreiben „Verbum Domini“ (2010), dazu R. Kühschelm, Methode (s. Anm. 21), 451– 455. 103 Vielleicht bahnt sich – zumindest im Bereich der katholischen Bibelexegese – 99

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das Ziel muss m. E. in jedem Fall eine Integration und kein bloßes Nebeneinander oder gar Gegeneinander sein104.

tatsächlich ein gewisser Paradigmenwechsel an, wenn eine tiefergreifende Neuorientierung des exegetischen Methodenrepertoires eintreten sollte; vgl. etwa E. Ballhorn, Paradigma (s. Anm. 27), 26 –28. Allerdings ist hier eine Lösung noch nicht in Sicht. Bezüglich des Ansatzes von G. Steins stellt J. Barthel, Die kanonhermeneutische Debatte seit Gerhard von Rad. Anmerkungen zu neueren Entwürfen, in: B. Janowski (Hrsg.), Kanonhermeneutik. Vom Lesen und Verstehen der christlichen Bibel (Theologie interdisziplinär 1), Neukirchen-Vluyn 2007, 1–26, 22, zu Recht fest: „noch bleibt unklar, wie die Rückfrage nach den im kanonischen Text aufgehobenen historisch situierten Akten der Kommunikation genau in das Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre zu integrieren ist“. 104 Vgl R. Kühschelm, Methode (s. Anm. 21), 451, und das Votum von J. Wohlmuth in diesem Band. G. Steins, Kanonisch lesen, 57, lehnt eine Integration der kanonischen Exegese in die historisch-kritische Methode dagegen dezidert ab und favorisiert ein Nebeneinander der methodischen Zugänge, wobei die theologische Lektüre der Bibel s.E. der kanonischen Exegese vorbehalten bleibt; ähnlich E. Ballhorn, Paradigma (s. Anm. 27), 9; 28 –30. Eine vergleichbare Trennung scheint sich auch bei C. Dohmen, Biblische Auslegung (s. Anm. 3), 177; 187f., abzuzeichnen, wenn er bzgl. der biblischen Auslegung unterscheidet zwischen der des Beobachters, der sich der historischen Dimension der Bibel und der des Teilnehmers, der sich der kanonisch/kirchlichen zuwendet. Er will beides zwar nicht ganz voneinander trennen, der Akzent liegt aber doch deutlich auf der Unterscheidung beider Zugänge.

Die eine christliche Bibel in zwei Teilen – zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament

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„Das Neue im Alten verborgen und das Alte im Neuen erschlossen“ (Dei Verbum 16) Paradigma oder Herausforderung für die Frage nach dem Verhältnis von Altem und Neuem Testament? Konrad Huber

1. Die Offenbarungskonstitution Dei Verbum schließt ihr 4. Kapitel, das Kapitel zum Alten Testament (DV 14 –16), das „die Heilsgeschichte in der Geschichte des Bundes Gottes mit Israel“1 nachzeichnet, in Artikel 16 mit grundlegenden Aussagen zur Einheit der beiden Testamente und ihrem Verhältnis zueinander ab, bevor sie dann in Artikel 17 vom Neuen Testament und dessen einzigartiger Bedeutung spricht. „Gott, der die Bücher beider Bünde inspiriert hat und ihr Urheber ist,“ steht dort am Beginn von Artikel 16 zu lesen, „wollte in Weisheit, daß der Neue im Alten verborgen und der Alte im Neuen erschlossen sei“ (DV 16). Auf der einen Seite – und das mit gutem Recht – wird bis heute die positive Würdigung und neue Sicht des Alten Testaments durch das Konzilsdokument hervorgehoben und darin nicht zuletzt auch „ein wichtiger Baustein für die Erneuerung des jüdisch-christlichen Verhältnisses“2 gesehen. Als „wahres Wort Gottes“, von Gott inspiriert und mit einem „unvergänglichen Wert“ ausgestattet (DV 14), ist den Schriften des Alten Testaments bleibende Bedeutung zugesprochen. In ihnen drückt sich – so Dei Verbum – „ein lebendiger Sinn für Gott“ aus; „hohe Lehren über Gott, heilbringende menschliche Lebensweisheit [und] wunderbare Gebetsschätze“ (DV 15) sind darin aufbewahrt. Immer dort, wo im Konzilstext von der 1

K. Rahner/H. Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, Freiburg i. Br. 312004, 364. 2 T. Söding, Die Zeit für Gottes Wort. Die Offenbarungskonstitution des Konzils und die Hermeneutik der Reform, in: Theologische Revue 108 (2012), 443 – 458, 443.

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Konrad Huber

„Heiligen Schrift“ die Rede ist, ist die Schrift Alten und Neuen Testaments im Blick, ist selbstverständlich der erste Teil des christlichen Kanons mitgemeint. Das Studium der in dieser Einheit verstandenen Schrift wird in Artikel 24 als die „Seele der heiligen Theologie“ bezeichnet (vgl. OT 16).3 Und wenn wenig später konstatiert wird: „Die Schrift nicht kennen heißt Christus nicht kennen“ (DV 25), dann sollte wohl auch in Erinnerung behalten werden, dass Hieronymus, der hier zitiert wird, ursprünglich dabei an das Alte Testament denkt.4 Auf der anderen Seite aber ist in den Ausführungen im Abschnitt zum Alten Testament und in analogen Aussagen auch sonst im Konzilsdokument die christliche Perspektive, d. h. die Fokussierung auf das Christusgeschehen hin, unübersehbar. Das Alte Testament steht hier nicht als Bibel Israels oder etwa als heilige Schrift Jesu und der ersten christlichen Gemeinden im Blick, sondern konsequent als der erste Teil der christlichen Bibel, dessen Ziel nach Dei Verbum darin liegt, „das Kommen Christi, des Erlösers des Alls, und das Kommen des messianischen Reiches vorzubereiten, prophetisch anzukündigen … und in verschiedenen Vorbildern anzuzeigen“ (DV 15). Es ist ausschließlich die Perspektive einer interpretatio christiana, von der aus der Konzilstext die Schriften des Alten Testaments betrachtet und wahrnimmt.5 So stellt schon Herbert Vorgrimler zum 4. Kapitel von Dei Verbum fest, man brauche „die Mängel dieses Kapitels nicht zu verschweigen“, und führt wenig später unter Rückgriff auf im Text selbst gebrauchte Formulierungen kritisch dazu aus: „Der ‚unvergängliche Wert‘ [perennem valorem] der Heiligen Schrift Israels wird hier doch eher in ihrer ‚göttlichen Erziehungskunst‘ [paedagogia divina] auf Jesus Christus hin gesehen.“6 Tatsächlich liegt Dei 3

DV 24 spricht für die Schrift zusammen mit der Überlieferung auch von „einem bleibenden Fundament“, auf dem die Theologie ruht. 4 Hieronymus, Commentarii in Isaiam Prophetam Prol. (PL 24,17): ignoratio Scripturarum, ignoratio Christi est. 5 Vgl. H. Hoping, Theologischer Kommentar zur Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, in: P. Hünermann/B. J. Hilberath (Hrsg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Band 3, Freiburg i. Br. 2005, 695 – 831, 811. 6 So Vorgrimler in seiner Einleitung zu Dei Verbum in: K. Rahner/H. Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium (s. Anm. 1), 361–366, 364. Zur kritischen Bewertung des Kapitels vgl. z. B. F. Kogler, Das Verhältnis von AT – NT in jüngeren rö-

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Verbum die Vorstellung einer heilsevolutionären Entwicklung zugrunde, einer Entwicklung, die vom Alten Testament – und bereits in diesem selbst wirksam angelegt – hin zum Neuen Testament fortschreitet.7 Wenn als Formel für die Einheit der Testamente vom „Neuen“, das „im Alten verborgen“, und vom „Alten Testament“, das „im Neuen erschlossen“ ist, gesprochen wird, dann ist diese Formel gleichfalls dem skizzierten Grundverständnis zugeordnet und im Binnenraum dieses Zugangs nur konsequent. Dass primär von dorther gedacht ist, zeigt nicht zuletzt auch die unmittelbar an diese Formel angeschlossene Erläuterung, nach der die Bücher des Alten Bundes erst eigentlich im Neuen „ihren vollen Sinn“ (significationem suam completam) „erhalten und offenbaren“ (DV 16). Dass umgekehrt – wie am Ende von Artikel 16 angemerkt – das Neue Testament seinerseits auch erst im Licht des Alten Testaments8 ganz verstanden werden könne, mag von daher mit Vorgrimler nur mehr als „ein schwacher Ausgleich“9 empfunden werden. So stellt sich die Frage, ob die in Dei Verbum 16 mit der wortspielhaften Wendung ausgedrückte und dort göttlicher Weisheit (!) zugeschriebene Verhältnisbestimmung der Testamente zueinander – in diesem spezifischen Sinn oder auch in einem allgemeineren Sinn verstanden – mit Blick auf die Genese und das Selbstverständnis der biblischen Schriften tatsächlich als Paradigma verstanden werden kann, ob sie hilfreich, ja überhaupt brauchbar ist oder ob sie – zumindest aus Sicht der modernen Bibelwissenschaft – nicht eigentlich eine uneinholbare Herausforderung bedeutet oder gar für sie zur Hypothek wird.

mischen Dokumenten. Novum Testamentum in Vetere latet, et in Novo Vetus patet, in: Protokolle zur Bibel 5 (1996), 109 –143, 110 –113, und die dort angeführte Literatur. 7 Vgl. z. B. E. Zenger, Das Erste Testament zwischen Erfüllung und Verheißung, in: K. Richter/B. Kranemann (Hrsg.), Christologie der Liturgie. Der Gottesdienst der Kirche – Christusbekenntnis und Sinaibund (Quaestiones disputatae 159), Freiburg i. Br. 1995, 31–56, 35; T. Söding, Zeit für Gottes Wort (s. Anm. 2), 456. 8 Das seinerseits „als Ganzes in die Verkündigung des Evangeliums aufgenommen“ (DV 16) ist. 9 K. Rahner/H. Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium (s. Anm. 1), 364.

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2. „Novum Testamentum in Vetere latet et in Novo Vetus patet“ – die in der Tradition vielfach variierte Formel,10 die Dei Verbum zur Beschreibung von Verhältnis und Einheit der beiden Testamente uneingeschränkt zustimmend aufgreift (DV 16), geht auf Augustinus zurück und ist Zitat aus dessen Kommentierung zum Buch Exodus, konkret zu Ex 20,19, wo von der Furcht des Volkes Israel als Reaktion auf die Mitteilung des Dekalogs und angesichts der unmittelbar bevorstehenden Theophanie die Rede ist.11 Einer offensichtlich verbreiteten, nicht zuletzt auch von dieser Textstelle geschürten Polarisierung von Altem und Neuem Testament – hier die Furcht (timor), der furchtbare und furchterregende Gott, und dort der Gott der Liebe (dilectio) – stellt Augustinus mit diesem Spruch den Verweis auf die prinzipielle Einheit der christlichen Bibel gegenüber (quanquam et …).12 Der Kirchenvater tut das, indem er – so Christoph Dohmen – „von der offenbaren Anwesenheit des Alten Testaments im Neuen (analog) auf eine verborgene Anwesenheit des Neuen Testaments im Alten Testament schließt“13. Letzteres, das „latere“, um das es Augustinus hier geht, das Verborgen-Sein des Neuen im Alten Testament, ist (und bleibt) im Grunde aber allein aus einer christlichen Position wirklich nachvoll10 Zahlreiche Beispiele dafür bringt H. de Lubac, Die Heilige Schrift in der Tradition der Kirche, in: Ders., Typologie – Allegorie – Geistlicher Sinn. Studien zur Geschichte der christlichen Schriftauslegung, Einsiedeln 1999, 1–256, 124 –143. 11 In Ex 20,19 richtet das Volk deshalb die Bitte an Mose: „Rede du mit uns, dann wollen wir hören. Gott soll nicht mit uns reden, sonst sterben wir.“ 12 Augustinus, Quaestiones in Heptateuchum 2,73 (PL 34,623; CSEL 28,2,141): Multum et solide significatur, ad Vetus Testamentum timorem potius pertinere, sicut ad Novum dilectionem: quanquam et in Vetere Novum lateat, et in Novo Vetus pateat. 13 C. Dohmen, Exodus 19 – 40 (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), Freiburg i. Br. 2004, 136. Nach Dohmen ziele Augustinus hier gerade nicht „auf eine christologische oder typologische Auslegung des Alten Testaments ab, wie viele Ausleger oder Benutzer dieses Spruches meinen, wenn sie daraus lesen, dass schon im Alten Testament das Neue als Vorankündigung angelegt sei, das Alte aber zum eigentlichen Wert seiner Offenbarung erst im Neuen komme“ (136). Vgl. dazu auch T. Hieke, Dei Verbum und Biblische Auslegung, in: D. Ansorge (Hrsg.), Das Zweite Vatikanische Konzil. Impulse und Perspektiven (Frankfurter Theologische Studien 70), Münster 2013, 52–74, 64 mit Anm. 30.

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ziehbar, erschließt sich und ist verständlich zu machen aus dem Prozess der nachösterlichen, rückblickenden Reflexion auf das Jesusgeschehen unter Heranziehung und mit Hilfe der heiligen Schriften Israels, die zugleich auch die heiligen Schriften der ersten Christusanhänger sind, d. h. eben nur indirekt „durch eine besondere“ – eine christliche – „Lese- und Interpretationsweise“14. Eine derartige Leseweise erweist sich zwar gerade etwa auch unter Zugrundelegung moderner literaturwissenschaftlicher Theorien, die von der prinzipiellen Offenheit von Texten und von Sinnkonstitution im je spezifischen Erfahrungshorizont einer Interpretationsgemeinschaft sprechen,15 durchaus als legitim, wird zugleich aber von dorther in ihre Grenzen verwiesen. Das „patere“, das Offen-Stehen, im zweiten Teil der Formel meint wohl auch schon bei Augustinus allerdings mehr als nur eine, wie Dohmen meint, „offenbare Anwesenheit“ oder Zugänglichkeit des Alten Testaments im Neuen, mehr als das unbestreitbare und unbestrittene Faktum der vielförmigen und durchgehend greifbaren Präsenz alttestamentlicher Texte im Neuen Testament. Es bezeichnet vielmehr den Aspekt der eigentlichen Sinnerschließung, des Zugangs zum wahren Sinn des dort Gesagten, der dann eben erst durch die Schriften des Neuen Testaments und in ihnen eröffnet und voll erkennbar sei. Die Frage nach dem Verhältnis der beiden Testamente und nach einem adäquaten Verständnis ihrer Beziehung zueinander ist von dorther aber in verschärfter Form erst eigentlich wieder aufgeworfen.

3. Spätestens mit der vehementen Zurückweisung Markions und der von ihm propagierten Loslösung vom Alten Testament durch die frühe Kirche des 2. Jahrhunderts ist diese Frage nach der spannungsvollen Einheit der Schrift und der Zuordnung von Altem und Neuem Testament im Kanon der zwei-einen Bibel bleibend als Problem14

C. Dohmen, Exodus 19 – 40 (s. Anm. 13), 136. Vgl. G. Steins, Bibel im Gespräch. Die verkannte Offenbarungskonstitution Dei Verbum, in: Ders., Kanonisch-intertextuelle Studien zum Alten Testament (Stuttgarter Biblische Aufsatzbände 48), Stuttgart 2009, 123 –129, 129. 15

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anzeige und Aufgabe – nicht allein der Textauslegung und Bibelwissenschaft, sondern der Theologie als ganzer und der Christenheit insgesamt – mit auf den Weg gegeben. Die Beziehungen der neutestamentlichen Schriften zu den Texten des Alten Testaments sind jedenfalls augenscheinlich und sie sind äußerst eng. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich auch, wie vielschichtig und komplex diese Beziehungen sind, und es zeigt sich, damit verbunden, die prinzipielle Schwierigkeit, die konkreten Gegebenheiten in einem einzigen, erschöpfenden Erklärungsmodell erfassen oder „auf eine einfache Formel“16 bringen zu können. Ganz selbstverständlich nehmen die Autoren der neutestamentlichen Schriften auf die Schriften Israels Bezug und setzen diese Texte und ihre Kenntnis voraus. Angefangen von stillschweigend übernommenen Sprachmustern und Wendungen, Bildern und Motiven, über indirekte Anspielungen und Verweise bis hin zu expliziten Zitaten lässt sich diese Bezugnahme auf allen Ebenen und in allen Textbereichen beobachten. Ihre tiefe Verwurzelung in der Glaubensgeschichte Israels kommt darin zum Ausdruck, vor allem aber das uneingeschränkte Einverständnis darin, dass das, was christlich den ersten Teil der Bibel ausmacht, im wahrsten Sinn des Wortes „Schrift“ ist, d. h. Autorität als göttliche Offenbarung besitzt. Das ist durchgängig in allen neutestamentlichen Schriften der Fall und gilt, wie vor allem die vielen Aussagen von weitreichender und grundlegender Bedeutung erkennen lassen, nicht etwa nur für die jeweils konkret herangezogenen Texte, sondern für die Schrift im Ganzen. In wohl besonderer Ausdrücklichkeit findet sich diese Grundüberzeugung bestätigt und begründet in 2 Tim 3,16 –17 bzw. 2 Petr 1,20 –21, an jenen beiden Stellen des Neuen Testaments, wo die Schrift, das Alte Testament, unmittelbar als von Gott eingegeben (qe{pneustoj) und als durch den heiligen Geist inspiriertes Wort Gottes ausgewiesen wird. Die konkrete Realisierung der intertextuellen Bezugnahmen in den einzelnen neutestamentlichen Schriften und Schriftengruppen fällt dann durchaus differenziert aus: als Vorstellung und Rede von Verheißung und Erfüllung, als Bestätigung von Schriftgemäßheit 16

Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 152), Bonn 2001, 13.

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ausgeführter Inhalte und geschilderter Begebenheiten, als Aufweis typologischer Entsprechung oder beispielhafter Analogie oder etwa als entscheidender Referenzpunkt im Kontext argumentativer Entfaltung und Begründung.17 Wie auch immer sich die Bezugnahme aber gestaltet, nirgends geht sie hinter die skizzierte Grundüberzeugung zurück. Die Schriften Israels sind die autoritative Grundlage, an die die neutestamentlichen Autoren und Texte anschließen und auf die sie sich stützen. Und es ist dieser „Rahmen der Schrift“, von dem her dem Christusgeschehen „seine Geltung und Wertigkeit“18 zugeschrieben wird. Für ein adäquates Verständnis des Neuen Testaments sind die Texte des Alten Testaments unverzichtbar. Eine Lektüre des Neuen Testaments ist nicht aus sich selbst möglich, sondern immer schon auf das Alte Testament verwiesen. Ist das Alte Testament also in seiner geschichtlich gewachsenen Ganzheit der unentbehrliche erste Teil des christlichen Kanons, so ist umgekehrt das Neue Testament mit seiner Christusbotschaft und seinem Zeugnis des Christusgeschehens gegenüber dem Alten etwas substanziell Neues und allein von dorther auch nicht zwingend ableitbar. Das hier nur umrisshaft und keineswegs erschöpfend beschriebene Phänomen der vielfältigen Bezugnahme auf die Schriften Israels lässt die tiefe Verwurzelung der neutestamentlichen Texte in diesen Schriften erkennen, es zeigt zugleich aber auch die genuine Lese- und Verstehensrichtung an. Erst und allein aus einer christlichen Position kann in einem zweiten Schritt auch umgekehrt die Überzeugung Raum gewinnen, dass das Neue Testament im Alten verborgen sei, wobei man wohl auch da noch einen unverortbaren, letztlich theologisch bzw. christologisch begründeten „Überschuss“ auf Seiten des Neuen Testaments konstatieren wird können.19 17

Vgl. dazu auch die Differenzierung intertextueller Bezugsformen des NT auf das AT von G. Theißen, Neutestamentliche Überlegungen zu einer jüdisch-christlichen Lektüre des Alten Testaments, in: Kirche und Israel 10 (1995), 115 –136, bes. 121–131, bzw. in Anlehnung daran F. Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011, 89.93f. 18 F. Crüsemann, Wahrheitsraum (s. Anm. 17), 100. 19 Vgl. dazu T. Söding, Mehr als ein Buch. Die Bibel begreifen, Freiburg i. Br. 1995, 105f.111f., wonach die „Neuheit des Neuen Testaments … in der christologisch vermittelten Theozentrik begründet liegt“ (106).

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4. Für das Alte Testament und dessen Verhältnis zum Neuen gilt demgegenüber aber bewusst zu halten, dass es „aus sich selbst heraus“ keineswegs „notwendig auf eine Fortsetzung im Neuen Testament hin angelegt“20 ist oder gar eine Ergänzung in genau dieser inhaltlichen Gestalt erfordert. So formuliert das Alte Testament zwar an vielen Stellen große Verheißungen Gottes, die auf Erfüllung in eschatologischer Zukunft hin ausgerichtet sind, und lässt in durchaus zentralen Bereichen ein Heilshandeln Gottes erwarten, das alles Bisherige übertrifft, seinem Literalsinn nach ist dabei aber nirgends von Jesus Christus die Rede oder das Christusgeschehen angekündigt.21 Selbst aus einer konsequent vom Neuen Testament her orientierten Blickrichtung kann und muss man für das Alte Testament von einem „Verheißungsüberschuß“ sprechen, der „durch Jesus Christus (noch) nicht erschöpft ist und nach wie vor auf seine Erfüllung harrt“22; ganz zu schweigen von jenem „Plus“ des Alten Testaments jenseits all dessen, was sich unter den Aspekt von Verheißung zusammenfassen lässt. Die Bibelwissenschaft wird diesbezüglich nicht müde, auf den Überhang und Mehrwert des Alten Testaments gegenüber dem Neuen hinzuweisen, den es inhaltlich für eine ganze Reihe unterschiedlichster Themenfelder und Lebensbereiche festzustellen gibt, und von dort aus vor Engführungen und Reduktionen zu warnen.23 Weder ist also das Alte Testament von sich aus nur Vorgeschichte oder Vorbereitung noch einfach nur prophetische Verheißung,24 die 20

Ebd., 112. Vgl. T. Söding, Alles neu!? Neutestamentliche Anmerkungen zum Verhältnis der beiden Testamente, in: Bibel und Liturgie 68 (1995), 162–172, 166f.169. 22 F. Kogler, Verhältnis (s. Anm. 6), 135, in Anlehnung an E. Zenger, Weiße Flecken im neuen Dokument der Bibelkommission, in: Bibel und Liturgie 69 (1996), 173 –176, 174. 23 T. Söding, Buch (s. Anm. 19), 102f., verweist diesbezüglich etwa auf die Themenfelder Schöpfung, Gestaltung der Gesellschaft oder alltägliche Lebensfragen. Vgl. dazu z. B. auch H. Haag, Das Plus des Alten Testaments, in: Ders., Das Buch des Bundes. Aufsätze zur Bibel und zu ihrer Welt (Kommentare und Beiträge zum Alten und Neuen Testament), Düsseldorf 1980, 289 –305. 24 Vgl. K. Lehmann, Das Alte Testament als Offenbarung der Kirche, in F.-L. Hossfeld (Hrsg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer ge21

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in je stringenter Kontinuität hin zum Neuen Testament führen. Der theologische Eigenwert des Alten Testaments, sein Eigencharakter als Wort Gottes steht dem entgegen, und im Kanon der christlichen Bibel und dem darin angelegten spannungsvollen Zueinander das Postulat einer prinzipiellen Gleichwertigkeit gegenüber dem Neuen. Auf diesem Hintergrund davon sprechen zu wollen, dass das Alte Testament erst eigentlich und voll im Neuen Testament erschlossen sei, stellt eine Bibelwissenschaft, die sich unter historisch-kritischer Rücksicht ihrem Gegenstand nähert, meines Erachtens vor eine schwerwiegende hermeneutische Herausforderung.

5. Die von Augustinus geprägte Formel beschreibt in ihren beiden Eckpunkten im Grunde nichts anderes als die Verhältnisbestimmung der beiden Teile des christlichen Kanons in den Kategorien von Verheißung und Erfüllung, Andeutung und Verwirklichung oder analogen Begriffspaaren. Unter den zahlreichen Denk- und Verstehensmodellen, die im Laufe der Theologie- und Auslegungsgeschichte hervorgebracht wurden und bis heute hervorgebracht werden, um die Frage der Einheit der beiden Testamente zu klären, ist das Verheißungs-Erfüllungs-Schema mit seinen vielen Differenzierungen und vor allem in Gestalt christologischer Zuspitzung seit jeher besonders einflussreich. Deutlich zeigt sich freilich aus kritischer Perspektive, dass dieses Modell in vielerlei Hinsicht zu kurz greift und der Vielschichtigkeit der alttestamentlichen Bezugnahmen im Neuen Testament ebenso wenig umfassend gerecht wird wie es die Vielfalt und die Gesamtheit der alttestamentlichen Überlieferung selbst einzuholen im Stande ist. Im Letzten präsentiert sich dieses Deutungsmodell als eine „Einbahnstraße“, die im Kontext einer einseitig akzentuierten interpretatio christiana allen voran die offenbarungstheologische Überzeugung von der Gleichwertigkeit des Alten Testaments hinter sich lässt und stattdessen einer Relativierung des ersten Teils des christlichen Kanons Vorschub leistet. samtbiblischen Theologie (Quaestiones disputatae 185), Freiburg i. Br. 2001, 279–289, 281.

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Der Versuch von Hartmut Gese, das Augustinus-Zitat auf dem Hintergrund seines traditionsgeschichtlichen Ansatzes („Tübinger Modell“) umzuformulieren, führt hier nicht wirklich weiter. Wenn in der Variante von Gese die Formel lautet: „Das Neue Testament an sich ist unverständlich, das Alte Testament an sich ist mißverständlich“25, dann spiegelt der zweite Teil dieses Diktums die Grundproblematik des ihm zugrunde gelegten Konzepts, wonach die Geschichte Jesu den Höhepunkt und Zielpunkt der in einem kontinuierlichen Prozess verlaufenden Verheißungsgeschichte Israels bilde und das Neue Testament die „Vollendung“ des Alten sei, „das Alte Testament [deshalb auch] nicht unabhängig vom Neuen, sondern nur im Blick auf das Neue Testament und von ihm her ausgelegt werden“26 könne. Aber auch anderen Ansätzen und Deutungstypen gelingt zumeist, nur bestimmte Teilaspekte der komplexen Beziehung der beiden Testamente zu erfassen und zu erklären. So positiv etwa im Modell von Hans Hübner das dahinterstehende Anliegen auch sein mag, die für Hübner hermeneutisch unverzichtbare Unterscheidung zwischen „Vetus Testamentum“ und „Vetus Testamentum in Novo receptum“ und die daraus folgende Konsequenz, dass das Alte Testament für den christlichen Glauben nur so weit theologische Geltung habe, als es im Neuen Testament rezipiert und durch diese Rezeption bestätigt und legitimiert werde,27 läuft ihrerseits auf eine radikale Selektion und massive Reduktion des alttestamentlichen Textbestands hinaus, die sich gerade aber aus den neutestamentlichen Zeugnissen selbst nicht ausreichend begründen lässt.28 Immerhin sei – so Tho25

H. Gese, Erwägungen zur Einheit der biblischen Theologie, in: Ders., Vom Sinai zum Zion. Alttestamentliche Beiträge zur biblischen Theologie (Beiträge zur evangelischen Theologie 64), München 1974, 11–30, 30. 26 So P. Stuhlmacher, Der Kanon und seine Auslegung, in: C. Landmesser/H.J. Eckstein/H. Lichtenberger (Hrsg.), Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums (FS Otfried Hofius) (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 86), Berlin 1997, 263 –290, 276. Zum Ansatz im „Tübinger Modell“ (und der Kritik daran) vgl. z. B. E. Zenger, Das Erste Testament (s. Anm. 7), 44 – 49; F. Crüsemann, Wahrheitsraum (s. Anm. 17), 66 – 69. 27 Vgl. dazu neben zahlreichen anderen Studien z. B. H. Hübner, Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Novo receptum. Die Frage nach dem Kanon des Alten Testaments aus neutestamentlicher Sicht, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 3 (1988), 147–162. 28 Vgl. dazu F. Crüsemann, Wahrheitsraum (s. Anm. 17), 83 – 85, der hier u. a.

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mas Söding zum hermeneutisch-theologischen Ansatz Hübners – damit richtig erkannt, „daß eine gesamtbiblische Theologie beider Testamente sich nur im Horizont des christlichen Glaubens als eine essentielle Aufgabe stellt“29.

6. Im Letzten sind wahrscheinlich alle vorgebrachten Modelle zur Verhältnisbestimmung der zwei-einen Bibel auf ihre je eigene Weise defizient und – wie der Gegenstand selbst – immer auch umstritten. Wenn die Offenbarungskonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils diesbezüglich auf jene Position rekurriert, die mit dem Diktum des Augustinus in prägnanter Form auf den Punkt gebracht werden kann, dann tut sie das, wie eingangs angemerkt, ganz auf der Basis ihrer theologischen Vorgaben und im Rahmen des vom Konzil gesteckten Horizonts aus durchaus nachvollziehbaren Gründen. Ungeachtet der einseitigen Gewichtung und der offenen Fragen, die diese Kurzformel in sich birgt, erhebt das Konzilsdokument damit jedoch ein Deuteschema zum Paradigma, das kirchlicherseits zwar jahrhundertelang dominierte, das für die Exegese aber mehr und mehr zu einem Stolperstein wird; – gerade dort etwa, wo die historisch-kritische Bibelwissenschaft bei ihrer Suche nach der Aussage und Botschaft der alttestamentlichen Schriften zwangsläufig feststellen muss, dass „eine christliche, speziell christologische Vereinnahmung der Texte“ keineswegs „so schnell und so leicht möglich ist“30, wie es der vorgegebene Grundsatz nahelegen würde. Es überrascht wahrscheinlich wenig, dass im Gefolge von Dei Verbum der Leitsatz des Augustinus und das im Konzilsdokument damit umschriebene schrifthermeneutische Prinzip in einschlägigen kirchlichen Dokumenten bis herauf in die Gegenwart bei der Bestimmung von Einheit und Beziehung der beiden Testamente immer wieder begegnen.

mit Verweis auf weitreichende neutestamentliche Formulierungen wie in Mt 5,17 grundlegende Skepsis dem Ansatz Hübners gegenüber anmeldet. 29 T. Söding, Anmerkungen (s. Anm. 21), 168. 30 T. Söding, Buch (s. Anm. 19), 101.

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Der Katechismus der Katholischen Kirche aus dem Jahr 1993,31 der zu dieser Frage in ausdrücklicher Aufnahme von Dei Verbum über weite Strecken eine primär typologische Sicht vertritt und die klassische Regel christlicher Schriftauslegung, das Alte Testament im Licht Jesu Christi zu lesen, in den Vordergrund stellt, daneben aber und insgesamt unausgewogen in augenscheinlicher Abhebung davon deutlich anderslautende Aussagen zum eigenen Offenbarungswert des Alten Testaments bietet,32 bringt das besagte Augustinus-Zitat als Schlusspunkt seiner Ausführungen zum Thema. Der Kurztext freilich, der etwas später folgt, spitzt auch da noch etwas zu: „Die Einheit der beiden Testamente ergibt sich aus der Einheit des Planes und der Offenbarung Gottes. Das Alte Testament bereitet das Neue vor, während dieses das Alte vollendet“; nicht ohne freilich zu ergänzen: „Beide erhellen einander; beide sind wahres Wort Gottes“ (Nr. 140). Auch das nachsynodale Apostolische Schreiben „Verbum Domini“ aus dem Jahr 201033 lässt den Abschnitt über die Beziehung der beiden Testamente in die als „scharfsinnige und weise Äußerung des hl. Augustinus zu diesem Thema“ bezeichnete Sentenz des Kirchenvaters ausmünden, zusätzlich verstärkt durch ein analoges Zitat aus den Ezechielhomilien Gregors des Großen. Demnach gelte es „also“ – und das heißt wohl auf Basis eben dieser hermeneutischen Vorgabe – „sowohl in der Seelsorge als auch im akademischen Bereich die enge Beziehung zwischen den beiden Testamenten deutlich hervorzuheben und mit dem hl. Gregor dem Großen daran zu erin31

Katechismus der Katholischen Kirche, München 1993. Vgl. vor allem z. B. Nr. 129: „Die Christen lesen also das Alte Testament im Licht Christi … Diese typologische Lesung fördert den unerschöpflichen Sinngehalt des Alten Testaments zutage. Sie darf nicht vergessen lassen, daß dieses einen eigenen Offenbarungswert behält, den unser Herr selbst ihm zuerkannt hat. Im übrigen will das Neue Testament auch im Licht des Alten gelesen sein …“. Vgl. dazu T. Söding, Buch (s. Anm. 19), 109 –111. Vgl. z. B. auch F. Kogler, Verhältnis (s. Anm. 6), 123 –126, der insgesamt aber ein „Bemühen um eine Aufwertung des AT“ und eine „gewisse Weiterentwicklung … (sogar) gegenüber dem heilsgeschichtlichen Ansatz von Dei Verbum“ (126) erkennen möchte; ähnlich E. Zenger, Das Erste Testament (s. Anm. 7), 39, der in bestimmten Aussagen (so bes. in Nr. 121 und 122) „das naive Schema Verheißung – Erfüllung … im Prinzip verabschiedet“ sieht. 33 Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini von Papst Benedikt XVI. über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 187), Bonn 2010. 32

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nern, dass ‚das Neue Testament die Verheißungen des Alten Testaments sichtbar gemacht hat; was dieses in verborgener Weise ankündigt, verkündet jenes offen als gegenwärtig. So ist das Alte Testament Vorausschau des Neuen Testaments; und das Neue Testament ist der beste Kommentar zum Alten Testament‘“34. Weit mehr als bei den beiden genannten Beispielen überrascht allerdings, dass auch das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ aus dem Jahr 199335 auf der Formel des Augustinus beharrt. Immerhin handelt es sich dabei um jenes Dokument, das gerade wegen seiner vorbehaltlos positiven Stellungnahme zur historisch-kritischen Methode und Methoden literarischer Analyse, die es uneingeschränkt ins Recht setzt, zumeist in den höchsten Tönen gewürdigt wird. „Unbefriedigend, ja enttäuschend ist das Dokument“ nach Erich Zenger vor allem aber gerade, „wenn und wo es das Verhältnis der zwei Testamente in der einen christlichen Bibel behandelt“36. Das Augustinus-Zitat kommt dabei nicht im einschlägigen Abschnitt über die „Beziehungen zwischen Altem und Neuem Testament“37 zum Einsatz, sondern dort, wo das Dokument den „Auftrag der Exegeten“ zu umreißen versucht. Neben der Wahrnehmung des geschichtlichen Charakters der biblischen Offenbarung gelte es zusammen mit der christologischen und kirchlichen auch die „kanonische … Tragweite der biblischen Schriften zu erklären“, erschließt sich doch im Gesamt des Kanon ein weiterer Sinn der Texte und jedes einzelnen Buches. Und deshalb umfasse der Auftrag der Exegese „die Entfaltung des vom hl. Augustinus aufgestellten Prinzips“38. Auf mögliche Aporien und eine (zu) eng eingegrenzte Binnenperspektive, die daraus für die Exegese entstehen, habe ich bereits hingewiesen. Dem Dokument der Bibelkommission, das an dieser Stelle ausdrücklich auf Dei Verbum 14 –16 ver34

Ebd. Nr. 41, S. 70. Vgl. Gregor der Große, Homiliae in Ezechielem 1,6,15 (PL 76,836): Et, sicut saepe jam diximus, quod Testamentum Vetus promisit, hoc Novum exhibuit; et quod illud occulte annuntiat, hoc istud exhibitum aperte clamat. Prophetia ergo Testamenti Novi, Testamentum Vetus est; et expositio Testamenti Veteris, Testamentum Novum. 35 Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 115), Bonn 1993. 36 E. Zenger, Flecken (s. Anm. 22), 173f. 37 Päpstliche Bibelkommission, Interpretation (s. Anm. 35), 77– 80. 38 Ebd., 90f.; zum Abschnitt „Der Auftrag der Exegeten“ insgesamt s. 89 – 94.

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weist, wird denn auch andernorts in seinen Ausführungen – im Gefolge von Dei Verbum – die Zugrundelegung des Verheißungs-Erfüllungs-Schemas und ein entsprechendes „Vorbereitungsdenken“ attestiert und diesbezüglich noch einiges an Klärungsbedarf eingemahnt.39 Erst im Dokument aus dem Jahr 2001 mit dem Titel „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“40 scheint die dem Paradigma von Dei Verbum verpflichtete Position spürbar revidiert worden zu sein, ablesbar allein schon daran, dass die Päpstliche Bibelkommission in diesem umfangreichen und bedeutenden Schreiben zum Thema ganz auf die Formel des Augustinus verzichtet. Bewegt sich das 4. Kapitel von Dei Verbum – und mit ihm eine lange Reihe von späteren kirchlichen Äußerungen – „ausschließlich in der Perspektive der ‚interpretatio christiana‘“41, so geht dieses Dokument darüber hinaus, indem es erklärtermaßen dem Ansatz einer doppelten Leseweise der Schrift, einer christlichen und einer jüdischen Leseweise,42 Rechnung zu tragen versucht. Die christliche Deutung des Alten Testaments wird dabei wahrgenommen als eine (!), aber eben nicht die einzige Sinnmöglichkeit der Texte. In zum Teil deutlicher Relativierung bisheriger Aussagen ist dann etwa zu lesen, dass „das Neue Testament im Lichte des Alten gelesen werden“ will, dass es andererseits aber auch dazu „einlädt“, „das Alte Testament im Lichte Jesu Christi ‚neu zu lesen‘“ (Nr. 19). Und später: „Wenn der christliche Leser wahrnimmt, dass die innere Dynamik des Alten Testaments in Jesus gipfelt, handelt es sich hier 39 So etwa bei F. Kogler, Verhältnis (s. Anm. 6), 132f. Dies vor allem auch angesichts der Tatsache, dass andernorts zugleich auch vom Eigenwert des Alten Testaments die Rede ist (z. B. Päpstliche Bibelkommission, Interpretation [s. Anm. 35], 46.90). Nach H.-J. Klauck, Das neue Dokument der Päpstlichen Bibelkommission: Darstellung und Würdigung, in: Die Interpretation der Bibel in der Kirche. Das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission vom 23. 4. 1993 mit einer kommentierenden Einführung von Lothar Ruppert und einer Würdigung durch Hans-Josef Klauck (Stuttgarter Bibelstudien 161), Stuttgart 1995, 62– 90, 82, wäre freilich ein „deutlicheres Wort über den Eigenwert des Alten Testaments auch für Christen … nicht fehl am Platz gewesen.“ 40 S. Anm. 16. 41 H. Hoping, Kommentar (s. Anm. 5), 818. 42 Zum Ansatz einer doppelten Leseweise der Schrift vgl. bes. C. Dohmen/ G. Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments (Kohlhammer Studienbücher Theologie 1,2), Stuttgart 1996.

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um eine rückschauende Wahrnehmung, deren Ausgangspunkt nicht in den Texten als solchen liegt, sondern in den Ereignissen des Neuen Testaments … [D]er Christ [entdeckt] im Lichte Christi und im Geiste in den Texten einen Sinnüberschuss …, der in ihnen verborgen lag“ (Nr. 21). Im Hintergrund steht „das Bemühen in der zeitgenössischen Theologie …, … eine christliche Deutung des Alten Testaments neu zu begründen, die frei von Willkür bleibt und dem ursprünglichen Sinn der Texte gerecht wird“ (Nr. 20).43 In ihrer Grundsätzlichkeit und Absolutheit lassen sich dann aber die beiden Eckpfeiler des zum Paradigma erhobenen Prinzips des Augustinus („latet“ – „patet“) nicht mehr so ohne Weiteres und uneingeschränkt eintragen. Das Konzept einer doppelten Hermeneutik, das mit diesem Dokument der Päpstlichen Bibelkommission so etwas wie offizielle kirchliche Anerkennung gefunden hat, ist in der Zwischenzeit in der Bibelwissenschaft zu einer Basis und einem Ausgangspunkt für neue Ansätze in der Verhältnisbestimmung der beiden Testamente im Kanon der christlichen Bibel geworden. In kritischer Auseinandersetzung mit diesem Konzept und dabei durchaus noch einmal in Abhebung von dem darin erhobenen Postulat, im Anschluss an eine erste Lektüre in einem zweiten Schritt das Alte im Licht des Neuen Testaments zu lesen,44 entstanden, versteht sich beispielsweise auch der vielversprechende Ansatz, den Frank Crüsemann letzthin vorgelegt hat.45 Crüsemann spricht, ausgehend von einer breiten Analyse dessen, was die neutestamentlichen Schriften selbst dazu sagen, vom Alten Testament als dem bleibenden „Wahrheitsraum des Neuen“46 und versucht von dort aus die Beziehung der beiden Testamente zueinander neu zu erfassen.

43 Zitate aus Päpstliche Bibelkommission, Heilige Schrift (s. Anm. 16), 38, 43f. bzw. 41. 44 Vgl. C. Dohmen/G. Stemberger, Hermeneutik (s. Anm. 42), 204. 45 Zur Auseinandersetzung mit dem Konzept einer doppelten Hermeneutik vgl. bes. F. Crüsemann, Wahrheitsraum (s. Anm. 17), 85 – 88. 46 So auch der Titel seines Buches (s. Anm. 17).

304

Konrad Huber

7. Am Ende dieser skizzenhaften Überlegungen steht also eine Problemanzeige: Das von der Konzilskonstitution Dei Verbum in Artikel 16 paradigmatisch formulierte Prinzip einer Hermeneutik der zweieinen Bibel auf Basis des Augustinus-Wortes erweist sich als eine letztlich uneinlösbare Herausforderung für die Bibelwissenschaft. Der Blick in die biblischen Schriften selbst ebenso wie aktuelle Verstehensansätze dazu zeigen deutlich, dass die Formel vom Neuen Testament, das im Alten verborgen, und vom Alten Testament, das im Neuen erschlossen ist, mehr als missverständlich ist, dem Textbefund nicht gerecht wird und in der Sache nicht eigentlich weiterführt. Anstatt das Diktum des Augustinus immer neu zu tradieren, es fortzuschreiben und sich daran abzuarbeiten, wird man vielleicht in Erwägung ziehen müssen, sich gänzlich davon zu verabschieden. Eine Wahrnehmung und Lektüre der Heiligen Schrift aus einer kritisch verantworteten christlichen Perspektive wird dann – nach innen mit schärferer Differenzierung und nach außen mit größerer Zurückhaltung der jüdischen Seite gegenüber – vielleicht stärker auf das Zueinander von Altem und Neuem Testament als einer komplexen „Spannungseinheit“47 abheben und anerkennen, dass diese „Spannungseinheit“ des biblischen Kanons nicht auf den einen, simplen Nenner herunterzubrechen ist.

47

So T. Söding, Buch (s. Anm. 19), 106 –117. Söding meint damit „eine Einheit, die zunächst die Unterschiede, die Differenzen und Gegensätze, die starken Spannungen zwischen beiden Testamenten aufnimmt, ohne sie zu nivellieren oder zu harmonisieren – und dann gerade diese Spannung als das innere Moment der Einheit der Bibel begreift“ (114), und stellt mit Blick auf die Frage, wie eine solche Spannung als Einheit zu denken wäre, fest: „Sowohl vom Alten wie auch vom Neuen Testament her könnte die Einheit nur im Gotteszeugnis gefunden werden“ (115).

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Vom Eigenwert des Alten Testaments als Wort Gottes Zur wechselseitigen Befruchtung der christlichen und jüdischen Exegese des Alten Testaments Manfred Oeming

1. Historische Entwicklungen und theologische Kategorien Bevor ich auf aktuelle Fragestellungen eingehe, soll zunächst in einem ersten Teil ein knapper historischer Rückblick das Verhältnis von christlicher und jüdischer Exegese beleuchten. Kirchengeschichte ist die Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift1, und nur eine kirchenhistorische Betrachtung kann das notwendige Problembewusstsein schaffen und Denk-Kategorien und Differenzierungen für den jeweiligen Umgang mit dem Alten Testament entwickeln.2 Denn die christliche Exegese gibt es nicht, sondern nur sich wandelnde Formen der Schriftauslegung, ebenso wenig gibt es die jüdische Exegese. Das Verhältnis der Auslegungsrichtungen und Schulen war stetem historischem Wandel unterworfen und war notwendig immer komplex und kompliziert. Der beste Schutz gegen einseitige und unsachgemäße Beurteilungen „der Schrift“ ist die sorgsame Betrachtung der Geschichte der Lehre von der Schrift sowie der sich stetig wandelnden Praxis der Schriftauslegung.

1 Vgl. den klassischen Aufsatz von G. Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, in: Ders., Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen, Göttingen 21966, 9 –27. 2 L. Diestel, Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche, 1869, ND Leipzig 1981; A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments (ATD.E), Göttingen 21986; E. G. Kraeling, The Old Testament since the Reformation, New York 1955; H.-J. Kraus, Die Biblische Theologie. Ihre Geschichte und Problematik, Neukirchen-Vluyn 1970; H. Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung, vier Bände, München 1990 –2001; M. Saebo (Hrsg.), Hebrew Bible/Old Testament. The History of Its Interpretation, vier Bände, Göttingen 1996 –2015.

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1.1 Das Neue Testament Die Beurteilung des Einflusses des Judentums auf das entstehende Christentum unterliegt erheblichen Schwankungen. Es gab Phasen und Weltgegenden, in denen man in der Wissenschaft das Neue Testament oder doch große Partien daraus geradezu als integralen Bestandteil der Religionsgeschichte Israels und des Judentums und als direkte und ungebrochene Fortsetzung des Alten Testaments begriff,3 was in der neuesten historisch-kritischen Forschung durch vertiefte Einsichten in den hohen Rang der jüdischen Septuaginta für die Sprache und Theologie des Neuen Testaments sowie durch die verstärkte Einbeziehung der zwischentestamentlichen jüdischen Literatur neu ins Bewusstsein gehoben wird.4 Es gibt aber auch Phasen und lokale Kontexte, in denen die dortige Wissenschaft die Wichtigkeit des Judentums als gering ansah und – die Testamente viel stärker abgrenzend und kontrastierend – die fundamentale Eigenständigkeit des Christlichen gegenüber einem angeblich im Grundsatz überwundenen Jüdischen hervorhob. Klassisch dafür ist im zweiten Jahrhundert Marcion und sein von allem Jüdischen gereinigter „Kanon“. Jesus habe beansprucht, einen bis dahin unbekannten Gott zu offenbaren, der total anders sei als der Demiurg des Alten Testaments. Eine neuzeitliche Spielart davon besteht darin, den religionsgeschichtlichen Einfluss anderer Kulturen auf das Neue Testament neben Israel herauszustellen und z. B. auch den Einfluss der griechischen, der orientalischen oder der ägyptischen Religionen stark zu betonen.5 Es ist jedoch eine unbestreitbare Tatsache, dass die 3

Vgl. exemplarisch H. L. Strack/P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, München 41963 – 65, wonach der beste Kommentar zum Neuen Testament die Quellen des Judentums sind oder noch radikaler F. Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011, und K. Wengst, Das Regierungsprogramm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2010, die das NT komplett als jüdische Schriftauslegung ansehen. 4 Vgl. die wichtige Quellen-Reihe: Jüdische Schriften aus Hellenistisch-römischer Zeit, Gütersloh 1977–2014. 5 Vgl. exemplarisch R. Bultmanns These vom synkretistischen Charakter des Neuen Testaments (Ders., Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Zürich 1949), oder G. Streckers Konzept eines Corpus Hellenisticum (z. B. in: Ders., „Biblische Theologie“? Kritische Bemerkungen zu den Entwürfen von Hartmut Gese und Peter Stuhlmacher, in: D. Lührmann/G. Strecker (Hrsg.), Kir-

Vom Eigenwert des Alten Testaments als Wort Gottes

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Verfasser der neutestamentlichen Schriften im Großen wie auch im Detail von den vorgegebenen „Schriften“ Israels sowie von den Formen der damaligen jüdischen Schriftauslegung in sehr hohem Maße beeinflusst sind. Mit ihren jeweiligen Konzepten beanspruchen sie, die autoritativen Deuter des Alten Testaments zu sein. Andererseits ist jedoch ebenso richtig, dass schon die ersten Christen im Grundsatz und im Detail höchst unterschiedlich, ja kontrovers mit dieser „Schrift“ umgingen und sich zum Teil auch deutlich von ihr abgrenzten, besonders im Blick auf die Beschneidung, die Speisegebote und die Sabbatobservanz, welche alle für Christen als nicht mehr verbindlich angesehen wurden. Zunächst muss man also ganz klar festhalten: Den hermeneutischen Umgang des Neuen Testaments mit dem Alten gibt es nicht.6 Das Alte Testament mit seinen 39 Büchern wird in den 27 Schriften des Neuen Testaments durchaus nicht flächig und in toto zitiert und keineswegs gleichmäßig benutzt, sondern wird sehr unterschiedlich häufig und aufs Ganze gesehen eher selektiv rezipiert.7 In der Ausgabe des Griechischen NT von W. Neste und K. Aland werden alle Zitate und Anspielungen auf das AT im griechischen Text fett gedruckt, und im Anhang gibt es eine tabellarische Übersicht, welche Verse genau wo wörtlich aufgenommen oder der Sache nach angespielt werden. Auf diese Weise kann man einen schnellen Überblick über die Häufigkeit und über die Streuung alttestamentlicher Texte im NT gewinnen. Dabei zeigt sich, dass die Ur- und Vätergeschichte der Genesis, die Moseserzählung samt Sinaiperikope, die Erzählungen um David sowie die Prophetie, insbesondere Jesaja bzw. Deuterojesaja sowie die Psalmen einen deutlichen Schwerpunkt bilden. Ps 110 ist der im NT am häufigsten zitierte alttestamentliche Text und insofern der wichtigste che (FS G. Ebeling), Tübingen 1980, 425 – 445) oder M. Görgs Ansicht, dass das Neue Testament den späten Sieg der Götter Ägyptens dokumentiere (vgl. Ders., Ägyptische Religion. Wurzeln, Wege, Wirkungen. Stuttgart 2007. 6 Vgl. S. E. Porter, The Use of the Old Testament in the New: A Brief Comment on Method and Terminology, in: C. A. Evans/J. A. Sanders (Hrsg.), Early Christian Interpretation of the Scriptures of Israel (JSNT.S 148), Sheffield 1997, 79 – 96; St. Moyise, The Old Testament in the New (T & T Clark Approaches to Biblical Studies), London/New York 2004. 7 Einen rezenten Überblick am Beispiel der Psalmen bietet J.-L. Vesco, Le Psautier de Jésus. Les citations des Psaumes dans le Nouveau Testament (Lectio Divina), Band 1+2, Paris 2012, Band 1, 41–78.

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Text des ATs.8 Es gibt wohl keine neutestamentliche Schrift, die nicht zutiefst alttestamentlich-jüdisch getränkt wäre. Bei aller Unterschiedlichkeit der gegenwärtigen Forschungspositionen kann man, wenn man einen knappen Überblick über die Verwendung des Alten Testaments im Neuen wagt, in der gebotenen Vorsicht Folgendes sagen: a) Jesus: „Die Schrift“ stand für Jesus selbstverständlich als autoritative Größe fest. Jesus verstand sich selbst im Rahmen der alttestamentlichen Horizonte als autoritativen Schriftausleger, der den Sinn des Wortes Gottes aufschloss. Paradigmatisch seien hier zwei Stellen angeführt. In Mt 5,43f. zitiert Jesus ein Wort („du sollst deinen Feind hassen“), das so nicht im Alten Testament steht,9 sondern vermutlich als Auslegung seiner zeitgenössischen Schriftgelehrten in den Synagogengottesdiensten verkündet wurde. Gegen diese tendenziöse Ausdeutung setzt Jesus seine eigene Schriftauslegung: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch (sogar): Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Er befindet sich somit mitten in einem lebendigen Diskurs mit der jüdischen Exegese seiner Zeit. Dabei geht es ihm um die Markierung der zentralen theologischen Inhalte der Schrift. Das schöpfungstheologische Argument Jesu, dass Gott seine in der Natur wahrnehmbare Gnade allen Menschen zuteilwerden lässt, ist dabei durchaus aus dem Alten Testament entnommen, z. B. 2 Kön 6,22; 2 Chr 28,9 –15; 0

Diese Konzentrationen auf bestimmte Partien des AT finden sich völlig analog in den alttestamentlichen Predigttexten, wie sie den christlichen Kirchbesuchern vertraut sind, wobei die Ordnungen zwischen den Kirchen variieren. Eine Statistik zu den alttestamentlichen Predigttexten findet man in: M. Oeming, Exegetische Forschung und keine kirchliche Praxis? Gedanken zur Krise der Predigt alttestamentlicher Texte, in: M. Oeming/W. Boës (Hrsg.), Alttestamentliche Wissenschaft und Kirchliche Praxis. Festschrift Jürgen Kegler (BVB 19), Münster 2009, 85 – 98, 87. 9 Der deutlichste Hinweis steht in Ps 139,21f.: Soll ich die nicht hassen, Herr, die dich hassen, die nicht verabscheuen, die sich gegen dich erheben? Ich hasse sie mit glühendem Hass; auch mir sind sie zu Feinden geworden.

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Lev 19,18.34; Ijob 31,15; Spr 25,21f. Die Pluralität der im Alten Testament versammelten Stimmen führt in einen Diskurs, in welchem Jesus eine bestimmte Auslegungsrichtung vertritt. Gerd Theißen und Annette Merz10 sehen im historischen Jesus einen Charismatiker. Er predigte das Evangelium „mit Vollmacht“. Er konzentrierte sich auf das Wesentliche, d. h. einerseits vereinfachte er die Tora, andererseits verinnerlichte er sie; er verschaffte ihr zugleich einen stärkeren Geltungsanspruch, ja er radikalisierte sie bis an den Rand des Unfassbaren. In Lk 24,44 – 47 steht: „Dann sprach er [der Auferstandene] zu ihnen [den Emmaus-Jüngern]: Das sind die Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch bei euch war: Alles muss in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich gesagt ist. Darauf öffnete er ihnen die Augen für das Verständnis der Schriften (t{te diûnoixen aÆtãn t|n noþn toþ suni¤nai t"j graf!j). Er sagte zu ihnen: So steht es geschrieben: Der Messias wird leiden und am dritten Tag von den Toten auferstehen, und in seinem Namen wird man allen Völkern, angefangen in Jerusalem, verkünden, sie sollen umkehren, damit ihre Sünden vergeben werden.“ Jesus selbst verkündete den Anbruch der Königsherrschaft Gottes, und zwar in seiner Person! Sein Leben, Sterben und Auferstehen sind notwendiges Heilsgeschehen. Quellen der Predigt Jesu waren neben seiner direkten persönlichen Gotteserfahrung die Weisheit und die Menschenkenntnis, die auf innere Evidenz des Arguments und der Bilder vertrauen. Wo Jesus „auf die Schrift Bezug nimmt, geschieht das in sehr freier Weise. In Mk 10,2ff werden z. B. zwei Bibelstellen gegeneinander ausgespielt: Die Aussagen über Mann und Frau im Schöpfungsbericht gegen das verbürgte Recht auf Ehescheidung nach Dtn 24,1ff. In den Antithesen (Mt 5,21ff) wird die Mosethora durch ein selbstbewusstes ‚Ich aber sage euch‘ neu interpretiert bzw. originär neu formuliert. In rabbinischen Diskussionen dient die Formel ‚Ich aber sage euch‘ wohl dazu, die Lehre eines Schriftgelehrten und der G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, 42010, § 12: Jesus als Lehrer, 311–358, darin bes. der Abschnitt 3.2: Die Heiligen Schriften in Jesu Lehre, 317–321.

10

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eines anderen abzugrenzen, nie aber die Lehre eines Schriftgelehrten gegenüber der Thora des Mose“.11 Allerdings rekurriert Jesus in seiner Argumentation gerne auf die großen Gestalten der Hebräischen Bibel: Mose, David, Salomo, Jona und andere mehr werden häufig angeführt. Jesus verfügt über das profunde Wissen eines Schriftgelehrten und zeigt eine Vertrautheit mit den hermeneutischen Regeln, die in seiner Zeit von allen jüdischen Schriftgelehrten quer über die unterschiedlichen Gruppen hinweg angewendet wurden, den sogenannten Middot. Name

Wörtliche Übersetzung

1. Qal wa- „Leicht und chomer schwer“

2. Gezera schawa

11

Grundgedanke Beispiele aus der Verkündigung Jesu Schluss von einer leichteren auf einer schwerere, bedeutendere Sache

„Eine gleich- Erklärung wertige Rege- einer Bibelstelle durch lung“ Verweis auf eine andere

Ebd., 209f.

Mt 6,26: Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Mk 11,27: Und er lehrte und sprach zu ihnen: Steht nicht geschrieben: „Mein Haus wird ein Bethaus genannt werden für alle Nationen?“ Ihr aber habt es zu einer „Räuberhöhle“ gemacht. ist Kombination aus Jes 56,7: „Die werde ich zu meinem heiligen Berg bringen und sie erfreuen in meinem Bethaus. Ihre Brandopfer und ihre Schlachtopfer sollen mir ein Wohlgefallen sein auf meinem Altar. Denn mein Haus wird ein Bethaus genannt werden für alle Völker.“ und Jer 7,11: „Ist denn dieses Haus, über dem mein Name ausgerufen ist, eine Räuberhöhle geworden in euren Augen?“

Vom Eigenwert des Alten Testaments als Wort Gottes

3. Binjan „Gründung ab mi-ka- eines Vaters tub echad (= einer Familie ab kurz für bet ab) „von einer einzigen Bibelstelle aus“

4. Binjan ab mischne ketubim

„Ableitung eines Vaters aus zwei Schriftstellen“

5. Kelal u „Allgemein ferat u fe- und Besonrat u-kelal ders, Besonders und Allgemein“

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Aus einer einzelnen Bibelstelle auf eine allgemeine Regel schließen

Mk 12,26f.: Was aber die Toten betrifft, dass sie auferweckt werden: Habt ihr nicht im Buch Moses gelesen, wie Gott beim Dornbusch zu ihm redete und sprach: „Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“? Er ist nicht der Gott von Toten, sondern ein Gott der Lebendigen. Ihr irrt sehr.

Aus zwei Bibelstellen wird eine lex generalis, ein allgemeines Gesetz abgeleitet

1 Kor 9,14 (Mt 10,10): „So hat auch der Herr (=Jesus) denen, die das Evangelium verkündigen, verordnet, vom Evangelium zu leben.“ ist Folgerung aus: Dtn 25,4: Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden. und Dtn 18,1– 8 (das Erbteil der Leviten ist Jahwe): Abgaben für den Priester beim Opfer.

Eine allgemeine Regel aus einem besonderem Einzelfall ableiten

Mt 22,40: An diesen beiden Geboten (Gottesliebe und Nächstenliebe) hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.

Analogie6. Ke-otse „Wie etwa schluss bo be-ma- hervorgeht qom acher aus ihm an einer anderen Stelle“.

Mk 14,42: Jesus sagte: Ich bin es. Und ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen. ist Analogieschluss aus Dan 7,9: Ich schaute, bis Throne aufgestellt wurden und einer, der alt war an Tagen, sich setzte. Sein Gewand war weiß wie Schnee und das Haar seines Hauptes wie reine Wolle, sein Thron Feuerflammen, dessen Räder ein loderndes Feuer. und Ps 110,1: So spricht

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der Herr zu meinem Herrn: / Setze dich mir zur Rechten, und ich lege dir deine Feinde als Schemel unter die Füße. 7. Dabar „Die Sache, ha-lamed die von ihrem me-injano Kontext her gelehrt wird“

Mehr als natürliche Kontextexegese, Auslegung durch weit entfernt stehende Stellen

Mk 10,2– 9: Moses hat zwar die Scheidung erlaubt (Dtn 24,1–3), aber Gott hat eigentlich nicht intendiert, dass die Ehe geschieden wird (Gen 1,27: er schuf sie als Mann und Frau“ und Gen 2,24: ein Mann wird an seiner Frau kleben und die beiden werden ein Fleisch“, Futur = Imperativ).

Tabelle: Die sieben Middot des Rabbi Hillel und ihre Bedeutung für die Verkündigung Jesu12

Jesus war in hermeneutischer Hinsicht ein um die rechte Auslegung der Schrift ringender Jude innerhalb des Judentums seiner Zeit! In der neueren Forschung wird dies immer klarer gesehen und sogar kirchenamtlich wird festgestellt, dass sich Jesu Schriftauslegung in den Rahmen dessen, was zu seiner Zeit üblich war, einfügt.13 Er deutet seine Zeit im Lichte der Tradition, er deutete sein eigenes Leben und sein Leiden und Sterben als Erfüllung „der Schrift“. b) Jesus erscheint bei Matthäus als Erfüller des überaus hoch geschätzten Mosaischen Gesetzes (Mt 5,17f.) und als sein radikalisierender Vollender (bes. in den matthäischen Reden Mt 5 –7; 10; 19). In der matthäischen Christologie spielen alttestamentliche Traditio12

Vgl. B. Chilton/C. A. Evans, Jesus and Israel’s Scriptures, in: Dies., Studying the Historical Jesus, Leiden 1994, 281–335; zur Geschichte der jüdischen Schriftauslegung vgl. K. Günther, Die Schrift von Buber und Rosenzweig im Rahmen der jüdischen Schriftauslegung (parschanut jehudit), in: D. Krochmalnik/H.-J. Werner (Hrsg.), 50 Jahre Martin Buber Bibel (ATM 25), Münster 2014, 27–63. 13 Vgl. z. B. das beeindruckende und wegweisende Dokument der päpstlichen Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel, mit Vorwort von Josef Kardinal Ratzinger, 2001, auf das weiter unten noch eingegangen werden wird, im Internet unter http://www.vatican.va/roman_ curia/ congregations/cfaith/pcb_documents/rc_con_cfaith_doc_20020212_popolo-ebraico_ge.html (letzter Zugriff: 10.7.2014).

Vom Eigenwert des Alten Testaments als Wort Gottes

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nen eine zentrale Rolle14: Jesus erscheint als Sohn Abrahams, als Sohn Davids, als wahrer Moses, als Weiser, der „mehr als Salomo“ weiß, als wiedergekommener Elias, als einer, der das gewaltsame Geschick der Propheten teilt. Er tritt auf wie ein Ausleger des Gesetzes, wie ein Rabbi ist er darum bemüht, die Bedeutung der Offenbarung an Israel für die Christen zu verdeutlichen und zu sichern.15 c) Dagegen scheint Jesus im Markusevangelium stärker in kritischer Distanz etwa zu den Reinheitsgesetzen oder zur Sabbatobservanz zu stehen. Als wahrer Sohn Gottes, spätestens seit der Taufe adoptiert, wahrscheinlich aber schon von Anfang an (Mk1,1), steht er nahe beim gesetzesfreien Christentum eines Paulus und trägt deutlich weniger judenchristliche Farben als Matthäus.16 d) Lukas zeichnet Jesus einerseits als gesetzestreuen Juden, der am achten Tage beschnitten wurde, der die jüdischen Feste feierte und das Gesetz des Mose befolgte und mit den Schriftgelehrten von früh an debattierte, andererseits aber auch als Begründer einer neuen heilsgeschichtlichen Epoche: Jesus ist für Lukas der in der Mitte der Zeit erschienene Enthüller des wahren und eigentlichen Sinnes der Schrift, die als Ganze eben auf ihn selbst verweist (bes. Lk 24,25 –32, wo Lukas Jesus auf dem Weg nach Emmaus als christologischen Interpreten des als Prophezeiung gedeuteten ATs auftreten lässt). Nach der Apostelgeschichte wurde auf dem sog. Apostelkonzil nur ein sehr reduzierter Bestand des Gesetzes für Christen als verbindlich angesehen (Apg 15).17 14

M. Konradt, Die Rezeption der Schrift im Matthäusevangelium in der neueren Forschung, in: ThLZ 135 (2010) 919 – 932; ders., Rezeption und Interpretation des Dekalogs im Matthäusevangelium, in: D. Senior (Hrsg.), The Gospel of Matthew at the Crossroads of Early Christianity (BEThL 243), Leuven 2011, 131–158. 15 K. Stendahl, The School of St. Matthew and its Use of the Old Testament, Uppsala 1954; W. Rothfuchs, Die Erfüllungszitate des Matthäusevangeliums. Eine biblisch-theologische Untersuchung (BWANT 88), Stuttgart 1969; M. J. J. Menken, Matthew’s Bible. The Old Testament Text of the Evangelist (BEThL 173), Leuven 2004; M. Konradt, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium (WUNT 1, 215), Tübingen 2007. 16 A. Suhl, Die Funktion der alttestamentlichen Zitate und Anspielungen im Markusevangelium, Gütersloh 1965; J. Marcus, The Way of the Lord: Christological Exegesis of the Old Testament in the Gospel of Mark, Louisville 1992. 17 M. Müller, The Reception of the Old Testament in Matthew and Luke-Acts: From Interpretation to Proof from Scripture, in: NT 43 (2001) 315 –330; K. Schiffner, Lukas liest Exodus – Eine Untersuchung zur Aufnahme ersttesta-

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e) Im Johannesevangelium und im johanneischen Kreis wird Jesus ebenfalls als der Kern der alttestamentlichen Verheißungen gedeutet (Joh 5,46f.), aber er erscheint mit einer Art christologischer Totalinanspruchnahme als der mit dem Vater von Anfang an identische Logos, der bereits durch die gesamte Geschichte Israels hindurch wirkte (Joh 1,1–14), bevor er schließlich „Fleisch“ wurde. „Ich und der Vater sind eins“ bedeutet eine ontologische Einheit von Israel und Kirche (Joh 10,30; vgl. 17,21). Das empirische Israel hat sich aber vom Christentum abgelöst, die Juden sind so von Abrahamskindern zu Teufelssöhnen geworden (Joh 8,43f.) und schließen die Christen mit erheblichen Sanktionen aus der Synagoge aus18. f) Bei Paulus ist das Verhältnis besonders umstritten, denn der Heidenapostel kämpft für die Freiheit vom Gesetz, d. h. für ein Christentum, das auf jüdische Belange keine Rücksicht nehmen muss (insbesondere ist die Beschneidung nicht mehr heilsnotwendig, aber auch die Kaschrut bedeutet nicht mehr als Folklore).19 Die Stellung von Paulus zum Gesetz ist dennoch vielfach und kontrovers behandelt worden. Dies kann daran liegen, dass die entscheidenden Aussagen wegen ihrer dialektischen Weite deutungsfähig und -bedürftig sind. Wenn Paulus in Röm 10,4 bekennt „t¤loj g"r n{mou Crist|j“, dann kann man das als „Ende des Gesetzes“, aber auch als „Ziel“ oder „Erfüllung des Gesetzes“ lesen. Einerseits ist die Tora als Gottes gute Gabe zum Leben gegeben, andererseits aber muss sie auch erfüllt werden, und zwar vollständig punktgenau erfüllt werden, sonst wird sie zum todbringenden Fluch. In sehr polemischen Auseinandersetzungen mit Irrlehrern (Anhängern des nomistischen Petrus?) kann das Gesetz als „Kot“ bezeichnet werden (Phil 3,8). Seine explizit positiven Rückgriffe auf das AT haben argumentative Funktionen, v.a. um das Wesen Christi und des Christlichen zu entfalten. Dazu bedient er sich reichlich freier Typologien (z. B. Gal mentlicher Befreiungsgeschichte im lukanischen Werk als Schrift-Lektüre (BWANT 172), Stuttgart 2008. 18 Zum Synagogenbann vgl. K. Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, München 31990. 19 A. Obermann, Die christologische Erfüllung der Schrift im Johannesevangelium. Eine Untersuchung der johanneischen Hermeneutik anhand der Schriftzitate (WUNT 2, 83), Tübingen 1996; W. Kraus, Johannes und das Alte Testament ZNW 88 (1997), 1–23; C. Westermann, Das Johannesevangelium aus der Sicht des Alten Testaments, Stuttgart 2001.

Vom Eigenwert des Alten Testaments als Wort Gottes

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4,21–31, der Magd und der Freien – Sara und Hagar – als Bilder für Israel und die Kirche) und Allegoresen (z. B. haben nach 1 Kor 10,1– 4 die Israeliten „alle denselben geistlichen Trank getrunken; sie tranken nämlich von dem geistlichen Felsen, der ihnen folgte; der Fels aber war Christus“). g) In einem aufwendigen kulttheologischen Konzept wird Christus im Hebräerbrief als der wahre himmlische Hohepriester dargestellt, der einerseits das alles entscheidende Opfer darbringt, andererseits selbst das Opfer ist. Indem er so ein für alle Mal ein unüberbietbares Opfer vollzogen hat, wird der Opfer-Kult im Alten Bund zum Ende gebracht und de facto abgeschafft. Die Großen des AT sind nur noch eine Wolke der Zeugen des christlichen Glaubens (Hebr 11).20 h) Die übrigen Briefe und die Johannesapokalypse zeigen einerseits antijüdische Tendenzen, die eine massive Abgrenzung der Kirche gegen die Synagoge erahnen lassen (z. B. Tit 1,10f.; Apk 2,9), zugleich wird aber auch breit auf alttestamentlich-jüdisches Erbe zurückgegriffen.21 Besonders im Jakobusbrief ist – ganz im Sinne des Deuteronomiums – das Tun Abrahams für sein Heil entscheidend.22 Vor allem aber lassen die späten Schriften im NT doch keinen Zweifel daran, dass das AT als (ursprünglich) inspiriertes Wort Gottes betrachtet wird: „Alle Schrift (= das gesamte AT!) ist von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit“ (2 Tim 3,16f.).

20 F. Schröger, Der Verfasser des Hebräerbriefes als Schriftausleger, Regensburg 1968; S. Flüchter, Gen 15,6 im Hebräerbrief aus der Perspektive einer sozialhistorisch orientierten Rezeptionsgeschichte, in: Ders., Die Anrechnung des Glaubens zur Gerechtigkeit. Auf dem Weg zu einer sozialhistorisch orientierten Rezeptionsgeschichte von Gen 15,6 in der neutestamentlichen Literatur (TANZ 51), Tübingen 2010, 209 –269. 21 A. Schlatter, Das Alte Testament in der johanneischen Apokalypse (BFChTh 16/6), Gütersloh 1912. 22 P. von Gemünden/M. Konradt (Hrsg.), Der Jakobusbrief. Beiträge zur Rehabilitierung der „strohernen Epistel“ (Beiträge zum Verstehen der Bibel 3), Münster 2003.

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1.2 Antike und Mittelalter Die Kontroversen um die Auslegung und Bedeutung des Alten Testaments bilden den Anfang des Christentums und ziehen sich durch die ganze Kirchengeschichte bis heute hindurch. Grob gesagt wird im 2. Jahrhundert darum gestritten, ob das Alte Testament als Heilige Schrift beibehalten oder aber mit Marcion und den Seinen komplett abgeschafft werden soll. Der heftig geführte Streit endet mit einem bewussten Ja zum Alten Testament und seiner vollständigen Inkorporierung in den Kanon. Im Osterbrief von Papst Athanasius (367) wird der gesamte Umfang der Heiligen Schriften aufgeführt und für verbindlich erklärt. Es gibt aber von der Antike an einen mehr oder weniger erbitterten Streit zwischen Kirche und Synagoge. Die Synagoge bestreitet den Deutungsanspruch Jesu, und/oder nimmt bewusst wenig oder überhaupt keine Notiz von Jesus, und wenn doch, dann um die Überlegenheit des Judentums aufzuzeigen,23 ja zieht sogar in Zweifel, ob Jesus überhaupt Jude war und nicht Sohn des römischen Soldaten Panthera.24 Andererseits gibt es eine lange Tradition der exegetischen Anleihen christlicher Bibelausleger bei jüdischen. Origenes z. B. und v.a. Hieronymus bilden dafür herausragende Beispiele; für seine das kirchliche Leben prägende Übersetzung, die Vulgata, hat Hieronymus wieder und wieder den philologischen Rat „des Hebräers“ hinzugezogen. 1.3 Reformation und Neuzeit Johannes Reuchlin war ein bedeutender Hebraist der Renaissance, jedoch nur durch seine Kooperation mit jüdischen Gelehrten.25 Aber die Frage nach der Bedeutung des AT bleibt schwierig. Die Hal23

P. Schäfer, Jesus im Talmud, Tübingen 2007. H. Windisch, Die Legende von Panthera, in: Christliche Welt 49 (1935) 689 – 694. 25 Symptomatisch ist der beherzte Kampf Reuchlins gegen die Praxis der Konfiszierung des Talmuds durch den 1504 zum Christentum konvertierten Johannes Pfefferkorn und der daran anschließende Prozess. Reuchlin hat wieder und wieder den Wert der jüdischen Schriftauslegung und die hohe Bedeutung auch der Kabbala verteidigt; vgl. A. Herzig/J.H. Schoeps/S. Rohde (Hrsg.), Reuchlin und die Juden, Sigmaringen 1993; H. Peterse, Jacobus Hoogstraeten gegen Johannes Reuchlin. Ein Beitrag zur Geschichte des Antijudaismus im 16. Jahrhundert, 24

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tung Martin Luthers belegt die geradezu schizoide Position: einerseits war Luther von Beruf Alttestamentler an der Universität Wittenberg, d. h. er hielt Vorlesungen über Genesis und die Psalmen, er hielt das Judesein Jesu theologisch für bedeutsam,26 er übersetzte das gesamte Alte Testament ins Deutsche, was harte Anforderungen an seine Hebräischkenntnisse stellte; er schuf sogar einen neuen Kanon des AT, indem er den sogenannten Apokryphen die gleiche Achtung wie der Heiligen Schrift versagte, weil für ihn die Veritas Hebraica allein den Maßstab bildete. Seine Vorrede auf die Opera Latina aus dem Jahre 1545 gehört mit der Ruhmesrede auf die „Gerechtigkeit Gottes“ als einer heilbringen Kraft zum Tiefsten, was theologisch über zedakah jemals gesagt wurde. Andererseits und gleichzeitig ließ Luther eine wahrhaft erschreckende Polemik „Wider die Juden und ihre Lügen“ in den Druck gehen, in der er sich unter Berufung auf die harten Gesetze von Dtn 13 nicht entblödete, die Vernichtung ihrer Häuser und Schriften sowie ihre Hinrichtung oder zumindest ihre Deportation nach Israel zu fordern. In der Gegenreformation wurde im Tridentinum (1545 –1563) der gesamte Kanon der Septuaginta in der lateinischen Übersetzung der Vulgata als verbindliche Grundlage in allen Fragen der Lehre und der Moral kanonisiert. Damit trat auf katholischer Seite die hebräische Philologie für Jahrhunderte stark in den Hintergrund. Für die Lektüre des Originaltextes musste man bis tief ins 20. Jahrhundert als katholischer Theologe sogar eine spezielle Genehmigung seines Ortsbischofs einholen. Das führte umgekehrt dazu, dass es ein Stolz der protestantischen Konfession wurde, mit dem hebräischen Urtext zu arbeiten und jeden Pfarrer darin auszubilden. Der schwarze Talar des Pfarrers ist der Rock des Gelehrten und er signalisiert: Ich kann Hebräisch. So gab es im Protestantismus einen guten Boden für mannigfachen Philosemitismus,27 etwa im Pietismus.

Mainz 1995; S. Lorenz/D. Mertens (Hrsg.), Johannes Reuchlin und der „Judenbücherstreit“ (Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 22), Ostfildern 2013. 26 Vor allem in der Schrift, „Dass Jesus Christus ein geborener Jüde sei“ von 1523, WA 11, 314–336, in welcher Luther zu tolerantem Umgang mit den Juden mahnt, allerdings in der Hoffnung, dass sie sich durch rechte Unterweisung in der Schrift und durch Erfahrungen mit dem Geist der Liebe zum Christentum bekehren werden. 27 W. Kinzig, Philosemitismus, in: ZKG 105 (1994) 202–228; 361–383; H.-J. Scho-

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Ab dem 19. Jh. entstand mit der bürgerlichen Emanzipation die Sehnsucht nach akademischer Anerkennung der jüdischen Schriftauslegung28, zumal die jüdischen Gelehrten die hebräische Sprache und Schrift viel besser kannten als die meisten Christen. Im Kontext des komplexen Prozesses der „biblischen Revolution“ innerhalb des europäischen Judentums seit der Haskala29, der Aufklärung, kam es dazu, dass innerhalb der jüdischen wie auch der nicht-jüdischen Gesellschaft die hebräische Bibel viel stärker Identitätsmarker jüdischer Kultur wurde als jemals zuvor. „Diese ‚Wiedergeburt‘ der Bibel, die z.T. auf Kosten der normativen Stellung der rabbinischen Literatur erfolgte, war von internen jüdischen Kulturkämpfen und zugleich von einer intensiven Auseinandersetzung vor allem mit der protestantischen Bibelexegese begleitet. Als Reaktion auf eine umfassendere ‚biblische Revolution‘ im protestantischen Europa, die sich auch als ‚Protestantisierung‘ des jüdischen Diskurses deuten lässt,30 übte die ‚Wiederaneignung‘ der biblischen Tradition eine starke Wirkung auf das jüdische Selbstverständnis aus“.31 Allerdings war die jüdische Schriftauslegung in sehr hohem Grade apologetisch; Ziel der wissenschaftlichen Arbeit war die Verteidigung der historischen Zuverlässigkeit der hebräischen Bibel und damit der Aufweis ihrer göttlichen Autorität. In der Weimarer Republik ist der Versuch der Gründung einer staatlichen jüdischen Fakultät mit einem ordentlichen Professor – der wohl einzig wirklich aussichtsreiche Kandidat war Benno Jacob – gescheitert, weil man eben diese Hermeneutik als nicht universitätstauglich einstufte.32 Der zunächst inneruniversitäre Streit eps, Philosemitismus im Barock. Religions- und geistesgeschichtliche Untersuchungen, Tübingen 1952. 28 Vgl. den Überblicksartikel von A. Martini/S. Talabardon, Bibelauslegung, jüdische, von 2012, in WiBiLex unter https://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/15261/. 29 Vgl. Y. Shavit/M. Eran, The Hebrew Bible Reborn: From Holy Scripture to the Book of Books. A History of Biblical Culture and the Battles over the Bible in Modern Judaism (Studia Judaica. Forschungen zur Wissenschaft des Judentums, Bd. 38), Berlin/New York 2007, 17– 84. 30 Ebd., 23. 31 C. Wiese, „Also werden wir missionieren“. Die „Verdeutschung der Schrift“ und die protestantische Theologie, in: D. Krochmalnik/H.-J. Werner (Hrsg.), 50 Jahre Martin Buber Bibel (s. Anm. 12), 123 –164, 122f. 32 Vgl. C. Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im Wilhelminischen Deutschland. Ein „Schrei ins Leere“?, Tübingen 1999; M. Oe-

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über die Leistungsfähigkeit der jüdischen Schriftauslegung wurde so „bereits in der Weimarer Zeit, endgültig jedoch während des ‚Dritten Reichs‘, zu einem wichtigen Teil des antisemitischen Diskurses. Die Hoffnung jüdischer Forscher, die protestantische alttestamentliche Theologie durch wissenschaftliche Aufklärung zur Distanzierung von rassischen Konzepten, zur Revision ihrer Vorurteile und zur Besinnung auf die jüdischen Wurzeln christlichen Glaubens zu bewegen, erwies sich spätestens jetzt als Illusion.“33 Statt Solidarisierung vollzog sich eine „Entjudung“ der „deutschen“ Kultur und Gesellschaft, aber auch der Kirchen.34 Dabei spielte der Begriff Spätjudentum eine verhängnisvolle Rolle. Das Ursprüngliche und Wertvolle des Alten Testaments galt als vor-jüdisch, als prophetisch, was in nachexilischer Zeit unter die Knechtschaft des Gesetzes gezwungen wurde, aus der es erst Jesus befreite. Das Christentum knüpfte über den garstigen Graben des spätjüdischen Nomismus hinweg an das Eigentliche wieder an.35 Auch die christologische Umdeutung36, welche das Alte Testament für die Kirche retten sollte, behauptete implizit, dass ein jüdisches Verstehen der Schrift defizitär und unangemessen sei. „Der Gipfel dieser Entwicklung war schließlich dort erreicht, wo die Identifikation mit dem Nationalsozialismus die mit dem Eisenacher ‚Institut für die Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben‘37 verbundenen ming, Vom heilsamen Schmerz, in den Spiegel zu schauen – Das Wesen des Christentums aus jüdischer Sicht, in: W. Härle/H. Schmidt/M. Welker (Hrsg.), Das ist christlich. Nachdenken über das Wesen des Christentums, Gütersloh 2000, 219 –236. 33 C. Wiese, „Also werden wir missionieren“ (s. Anm. 31), 133. 34 Vgl. dazu etwa M. Smid, Deutscher Protestantismus und Judentum 1932/33, München 1990; U. Kusche, Die unterlegene Religion. Das Judentum im Urteil deutscher Alttestamentler (SKI 12), Berlin 1991; C. Weber, Altes Testament und völkische Frage. Der biblische Volksbegriff in der alttestamentlichen Wissenschaft der nationalsozialistischen Zeit, dargestellt am Beispiel von Johannes Hempel (FAT 28), Tübingen 2000. 35 Vgl. dazu etwa R. Rendtorff, Die jüdische Bibel und ihre antijüdische Auslegung, in: R. Rendtorff/E. Stegemann (Hrsg.), Auschwitz – Krise der christlichen Theologie, München 1980, 99 –116. 36 Vgl. W. Vischer, Das Christuszeugnis des Alten Testaments, München 1934; vgl. dazu S. Felber, Wilhelm Vischer als Ausleger der Heiligen Schrift. Eine Untersuchung zum Christuszeugnis des Alten Testaments, Göttingen 1999. 37 Vgl. etwa S. Heschel, Theologen für Hitler. Walter Grundmann und das ‚Insti-

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Theologen zu einer vollständigen ‚Arisierung‘ des Christentums inspirierte, die ihren Ausdruck nicht nur in der Eliminierung der hebräischen Bibel, sondern in abenteuerlichen Thesen vom ‚arischen Jesus‘38 fand – eine antisemitische Gegengeschichte gegen den Versuch jüdischer Forscher, durch ihre Interpretation Jesu als Gestalt der jüdischen Glaubensgeschichte auf die essentielle Verbindung von Judentum und Christentum hinzuweisen.“39 1.4 Die Lage nach 1945 Die Aufarbeitung der Mitschuld der christlichen Theologie an der Vernichtung des Judentums durch die Nazis setzte nur langsam ein. Die Situation war verkantet. Sowohl bei den Tätern als auch bei den Opfern. Der Schock der Schuld verführte zu apologetischen Haltungen: Man müsse trotz allem an der theologischen Überlegenheit des Christentums festhalten. Zur Rechtfertigung der Kirche erhob man Vorwürfe gegen die Juden: Sie sind vormodern, halten an einer harten Gesetzesreligion fest, ergeben sich einer zwanghaften Ritualisierung des Alltagslebens. Sie weigern sich, die historische Kritik anzunehmen, v.a. die Quellenscheidung und die Redaktionsgeschichte kritisch durchzuführen und halten an vormodernen Frühdatierungen fest. Sie lassen sich von ihrem liturgischen Leseplan leiten, haben entsprechend gar nicht die Breite des Überblicks. Die Hebräische Bibel spielt keine wirklich zentrale Rolle, der Talmud und die Responsen sind viel wichtiger. Auf der anderen Seite wurden Vorwürfe von Juden gegenüber den Christen und ihrer Bibelwissenschaft laut: Sie können nicht richtig Hebräisch, besonders das mittelalterliche und moderne Hebräisch sind selten beherrscht. Sie können den hebräischen Text nicht auswendig. Handschriftenkunde ist nicht gut entwickelt. Christen können die Schätze der jüdischen Tradition, z. B. die Mikraot Gedolot,

tut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben‘, in: L. Siegele-Wenschkewitz (Hrsg.), Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen (Arnoldshainer Texte 85), Frankfurt am Main 1994, 125 –170. 38 Vgl. S. Heschel, The Aryan Jesus: Christian Theologians and the Bible in Nazi Germany, Princeton 2008. 39 C. Wiese, „Also werden wir missionieren“ (s. Anm. 31), 135.

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gar nicht heben. Zudem kennen sie das Land nicht gut, sind in der Archäologie schwach, haben vielmehr dogmatische Scheuklappen auf. Sie verkennen daher den wahren Wert der Tora und diffamieren sie als Last und Ballast; sie haben keinen Sinn für die tieferen Bedeutungsschichten der rituellen und ethischen Forderungen. Sie vollziehen im ATeine einseitige Selektion nach Maßgabe des Neuen Testaments. Am sog. Alten Testament ist ihnen nur das wichtig, was in ihrem Neuen zitiert wird. Die Ermordung der europäischen Juden beruht auch darauf, dass „die Schrift“ systematisch schlecht gemacht wurde. Erst nach Jahren, ja Jahrzehnten gab es auch gründliche Umbrüche und Neubesinnungen.40 Das allmählich aufkommende jüdischchristliche Gespräch veränderte die Situation, zumindest teilweise. Zahlreiche christlich-jüdische Gesellschaften bemühen sich um Begegnungen. Es gab und gibt viele wertvolle Aktivitäten von Akademien, Kirchenkreisen und Landeskirchen, angefangen von Sprachkursen bis zu wissenschaftlichem Austausch auf hohem Niveau.41 Die Woche der Brüderlichkeit ist in der bundesrepublikanischen Gesellschaft eine fest installierte Größe. Die Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille erfreut sich hoher öffentlicher Wahrnehmung. Am intensivsten sind Studienprogramme wie „Studium in Israel“ oder „Studienjahr in Jerusalem“ oder Ausgrabungsprogramme42, die christliche Studierende mit jüdischen zusammenführen. 40

D. L. Baker, Two Testaments, one Bible: A study of some modern solutions to the theological problem of the relationship between the Old and New Testament, Leicester 1976; 32007; J. Barr, The Concept of Biblical Theology, London 1999; Ch. Dohmen/G. Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments (Kohlhammer-Studienbücher Theologie; Bd. 1,2), Stuttgart 1996; J. Goldingay, Approaches to Old Testament Interpretation (Issues in Contemporary Theology), Leicester 1981; D. Krochmalnik, Im Garten der Schrift. Wie Juden die Bibel lesen, Regensburg 2006; M. Oeming, Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons?, Zürich 32001; ders., Biblische Hermeneutik, Darmstadt 4 2013. 41 Vgl. die beiden Sammelbände zu Benno Jacob: W. Jacob/ A. Jürgensen (Hrsg.), Die Exegese hat das erste Wort. Beiträge zu Leben und Werk Benno Jacobs, Stuttgart 2002; M. Oeming (Hrsg.), Benno Jacob – der Mensch und sein Werk (Trumah 13), Heidelberg 2003. 42 Z. B. die von der Manfred-Lautenschläger-Stiftung finanzierten Ausgrabungen in Ramat Rahel und Aseka, in deren Verlauf mehr als 300 Studierende im Schweiße ihres Angesichtes jüdische Kommilitonen kennen- und verstehen lernen konnten.

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Häufig ist der sogenannte jüdisch-christliche Dialog in Deutschland aber nur ein innerchristlicher Dialog über das Judentum mit wenigen jüdischen Teilnehmern, v.a. auf Kirchentagen. Einflussreich waren in diesem Kontext z. B. Pinchas Lapide oder Schalom Ben Chorin. Warum ist das so? Viele Juden empfinden das Bemühen um starke Annäherung von christlicher Seite als einen Versuch der Vereinnahmung und weisen ihn entsprechend schroff ab. Provokativ hat Jon Levenson ausformuliert, warum Juden nicht an Biblischer Theologie interessiert sind43. Zum anderen sind die Ergebnisse der historisch-kritischen Schriftauslegung nach wie vor für fromme Juden (wie übrigens auch für fromme Christen) schwer akzeptabel. Solche Kritiken möchte man sich vom Leib halten. Die starke Trennung in der christlichen und der jüdischen Schriftauslegung ist auch eine Auswirkung der Konfessionsklausel an deutschen Universitäten, die per Staatskirchenvertrag abgesichert ist. Die in der BRD blühende theologische Bildung auf hohem Niveau (mit 23 ev. theologischen Fakultäten, dazu 20 katholische Fakultäten [davon 11 in staatlicher, 9 in kirchlicher Trägerschaft] sowie zahlreiche Universitäten mit Theologie und Bibelwissenschaft für Lehramt) muss ohne jüdische Gelehrte auskommen, weil solche Personen keine Lehrund Prüfungsberechtigung bekommen können.44 Jüdische Bibelwissenschaft ist in Deutschland eine ganz zarte Pflanze, es gibt als einzige wissenschaftliche Institution die vom Zentralrat der Juden getragene Hochschule für jüdische Studien mit Hanna Liss als Professorin. An der Universität Potsdam wird gerade im Moment (2014) die erste staatliche jüdische theologische Fakultät mit einem Lehrstuhl für jüdische Schriftauslegung gegründet. Dass die Förderung der jüdischen Bibelwissenschaft schwierig ist, liegt m. E. auch daran, dass gegenwärtig ein massiver Bedeutungs43

J. D. Levenson, Warum Juden sich nicht für biblische Theologie interessieren, in: EvTh 51 (1991) 402– 430; interessanterweise ist Levenson derjenige jüdische Autor, von dem man am ehesten sagen kann, dass er eine jüdische „Theologie der hebräischen Bibel“ geschrieben hat. In seinem Werk „Sinai and Zion: An Entry into the Jewish Bible“ (Minneapolis 1985) stellt er in eigenwilliger Form die beiden an einen Berg gebundenen Traditionen der Sinai-Tora und des Zion-Tempels als die organisierenden Achsen der alttestamentlichen Theologie heraus. 44 In den USA, wo die theologischen Fakultäten weithin in Departments of Religious Studies aufgelöst sind, ist das ganz anders; die alttestamentliche Wissenschaft befindet sich dort weithin in jüdischer Hand.

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verlust der Exegese für die Kirchen insgesamt zu beobachten ist. Bibelwissenschaft gilt nicht mehr wie einst als notwendige Grundlage, sondern eher als Ballast, als irritierendes Glasperlenspiel, fremd, unverständlich, theologisch substanzlos – und / oder – spirituell armselig. Jüdische Forschungen zur Schriftauslegung beispielsweise mit ihrer wissenschaftlichen Konzentration auf mittelalterliche Handschriften oder masoretische Textpflege sind für viele esoterisch. In Israel ist der akademische Status der Bibelwissenschaft durchaus schwierig: Orthodoxe Gemeinden wollen von historischer Bibelforschung nichts wissen. Israelische Universitäten verstehen unter Bibelwissenschaft weithin Geschichte des jüdischen Volkes und somit viel mehr Archäologie und Historiographie. Häufig haben israelische Bibelwissenschaftler wenig Sinn für die theologische Dimension der Texte. Theologie wird zumeist mit ideologischer Verfälschung gleichgesetzt. Dennoch gibt es fruchtbare Kooperationen dort, wo man eine Art Arbeitsteilung praktiziert. Wenn man die 2000 Jahre weithin getrennt verlaufender christlicher und jüdischer Bibelauslegung überblickt, dann stellen sich einige Grundfragen in jeweils gewandelter Form immer wieder neu: Welchen Wert hat das AT für den jüdischen bzw. christlichen Glauben? Ist es im vollen Sinne Wort Gottes oder ist es nicht eher Ausdruck einer weithin an Jerusalem orientierten, pharisäisch engen und ängstlichen Religionspartei? Braucht man es überhaupt noch zu etwas andrem denn als abschreckendes Beispiel von Gesetzesreligion und Nationalismus? Oder lässt man es nicht besser weg, weil es die Dinge unnötig verkompliziert und die frommen Gemüter der Gegenwart belastet oder sogar abschreckt? Hat das AT seinen Wert in sich? Das ist eine Frage, die auch das Judentum verstärkt bedenken muss.

2. Der Beitrag von Dei Verbum Wenn man anlässlich des 50. Jubiläums das Konzilsdokument „Über die göttliche Offenbarung“ von 1964 nochmals liest, dann findet man in Kapitel IV, unter der Überschrift DAS ALTE TESTAMENT in den Abschnitten 14 –16 Folgendes:

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„14. Der liebende Gott, der um das Heil des ganzen Menschengeschlechtes besorgt war, bereitete es vor, indem er sich nach seinem besonderen Plan ein Volk erwählte, um ihm Verheißungen anzuvertrauen. Er schloß mit Abraham (vgl. Gen 15,8) und durch Moses mit dem Volke Israel (vgl. Ex 24,8) einen Bund. Dann hat er sich dem Volk, das er sich erworben hatte, durch Wort und Tat als einzigen, wahren und lebendigen Gott so geoffenbart, daß Israel Gottes Wege mit den Menschen an sich erfuhr, daß es sie durch Gottes Wort aus der Propheten Mund allmählich voller und klarer erkannte und sie unter den Völkern mehr und mehr sichtbar machte (vgl. Ps 21,28 –29; 95,1–3; Jes 2,1– 4; Jer 3,17). Die Geschichte des Heiles liegt, von heiligen Verfassern vorausverkündet, berichtet und gedeutet, als wahres Wort Gottes vor in den Büchern des Alten Bundes; darum behalten diese von Gott eingegebenen Schriften ihren unvergänglichen Wert: „Alles nämlich, was geschrieben steht, ist zu unserer Unterweisung geschrieben, damit wir durch die Geduld und den Trost der Schriften Hoffnung haben“ (Röm 15,4). 15. Gottes Geschichtsplan im Alten Bund zielte vor allem darauf, das Kommen Christi, des Erlösers des Alls, und das Kommen des messianischen Reiches vorzubereiten, prophetisch anzukündigen (vgl. Lk 24,44; Joh 5,39; 1 Petr 1,10) und in verschiedenen Vorbildern anzuzeigen (vgl. 1 Kor 10,11). Die Bücher des Alten Bundes erschließen allen entsprechend der Lage, in der sich das Menschengeschlecht vor der Wiederherstellung des Heils in Christus befand, Wissen über Gott und Mensch und erschließen die Art und Weise, wie der gerechte und barmherzige Gott an den Menschen zu handeln pflegt. Obgleich diese Bücher auch Unvollkommenes und Zeitbedingtes enthalten, zeigen sie doch eine wahre göttliche Erziehungskunst [Anm.: Pius XI., Enz. Mit brennender Sorge, 14. März 1937: AAS 29 (1937) 151]. Ein lebendiger Sinn für Gott drückt sich in ihnen aus. Hohe Lehren über Gott, heilbringende menschliche Lebensweisheit, wunderbare Gebetsschätze sind in ihnen aufbewahrt. Schließlich ist das Geheimnis unseres Heiles in ihnen verborgen. Deshalb sollen diese Bücher von denen, die an Christus glauben, voll Ehrfurcht angenommen werden. 16. Gott, der die Bücher beider Bünde inspiriert hat und ihr Urheber ist, wollte in Weisheit, daß der Neue im Alten verborgen

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und der Alte im Neuen erschlossen sei [Anm.: Augustinus, Quaest. in Hept. 2, 73: PL 34, 623]. Denn wenn auch Christus in seinem Blut einen Neuen Bund gestiftet hat (vgl. Lk 22,20; 1 Kor 11,25), erhalten und offenbaren die Bücher des Alten Bundes, die als Ganzes in die Verkündigung des Evangeliums aufgenommen wurden [Anm.: Irenäus, Adv, Haer. III., 21, 3: PG 7, 950 (– 25, 1: Harvey 2, 115); Cyrill von Jerusalem, Catech. 4, 35: PG 33, 497; Theodor von Mopsuestia, In Soph. 1, 4 – 6: PG 66, 452 D- 453 A], erst im Neuen Bund ihren vollen Sinn (vgl. Mt 5,17; Lk 24,27; Röm 16,25 –26; 2 Kor 3,14 –16), wie sie diesen wiederum beleuchten und deuten.“ Dieser Konzilstext lässt eine doppelte Lesweise zu: Zum einen ist er von einem sehr traditionellen hermeneutischen Modell mit dem Grundschema: Verheißung im AT – allmähliche Aufklärung des Sinnes der Schriften im Verlaufe der Heilsgeschichte – Erfüllung in Jesus Christus im Neuen Testament durchdrungen. Die Bedeutung des Alten Testaments liegt demnach wieder ganz und gar darin begründet, dass es von sich selbst weg auf das Christusgeschehen hin vorausverweist. Auf der anderen Seite aber ist dieser Text – und ich sage das als evangelischer Theologe –geradezu avantgardistisch, weil er sehr klar feststellt, dass Gott „die Bücher beider Bünde inspiriert hat und ihr Urheber ist“. Dass das AT im theologischen Vollsinn Gottes Wort ist, ist für viele evangelische Dogmatiken alles andere als eine Standardposition.45 Die Schriften des Alten Testaments erschließen vollumfänglich und verbindlich „Wissen über Gott und Mensch und erschließen die Art und Weise, wie der gerechte und barmherzige Gott an den Menschen zu handeln pflegt“. Auch wenn das Wort nicht fällt, kann man den Text so verstehen, dass dem AT sein Wert in sich zuerkannt wird, weil es eben „Wissen über Gott“ vermittelt, und ich füge hinzu: aus sich heraus, ohne explizite Legitimation oder Repetition durch das NT. Damit wird indirekt auch das theo45

Ein aktuelles Beispiel für diesen blinden Fleck, der sich trotz aller Bemühungen nach 1945 noch weiter ausbreitet und zu totaler Blindheit führt, ist N. Slenczkas Elaborat, Die Kirche und das Alte Testament, in: MJTh 25 (2013) 83 –119, der wieder einmal aufzeigen möchte, „dass das AT in der Tat, wie Harnack vorgeschlagen hat, eine kanonische Geltung in der Kirche nicht haben sollte.“ (83)

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logische Recht der historisch-kritischen Methode der Bibelauslegung anerkannt. Es ist eine unverbrüchliche Forderung der historisch-kritischen Wissenschaft, dass man eine Schrift in ihrer vom Autor selbst ursprünglich intendierten Bedeutung zu erforschen hat; auch das AT muss daher für sich betrachtet werden; in seiner Originalbedeutung und in seinem ursprünglichen Entstehungszusammenhang. Dieses ursprüngliche Wissen über Gott und Mensch muss herausgearbeitet werden. Die päpstliche Bibelkommission hat in Fortführung und Erläuterung dieses Ansatzes zwei überaus lesenswerte Dokumente erarbeitet: Zum einen „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ (23. April 1993, 21995), welches die unterschiedlichen Methoden der Bibelauslegung durchdenkt und dabei unter C.2. den Zugang über die jüdische Interpretationskultur explizit „als Hilfe ersten Ranges“ würdigt, wenn man zugleich anerkennt, dass die jeweiligen Interpretationsrahmen im Judentum und Christentum „radikal verschieden“ sind. Zum anderen „Das Jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ (24. Mai 2001), das das Verhältnis von AT und NT mutig anpackt und feststellt, dass „der Abschied der Christen vom Alten Testament … das Christentum selbst aufheben müsste“ (S. 8) Das Wort vom Eigenwert kommt nicht vor, aber das Vorwort von Josef Kardinal Ratzinger stellt fest: „Was aber aus dem Geschehenen folgen muss, ist ein neuer Respekt für die jüdische Auslegung des Alten Testaments. Das Dokument sagt dazu zweierlei. Zunächst stellt es fest, dass die jüdische Lektüre der Bibel „eine mögliche Lektüre ist, die in Kontinuität mit den heiligen Schriften der Juden aus der Zeit des zweiten Tempels steht und analog ist der christlichen Lektüre, die sich parallel dazu entwickelt hat“ (Nr. 22). Sie fügt hinzu, dass die Christen viel lernen können von der 2000 Jahre hindurch praktizierten jüdischen Exegese; umgekehrt können die Christen hoffen, dass die Juden aus den Forschungen christlicher Exegese Nutzen ziehen können.“

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3. Der Eigenwert des Alten Testaments In meiner Doktorarbeit 1985 habe ich die Frage untersucht, warum das AT notwendigerweise Bestandteil des christliche Kanons sein soll. Ich habe dazu die vorgelegten Modelle seit Gerhard von Rad analysiert und bin zu der Überzeugung gelangt, dass die theologische Antwort darauf nicht bloß religionsgeschichtlich sein darf, weil eben das AT historische Voraussetzung für die angemessene Interpretation des NTs ist. Auch eine heilsgeschichtliche Funktionsbestimmung als Vorbereitung halte ich für ungenügend; warum sollte man eine überholte Version der Gotteserkenntnis aufbewahren, wenn man die „neueste Version“ hat. Alle christologischen Allegoresierungen alttestamentlicher Texte sind wenig zwingend; warum sollte man sich mit einem schattenhaften „Suchbild“ abmühen, wenn man gleich das klare Bild vor sich haben kann? Erst recht sind alle Funktionalisierungen des AT als dunklem Hintergrund, auf dem man das eigene Selbstbild abheben kann, verfehlt. Als Abgrenzungshintergrund taugt das AT nicht, weil es so viel wesensmäßige Verwandtschaft mit dem NT aufweist (was z. B. an der Theologie des Hebräerbriefes deutlich wird, der das Proprium des Christlichen nur in massivem Rekurs auf das AT erfassen kann). Die theologischen Trenngräben befinden sich jeweils im AT und im NT, nicht zwischen den Testamenten. Nach meinem Urteil kann eine befriedigende Begründung für den theologischen Wert des ATs nur dann gelingen, wenn das AT „Wissen um Gott“ erschließt, das im NT nicht enthalten ist.46 Nur unter der Bedingung, dass wichtige Einsichten in das Wesen Gottes und des Menschen sowie religiöse und ethische Impulse allein im AT entfaltet sind, hat das AT eine theologische Raison d’être. Diese Sicht kann man mit unterschiedlichen Begriffen umschreiben: „das Plus“ des AT, das Eigene des AT, das „Proprium“ des AT oder eben der „Eigenwert“ des AT47. Der Eigenwert des AT realisiert sich in drei Aspekten: Ergänzung, Kritik, Dialog: Diese These habe ich anderswo an Vgl. M. Oeming, The Significance of the Old Testament in 20th Century Systematic Theology, in M. Saebo (Hrsg.), Bible (s. Anm. 2), Band 4 (im Druck). 47 Zum Eigenwert des ATs vgl. H. Haag, Vom Eigenwert des Alten Testaments, in: ThQ 160 (1980) 2–16; M. Oeming, Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons, Zürich 32001, 240 –245; G. Theißen, Der Eigenwert des Alten Testa46

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einigen Beispielen zu exemplifizieren gesucht, die ich hier nur kurz andeuten kann. – Ergänzung: Gebete in den Psalmen (in Ergänzung der winzigen Menge an Gebeten im NT), Schöpfungstheologie, Weisheit, Skepsis des Buches Hiob und Kohelet. – Kritik: Monotheismus (gegenüber dem Dämonen- und Satansglauben des NT). politische Theologie der Befreiung (gegenüber dem eher quietistischen NT). – Dialog: Freude an Erotik gegen Enthaltsamkeit von Sexualität. Die Kritik am Eigenwert des AT48 kommt aus der Sorge, dass damit das NT abgewertet würde. Das kann ich nicht teilen: Im NT wird die schlechthin fundamentale Überzeugung artikuliert, dass der Gott der Juden und der Gott, der Jesus von den Toten auferweckt hat, der gleiche ist: Der Gott, den die Christen als „unseren Vater“ bekennen und zu dem sie beten, ist kein anderer Gott als der Gott Israels. Insofern Jesus Christus – dogmatisch gesprochen – wahrhaft Gott ist, war er schon von Anfang an bei allem präsent, was im AT von Gott ausgesagt wird, von der Schöpfung bis zum jüngsten Tag. In der Bewertung dieser trinitarischen Christologie gehen die Meinungen in der Forschung extrem weit auseinander.49 Viele Exegeten distanzieren sich von den angeblich späteren Entwicklungen, die das Neue Testament vom Alten abtrennten und nachträglich Fronten aufbauen. „Ich habe mir deshalb abgewöhnt, zur Kennzeichnung von Phänomenen des ersten Jahrhunderts, die die auf Jesus bezogene Gemeinschaft betreffen, die Begriffe ‚christlich‘, ‚Christ(en)‘ und ‚Christentum‘ zu gebrauchen. Mit dieser Terminologie trägt man die spätere Trennungsgeschichte mit ihrem Gegenüber und ihren Gegensätzen von Judentum und Christentum

ments. Überlegungen eines Neutestamentlers aus reformierter Tradition, in: M. Oeming/W. Boës (Hrsg.), Alttestamentliche Wissenschaft (s. Anm. 8), 15 –27. 48 Vgl. z. B. R. Voderholzer, Die Einheit der Schrift und ihr geistiger Sinn. Der Beitrag Henri de Lubacs zur Erforschung von Geschichte und Systematik christlicher Bibelhermeneutik, Einsiedeln/Freiburg i. Br. 1998, 455 – 461. 49 G. K. Beale (Hrsg.), The Right Doctrine from the Wrong Texts?: Essays on the Use of the Old Testament in the New, Grand Rapids 1994.

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hinterrücks mit ein. Daher möchte ich mit meiner Auslegung von Jesu Lehre auf dem Berg nach Matthäus 5 –7 vor allem deutlich machen, wie stark sie in ihrem jüdischen Kontext verwurzelt ist.“50 Den wohl entschiedensten Versuch, die grundlegende Bedeutung des alttestamentlichen jüdischen Erbes für das NT deutlich zu machen, hat Frank Crüsemann unternommen. In seiner Streitschrift „Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen: Die neue Sicht der christlichen Bibel“, Gütersloh 2011, führt er ein Plädoyer dafür, endlich in der Kirche zu erkennen, dass die hartnäckige Behauptung von der Überlegenheit des NTs über das AT für Christen keine Bedeutung mehr haben darf. Die Tora und die Propheten werden von allen Verfassern des Neuen Testaments als „die Schrift“, d. h. als unbedingt gültig vorausgesetzt. Nach Crüsemann stellt sich vor allem die Frage, was überhaupt das Neue am NT sei. Er kommt zu der überraschenden Antwort, dass es inhaltlich nichts Neues gebe! Gott habe sich im AT vollständig und vollgültig offenbart. Das NT stelle gegenüber dem AT keine Weiterentwicklung oder Steigerung dar; das AT habe es überhaupt nicht nötig, durch das NT erst legitimiert zu werden. Vielmehr müsse die Denkbewegung genau umgekehrt werden! Der einzige wirkliche theologische Unterschied besteht nach Crüsemann darin, dass das NT den Glauben Israels auf die Welt der Völker hin öffne und ihn universalisiere, was allerdings schon in den Schriften des ATs selbst angelegt und grundgelegt sei. Auch wenn Crüsemann in Vielem recht hat und ich seine engagierte Anwaltsrede für das AT im Prinzip unterstützen möchte, die letzte Zuspitzung wirkt doch ideologisch; es kann nicht verwundern, wenn der Vorwurf des „Judaizein“, d. h. eine Dekonstruktion des exklusiv Christlichen ins vermeintlich allgemein Jüdische hinein, erhoben werden wird. Durch die Leugnung der besonderen Profilierung wird die Suche nach dem Eigenständigen, d. h. die Betonung der Unterschiede von Juden und Christen, auf beiden Seiten gestärkt und gefördert. Um drei Beispiele zu nennen, die m. E. exklusiv christlich und nicht innerjüdisch erklärbar sind: erstens ist der Gedanke, dass Gott Mensch geworden ist, wirklich Mensch (also das vere homo et vere deus der Zwei-Naturen-Lehre), für jüdisches Empfinden unannehmbar. Dass zweitens Gott in Christus am Kreuz

50

K. Wengst, Regierungsprogramm (s. Anm. 3), 7f.

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gestorben ist, wirklich gestorben, bleibt den Juden ein Ärgernis. Dass Gott nur in der trinitarischen Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist angemessen gedacht werden kann, ist Juden nicht einsehbar. Oder um es mit Shalom Ben Chorin zu sagen: „Der Glaube Jesu einigt uns …, aber der Glaube an Jesus trennt uns.“51 Markus Witte hat mit dem Begriff „christotransparenter Zugang“ einen bedenkenswerten Vorschlag gemacht: Christliche Exegese des ATs „zielt auf eine Erhellung der alttestamentlichen Theologien, die wie eine Folie vor, hinter und in der neutestamentlichen Rede von Jesus als Christus, Herr und Gott stehen“.52 Daher ergibt sich auch im Rahmen historisch-kritischer Exegese eine neue Wertschätzung der Rezeptionsgeschichte auch in „vorkritischen“ jüdischen und christlichen Auslegungen von der Spätantike bis ins Mittelalter.

4. Ein Beispiel und daran anschließende Schlussüberlegungen Es ist gut, dass das AT in seiner grundlegenden Bedeutung stärker in den Blick genommen wird. Hier tut sich seit etwa 25 Jahren etwas in der Theologie, sowohl auf evangelischer als auch auf katholischer Seite, bis hinein in Kirchenordnungen und Personalschlüssel. In der neueren christlichen Bibelwissenschaft wird häufig betont, wie wichtig die Integration jüdischer Schriftauslegung sei. Exemplarisch kann man das an den Auslegungen von Erich Zenger, Rolf Rendtorff, Bernd Janowski, Frank Crüsemann oder Klaus Wengst studieren. Umgekehrt gibt es eine Fülle von jüdischen Gelehrten, die die Bedeutung der christlichen Bibelwissenschaft für das Verständnis ihrer Tradition hervorheben: die aktivsten Verteidiger der Wellhausen’schen Urkundenhypothese sind heutzutage Juden, zum Beispiel Baruch J. Schwartz53 oder Israel Knohl54. 51

S. Ben-Chorin, Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht. München 1967, neu hrsg. von V. Lenzen, Schalom Ben-Chorin Werke, Band 4, Gütersloh 2005, 5. 52 M. Witte, Jesus Christus im Alten Testament. Eine biblisch-theologische Skizze (Salzburger Exegetische Theologische Vorträge 4), Münster/Berlin/Wien u. a. 2013, 18. 53 B. Schwartz verfolgt an der Hebräischen Universität Jerusalem das Forschungsprojekt: Composite narratives in the Torah: refining the documentary hypothesis. 54 I. Knohl, The Sanctuary of Silence: The Priestly Torah and the Holiness School,

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So wie ich oben mit der Auslegung eines Satzes der Bergpredigt begonnen habe, möchte ich mit einem weiteren abschließen: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘ Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“ (Mt 5,38f.) Mit der hier (vermeintlich) vorgenommenen Entgegensetzung dessen, was den Alten gesagt ist, und dem, was Jesus selbst sagt, scheinen die Antithesen einen klaren Gegensatz von jüdischem Erbe und der neuen charismatischen Lehre Jesu zu markieren. So wird die Geltung der Talionsformel bzw. ihre Überwindung für viele zu einem wichtigen Unterscheidungsmerkmal von Judentum und Christentum. Diese Deutung ist aber tendenziös, einseitig und falsch. Die Aussageabsicht der Bergpredigt ist insgesamt zwar sehr umstritten; die Radikalität der Ethik Jesu hat in der Auslegungsgeschichte eine Fülle von Theorien hervorgerufen, teils, um sie in irgendeiner Weise doch „lebbar“ zu machen, teils, um ihr einen Sinn zu geben, auch dann, wenn sie als unerfüllbar anzusehen wäre. Ich liste nur einige Deutungstypen kurz auf: 1. Die Unterscheidung von sogenannten praecepta und consilia evangelica in der mittelalterlichen Zwei-Stufenethik: Die weithin aus den 10 Geboten bestehenden praecepta (Gebote) gelten für alle, die consilia evangelica („evangelische Ratschläge“) der Armut, Keuschheit und des Gehorsams jedoch nur für wenige Spitzengläubige, z. B. für Mönche und Nonnen. 2. Die Unterscheidung einer Ethik des Amts und der Person bei Martin Luther: Die radikalen Forderungen Jesu gelten danach nicht für das öffentliche und politische Leben: Als Vertreter eines Amtes (z. B. als Politiker, Richter, Lehrer usw.) muss der Christ im Interesse anderer die Macht gebrauchen und das Recht gegen jeden Widerstand durchsetzen. Wenn es aber nur um seine eigenen persönlichen Interessen geht, wenn er als „Privatperson“ betroffen ist, dann soll der Christ auf Widerstand verzichten, Unrecht leiden und unbedingte Liebe verwirklichen.

Minneapolis 1995; ders., The Divine Symphony: The Bible’s Many Voices, Philadelphia 2003.

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3. Die Unterscheidung zwischen Gesinnung und (zeitbedingter) Konkretion in der sogenannten „liberalen Theologie“: Eine moderne Konzeption ist die Reduktion der Ethik Jesu auf ein Prinzip der Gesinnung: Gut ist nur das, was aus einer guten Gesinnung heraus getan wird. Die Gebote Jesu wollen daher nicht ihrem Buchstaben nach verwirklicht werden, sondern ihrem inneren Geist nach; sie wollen die grundsätzliche Gesinnung formen, aus der heraus wir handeln sollen. In dieser Hinsicht sind sie zeitlos gültig. Die konkreten Forderungen sind dagegen zeitbedingt und wandelbar. 4. Die radikale Ethik Jesu als usus elenchticus (aufdeckender Gebrauch) des Gesetzes. Schon Luther betrachtete die Bergpredigt als Gesetz, das unerfüllbar ist. Diese Linie wurde in der lutherischen Orthodoxie fortgeführt. Die unerfüllbaren Forderungen Jesu decken die Sünde des Menschen auf und schaffen so eine Sehnsucht nach dem Gnade bringenden Evangelium. 5. Die radikale Ethik Jesu als christologische Aussage über Jesus selbst als den einzigen Bringer des Gottesreiches: Danach ist Christus nicht nur der Autor der Bergpredigt, sondern ihr Gegenstand: exklusiv in ihm sind die radikalen Gebote der Bergpredigt erfüllt. 6. Die radikale Ethik Jesu als eschatologische Aussage über das zukünftige Leben im Gottesreich: Danach sind die Sprüche Jesu „Zeichen des Gottesreichs“. Sie sind in dieser Welt nicht vollständig erfüllbar, aber sie weisen auf eine neue Welt hin, die Gott schaffen wird. 7. Die Auffassung der Ethik Jesu als „Interimsethik“, die aus der Ausnahmesituation des nahen Weltendes erklärbar ist: Johannes Weiß deutet Jesu Ethik im Kontext der Naherwartung. An ein ethisches System, das die Belange einer Gemeinschaft für Jahrhunderte regeln könne, sei nicht gedacht. „Wie im Kriege Ausnahmegesetze in Kraft treten, die sich so im Frieden nicht durchführen lassen, so trägt auch dieser Teil der ethischen Verkündigung Jesu einen besonderen Charakter. Er fordert Gewaltiges, zum Teil Übermenschliches, er fordert Dinge, die unter gewöhnlichen Verhältnissen einfach unmöglich wären.“ Albert Schweitzer prägte dafür den Begriff der „Interimsethik“. 8. Die Auffassung der Ethik Jesu als Ausdruck eines radikalen Wandercharismatikertums, d. h. als eine Gruppe mit sozial abweichendem Verhalten betrachtet, die ohne die Bindungen und Einschränkungen eines alltäglichen Berufs- und Familienlebens durch Palästina zogen (Theißen: „Wanderradikalismus“).

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Mir scheint es wahrscheinlich, dass Jesus bzw. Matthäus wirklich meinte, dass man die radikalen Forderungen auch halten kann. Es geht dabei aber nicht um eine andere Gerechtigkeit, auch nicht um eine neue Gerechtigkeit, sondern um die bessere Gerechtigkeit (Mt 5,20). Das bedeutet: Jesus will die Talio mitnichten abschaffen, sondern ihre eigentliche Intention, welche sie in der Tora schon hatte, klarlegen. In der neueren Forschung zur Talion ist aufgedeckt worden, dass ihre ursprüngliche Aussageabsicht die Eindämmung von ausufernder Gewalt war, die Unterbrechung des Kreislaufs von Schuld und Rache, ja sogar die völlige Abschaffung des Gedankens der Strafe und seine Ersetzung durch die Idee der Haftung.55 „Nur ein Auge für ein Auge, und das bei jedem!“, und noch genauer: „Erstatte nur den Wert des Schadens, der durch Verletzung eines Auges entstand, ohne Unterschied ob Mann oder Frau, Sklave oder König, Israelit oder Ausländer“. Das Talionsrecht ist ein Gewalt stark limitierender, egalitär-demokratischer Rechtsfortschritt. Jüdische Gelehrte haben das immer gewusst. Schon im rabbinischen Judentum wurde das (vermeintlich) wörtliche Verständnis verworfen; vielmehr lautet die Standarddeutung: „Wer seinen Nächsten verwundet, ist ihm fünf Dinge dafür schuldig: Schadensersatz, Schmerzensgeld, Heilungskosten, Entschädigung für Versäumnis der Arbeit und Strafgeld für die Beschämung“ (Babylon. Talmud, Baba Qamma 8,1). Diese Interpretation auf pekuniäre Wiedergutmachung, d. h. auf Zahlung eines Schadenersatzes, wurde von Benno Jacob besonders eindrucksvoll vertreten und ausführlich begründet.56 Nach Jacob handelt es sich in der Hebräischen Bibel überhaupt nicht um eine Talio, weil nach seinem Verständnis das ius talionis per definitionem eine reale Vergeltungsstrafe bedeuten müsse. Aus dem Rechtsvergleich mit den altorientalischen Quellen kann man ihm zufolge 55

Vgl. A. Graupner, Vergeltung oder Schadensersatz? Erwägungen zur regulativen Idee alttestamentlichen Rechts am Beispiel des ius talionis und der mehrfachen Ersatzleistung im Bundesbuch, in: EvTh 65 (2005) 459 – 477; M. Oeming, „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Von einem biblischen Wort und der böswilligen Verdrehung seines Sinns, in: Ruperto Carola (2003) 32–37; ders., Quinque iures talionis (im Druck). 56 B. Jacob, Auge um Auge. Eine Untersuchung zum Alten und Neuen Testament, Berlin 1929.

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aber erkennen, dass die ursprünglich im Codex Hammurabi wörtlich gemeinte Vergeltung in der Hebräischen Bibel selbst schon durch eine Ersatzzahlung abgelöst wurde. Hauptargument dafür ist das „du sollst geben“ (Ex 21,33f.) sowie das Wort tachat, was immer nur ein „Ausdruck für Stellvertretung“ meine. „Wie und wem soll das ausgerissene Auge etwas leisten? Kann der Verletzte etwas mit ihm sehen?“57 Jacobs Deutung, dass Jesus mit „Ihr habt gehört“ gar nicht das AT zitiert, weil ein solcher Satz in der Tora ja gar nicht vorkommt, sondern die Stimmen der heidnischen Ethiker heranzieht, die den Hass auf Feinde für naturrechtlich legitim propagierten, ist zumindest erwägenswert. Sicher ist aber, dass Jesus die ursprüngliche Intention der talio, nämlich die Befriedung durch die Durchbrechung scheinbar selbstverständlicher Regeln (von Rache, Strafe und Vergeltung), aufgreift und vertieft, wenn er den radikalen Verzicht auf jede Durchsetzung des Rechts zur Vergeltung fordert. Diese Antithese geht – wie die anderen auch – keineswegs gegen das AT, sondern mit ihm; sie überbietet das Gebot aber, indem sie es ins Extreme steigert. Jesus will ein verbessertes, intensiviertes, vertieftes Judentum. Wenn man so die „Jüdischkeit“ des NTs entdeckt, bewirkt das eine aufregende Veränderung in der Theologie! Man darf aber nicht den Fehler machen, diesen Umgang des NTs mit der alttestamentlichen Überlieferung als bloß innerjüdische Reform zu interpretieren. Das wird ihrer Eigentümlichkeit schwerlich gerecht (Das wäre so, als wollte man sagen, Luther ist katholisch, weil seine Reformation sich ganz innerhalb der katholischen Tradition bewegt. Ein solches Urteil wird weder von evangelischen noch von katholischen Christen als zutreffend empfunden, weil es eben bei aller Nähe die Differenzen übersieht.) Jesus hat sein Proprium geschaffen und gelebt. Aber damit wird der Wert des AT nicht „aufgehoben“ – allenfalls im hegelschen Sinne von „bewahrt“. Es bleibt z. B. als kritische Anfrage erhalten, ob dieser totale Verzicht auf eigene Ansprüche lebbar ist. Wird die gute Idee der Talio-Formel von der Gewaltbegrenzung mit der Idee des Gewaltverzichts nicht überstrapaziert? Hier ist eine Diskussion zwischen den Testamenten auf Augenhöhe angelegt. Wir müssen ler-

57

B. Jacob, Das Buch Exodus, Stuttgart 1997, 668.

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nen, den Eigenwert des Alten Testaments endlich anzuerkennen, ohne dabei „christologischen Besitzverzicht“ zu üben! Joseph Kardinal Ratzinger hat im Blick auf die jüdische Bibelwissenschaft zurecht gefordert, „dass die Christen viel lernen können“. Das sind richtungsweisende Gedanken: Wie aber soll dieses „viel lernen“ konkret aussehen? Meine persönliche Antwort als protestantischer Theologe lautet: 1. Das Studium der jüdischen Auslegungsmethoden führt dazu, die Pluralität der Sinne neu zu entdecken.58 Die Theorie des PARDES kann als „muliplicity of approaches“ christlich reformuliert werden. Christliche Exegese muss sich vor arroganter Herabwürdigung von jüdischer Mikroexegese ebenso befreien wie von einem exegetischen Atomismus und sich zum Respekt vor dem kleinsten Detail und zum Respekt vor der großräumigen Vernetzungen anleiten lassen! 2. Die Wahrheitstheorie, welche – zumal der protestantischen – Exegese zugrunde liegt, muss geändert werden59: Die ganze Theorie von dem einen, ursprünglichen, allein gültigen Sinn des Autors behält ihr Recht als exegetische Leitidee, muss aber hermeneutisch relativiert werden. Wahrheit ereignet sich im Dialog, im Dissens und im Streit (auch über Generationen hinweg). Die ganze Struktur der alttestamentlichen Theologien ist dafür ein beredtes Zeugnis. 3. Christen (und Juden) müssen eine Würdigung des AT in sich selbst lernen! Das Wort „Eigenwert“ kommt in keiner kirchlichen Erklärung vor, wird gelegentlich scharf kritisiert, ist m. E. aber die logische Konsequenz aus dem eingeschlagenen Weg. Das Christuszeugnis soll dadurch ja nicht angetastet werden, es hängt ja mit dem Trinitarischen Grundglauben zusammen. Aber es soll ein fundamentum in re bekommen, das es in „der Schrift“ schon hat. Etsi Novum Testamentum non daretur – dann folgt daraus nicht, dass wir aus dem AT keine Gotteserkenntnis hätten. Nach meiner Einsicht, die ich an anderer Stelle entfaltet habe und in Zukunft weiter zu entfalten hoffe, stellen die Endredaktoren des AT sehr bewusst 58 Vgl. M. Oeming, Lob der Vieldeutigkeit. Erwägungen zur Erneuerung des Verhältnisses jüdischer und christlicher Hermeneutiken (Trumah 9), Heidelberg 2000, 125 –145. 59 Vgl. dazu den Diskurs von C. Frevel und L. Schwienhorst-Schönberger in diesem Band.

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eine Pluralität der Zugänge zum JHWH, dem einen Gott, zusammen. In ihrer gewollten Vielstimmigkeit und Vielschichtigkeit entsteht eine angemessene Struktur der Rede von und zu Gott. Das AT bezeugt in vielfältiger Weise Wege zu Gott, die in Ergänzung und im Dialog mit dem christologischen Gotteszeugnis des NT in sich hohen Wert besitzen.60

60

Vgl. den programmatischen Aufsatz von M. Oeming, Viele Wege zu dem Einen. Die „transzendente Mitte“ einer Theologie des Alten Testaments im Spannungsfeld von Vielfalt und Einheit, in: S. Beyerle/A. Graupner/U. Rüterswörden (Hrsg.), Viele Wege zu dem Einen. Historische Bibelkritik – Die Vitalität der Glaubensüberlieferung in der Moderne (BThSt 121), Neukirchen-Vluyn 2012, 83 –108.

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Hebraica Veritas? Jüdische Bibelauslegung, wissenschaftliche Bibelforschung und die alt-neue Frage nach ihrer Kommunikation Hanna Liss

1. Einleitung Bibelauslegungen sind ein Produkt der Herausforderung von innen und von außen, vor allem aber des Reflexivwerdens der eigenen Überzeugungstraditionen und der Schärfung der exegetischen, religiösen und sozio-kulturellen Position. Es soll im Folgenden zunächst kurz nachgezeichnet werden, wo die philologische und philologisch-historische Forschung seit dem 18. und 19. Jh. auf jüdischer Seite zu Reibungsverlusten geführt hat, die die Selbstgewissheit dieser Tradition und dieser Kultur in Frage stellen konnten. Im ersten Teil dieses Aufsatzes werden die jüdischen Bibelkommentatoren vor allem des 19. Jh. darauf hin befragt werden, wo ihre Bereitschaft zur Selbstdistanzierung von liebgewordenen Überzeugungen möglich war (und wo nicht!). Im zweiten Teil soll die Frage diskutiert werden, welche grundlegenden hermeneutischen Überlegungen für eine konfessionelljüdische Bibelauslegung anzustellen sind. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass Bibelauslegung stets vor konfessionellem Hintergrund und mit Blick auf eine konfessionelle Lesart zu betreiben ist. Dies ist eigentlich vor allem in der universitären Landschaft in Deutschland der Fall, wo Bibelstudium fast niemals außerhalb der (Evangelischen oder Katholischen) Theologie und dann stets als „Altes Testament“ gelehrt wird1. Demgegenüber kann die Beschäftigung mit den biblischen Literaturen analog zur vorderasiatisch-altorientalischen Literatur und Geschichte aus reinem (literar-)historischen Interesse und 1

Ausnahmen bestätigen die Regel: Wegen der Zusammengehörigkeit der biblischen mit der orientalistischen Wissenschaft gehörte allerdings in Göttingen seit J. D. Michaelis der Lehrstuhl für „Altes Testament“ bis 1914 nicht in die theologische, sondern in die philosophische Fakultät; vgl. R. Smend, Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 103.

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damit quasi lishma (hebr: „um ihrer selbst willen“) betrieben werden, ohne dass dabei einerseits ein etwaiger mentaler Nutzen oder andererseits eine religiöse Abwehr beim religiösen Rezipienten im Blick wäre. Bei einer solchen literarhistorischen Betrachtung käme dann der Bibel als einem Teilstück der orientalischen Literaturen keine Sonderstellung zu. An vielen amerikanischen Universitäten wird die Bibel daher im Rahmen der Near Eastern Studies / Near Eastern Languages and Civilizations / Hebrew Bible and Northwest Semitic Philology und damit außerhalb der Theologie(n) gelehrt und dieses Gebiet auch interkonfessionell erforscht. Wird jedoch die Hebräische Bibel von einer bestimmten Gruppe als ihr heiliger Text gelesen und verstanden, so liegt per definitionem eine konfessionelle (jüdische oder christliche) Lesart zugrunde. Für die jüdische Seite ist dies an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg und mittlerweile auch im Rahmen der Jüdischen Theologie an der Philosophischen Fakultät Potsdam möglich geworden. Für die Potsdamer Fakultät gilt, dass nunmehr erstmals in der Geschichte der Wissenschaft des Judentums das Fach Bibel und Jüdische Bibelauslegung einen jüdisch-theologischen Rahmen an einer Universität erhält: Zum ersten Mal und darin auch im Gegensatz zur bisher in Deutschland dominierenden und auf den Talmud und die rabbanitische Halacha konzentrierte Rabbinerausbildung fordert die jüdische Gemeinschaft im Rahmen der Ausbildung konservativer und liberaler Rabbiner / Rabbinerinnen und Kantoren / Kantorinnen eine Ausbildung in der Hebräischen Bibel und ihrer Auslegung auf akademischem Niveau und zur gleichzeitigen Herausbildung eines religiösen Binnendiskurses im Kontext des Faches Jüdische Theologie. Daher soll am Schluss danach gefragt werden, worin überhaupt die konfessionelle Lesart bestehen kann, und wo intellektuelle Möglichkeiten zur Auslotung neuer Interpretationsspielräume konfessioneller und gleichzeitig wissenschaftlicher Exegese liegen können.

2. Die Herausforderungen an die jüdischen Gelehrten vom 18. bis zum 20. Jahrhundert Versuchen wir, die Hintergründe und Herausforderungen des ausgehenden 18. bis beginnenden 20. Jh. für die jüdischen Bibelausleger zu fokussieren, so stellen wir schnell fest, dass es ein Thema gab, das

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von Moses Mendelssohn bis David Hoffmann (1843 –1921) eigentlich immer den Ausgangspunkt für die reibungsvolle Auseinandersetzung bildete: das Verhältnis der schriftlichen zur mündlichen Tora,2 oder: das Verhältnis zwischen dem Israel der Hebräischen Bibel und dem Judentum seit der rabbinischen Zeit. Dies betrifft die Gewichtung des masoretischen Textes einerseits und die Stellung des Gesetzes, der mündlichen Tora insgesamt, andererseits. Für das traditionelle Judentum war die Vorstellung, dass der Text der Hebräischen Bibel im Verlauf der Geschichte absichtlichen Änderungen oder unabsichtlichen Verderbnissen unterworfen war, undenkbar. Hatte Johann Gottfried Eichhorn behauptet, dass gerade die mündliche als die menschliche Überlieferung des Bibeltextes die Hauptquelle von Textverderbnissen darstelle, die es in der philologischen Kritik aufzuhellen und zu korrigieren gelte,3 so erklärte Moses Mendelssohn in seiner Einführung in die Pentateuch-Übersetzung Or La-Netiva (1782) die mündliche Tradition des biblischen Textes zum Garanten für die Reinheit des Textes und seine unverfälschte Tradierung.4 Für Mendelssohn war die Tora das Offenbarungsmedium, denn sie enthält neben Vernunftwahrheiten die göttliche Offenbarung und umfasst damit nicht nur die schriftliche, sondern auch die mündliche Lehre, ohne die die schriftliche Form sukzessive unverständlich geworden wäre. Mit Eichhorns Haltung wurde jedoch explizit oder implizit die Autorität der mündlichen Tora untergraben, die ja aus beinahe jeder biblischen Formulierung eine Halacha oder narrative Auslegung ziehen konnte. In seinem Verständnis, dass die Hebräer vor dem Hintergrund der orientalischen Gesellschaftsformen zu verstehen und ihre Literatur auch ausschließlich vor diesem Hintergrund zu interpretieren sei, gehörte auch Johann David Michaelis (1717–1791), ein Orientalist und Theologe aus Göttingen, zu denjenigen Theologen, die die 2

Vgl. dazu H. Liss, „Das Erbe ihrer Väter“. Die deutsch-jüdische Bibelwissenschaft im 19. und 20. Jh. und der Streit um die Hebräische Bibel, in: D. Krochmalnik/M. Schultz (Hrsg.), wnqlx bw+ hm. Wie gut ist unser Anteil. Gedenkschrift für Yehuda T. Radday, Heidelberg 2004, 21–36. 3 Zum Thema der Textemendierung vgl. z. B. J. G. Eichhorn, Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur, Leipzig 1787, 109 –119. 4 Zu Mendelssohns Pentateuch-Übersetzung und seiner in diesem Rahmen formulierten Zurückweisung der höheren Bibelkritik vgl. D. Sorkin, Moses Mendelssohn and the Religious Enlightenment, London 1996, 78ff.

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Autorität der mündlichen Tora, d. h. der mündlichen Auslegungen zur Erklärung der Hebräischen Bibel in toto ablehnten, denn in seinen Augen handelte es sich hierbei um Gesetzeserklärungen von Ignoranten und kleingeistigen Talmudlehrern: „Die Erklärungen und Ursachen der Mosaischen Gesetze nehme ich nicht aus dem Thalmud. Die mündlichen Ueberlieferungen zum Theil unwissender Rabbinen, die man im Thalmud gesammelt antrift, können uns das gewönliche Recht der Juden zu der Zeit, da diese Männer lebten, nicht aber den Sinn Mosis lehren.“5 Mit dieser Haltung gegenüber den rabbinischen Schriften stand Michaelis in einem fundamentalen Gegensatz zu Moses Mendelssohn, der nun seinerseits alles daran setzen musste, die rabbinischen Schriftausleger nicht nur als die einzig wahren Gesetzesausleger, und auch selbstverständlich nicht als „Religionsgeschichtler“, aber immerhin als kompetente Philologen vorzustellen. Als geoffenbartes Gesetz war Mendelssohns Tora natürlich weit mehr als das „Staatsgesetz“ der Hebräer, wie Josef Levin Saalschütz es einmal nannte,6 denn dieses unterscheidet sich an zwei Punkten fundamental von Mendelssohns Tora-Offenbarung: Zum einen geht es auf Mose als den Gesetzgeber zurück, ist also ein mosaisches, kein göttliches Gesetz, zum anderen verbleibt es in dessen Zeit, der Zeit der Hebräer. Eine spätere Fortschreibung, Weiterentwicklung etc. ist bei der Frage nach der biblischen Archäologie und Geschichte nicht vorgesehen, bei Mendelssohn hingegen essentiell. Dennoch wollten Mendelssohn und seine Mitstreiter nicht nur einfach auf der Beibehaltung der mündlichen Tora insistieren. Man suchte daher Wege, wie man die mündliche Überlieferung der rabbinischen Schriften und mittelalterlichen Ausleger so integrieren konnte, dass es auch für nicht-jüdische Bibelwissenschaftler nachvollziehbar sein könnte. Dies konnte beispielsweise durch die Betonung der philologischen Qualität der rabbinischen Ausleger postuliert werden. Naftali Herz Wessely (1725 –1805) hat dies in seiner

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J. D. Michaelis, Mosaisches Recht, Erster Theil, 2. vermehrte Ausgabe, Reutlingen 1785, 44. 6 Vgl. J. L. Saalschütz, Archäologie der Hebräer: für Freunde des Alterthums und zum Gebrauche bei akademischen Vorlesungen, 2 Bde., Königsberg 1856, 361.

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Vorrede zur Erklärung des Buches Leviticus im Bi’ur exemplarisch auf den Punkt gebracht: „… Hoffnung gibt es nur, wenn Gott mir die Gnade erzeigt, die Bedeutung der Wurzeln gründlich zu erkennen. Wenn wir sie nämlich verstehen, wird uns klar, daß die Worte des Midrasch nichts anderes sind als die Tiefe des Wortsinnes der Schrift. Und einander ferne werden zu einander nahen.“7 Die Besonderheit dieser Einleitung Herz Wesselys liegt darin, dass hier versucht wurde, die sog. „höhere Kritik“, d. h. die Frage nach der Religions- und der Überlieferungsgeschichte, zugunsten der Beschäftigung mit der „niederen Kritik“ als der Frage nach dem Text und seiner textkritischen Überlieferung zu harmonisieren. Herz Wessely suchte die traditionelle Überlieferung als mit der Erklärung des Textes nach dem Peshat in Übereinstimmung stehend auszuzeichnen, weil die mittelalterlichen Kommentatoren den Peshat beachtet, die Grammatik studiert und die Akzentsetzung, m.a.W. die masoretische Kommentierung, ernst genommen hätten. In deutlicher Konkurrenz zur christlichen Exegese suchte also Herz Wessely den masoretischen Text, d. h. den hebräischen Bibeltext einschließlich seiner Vokalisierung und Akzentsetzung, philologisch gründlich zu kommentieren. Hebräische Philologie und Auslegungstradition werden hier zusammengebunden. Immer wieder zeigt sich daher in Mendelssohns Bi’ur das Bemühen, Auslegungen der rabbinischen und mittelalterlichen Schriftausleger vorzustellen und diese als mit den Regeln der hebräischen Sprache und ihrem kunstvollen Aufbau in Übereinstimmung stehend auszuweisen. Mendelssohn selbst hat mit der Betonung auf die Sprache, die biblische Poesie und die literarische Auslegung die Klippe des Historismus und damit die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Religionsgeschichte noch gut umschiffen können. Dies ändert sich mit dem 19. Jh., denn hier werden auch auf christlich-protestantischer Seite die Vorgaben immer drängender, wonach der Wahrheitsbegriff untrennbar an die literar-historische 7

Übersetzung Rainer Wenzel, in: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 9, Teil 3: Schriften zum Judentum III,3: Pentateuchkommentare in deutscher Übersetzung, herausgegeben von D. Krochmalnik, Stuttgart 2009, 309f.

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Fragestellung gebunden wurde. So sah beispielsweise Wilhelm Martin Leberecht de Wette im Pentateuch als hebräischem Nationalepos ein „Epos der hebräischen Theokratie“. Im Gegensatz zu Herder, Eichhorn u. a. sah er in der mosaischen Gesetzgebung ein spätes Produkt des babylonischen Exils, denn er hatte bemerkt, dass die kultischen Gesetze des Pentateuch nur in den Chronikbüchern eine Rolle spielen, ansonsten jedoch in den Schriften, die die Zeit vor Josias Kultreform darstellen, keine Resonanz finden. Aus den (vorexilischen) Hebräern werden also bei de Wette (wie später bei Julius Wellhausen) die (exilisch-nachexilischen) Juden, eine Aufspaltung, die zwar in der Anlage nicht ganz falsch ist, in der Geschichte des theologischen Anti-Judaismus jedoch einschneidende Folgen haben und auch für die jüdischen Exegeten immer mehr zum eigenen exegetischen Schibboleth werden sollte. Am deutlichsten lässt sich dies wohl bei David Hoffmann, dem unmittelbaren Zeitgenossen von Julius Wellhausen (1844 –1918) beobachten. Obwohl er sich persönlich dem „gesetzestreuen“ Flügel, also der sog. Neo-Orthodoxie, zugehörig fühlte, suchte er gleichwohl, seine traditionelle Ausbildung mit wissenschaftlichem Arbeiten zu vereinbaren. Von 1873 bis zu seinem Tod i.J. 1921 (also mehr als 48 Jahre) unterrichtete er an dem von seinem Lehrer Esriel Hildesheimer gegründeten Orthodoxen Rabbiner-Seminar in Berlin, dessen Leitung er nach Hildesheimers Tod i.J. 1899 übernahm. Aber allein die Fächerkombination, in der er dort unterrichtete – Pentateuch, Talmud und Codexliteratur –, zeigt schon, dass er sich als Bibelwissenschaftler (natürlich!) nicht allein auf die Bibel als einen genuinen Teil der altorientalischen Literaturen konzentrierte. Hoffmanns Ansatz gründete sich im Gegenteil darauf, den Pentateuch niemals ohne die nachbiblische Literatur auszulegen: „Der jüdische Erklärer des Pentateuchs hat einen besonderen Umstand zu berücksichtigen …, der ihm gewissermassen die Gesetze für seine Exegese vorschreibt. Dieser Umstand ist: unser Glaube an die Göttlichkeit der jüdischen Tradition. Das wahre Judenthum hält die hp l(b# hrwt [die mündliche Tora; H.L.] … für göttlichen Ursprungs … Aber auch in den Fällen, wo der Sinn der Stelle nicht durch die Tradition gegeben ist, muss sich der jüdische Ausleger stets davor hüten, die Stelle so auszulegen, dass sie mit einer traditionellen hklh [Halacha] in unlösbarem

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Widerspruch sich befinde … Eine jede Auslegung …, wodurch einer traditionellen hklh [Halacha] widersprochen wird, ist als Erklärung hklhk )l# [nicht mit der Halacha in Übereinstimmung; H.L.] und daher als eine unjüdische Erklärung zu verwerfen … Da wir von der Göttlichkeit der Tradition fest überzeugt sind, so gelten für uns die Worte der Tradition gerade so viel, wie die Worte der Schrift.“8 Diese Auslegungsmaxime wurde in seinen Kommentaren zu den religionsgesetzlich relevanten Büchern der Hebräischen Bibel (Leviticus; Deuteronomium) vor allem dafür verwendet, das seit Graf und Wellhausen geltende Modell von der Vier-Quellen-Hypothese und der literarhistorischen Rekonstruktion der Entstehung des Pentateuch zurückzuweisen. Der Gedanke, dass das israelitische Altertum ohne das spätere rabbanitische Gesetz bestens ausgekommen war, schien Hoffmann unerträglich, und auch deshalb versuchte er wiederum, das hohe Alter des sog. Priesterkodex zu behaupten,9 ein „jüdisch-israelitisches Altertum“ sozusagen. Die Schwäche von Hoffmanns Auslegungsansatz lag auf der Hand: Der biblische Text als schriftliche und mündliche geoffenbarte Lehre Gottes sollte historisch verifiziert, Mose als Garant der Göttlichkeit der Schrift historisch aufgewiesen werden. Hoffmanns Ansatz musste faktisch scheitern, weil er die jüdische Rezeptionsgeschichte nicht aufgeben wollte, mit ihrer Hilfe allerdings histori8

D. Hoffmann, Das Buch Leviticus übersetzt und erklärt, Erster Halbband. Lev I–XVII, Berlin 1905; Zweiter Halbband. Lev XVII-Ende, Berlin 1906, Bd. 1,1f. 9 Vgl. z. B. D. Hoffmann, Abhandlungen über die pentateuchischen Gesetze, Berlin, n.d. [ca. 1877]; ders., Das Buch Deuteronomium übersetzt und erklärt, Erster Halbband: Deut. I–XXI, Berlin 1913; Zweiter Halbband: Deut. XXI, 16 –XXXI, Berlin 1922; ders., Das Buch Leviticus übersetzt und erklärt (s. Anm. 8); ders., Die wichtigsten Instanzen gegen die Graf-Wellhausen’sche Hypothese, Heft 1, in: Jahres-Bericht des Rabbiner Seminars zu Berlin 1902/1903; Heft 2, in: JahresBericht des Rabbiner Seminars zu Berlin 1914/1915; ders., Probleme der Pentateuchexegese 1ff., in: Jeschurun. Monatsschrift für Lehre und Leben im Judentum, 1914ff.; ders., Torah und Wissenschaft, in Jeschurun 7 (1920), 497–505. – Die jüdischen und später auch israelischen Bibelwissenschaftler (z. B. Yechesqel Kaufmann, Menahem Haran, Israel Knohl, Moshe Greenberg und Jacob Milgrom) haben noch bis in die jüngste Zeit hinein versucht, diesen Beweis verschiedentlich zu untermauern; zum Ganzen vgl. ausführlich auch H. Liss, „Das Erbe ihrer Väter“ (s. Anm. 2), 31–35.

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sche und literarhistorische Fragen zu beantworten suchte: die falsche Methode für die falschen Texte. Einen anderen Weg beschritt Abraham Geiger. Er, der ebenfalls den Anschluss an die literar-historische Forschung suchte, wollte mit seinem bibelkritischen Hauptwerk Urschrift und Übersetzungen der Bibel einen Beitrag zur Aufhellung der inneren Entwicklung des Judentums („Entwickelung … aus dem biblischen Judenthum zum Thalmudismus“) leisten. Dabei suchte er nachzuweisen, dass die Entwicklungsgeschichte des Bibeltextes in enger Beziehung zu den Auseinandersetzungen unter den verschiedenen jüdischen Gruppierungen während der zweiten Tempelperiode (bes. der Pharisäer und Sadduzäer) stand. Das Verdienst von Geigers Untersuchungen liegt vor allem in dem Versuch, die Entwicklung des Textes und die (textkritisch zu evaluierende) Textgeschichte miteinander zu relationieren.10 Neben der Rezeptionsgeschichte des biblischen Textes seit der rabbinischen Zeit setzt sich Geiger auch intensiv mit der masoretischen Textgeschichte auseinander. Zwar gewinnt man aus Geigers Ausführungen den Eindruck, als seien die religionsgeschichtlichen Überlegungen den textkritischen gegenüber gewichtiger; dennoch konnte Geiger schon weitaus präziser den Ansatz Herz Wesselys weiterführen, wonach der Text der Hebräischen Bibel und die Auslegungstradition nicht als zwei voneinander völlig zu trennende Bearbeitungsfelder verstanden werden müssen. Dass er dies wohl auch wollte, zeigen seine Bemerkungen am Schluss seines Buches: „Wir haben versucht, die innere geistige Entwickelung in einem langen einflussreichen und dunkeln Zeitraum der jüdischen Geschichte zu erkennen. Dieser Zeitraum ist maassgebend ebensowohl nach rückwärts wie nach vorwärts. Er hat die alten Denkmale nach seiner Auffassung ausgeprägt, umgestaltet und uns in dieser Umgestaltung überliefert, und wir können diese Denkmale nicht nach ihrer ursprünglichen Gestalt vollkommen erkennen, wenn wir die Umgestaltungen nicht aufzufinden und zu begreifen wissen; er hat aber auch die ganze spätere eigenthümliche und festgewordene Ausprägung des Judentums bestimmt, und wie-

10

Vgl. bes. A. Geiger, Urschrift und Übersetzungen, bes. 159 –170 (Abschluss der Textesfeststellung [sic!]) und 231–259 (Ursache und Gründe der abweichenden Textesrecensionen [sic!]).

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derum bleibt diese unverstanden, wenn die Uebergänge, welche in diesem Zeitraum allmälig vor sich gegangen, unerkannt bleiben.“ Diese Zusammenbindung von biblischer Überlieferung und Auslegung lag aber nicht im Fokus der christlichen Bibelforschung, und so bleibt festzuhalten, dass weder die reformorientierten Kreise noch die Neo-Orthodoxie in der Lage waren, eine Hermeneutik zu entwickeln, die zum einen der protestantischen Bibelwissenschaft etwas hätte entgegensetzen können, zum anderen nach innen die Gräben zwischen Orthodoxie und Reform hätte überwinden können, um damit den jüdischen Binnendiskurs voranzubringen. Hinzu kommt, dass die wichtigsten und prägendsten Vertreter der sog. Wissenschaft des Judentums, allen voran Leopold Zunz,11 Moritz Steinschneider u. a., von Bibelforschung fast vollkommen absahen. Zunz jedenfalls hat sich erst sehr spät und auch immer nur halbherzig der Bibelforschung zugewandt.12 Die Gründe hierfür sind vielfältig. Die heute geläufigste Sicht ist diejenige von Max Wiener, der bereits 1933 in einer kritischen Betrachtung der Wissenschaft des Judentums zu dem Ergebnis gelangte, ihre Vertreter hätten ebenso wenig wie die Repräsentanten der Orthodoxie gewagt, an der Tür der „kanonischen“ Texte des Judentums mit dem Schlüssel der philologisch-historischen Kritik zu rütteln: „Es ist aber ein Kennzeichen dieser Wissenschaft, daß sie sich viel stärker mit den Randgebieten der religiösen Urkunden beschäftigt hat als mit dem Kern selber. Tora, die übrigen Teile der heiligen Schrift, Mischna, Gemara, die targumische, midraschische und rabbinische Literatur außerhalb des Talmuds bilden gleichsam konzentrische Kreise absteigender Heiligkeit hinsichtlich des Zugriffs der an sie sich wagenden Kritik. Je weiter eine Sphäre vom Zentrum der Tora entfernt ist, um so freimütiger und unbedenklicher erscheint sie rein wissenschaftlicher, historischer Erwägung zugänglich. Je näher sie dem Kern gelagert ist, um so unzugänglicher wird sie voraussetzungsloser Forschung. Orthodoxe 11

Vgl. G. Veltri, Altertumswissenschaft und Wissenschaft des Judentums: Leopold Zunz und seine Lehrer F. A. Wolf und A. Böckh, in: R. Markner/G. Veltri (Hrsg.), Friedrich August Wolf. Studien, Dokumente, Bibliographie, Stuttgart 1999, 32– 47. 12 Vgl. auch zuletzt R. HaCohen, Reclaiming the Hebrew Bible. German-Jewish Reception of Biblical Criticism, Berlin/New York 2010, bes. 73 –198.

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und freier gesinnte Auffassung unterscheiden sich voneinander je nach dem Grade, in dem sie das Tabu der Unberührbarkeit von dem Zentralpunkt der unmittelbaren Offenbarungsurkunde auf die sie umlagernden Bezirke ausstrahlen lassen13… Alle möglichen historischen, literarischen Fragen treten in ihren Blickpunkt und werden weiter behandelt, aber den Vorstoß in das Zentrum des Verständnisses des eigenen Geistes wagt sie nicht. Die Tora bleibt auch bei den meisten kritisch höchst aufgelockerten Geistern ein noli me tangere. Daß dieser Sachverhalt dazu geführt hat, Bibelforschung und insbesondere Pentateuchkritik fast völlig der protestantischen Theologie in die Hände zu geben, ist bekannt … Daß ein Mann wie Zunz … seine Untersuchung mit den „gottesdienstlichen Vorträgen“, mit Targumim und Midraschim begann, daß die mittelalterlichen liturgischen Dichter, die Forschung über Entstehung und Gehalt des Gebetbuchs am frühesten die Aufmerksamkeit erweckten, daß die literarischen Probleme der rabbinischen Quellen die Lebensarbeit eines Frankel erfüllten, die religionsphilosophischen Schriften eine liebevolle Pflege fanden, macht das offenbar. Wandte doch selbst ein vorurteilsfreier Geist wie Geiger, obwohl mit der protestantischen Bibelkritik seiner Zeit gut vertraut, seine eigene Analyse den jüngsten biblischen Schriften zu, um von hier aus einen Zugang zur Frühzeit des talmudischen Geistes zu finden. Das alles zeigt, in wie starkem Maße die traditionelle Anschauung mindestens negativ dieser ganzen Forschung die Richtung gab.“14 In den biblischen Schriften Tora sowie (nachgeordnet!) Propheten, Schriften und den Hauptschriften der rabbinischen Literatur (Mishna, Talmud, Midrash) sah Max Wiener verschiedene Grade heiliger Texte repräsentiert, deren Zentrum oder, wenn man im Bild des graduellen Abstiegs bleiben möchte, deren Spitze die Tora bildet, die von der höheren Kritik berührt zu werden, sich seinerzeit niemand wirklich getraut hat. Wiener konnte sich bei seiner Analyse auf Max Dienemann berufen, der schon 1917 mit Blick auf das kritische Bibelstudium beklagt hatte, dass

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M. Wiener, Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von D. Weidner, Berlin 2002, 229f. 14 Ebd., 228 –230 (Auszüge).

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„es eine gewisse dogmatische Gebundenheit [ist], die von der Beschäftigung mit dem Gegenstand im ganzen abhält, die Furcht, es könnte die Beschäftigung mit der Frage der Entstehung der biblischen Schriften den in gewissen Kreisen des offiziellen Judentums als ein Rührmichnichtan betrachteten Glauben an die wörtliche Offenbarung der fünf Bücher Mose erschüttern, die Meinung, daß eigentlich schon immer in dem Willen nach wissenschaftlicher Erforschung der Thora eine Leugnung ihrer Heiligkeit und Göttlichkeit liege … und daß von daher das ganze Gebäude des Judentums ins Wanken geraten würde.“15 Blickt man von heute aus auf die Kritik Dienemanns und Wieners, so muss man sagen, dass die Tragik dieser Zitate in ihrer Aktualität liegt, denn bis heute drücken sich die Vertreter der (modernen) Orthodoxie wie auch der (traditionellen) Reform, vertreten durch Forscher wie Michael Fishbane, Shimon Gesundheit, Israel Knohl, Walther Jacob u. a. mit ihrer Berufung auf Benno Jacob oder Mordechai Breuer um die historische und religionsgeschichtliche Arbeit an der Hebräischen Bibel herum, um an ihrer Stelle ein Close Reading oder eine Exegese als reader response criticism zu betreiben, zumeist noch unter Berufung auf die traditionelle jüdische Bibelauslegung, wodurch das Ganze dann als „holistischer Ansatz“ verkauft werden soll. Dahinter steht faktisch, dass man noch immer die religionsgeschichtliche Erforschung aus Angst vor der Zerstörung eines (naiven) Entstehungsmythos’ vor allem der Tora meidet, dies jedoch nach außen nicht zugestehen will. Begeistert wurde Moshe Goshen-Gottstein aufgenommen, der bereits 1980 eine stärkere Bezogenheit von „Biblical Study“ und „Jewish Thought“16 gefordert und den jüdischen Wissenschaftlern vorgeworfen hatte, sie stünden noch immer unter dem von der alttestamentlichen Bibelwissenschaft erhobenen Diktat einer ausschließlich historischen und religionsgeschichtlichen Forschung, aber in welcher Weise denn die Bibel mit dem „Jewish Thought“, also doch wohl: mit der jüdischen Auslegungs- und Geistesgeschichte 15

M. Dienemann, Unser Verhältnis zur Bibel, in: AZJ 81 (1917), Nr. 25, 289 –291; Nr. 26, 301–302, 289 –290. Vgl. dazu auch ausführlich C. Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere?, Tübingen 1999, bes. 179 –237. 16 In: Jewish Biblical Theology and the Study of Biblical Religion (hebr.), in: Tarbiz 50 (1980/81) 37– 64.

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verbunden werden könnte, wurde nie zum Thema erhoben, ebenso wenig, wie die (christliche) archäologisch-religionsgeschichtliche Forschung in ihren materialen und philologischen Grundlagen wirklich einmal auf den Prüfstand gestellt wurde: Niemand hat jemals die Tatsache problematisiert, dass die Textbasis, auf der die einzelnen Bausteine der biblischen Literaturen rekonstruiert werden, nicht älter als die Textfunde von Qumran sind. Qumranforschung wurde aber vor allem in Deutschland vielfach an den neutestamentlichen Lehrstühlen betrieben. Die Tatsache, dass die bis heute unter den Alttestamentlern so beliebte Rekonstruktion überlieferungs-, traditionsund vor allem redaktionsgeschichlicher data bis heute textlich auf ausgesprochen dünnem Eis steht, wurde bislang noch nicht ernsthaft ins Feld geführt. Es gibt aber ein grundsätzliches Problem dieser Zusammenbindung von „Bible and Jewish Thought“, und dieses liegt implizit auch dem Denken Wieners und Dienemanns zugrunde: Sowohl Wiener als auch Dienemann haben nicht eigentlich zwischen Bibel einerseits und Talmud / Midrash andererseits unterschieden, alles galt gleichermaßen als Literatur des Judentums, das sich lediglich hinsichtlich seiner Wertigkeit und Heiligkeit (Tora im Zentrum bzw. an der Spitze) voneinander unterscheidet. Diese Sicht der Kontinuität zwischen biblischem und rabbinischem Schrifttum und der besonderen Bedeutung der Bibel spiegelt nicht einfach einen „jüdischen Standpunkt“ wider, sondern den positiv-historischen („konservativen“) bzw. reformorientierten. Für das orthodoxe Judentum der Alt- wie auch der Neo-Orthodoxie galten vor der Bibel vor allem das rabbinisch-halachische Schrifttum und der (babylonische) Talmud als die Hauptschriften des Judentums; und diese unterlagen (und unterliegen!) selbstverständlich ebenso wenig der höheren Kritik wie die Bibel,17 unabhängig von der Tatsache, dass sich für die 17

Exemplarisch ist dies an der i. J. 1870 als Dissertationsschrift verfassten Biographie Mar Samuel, Rector der jüdischen Akademie zu Nehardea in Babylonien: Lebensbild eines talmudischen Weisen der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts nach den Quellen dargestellt zu erkennen, die David Hoffmann 1873 (in Leipzig; allerdings ohne den Hinweis darauf, dass es sich hierbei um seine Dissertation handelt), publiziert hat. Die historische Arbeit am Talmud wie auch an einzelnen rabbinischen Gelehrten blieb in orthodoxen Kreisen nicht unwidersprochen. Hyle Wechsler, ein Verwandter Hoffmanns, hatte das Buch als kefira ba-Jiqqar (Gottesleugnung) scharf attackiert (vgl. zum Ganzen M. Breuer, Jüdische Ortho-

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Bibel ohnehin niemand interessierte, denn noch das 19. und 20. Jh. war auf Seiten der Orthodoxie ganz dem traditionellen Talmudstudium verpflichtet, und der im Talmud formulierte Satz Haltet Eure Söhne vom Grübeln ab (bBer 28b), den bereits Rashi (1040 –1105) auf das Bibelstudium bezogen hatte, gilt ja in modifizierter Form bis heute.18 Wenn dies so ist, dann wäre hier wohl noch etwas anderes in Anschlag zu bringen, das die Beobachtung Max Wieners und Max Dienemanns modifizieren müsste, und zwar nicht hinsichtlich der Beobachtung, dass die Wissenschaft des Judentums es nicht so mit der Bibel hatte, sondern hinsichtlich der dafür gebotenen Begründung: Zunz‘ Zurückhaltung in der wissenschaftlichen Bibelarbeit und seine Hinwendung beispielsweise zur Liturgiegeschichte und Onomastik lag nämlich nicht darin begründet, dass er aus „Pietät und Takt“ nichts falsch machen wollte; programmatisch galt sein Kampf der „rabbinischen Finsterniss“19 (sic!) und den „gemeinen Talmudquäler[n]“ und ihrer „verwünschte[n] Klopffechterei“.20 Zunz – und dies lässt sich für viele Vertreter der Wissenschaft des Judentums behaupten – interessierte sich für die religionsgeschichtlichen Forschungen der Protestanten und Altertumswissenschaftler zum israelitischen Altertum ebenso wenig wie für die ägyptischen oder babylonischen Quellen, die in dieser Zeit aufkamen, denn er wusste, dass dies nicht die Texte waren, die sein Judentum, die halachische Praxis und das intellektuelle und kulturelle jüdische Leben, bestimmten. Um hier einen Bogen von der Forschung in das konfessionelle Leben zu schlagen, musste man schon an die nachbiblischen jüdischen Quellen herangehen.21 Nach Zunz hätte also die Beschäftidoxie im deutschen Reich 1871–1918. Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit, Frankfurt a.M. 1986, 104). 18 Vgl. Rashi ad loc.: hk#md {w#m rtwy )rqmb {wlygrt l). 19 L. Zunz, Etwas über die rabbinische Literatur (1818) 23. 20 Ebd., 29. 21 Die Arbeit der Vertreter der Wissenschaft des Judentums stand in hohem Maße unter einem apologetischen Anspruch sowohl gegenüber den religiös-orthodoxen Strömungen innerhalb des Judentums als auch gegenüber ihrer nicht-jüdischen Umwelt, und da interessierte das vorderasiatische Erbe überhaupt nicht. Man suchte im Gegenteil eine wissenschaftliche und „untendenziöse“ (Steinschneider) Beschäftigung mit den nachbiblischen Quellen mit einer apologetischen Ausrichtung zu verbinden. Dies führte, mit einer idealistischen Ge-

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gung mit der Bibel als hebräischer Altertumswissenschaft gerade nicht in den Kanon der jüdischen Theologie gehört, die Beschäftigung mit Rashis Bibelkommentar aber sehr wohl, und nicht umsonst hat ja gerade Zunz mehrfach zu Rashi gearbeitet.22

3. Jüdische Bibelauslegung im Rahmen der akademischen Theologie – erste Annäherungen Was bedeutet dies alles nun für eine moderne wissenschaftliche jüdische Bibelauslegung? Mit Blick auf die dahinter lauernde Frage, was denn eine „jüdische Bibelauslegung“ sei, ist zunächst einmal festzuhalten, dass eine solche nicht darin erschöpfend charakterisiert ist, dass sich zufällig Juden (möglichst noch: Israelis) mit der Archäologie oder der Geschichte religiöser Vorstellungen diverser Menschengruppen in Erets Israel und seinen Nachbarländern von der Mittelbronzezeit bis zum Anbruch der römischen Herrschaft befassen. Diese Themen gehören in die Arbeitsfelder der religions-/ konfessionsunabhängigen und historisch-philologisch wie archäologisch arbeitenden Disziplinen zur Religions-, Text- und Artefakt-Geschichte, gleich jeder anderen Altertumswissenschaft, und hier hat sich, ob jüdisch oder nicht, der studiosus oder die studiosa philologiae und nicht der studiosus theologiae zu profilieren. Mit anderen Worten: Aus unserer Sicht sollte die religionsgeschichtlich-archäologische Forschung an der Hebräischen Bibel überhaupt nicht mehr unter einer konfessionellen Flagge segeln (müssen!); jede Universität sollte diese Forschungen in den Kontext der ägyptologischen, altorientalischen oder vorderasiatischen Archäologie, Spraschichtsauffassung einhergehend, zum ideellen Ausschluss ganzer Literaturzweige, weil sich bestimmte Texte unter apologetischen Gesichtspunkten nicht gut machten, wie beispielsweise das literarische Erbe der jüdischen Mystik sowie die Literatur der chaside ashkenaz. Ihre Werke wurden daher zwar in ihren verschiedenen handschriftlichen Überlieferungen literaturkritisch aufgenommen, sortiert und akribisch katalogisiert, deren Inhalt jedoch entweder überhaupt nicht kommentiert oder allenfalls polemisch attackiert; zum Ganzen vgl. auch H. Liss, El’asar ben Yehuda von Worms, Hilkhot ha-Kavod. Die Lehrsätze von der Herrlichkeit Gottes. Edition. Übersetzung. Kommentar (Texts and Studies in Medieval and Early Modern Judaism 12), Tübingen 1997, bes. 3 –7. 22 L. Zunz, Toldot Rashi, Warschau 1862 (hebr.).

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che und Geschichte eingliedern und an sie den Maßstab der für die Erforschung antiker Kulturen geltenden philologisch-historisch-archäologischen Methoden anlegen. Keine Frage, dass dies zu einer hitzigen Debatte im Kontext der katholischen und protestantischen Bibelforschung führen würde; diese würde doch aber wohl vor allem zu der Erkenntnis führen, dass es eben nicht die Religionsgeschichte ist, die die Bibel-Forschung konfessionell werden lässt, sondern die Rezeptions- und Interpretationsgeschichte. Eine jüdische Bibelauslegung muss daher auch mehr leisten, als sich auf einen historischen Standpunkt zurückzuziehen, bei dem die biblischen Texte einfach im Kanon der altorientalischen Literaturen verbleiben oder allenfalls paradigmatische Bedeutung gewinnen. Sie muss andererseits aber auch immer wieder über eine rein geschichtliche Betrachtung der Auslegungsliteratur hinausgehen, wenn sie denn selbst ein Teil der jüdischen Bibelauslegung bleiben und nicht ausschließlich aus historischer Perspektive auf die jüdischen Bibelausleger aller Jahrhunderte zurückblicken will, so berechtigt und wichtig diese Frage als Teildisziplin wiederum im Kontext der mediävistischen Judaistik ist.23 Eine insbesondere auf nicht-jüdischer Seite heute so geschätzte „jüdische Bibelauslegung“, die die dort gestellten Erwartungen nur zu gerne mit einem Kaleidoskop aus Midrash-Zitaten der Altvorderen bedient, ist daher aufs Ganze ebenso ungenügend wie eine vermeintlich neutrale Archäologie oder biblische Geschichtsschreibung. Eine jüdische Bibelauslegung gehört in die Jüdischen Studien, das heißt, sie muss ein Teil der Wissenschaft des Judentums (genitivus objectivus und subjectivus) seit dem rabbinischen Judentum werden. Jüdische Bibelauslegung, die den Bibeltext im Rahmen und Kontext der jüdischen Kultur- und Literaturgeschichte analysiert, setzt damit von vornherein eigene inhaltlich-theologische Akzente gegenüber der protestantischen oder katholischen alttestamentlichen Wissenschaft. Dazu gehört als erstes, sich damit auseinanderzusetzen, dass der biblische Text, den heute alle Bibelwissenschaftler als „wissenschaftlichen textus receptus“ heranziehen (BHS; BHQ auf der Basis 23 Vgl. Zum Ganzen auch H. Liss, Judaistische Mediävistik. Neue Methoden an alten Texten, in: J. Heil/D. Krochmalnik (Hrsg.), Jüdische Studien als Disziplin – die Disziplinen der Jüdischen Studien. Festschrift der Hochschule für Jüdische Studien, Heidelberg, 1979 –2009, Heidelberg 2010, 23 – 41.

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des Codex Leningradensis I B 19a), um damit (vor-)exilische Textgeschichte zu rekonstruieren, ein Produkt des jüdischen (jüdisch/karäischen) Mittelalters ist, d. h. aus der Zeit seit dem 8. Jh. u.Z., also knapp 1300 Jahre später. Nicht das Alte Israel, sondern das frühmittelalterliche Judentum hat seinen Text erstellt! Wir wissen zwar seit den Textfunden von Qumran, dass der Bibeltext im Konsonantenbestand durchaus stabil sein konnte; da aber der rabbinische Text noch keine Vokale, keine trennenden Akzente wie Atnach oder Zaqef und auch keine verbindenden Akzente wie den Maqqef umfasste, sondern allenfalls offene bzw. geschlossene Abschnitte (petuchot / setumot) enthielt, von der visuellen Organisation des Textes auf einer Manuskriptseite einmal ganz abgesehen, wusste die rabbinische Literatur zwar immer um die Auslegung nach dem einfachen Wortsinn (peshat), ebenso aber auch um eine enorme Lesevariantenbreite und stellte nur zu oft das Postulat der Varietates Hebraicae über das Postulat der Hebraica Veritas. Spätestens seit der Zeit, da die sog. Masoreten den Text vollumfänglich vokalisierten, Akzente setzten und an den Rändern des Bibeltextes die sog. Masora verfassten, also mit dem 8./9. Jh., tritt der Bibeltext in eine neue Phase, auch in seiner äußeren Form, denn erst jetzt und unter dem Einfluss der Entstehung des Qur’a¯n gibt es zum ersten Mal den Pentateuch bzw. die Hebräische Bibel als Ganzes in Codex-Form. Dies ist auch die Zeit, in der die Juden sich des Unterschiedes zwischen der schriftlichen und mündlichen Tora bewusst wurden, auch angestoßen natürlich durch das Auftreten karäischer Gelehrter. Gemeinhin wird heute die Auffassung vertreten, die Masoreten, ob Karäer oder nicht, hätten mit der masoretischen Bearbeitung der Bibeln und dem Erstellen dieser Codices einen Zaun um die Tora machen und den Text fixieren wollen. Die moderne Bibelwissenschaft erklärt dies zumeist so, als habe man damit auch die Bedeutung des Textes fixieren wollen. Aber dies ist nicht der Fall – im Gegenteil: Neuere Forschungen können zeigen, dass die Masoreten in einer ganzen Reihe von statistischen und anderen Kommentaren in der sog. masora magna und masora parva die mündliche Tradition in die schriftliche zurückzuholen und damit indirekt die Auslegung von der Rezeptionsgeschichte her zu dirigieren versuchten. Überdies stellen wir zunehmend fest, dass im Hochmittelalter kein standardisierter Bibeltext vorlag, sondern unterschiedliche Ver-

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sionen, die zwar im Konsonantenbestand recht stabil sind, in der Vokalisierung und Akzentuierung und in der Masora aber deutlich voneinander abweichen, was durchaus Auswirkungen auf die Auslegung hat. Aus diesem philologischen Grund müssen daher Bibeltexte und Kommentatoren aufeinander bezogen gelesen werden.24 Unser erstes Beispiel betrifft Hos 10,8: Die heute gängigen Ausgaben lesen wie folgt: Ausgerottet werden die Höhen von Awen, Israels Sünde … Der Codex Leningradensis I B 19a (BHS ad loc.), MS Jerusalem Crown, Codex Aleppo (192v) sowie der Codex Cairensis25 lesen an dieser Stelle lêÒ)frÇ&iy `t)3=3x, bieten also das Wort t)+x als Nominalform mit dageschiertem Buchstaben t.et und zweimaligem patah. als Vokalzeichen.26 Umso erstaunter ist man zu sehen, dass sich in R. Yosef ben Shim’on Qaras Kommentar zu Hos 10,8 folgende Erklärung findet: „Du hast dich versündigt, Israel (l)r#y t)+x), das heißt: Hierdurch [durch das Kalb] verführst du Israel in den Höhenheiligtümern von Bethel zur Sünde. t)+x: (Der Buchstabe) t.et ist mit einem rafe versehen [i.e. explizit undageschiert], und er ist mit einem qamats (vokalisiert). Die Vokalisation lehrt uns (also) diese Erklärung: Wenn (der Buchstabe) t.et dageschiert wäre, dann wäre es ein Substantiv wie h.et‘ [Sünde], aber (der Begriff hier) ist wie: Und siehe, deine Knechte werden geschlagen, und dein Volk versündigt sich (Ex 5,16) …“27 Qara liest die Form t)+x entgegen der Vokalisation vom heute üblichen masoretischen Text nicht als Nominalform im st. constr. („Sünde 24 Oftmals lässt allerdings die handschriftliche Überlieferung der mittelalterlichen Ausleger keinen unmittelbaren Rückschluss darauf zu, welche Textausgaben ihnen vorgelegen haben. So kann die Diskussion um eine Vokalisierung bedeuten, dass ein Ausleger ein nur mit Lesehilfen versehenes und damit lediglich teilpunktiertes Manuskript vor sich hatte, das seine Vokalisierung im Anschluss an die exegetische Beschäftigung erhält; es kann sich jedoch auch umgekehrt so verhalten, dass der Ausleger einen vokalisierten Text vor sich hatte, dessen Vokalisierung jedoch zur Diskussion stand, so dass er die Erklärung einer bestimmten Punktation für nötig erachtete. 25 http://www.seforimonline.org/seforimdb/pdf/266.pdf (letzter Zugriff: 15.2.2014), 528. 26 So auch in den MSS Sassoon 82 (1312), fol. 472v; MS Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana Plut. 01.30 (1295), fol. 449r. 27 MS New York, JTS, Lutzki 777, fol. 175v.

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Israels“), sondern als Verbalform der √)+x in der hier vorgeschlagenen Auslegungsmöglichkeit als qal perf. 2. mask. fem. (h.at.a’ta). Diese Lesart der Vokalisation entspricht auch der Vokalisation der √)+x als Verbalform im qal perf. in Hos 10,9 (2. mask. sg. Perf.) bzw. derjenigen in dem von Qara angeführten Vergleichsvers Ex 5,16 (3. fem. sg. Perf.). Erste Proben lassen vermuten, dass sie vor allem durch die nordfranzösischen (ashkenasischen) Manuskripte unterstützt wurde. Interessant sind hierbei nicht nur die Bibelausgaben, sondern auch die hebräisch-französischen Glossarien, denn sie belegen durch die Übersetzung den biblischen Text. So findet sich beispielsweise im Glossaire de Leipzig die Form #)qyp, versehen mit dem erklärenden Zusatz )l) rbd {# hz }y) tl(p }w#l t#(w; Banitt transliteriert hier pèchâs „tu as pèché“.28 Welche schwerwiegenden inhaltlichen Folgen die Diskussion um die Vokalisation haben kann, zeigt das Beispiel aus dem Kommentar von Qara und (im Wortlaut sehr ähnlich auch) Rashi zu Nah 1,1. Der heutige gebräuchliche Bibeltext liest hier (Nah 1,1): Ausspruch über Ninive. Das Buch der Vision des Nahum, des Elkoschiters. Der hebräische Ausdruck (BHS: {U‹x2n }OÀzAx) chason „Vision/Schauung“ ist mit h.atef patah. vokalisiert29 und wird entsprechend als Nomen regens im st. cs. erklärt. Anders bei Qara; hier lesen wir: „(Nur ein) Buch der Vision erzählt [über Niniveh]: (nämlich jenes), das Jona, der Sohn des Amittai, schrieb und über sie prophezeite: Noch vierzig Tage und Ninive ist zerstört (Jon 3,4) … Und das qamats, das bei (dem Buchstaben) h.et des (Wortes) Vision [}wzx] steht, lehrt uns diese Erklärung: Wenn nämlich (die Wendung) h.azon Nah.um mit einem h.atef patah. vokalisiert wäre, dann hätte es die Bedeutung ‚(Vision) des Nah.um, die er geschaut hat‘; wie zum Beispiel: Vision des Jesaja, des Sohnes des Amoz, die er geschaut hat (Jes 1,1). Aber das qamats des (Buchstaben) h.et und seine Akzentuierung [i.e. tevir unter dem zajin] 28

Vgl. M. Banitt, Le Glossaire de Leipzig. vol. II, Corpus glossariorum biblicorum Hebraico-Gallicorum medii aevi, no. 2 (Jerusalem: Acad. National des Sciences et des Lettres d‘ Israel, 2005), 12167, 919; allerdings hier zu 10,9, offenbar stand das Wort auch hier zur Debatte, oder in das Glossaire hat sich ein Fehler eingeschlichen. 29 So auch der Codex Aleppo (fol. 198v), der Codex Cairensis (S. 553) und MS Sassoon 82, fol. 486v.

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lassen (das Wort) alleine stehen und trennen es von (dem Wort) Nah.um, denn es ist nicht die Vision Nah.ums, sondern die Vision Jonas.“30 Rashi und R. Yosef ben Shim’on Qara lesen Sefer h.azon Nah.um als eine schon als Schrift vorliegende Vision, die darin keine Schauung, sondern eher eine „Nach-Lesung“ impliziert: die Lesung des Buches Jona, die der Prophet Nahum nochmals artikuliert. Demgegenüber betont der Kommentar des R. Abraham Ibn Esra ad loc., dass das Wort im St. constr. stehe, hat also offenbar ebenso eine Vokalisation mit h.atef patah. vor Augen, verweist aber immerhin auch bereits auf den trennenden Akzent tevir. Die Lesart Qaras ist deshalb hier so interessant, weil auch in der modernen Exegese die prophetische Figur des Nah.um zunehmend zu einem anonymen Schreibtischtäter mutiert, einem „judäischen Hofschreiber“, der „als Pseudepigraph einer Sammlung von Materialien vorangestellt worden sei, die wesentlich ihre Themen aus Jesaja, Jona und Zefanja bezogen hätten“.31 Schlussendlich lässt sich nicht klären, ob die Auslegung bereits bekannt und die Vokalisierung danach vorgenommen wurde (das scheint mir der wahrscheinlichere Fall zu sein) oder ob es sich umgekehrt verhielt. In jedem Fall kann die Darlegung des Qara zur Nach-Lesung der Vision des Jona sich auf die Vokalisierung des Ausdruckes stützen, während der moderne Alttestamentler dafür eigentlich keine Textbasis hat. Diese zwei Beispiele mögen genügen, um darzulegen, dass eine wissenschaftliche, aber gleichzeitig konfessionelle Auslegung des Bibeltextes zunächst einmal den Text in Auseinandersetzung mit der jüdischen Auslegungstradition erstellt. Die westeuropäische Auslegungstradition geht weder auf den Codex Leningradensis noch auf den Codex Aleppo32 zurück, sondern zeigt eine im Konsonantenbestand sowie in Vokalisation und Masora eigene und bislang nur in

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MS New York, JTS, Lutzki 777, fol. 187r; dieselbe Lesart, einschließlich der Akzentsetzung findet sich auch in MS Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana Plut. 01.30 (1295), fol. 458r. 31 H.-J. Fabry, Nahum (HThKAT), Freiburg i. Br. 2006, 27. 32 J. Penkower, Maimonides and the Aleppo Codex, Jerusalem 1981; ders., New Evidence for the Pentateuch Text in the Aleppo Codex, in: The Jewish Quarterly Review 85 (1995), 454 – 456.

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Ansätzen definierte Texttradition. Dass von hier aus die Suche nach einem „Urtext“ müßig ist, liegt auf der Hand. Ein solcher müsste in jedem Fall über die Septuaginta ermittelt werden.33 Weiterhin lässt sich bereits an dieser Stelle zeigen, dass eine jüdisch-konfessionelle Bibelauslegung Themen in ihre Interpretation integriert, die über eine rein literar-historisch orientierte Auslegung deutlich hinausgehen oder, wie im Falle des Anfangs des Buches Nah.um, teilweise auch zu völlig anderen inhaltlichen Ergebnissen kommt. Jüdische Bibelauslegung bedient sich daher philologisch-historischer Mittel, wird sich dabei jedoch nicht einfach auf die Eruierung der biblischen Textgeschichte oder etwaiger hinter dem Text liegender historischer data reduzieren lassen, sondern macht Ernst damit, dass die Textaussage sich nicht unbedingt daraus ergibt, was dort im Konsonantentext steht, dass aber auch umgekehrt eine semantisch eindeutige Aussage durchaus eine Vielzahl von Auslegungen zulassen kann, ihrem Inhalt, aber auch ihrer Form nach. Zur jüdischen Bibelauslegung gehörte dann im weiteren Sinne auch die Frage nach den Bibeln selbst, nach der Art und Weise der im biblischen Artefakt konservierten Textüberlieferung wie auch nach ihren plausiblen Szenarien der am Schreiben und Lesen/Rezitieren Beteiligten (liturgische Tradition: Synagoge). Es ist eben nicht egal, dass eine Tora-Rolle immer aus 248 Kolumnen mit je 42 Zeilen besteht, wie eben jeder einzelne der sog. tagin auslegungsrelevant ist und bleibt. Gerade für sog. heilige Texte, deren Status als „heilig“ einzig an ihren Rezeption(en) hängt (das Judentum hat die Offenbarung nie essentialistisch verstanden!), gilt, dass sie nach Spielräumen verschiedener Anwendungen verlangen und diese immer wieder neu reflektieren. Die hebraica veritas der Juden umfasst daher nicht einfach „Gottes Wort in Menschenwort“, sondern „Gottes Wort in Menschenform“, und dies ist auch nur konsequent, denn da der Ewige unsichtbar und formlos (vorzustellen) ist, muss wenigstens seine Offenbarung in unendlicher Formenvielfalt sichtbar und sinnhaft werden.

33 Vgl. zuletzt E. Bons, Textkritik und Textgeschichte. Studien zur Septuaginta und zum hebräischen Alten Testament, Tübingen 2014.

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Die Kirche liest das Alte Testament in mehreren Textgestalten und Übersetzungen Folgen für Schriftgebrauch, Exegese und Theologie Adrian Schenker OP

1. Vielfalt der antiken Übersetzungen Im 3. Jh. n. Chr. zirkulierten in der griechischsprachigen Welt mehrere Übersetzungen des Alten Testaments1: es gab die alte griechische Bibel aus dem 3. bis 1. vorchristlichen Jahrhundert (die man oft vereinfachend und nicht ganz zutreffend Septuaginta, „Bibel der Siebzig Übersetzer“) nennt. Neben dieser weitverbreiteten griechischen Bibel

1

In diesem Überblick sei es mir gestattet, die Anmerkungen knapp zu halten. Für alle angeschnittenen Probleme gibt es eine große Bibliographie. Einige wenige Hinweise mögen genügen. Für jüngere Veröffentlichungen des Verfassers zur Thematik vgl. etwa A. Schenker, Welche Sprache für die Übersetzung der Bibel? Die Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift im Vergleich mit den deutschen Bibeln des 20. Jahrhunderts, in: ThPQ 162,1 (2014) 49–57; ders., Die Textgeschichte des Alten Testaments, in: Einleitung in das Alte Testament. Die Bücher der Hebräischen Bibel und die alttestamentlichen Schriften der katholischen, protestantischen und orthodoxen Kirchen, hrsg. von T. Römer/J.-D. Macchi, Zürich 2013, 25–33; ders., Biblia Hebraica Quinta (BHQ). Eine neue kritische Ausgabe des Alten Testaments, in: BiLi 85,4 (2012) 278–283; ders., Was führte zur Übersetzung der Tora ins Griechische? Dtn 4,2–8 und Platon (Brief VII,326a–b), in: Die Septuaginta – Texte, Theologien, Einflüsse. 2. Internationale Fachtagung veranstaltet von Septuaginta Deutsch (LXX.D), Wuppertal 23.–27.7.2008. Hrsg. von W. Kraus/M. Karrer (WUNT 252), Tübingen 2010, 23–35; ders., Das Neue Testament hat einen doppelten alttestamentlichen Kanon. Von der Ebenbürtigkeit des Griechischen, in: ZNT 13,26 (2010) 51–54; ders., From the first printed Hebrew, Greek and Latin Bibles to the first Polyglot Bible, the Complutensian Polyglot: 1477–1577, in: Hebrew Bible / Old Testament. The history of its interpretation. 2. From the Renaissance to the Enlightenment, hrsg. von M. Sæbø, Göttingen 2008, 276–291; ders., Älteste Textgeschichte der Königsbücher. Die hebräische Vorlage der ursprünglichen Septuaginta als älteste Textform der Königsbücher (OBO 199), Fribourg 2004; und die Beiträge in ders., Anfänge der Textgeschichte des Alten Testaments. Studien zu Entstehung und Verhältnis der frühesten Textformen (BWANT 194), Stuttgart 2011.

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standen überdies die Übertragungen von Theodotion (1. Jh. n. Chr.), Aquila und Symmachus (beide 2. Jh. n. Chr.) zur Verfügung. Dies waren vier jüdische Übersetzungen. Für die Psalmen konnte man noch eine weitere griechische Wiedergabe benützen, die sog. Quinta. Die Kirchen des römischen Reiches, in denen man griechisch sprach, hatten für das Alte Testament die Septuaginta als Bibel von den Juden übernommen, manchmal bevorzugten sie auch Theodotion, z. B. für das Buch Daniel. Im Osten, jenseits der Grenze des römischen Reiches nach Mesopotamien und Persien hin lasen die Kirchen die Bibel in einer syrischen Übertragung, die etwa im 2. Jh. n. Chr. übersetzt worden war, z.T. vielleicht teilweise ebenfalls von Juden. Diese Übersetzung wurde aus dem hebräischen Urtext geschaffen, abgesehen von den alttestamentlichen Büchern, die ursprünglich auf griechisch verfasst worden waren. Das Syrische ist eine Spielart der aramäischen Sprache. In Nordafrika hatten die Christen um 200 n. Chr. die Septuaginta ins Lateinische übersetzt, und von dort aus verbreitete sich diese erste lateinische Bibel weiter nach Gallien, Spanien und Italien. Um dieselbe Zeit begannen Christen in Ägypten das Alte Testament in die koptische Sprache zu übertragen. Das Koptische war die damals bei der Bevölkerungsmehrheit gebräuchliche Form der altägyptischen Sprache. Sie benutzten als Grundlage ihrer Übersetzung ebenfalls die Septuaginta. Die Kirchen gebrauchten diese Bibelübersetzungen, ohne sich genauer zu erkundigen, ob diese verschiedenen Übertragungen miteinander übereinstimmten. Man nahm an, dass es getreue Wiedergaben des hebräischen Bibeltextes waren. In Alexandrien entdeckte einer der bedeutendsten Theologen und Gelehrten der ersten Jahrhunderte, Origenes (um 185 – um 254), dass es Unterschiede zwischen den Übersetzungen gab, die durchaus für die Bedeutung der biblischen Worte ins Gewicht fallen konnten. Er begnügte sich aber nicht mit dieser allgemeinen Feststellung. Er wollte die Unterschiede sozusagen genau ausmessen, umso mehr als er von Juden gelernt hatte, dass es die Absicht der Übersetzer Theodotion, Aquila und Symmachus gewesen war, den hebräischen Wortlaut der Bibel genauer wiederzugeben, als es bei der Septuaginta der Fall gewesen war. Er stellte deshalb die vier oder fünf griechischen Übersetzungen in einer Synopse in Spalten nebeneinander, wobei der Bibeltext von oben nach unten geschrieben war, und zwar

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so, dass für jedes Wort des hebräischen Textes eine separate Zeile reserviert war. So standen neben jedem hebräischen Wort vier oder mehr griechische Wiedergaben . Diese ungeheuer gross und breit angelegte Bibel hiess die „Sechs-Spalten (Bibel)“ (Hexapla). So konnte Origenes auf einen Blick die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ausgaben unter sich und im Vergleich mit dem hebräischen und aramäischen Ursprungstext anschauen2. Dieses Wunderwerk genauester Untersuchung des biblischen Wortlautes befand sich bei Origenes in Caesarea in Palästina. Origenes selbst benutzte in seinen Vorlesungen und Predigten die Septuaginta, weil es die Bibel der Kirche in Ägypten war, wo er aufgewachsen war und Theologie unterrichtete, und in Palästina, wo er sich zurückziehen musste, als man ihm in Alexandrien das Vertrauen – zu Unrecht – entzog.

2. Vielfalt der Textgestalten Origenes erkannte sofort eine der Quellen der Unterschiede. Das waren die Fehler der Schreiber und die fehlende Sorgfalt der Buchhändler oder Verleger, welche Abschriften von minderer Qualität produzierten. Seine Sechs-Spalten Bibel half, solche Fehler aufzuspüren und in der Septuaginta zu beheben. Aber es blieben viele Unterschiede zurück, die keine Fehler sein konnten. In der Septuaginta war der Wortlaut manchmal anders als im hebräischen Urtext. Origenes konnte sich diese Unterschiede nicht wirklich erklären. Aber sein Geist war zu weit und zu tief, um vorschnell einen der beiden Wortlaute, den hebräischen oder den griechischen, zu verwerfen, weil sie miteinander nicht übereistimmten. In einem Brief an einen gelehrten Freund, Julius Africanus, erklärte er, dass Gott dafür gesorgt haben müsse, dass seine Kirche, für welche er seinen Sohn hingegeben hatte, einen echten Zugang zum Worte Gottes hatte3. 2 Dass es Zweck der Hexapla war, den Textvergleich zwischen dem hebräischen Originaltext und den griechischen Übersetzungen zu ermöglichen, habe ich zu zeigen versucht: A. Schenker, „L’apport durable des Hexaples d’Origène. Bilan de la Lettre à Africanus, bilan aujourd’hui,“ in: M. Loubet/D. Pralon (Hrsg.), Eukarpa. Études sur la Bible et ses exégètes (FS Gilles Dorival), Paris 2011, 385 –394. 3 Origenes’ Brief an Julius Africanus, in: Origène, Philocalie 1–20 sur les Écritures et La Lettre à Africanus sur l’histoire de Suzanne, hrsg. von M. Harl/N. De Lange (Sources chrétiennes 302), Paris 1983.

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Da die griechischsprachigen Kirchen die Septuaginta in Gottesdienst, Lesung und Lehre verwendeten, musste diese Übersetzung somit für echt gelten, während aber gleichzeitg der hebräische Urtext ebenfalls als echt betrachtet werden musste, weil er eben der Urtext ist. Das Ergebnis dieser Theologie der Schrift war, dass die Schrift in mehr als nur einer Form gegeben ist. Ein bedeutender und gelehrter Kenner der Bibel, Hieronymus (um 350 – 425), der den späteren Teil seines Leben in Bethlehem zubrachte, und der das wissenschaftliche und exegetische Werk Origenes’ kannte und benutzte und sehr viel daraus gelernt hatte, fand sich vor demselben Rätsel: Warum gibt es zwischen der griechischen und der hebräischen Bibel so auffallende Unterschiede? Hieronymus hatte die Neigung, den Fehlern der Textüberlieferung einen grossen Teil der Unterschiede anzulasten. Die Schreiber und Herausgeber hatten eben ihre Arbeit schlecht gemacht. Doch verwarf er die griechische Schrift, die Septuaginta, deshalb nie in Bausch und Bogen. Hinter diesem Respekt für die griechische Schrift stand seine Beobachtung, dass Jesus und die Verfasser des Neuen Testaments, die „Apostel“, beide Formen der Schrift verwendeten und zitierten. Sie anerkannten also beide als Heilige Schrift. So sah sich Hieronymus durch dieses Beispiel verpflichtet, seinerseits beide Gestalten der Schrift anzuerkennen. Das zeigt sich u. a. darin, dass Hieronymus in seinen Kommentaren der Bücher des Alten Testaments immer auch den griechischen Wortlaut mitzitiert und in seine Erklärungen auch einbeziehen kann. Er gibt den Vorzug klar dem hebräischen Wortlaut, weil er der Urtext ist, aber er geht nie so weit, die Septuaginta vom Rang echter Heiliger Schrift herabzustossen. Die gleiche Frage erhob sich für Humanisten wie Erasmus und für die Reformatoren. Sie entschieden sich für die Bevorzugung des hebräischen Textes und betrachteten die Septuaginta als eine fehlerhafte, weniger ursprüngliche Fassung der Bibel. Im 17. Jh. wurde der samaritanische Pentateuch von einem italienischen Reisenden, Pietro della Valle, nach Europa vermittelt. Die Entdeckung eines neuen Wortlauts der Tora, der sich nicht ganz mit dem hebräischen Text der jüdischen Bibel, der sog. Masoretischen Bibel, deckte, rief das Problem neu und mit einem neuen Element, eben der neu entdeckten samaritanischen Bibel, ins Bewusstsein. Seit der kritischen Forschung des 17. Jahrhunderts ist die Frage bis heute nie mehr zur Ruhe gekommen: wie erklären sich diese Unterschiede in der bib-

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lischen Textgestalt des Alten Testamentes, welche keine Fehler zu sein scheinen, und welches ist der urspüngliche Wortlaut, wenn es mehrere Textformen gibt? Diese Frage hat sich in der jüngsten Periode nochmals ganz scharf zugespitzt, nachdem am Ufer des Toten Meers und in den Höhlen von Qumran zahlreiche biblische Handschriften zutage gefördert worden sind. Diese biblischen Handschriften sind die ältesten Textzeugen, die in ihrer physischen Beschaffenheit erhalten geblieben sind. Und gerade diese alten Zeugen weisen zahlreiche Varianten im Wortlaut auf, die von rein orthographischen Besonderheiten bis zu andern Fassungen der Inhalte reichen können. Die meisten Fachleute der biblischen Textgeschichte sind deshalb der Auffassung, dass in Qumran jede Handschrift ihre eigene, spezifische Form des Bibeltextes bietet, sodass es nicht mehr möglich ist, für diese Zeit von dem biblischen Wortlaut zu sprechen. Das war die Situation um die Zeit des 1. Jh. vor und nach Chr. Man muss daher für die Anfänge der Textüberlieferung von biblischen Textgestalten in der Mehrzahl ausgehen, jedenfalls bis ins 1. und 2. nachchristliche Jahrhundert hinein.

3. Mannigfache Bibeln in den Kirchen Dieser hier skizzierte Sachverhalt ist nicht nur von Belang für die Geschichte des biblischen Textes. Er hat eine ekklesiologische und eine fundamentaltheologische Seite. Ekklesiologisch deshalb, weil die Kirchen der Vergangenheit und z.T. bis heute verschiedene „Alte Testamente“ lesen, fundamentaltheologisch, weil sich die Frage stellt, was eine echte Heilige Schrift ist, wenn es stellenweise mehr als eine Fassung von biblischen Worten gibt. Die Kirchen des römischen Ostens und Westens lasen in Liturgie und Theologie die griechische Bibel, auch im Westen, weil die altlateinische Übersetzung, die sog. Vetus Latina bis gegen 800 die benutzte Heilige Schrift war; sie ist eine lateinische Übersetzung des griechischen Alten Testamentes! Erst nach dieser Epoche hat sich die Übersetzung des Hl. Hieronymus ganz durchgesetzt, welche eine Übertragung des hebräisch-masoretischen Textes ist. Da sich die lateinischen Liturgien, d. h. die römische, gallische, iberische Liturgie, zur Hauptsache vor 800 ausgebildet haben, bewahren sie

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manche Stellen aus der alt-lateinischen, d. h. letztlich griechischen Bibel. Dies macht sich praktisch bis heute namentlich in den Psalmen bemerkbar. Heutzutage benützen die von Byzanz herkommenden Kirchen zusammen mit den unierten Kirchen dieses Bereichs die Septuaginta oder eine Übersetzung davon. Dasselbe gilt auch für die koptische und die äthiopische Kirche. Die Kirchen im Irak, in der süd-östlichen Türkei, in Persien und Indien lesen die Peshitta, die syrische Bibel. Die protestantischen Kirchen und die heutige römisch-katholische Kirche lesen dagegen das hebräisch-masoretische Alte Testament. Es muss hier ausdrücklich betont werden, dass in diesem Überblick weniger vom Umfang, dem sog. Kanon der Bibel die Rede ist, obwohl die Liste der zur Schrift gehörenden Bücher eine wichtige Quelle von Unterschieden ist. Die hier betrachteten Besonderheiten der Bibeln der Kirchen betreffen insbesondere die Form des Wortlautes. Die Kanon-Listen, der Umfang der Bibel in verschiedenen Kirchen und jüdischen Gemeinschaften (Qumran, Jerusalem, Samarien) in verschiedenen Epochen wurden und werden oft untersucht. Die Textunterschiede dagegen sind viel weniger bekannt und oft auch noch gar nicht voll aufgearbeitet. Auf diesem Gebiet liegt ein weites Forschungsfeld vor.

4. Fünf Folgerungen für das theologische Verständnis von Heiliger Schrift Erstens: Die theologische Überlegung von Origenes, die er Julius Africanus darlegt, ist auch heute grundlegend. Die Kirchen in den verschiedenen Zeiten und Ländern konnten nicht ohne echten Zugang zum Wort Gottes gewesen sein. Denn ohne Wort Gottes ist Kirche nicht denkbar, weil Kirche die um das Wort Gottes gescharte Gemeinschaft von Menschen ist. Daraus folgt, dass die Bibel in verschiedenen Formen „subsistiert“, da die Kirche dieses Wort in verschiedenen Formen hört und liest. Die unterschiedlichen Textgestalten schliessen sich demgemäss nicht aus, sondern haben alle Teil am offenbarten Wort Gottes. Sie bilden eine Symphonie. Sie ergänzen sich. Es gibt nicht einen einzigen, sondern einen mehrfachen Wortlaut4.

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L’Interpretazione della Bibbia nella Chiesa. Atti del Simposio promosso dalla

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Zweitens: Das Wort, welches Gott zu den Propheten und Aposteln gesprochen hat, vernimmt die Kirche in doppelter Brechung. Gott hat zu den Empfängern der Offenbarung, den Propheten und Aposteln, in einer Form gesprochen, die für uns ein Geheimnis bleibt. Diese Empfänger haben es ihren Zuhörern in ihrer menschlichen und geschichtlichen Sprache übermittelt. Dann wurde es niedergeschrieben, und dadurch erfuhr die Übermittlung der Offenbarung Gottes eine weitere Vermittlung: das gesprochene Wort ging in seine schriftliche Gestalt über, die nicht genau mit der ursprünglichen mündlichen Mitteilung der Propheten und Apostel zusammenfällt, und die von Abschrift zu Abschrift überliefert werden musste. Aber alle diese Zwischenschritte haben Anteil an der offenbarungsvermittelnden Aufgabe der Heiligen Schrift. Drittens: Für die Auslegung der Schrift ist es notwendig, alle ihre geschichtlichen Gestalten zu berücksichtigen: die hebräische Bibel, die Septuaginta, die syrische und die lateinische Bibel. Die modernen Übersetzungen spielen nicht mehr diese gleiche Rolle, weil seit dem 15. und 16. Jahrhundert die Übersetzungen auf dem hebräischen (und auch auf dem griechischen) Wortlaut fussen. Das war eine neue Situation. Vorher hatten die Kirchen in Ost und West diesen direkten Zugang zum Urtext nicht. Es bedarf also einer symphonischen (oder synoptischen) Exegese. Dieses ekklesiologische Erfordernis des Schriftgebrauchs schliesst die Frage nach der ältesten Gestalt der Textformen nicht aus. Aber sie bezieht auch jüngere Textgestalten in das Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift ein. Viertens : Somit ist klar, dass die Textkritik des biblischen, alttestamentlichen Wortlauts nicht überflüssig ist. Denn die biblischen Bücher sind in vielen Abschriften überliefert worden. Wo Abschriften gemacht werden, da gibt es Fehler. Solche Fehler kommen in der hebräischen, griechischen, syrischen und lateinischen Bibel vor. Es ist Aufgabe der Kirche, für einen möglichst reinen, lauteren Bibeltext zu sorgen. Diese Sorge überträgt die Kirche den Textkritikern, denen es obliegt, nach bestem Wissen und Können Fehler im Bibeltext aufzuspüren und daraus zu entfernen. Fünftens: Es bleiben Fragen, die hier nicht weiter verfolgt werden, die aber durchaus ihre Berechtigung haben. Solche weitere Fragen Congregazione per la Dottrina della Fede, Roma, settembre 1999, Città del Vaticano 2001, bes. S. 178 –186.

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sind: Welche alte Bibelübersetzungen haben an der offenbarungsvermittelnden Aufgabe der heiligen Schrift Anteil? Man kann neben den genannten Übersetzungen auch an die koptische, äthiopische, armenische, georgische Übersetzung denken. Ferner: Sind solche Übersetzungen inspiriert, oder sollte man eher an eine ekklesiologische Garantie denken, dass diese Bibeln einen echten Zugang zum Wort Gottes gewähren (m.a.W. dass sie „authentisch“ sind). Eine andere Frage ist die nach dem Umfang des Kanons, weil die verschiedenen alten Bibeln nicht die gleiche Liste von Büchern aufweisen, welche als Heilige Schrift, d. h. als Dokument der Offenbarung Gottes betrachtet werden sollen. Diese Frage spielt eine Rolle für die Bibel, welche die protestantischen Kirchen auf der einen Seite und die katholische Kirche auf der andern anerkennen.

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Translatio Dei Der christliche Glaube in und als Übersetzung Leonhard Hell Der christliche Glaube ist ein Phänomen der Übersetzung. Und dies in jeder denkbaren Hinsicht: Er entstammt Übersetzungen, er vollzieht Übersetzungen und er führt zu Übersetzungen. Beginnen wir mit dem zuletzt genannten: Alles, was wir heute und in Zukunft als Ergebnis christlicher Verkündigung und christlich motivierten Handelns wahrnehmen können, ist die Frucht von Übersetzung. Damit es zu solchen Früchten kommen konnte und weiterhin kann, muss diese Übersetzung durch die Christen als Einzelne wie durch ihre Gemeinschaft als Kirche vollzogen werden. Dies ist allerdings nur legitim und möglich, weil der Ursprung und der Gegenstand des christlichen Glaubens und Lebens selbst gerade das und nichts anderes als das ist: nämlich Übersetzung. Die folgenden Ausführungen verstehen sich als Versuch der Verdeutlichung dieser These.

1. Zwischen Fehlanzeige und Überfluss. Ein erster Blick in die einschlägige Literatur Das Thema der Übersetzung ist im exegetischen, historisch-theologischen wie liturgiehistorischen Bereich vielfach behandelt worden. In jedem einschlägigen Fachlexikon finden sich hierzu nötige Informationen. Umso erstaunlicher mag es daher erscheinen, dass der all dem zugrunde liegende Reflexionsbegriff der Übersetzung kaum literarische Präsenz in den theologischen Enzyklopädien gefunden hat. Eine Suche in den wichtigsten Nachschlagewerken deutscher Sprache – also etwa im Lexikon für Theologie und Kirche, in Religion in Geschichte und Gegenwart oder der Theologischen Realenzyklopädie, um nur die wichtigsten zu nennen – führt den Benutzer zu keinem entsprechenden Stichwort.1 Die Informationen zum 1

Selbst das Historische Wörterbuch der Philosophie und das Lexikon des Mittelalters bieten hier kein anderes Ergebnis. Ersteres hat überhaupt kein entsprechen-

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Thema sind meist ausschließlich philologischer oder übersetzungsgeschichtlicher Art; sie finden sich am ehesten unter Stichworten wie „Bibelübersetzung“ oder ähnlich. Selbst wenn – wie im noch anzusprechenden Fall der in der Kirche benutzten Übersetzungen der Heiligen Schrift – dogmatische Äußerungen zum Thema Übersetzung herangezogen werden, führt dies in den seltensten Fällen zu Überlegungen allgemeinerer, sei es insgesamt hermeneutischer oder fundamentaler theologischer Art. Dieser weitgehenden Fehlanzeige steht andererseits eine Fülle gegenüber. Innerhalb der Sprachwissenschaften hat sich – natürlich aufbauend auf Theoriebildungen von Jahrhunderten – der eigene Wissenschaftszweig der Übersetzungs- oder Translationswissenschaft entwickelt. Allein seine grundlegenden Werke füllen mittlerweile ganze Buchregale.2 Auch wenn es darunter auffällig viele Veröffentlichungen in deutscher Sprache gibt, so ist dies natürlich ebenfalls ein internationales und damit notwendig selbst ein auf Translation angewiesenes Unternehmen. Nicht zuletzt muss es sich

des Stichwort im Nomenklator, letzteres nur historisch-philologische Eintragungen. Dies erstaunt, da doch die hermeneutische Tradition aus Antike und Mittelalter hier durchaus Substantielles zu bieten hätte, das etwa unter dem Stichwort translatio verhandelt wurde; vgl. G. Dahan, L’exégèse chrétienne de la Bible en Occident médiévale. XIIe–XIVe siècle, Paris 1999, 45 –55. – Eine der wenigen löblichen Ausnahmen im theologischen Sektor stellt dar: O. Wischmeyer (Hrsg.), Lexikon der Bibelhermeneutik, Berlin/New York 2009; hier finden sich auch durchaus theoriegesättigte und Grundsätzliches erörternde Beiträge zum Thema, bes. C. Nord, Art. „Übersetzen/Übersetzung/Übersetzer. II. Neutestamentlich“, in: ebd., 620f. 2 Vgl. z. B. den immer wieder neu aufgelegten und überarbeiteten Klassiker: W. Koller, Einführung in die Übersetzungswissenschaft, Heidelberg 82011; aber auch: M. Snell-Hornby u. a. (Hrsg.), Handbuch Translation, Tübingen 1998; R. Stolze, Übersetzungstheorien. Eine Einführung, Tübingen 2011. Wer nach einer leicht lesbaren, vielfach sogar amüsanten, aber keineswegs oberflächlichen Einführung sucht, kann nun zu folgendem Werk greifen: D. Bellos, Is That a Fish in Your Ear? Translation and the Meaning of Everything, London/New York 2011; dt. Übers.: Was macht der Fisch in meinem Ohr? Sprache, Übersetzen und die Bedeutung von allem, Köln 2013. – Eine der wenigen Stimmen, die sich im Konzert der Übersetzungstheoretiker wie der Erforscher und Praktiker der Bibelübersetzung Gehör verschaffte, war der 2011 verstorbene Eugene A. Nida; vgl. etwa dessen Contexts in Translating, Philadelphia 2002; zu ihm vgl. nun: S. Felber, Kommunikative Bibelübersetzung. Eugene A. Nida und sein Modell der dynamischen Äquivalenz, Stuttgart 2013.

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ja in jedem Fall auch inhaltlich auf mindestens zwei Sprachen beziehen, zumeist auf mehrere, wenn nicht unendlich viele. Die Bemühung um „Äquivalenzen“ der verschiedensten Art, ihre Bestimmung und ihre Erzielung, scheint bis vor kurzem der primäre Fokus dieses Unternehmens gewesen zu sein. Neuerdings neigt man dazu, diesen Blickwinkel als zu eng gefasst anzusehen und nimmt vor allem Fragestellungen interkultureller Art mit hinzu. Wer hier eine gewisse Parallele zur Entwicklung des theologischen Faches, das traditionell Missionswissenschaft genannt wird, erblickt, liegt wohl nicht ganz falsch.3 Damit sind wir zumindest schon wieder etwas näher beim Thema.

2. Die Absicht von (Bibel-)Übersetzungen Gewöhnlich beginnen historisch-theologische Erläuterungen zur Theorie der (Bibel-)Übersetzung mit der Reformationszeit. Besonders Martin Luthers „Sendbrief vom Dolmetschen“4 hat es den Forschern angetan. Allerdings können wir diesem in der Tat bis heute lesenswerten Dokument, mit dem der Reformator seine Übertragung der Heiligen Schrift gegen plagiierende Konkurrenz verteidigt, im Wesentlichen nur Möglichkeiten der Übersetzung entnehmen, zudem solche, die sich wechselseitig eigentlich auszuschließen scheinen. Ist es die Absicht einer Übersetzung, die Ausgangssprache greifbar werden zu lassen, notfalls auf Kosten der Zielsprache, oder sollte nicht besser umgekehrt verfahren werden, bis hin zur Gestalt der Nachdichtung?5 Soll das Griechische oder Hebräische ins Deutsche 3

Daß es hier nicht allein Parallelen gibt, sondern auch Überschneidungen, zeigen etwa: L. Sanneh, Translating the Message: The Missionary Impact on Culture, Maryknoll, NY 1989; ²2009; A. Brenner/J. W. van Henten (Hrsg.), Bible Translation on the Threshold of the Twenty-first Century: Authority, Reception, Culture and Religion, London/New York 2002; J. Maxey, „Bible Translation as Contextualization: The Role of Orality“, in: Missiology 38 (2010) 173 –183. 4 „Ein Sendbrief D. M. Luthers. Vom Dolmetschen und Fürbitte der Heiligen“, in: Martin Luther, Studienausgabe, Bd. 3, hrsg. v. H.-U. Delius, Berlin 1983, 477– 496. 5 Vgl. ebd., 490, Z. 11ff.: „Aber ich habe ehe wo(e)llen der deutschen sprache abbrechen / denn von dem wort weichen“ (im Falle von Joh 6,27); hingegen 485, Z. 13ff.: „… den(n) ich habe deutsch / nicht lateinisch noch kriegisch reden

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eindringen und es so bereichern, oder sollen vorzugsweise die im Deutschen bereits gegebenen Möglichkeiten genutzt werden, das im Ausgangstext anders gesagte in neuer Weise aufscheinen zu lassen? Wie soll jedenfalls festgestellt werden können, wann die erste, wann dagegen die letzte Methode diejenige der Wahl ist? Wie steht es zudem mit der Verwendung oder eben dem Überspringen von Zwischenstufen – im gegebenen Fall der Bibelübersetzung etwa der Septuaginta oder der Vulgata? All dies wird von Luther zwar angesprochen, eine theoretische Lösung bietet er jedoch nicht an. Die schon von ihm benannten Möglichkeiten wurden im weiteren Gang der Überlegungen zur Übersetzungstheorie weiter verfolgt, ohne dass man zu einem eindeutigen Konzept gelangt zu sein scheint oder heute auch nur gelangen wollte. Etwas anders steht es dagegen mit den allgemeineren Absichten, die hinter der Produktion von Übersetzungen der Heiligen Schrift – sei es der ganzen, sei es von Teilen – stehen, wie wir sie etwa schon mit der später so genannten Vulgata des Hieronymus oder auch noch mit der sogenannten „Einheitsübersetzung“ vor uns haben. Beide lassen ja schon im Namen erkennen, dass es bei ihnen darum geht, einen allgemeinen, einheitlichen Übersetzungstext herzustellen, der zur Verwendung in der Liturgie, in der Theologie wie der geistlichen Schriftlesung, somit zum kirchlichen Gebrauch geeignet ist. Geeignet macht ihn dabei natürlich weniger die literarische Qualität seiner Übertragungen, sondern das, was die dogmatische Tradition seine authentia oder „Authentizität“, also seine Zuverlässigkeit genannt hat.6 Zuverlässig soll er sein in Hinblick auf das, was er vermittelt: Zwar vermittelt er als Text zunächst einmal einen anderen Text; das ist aber nur der Anfang. Zuverlässig zu vermitteln beanwo(e)llen / da ich teutsch zu reden ym dolmetzschen furgenommen hatte.“ (zu Röm 3,28) 6 Vgl. dazu die durchaus vorsichtigen Aussagen des Konzils von Trient (COD³ 664f.) sowie die Ausführungen zur zugehörigen Konzilsdebatte: J. W. O’Malley, Trent. What happened at the Council, Cambridge, Mass./London 2013, 90 – 98. Das Vaticanum II ist hier in seiner Aussage wie in seiner Wortwahl nochmals zurückhaltender; vgl. DV 22. Zum allerdings kontroversen Anweg vgl.: K. Schelkens, Catholic Theology of Revelation on the Eve of Vatican II. A Redaction History of the Schema De fontibus revelationis (1960 –1962), Leiden/Boston 2010, bes. 80.95.214.240.242. – Eine klassische Darstellung dieser Frage findet sich bei: J. B. Franzelin, Tractatus de Divina Traditione et Scriptura, Rom 41896, 473 –519.

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spruchen solche Übersetzungen eben zugleich den Gehalt ihrer Ausgangstexte und damit etwas, was diese ebenfalls schon zuverlässig zu vermitteln beanspruchten: eine in ihnen liegende, von ihnen transportierte und in Sprache gefasste Wahrheit. Ob nun diesen Unternehmungen in früheren Zeiten der durchaus problematische Begriff des „Urtextes“ bereits zur Verfügung stand oder nicht: Immerhin beabsichtigten sie zweifellos etwas ähnliches wie einen solchen ursprünglichen Text in einer erneut maßgeblichen Textfassung anderer Sprache wiederzugeben.7

3. Alles nur Übersetzung? Die Frage an das Neue Testament Nun liegt es zumindest im Falle des Neuen Testaments der christlichen Kirche auf der Hand, dass es im zweiten Teil ihrer Heiligen Schrift wesentlich und definitiv um Übersetzungen geht, und dies gerade auch schon bei dessen sogenanntem Urtext. Obwohl es diverse traditionelle Theorien über die Entstehung etwa der ersten beiden Evangelien in der kanonischen Reihenfolge gab, die semitische (oder gar lateinische) Vorlagen unterschiedlicher Art ins Spiel brachten – eines war den Christen aller Zeiten immer bewusst: Was sie in den Evangelien vorfanden, war in vielen, und gerade in vielen zentralen Passagen eine Übersetzung, kein Urtext. Allerdings müssen wir uns fragen: eine Übersetzung wovon? Eine Übersetzung etwa von Worten Jesu, von verbalen Angriffen seiner Gegner, von staunenden oder gläubigen, nicht selten aber auch verständnislosen Äußerungen seiner Jünger. Jesu Worte im Johannes-Evangelium klingen ja offenkundig so anders als diejenigen der sogenannten Synoptiker; dennoch reklamieren sie in gleicher Weise denselben Jesus und seine Wahrheit für sich. Selbst Paulus, der ja (zumindest vor allem) Griechisch sprach und schrieb, und zudem keine (oder vorsichtiger: kaum) Worte und Taten Jesu erzählt, will ja nach eigenem Bekunden nichts anderes tun, als das Evangelium (Röm 1,1) zur Sprache zu 7

Daß dies in antiken Zeiten alles andere als ein selbstverständliches Unternehmen war, macht im Blick auf die LXX deutlich: J. Joosten, „Translating the Untranslatable. Septuagint Renderings of Hebrew Idioms“, in: R. J. V. Hiebert (Hrsg.), „Translation is Required“. The Septuagint in Retrospect and Prospect, Atlanta 2010, 59 –70, 59f.

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bringen. Dieses hat Jesus selbst in zweifellos ganz anderer Ausdrucksweise zum Klingen gebracht hat; trotzdem unterstreicht Paulus mit Nachdruck, dass es ihm um die Selbigkeit Jesu und des Evangeliums geht (Gal 1,8; 2 Kor 11,4). Nicht einmal die scheinbar ursprachlichen Zitate aus dem Aramäischen, der vermutlichen Sprache Jesu, die wir an manchen Stellen des Neuen Testamentes finden, führen uns in direkter Linie zu phonetisch-semantischem Urgestein, das wir einfach für bare Münze nehmen könnten. Aus guten Gründen findet die heutige Bibelwissenschaft selbst beim angeblich ureigensten Sprachgestus Jesu Anlass, skeptisch zu sein: im Falle der Gottesanrede mithilfe des Wortes „Abba“.8 Und es spricht zwar für die Konstruktion der Identität mancher Konfessionskirchen des orientalischen Bereiches, dass sie für sich in Anspruch nehmen, in Bibel und Liturgie die Sprache Jesu zu lesen und zu benutzen.9 Historisch wie theologisch kann auch dies nur als Übersetzungsprogramm gedeutet werden. Hinzu kommt, dass – wie im Blick auf die johanneischen und paulinischen Schriften bereits angedeutet – der Kanon des Neuen Testaments, oder besser gesagt: das Neue Testament als kanonische Sammlung nicht nur berechtigt, sondern schlichtweg zwingt, den Übersetzungscharakter all dessen wahrzunehmen, was wir von Jesus, seiner Person, seinem Reden und Handeln wissen. Die irreduzible „Vierfalt“ der Evangelien im besonderen, aber auch die Vielstimmigkeit des neutestamentlichen Zeugnisses im ganzen führen uns unvermeidlich dazu, dass wir es in dieser seiner Ganzheit und Vielheit als Ursprungszeugnis des Glaubens an Jesus Christus annehmen. Alle „selektive Topographie des Wortes Gottes“10 ist damit von vornherein ausgeschlossen. Es war gerade die Methode Markions, die durch eine solche eindeutige Auswahl aus den Schriften der sich bil8

Vgl. etwa: J. Barr, „Abba isn’t Daddy“, in: Journal of Theological Studies 39 (1988), 28 – 47; ein neuerer Überblick über die Debatte findet sich bei: K.-H. Ostmeyer, Kommunikation mit Gott und Christus. Sprache und Theologie des Gebetes im Neuen Testament, Tübingen 2006, 64 – 67. 9 Vgl. W. Hage, Das orientalische Christentum, Stuttgart 2007, 164f. 10 Diese treffende Formulierung stammt von Max Seckler; leider konnte ich sie in dessen publizierten Werken nicht auffinden; allerdings gibt es auch andere, die es aus der „mündlichen Überlieferung“ entnommen zu haben scheinen: M. Limbeck, „Die Heilige Schrift“, in: W. Kern/H. J. Pottmeyer/M. Seckler (Hrsg.), Handbuch der Fundamentaltheologie, Bd. 4, Freiburg i. Br. 1988, 68 – 99, 85.

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denden Kirche in die Häresie führte und damit auf der Gegenseite zugleich die formelle Bildung eines Kanons beförderte.11 Eines Kanons, gewiss, mit einem harten Kern, aber doch auch weichen Rändern. Selbst der harte Kern ist dabei nicht einfach harmonisierbar: nicht zur immer wieder versuchten Evangelienharmonie und schon gar nicht zur eindeutigen theologischen Synthese. Auch dies ist wieder darauf zurückzuführen, dass es hier nicht um Abbildung „1:1“ geht und gehen kann, sondern naturgemäß um Übersetzung. Denn nicht erst der Übersetzer im strengen Sinn des Wortes bringt eigenes Wahrnehmen und Darstellen in den Prozess und dann auch den Text der Übersetzung mit ein: Schon die neutestamentlichen Texte selbst sind in nicht nur linguistischer Hinsicht Übersetzungen. Die Erzählung, das Bekenntnis, die predigthafte Vermittlung an die hörende Gemeinde: All dies sind im Vollzug Übersetzungsakte und im Ergebnis Übersetzungsprodukte, die trotz der gemeinsamen Bezugsgröße, dem Evangelium Jesu Christi, nie absehen können und auch gar nicht absehen wollen und sollen von der Individualität wie der kulturellen Gebundenheit all derer, die die theologische Tradition die „Hagiographen“12 nennt: die uns als Personen weitestgehend unbekannten Verfasser der im Neuen Testament gesammelten Schriften.13

4. Der andere und doch gleiche Fall des Alten Testaments Auf den ersten Blick scheint nun vieles von dem, das soeben im Blick auf das Neue Testament zu sagen war, vom Alten Testament gerade nicht zu gelten. Vor allem was die Sprache des Ausgangstextes angeht, scheint hier ja das linguistische Grundproblem, das im Fall des Neuen 11

Vgl. B. Aland, Art. „Markion“, in: LThK³ 6 (1997), 1392f.; allerdings darf man sich hierbei zu keinerlei exklusivem Erklärungsmodell verleiten lassen, wie J. Lieu, „The Enduring Legacy of Pan-Marcionism“, in: Journal of Ecclesiastical History 64 (2013), 557–561, überzeugend dargelegt hat. 12 Der heute kaum noch benutzte Terminus wurde von DV noch mehrfach aufgenommen; vgl. DV 11f. 13 Daher ist die von der Übersetzertätigkeit zumeist erwartete „performative Unauffälligkeit“ aus theologischer Sicht gerade kein Desiderat; zu diesem Terminus vgl. L. Heller, Translationswissenschaftliche Begriffsbildung und das Problem der performativen Unauffälligkeit von Translation, Berlin 2013.

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Testaments gegeben war, nicht zu existieren. Ironischerweise kürzt übrigens die deutschsprachige Translationswissenschaft den Ausgangstext ebenso ab, wie es ihre theologische Schwester mit dem Alten Testament tut: „AT“. Und in der Tat: Die heiligen Schriften der Juden sind nicht nur sprachlich als Ausgangstext christlichen Glaubens zu verstehen. Sie waren schlicht und einfach für erhebliche Zeit selbst und einzig die Heilige Schrift der Christen, dasjenige, das etwa gemeint ist, wenn das Neue Testament selbst von der „ganzen Schrift“ (Lk 24,27) spricht. Allerdings muss auch hier wieder gefragt werden: Welche heiligen Schriften? Zum Teil natürlich auch hebräische, und damit solche, deren Gestalt man in gewisser Hinsicht als ursprachlich bezeichnen könnte. Aber dies war nun keineswegs alles. Vielmehr beziehen sich bereits die ersten christlichen Generationen und gerade auch viele Texte des entstehenden Christentums und der ihm folgenden Alten Kirche auf eine Übersetzung, eine Übersetzung zudem, um deren chronologische wie linguistische Abkünftigkeit man zwar wusste, damit aber keineswegs den Gedanken verband, sie sei deswegen auch in religiöser Hinsicht zweitrangig oder gar weniger zuverlässig. Vielmehr las, verstand und benutzte man sie in griechisch sprechenden jüdischen Kreisen als Heilige Schrift, und solchermaßen führte es die frühe Kirche weiter.14 Dass es dabei aus verschiedenen Gründen nicht blieb, steht auf einem anderen Blatt.15 Dies braucht aber hier ebenso wenig erörtert zu werden, wie von weiteren, weder hebräischen noch griechischen Versionen oder bereits ursprünglich auf Griechisch abgefassten Schriften gesprochen werden muss. Immerhin verblieb ein erheblicher Teil des östlichen Christentums bei (verschiedenen Varianten) der Septuaginta als der von ihm gebrauchten Heiligen Schrift, und die vom lateinischen Westen mehrheitlich rezipierte Vulgata bezog sich zwar teilweise auf die hebraica veritas, war aber natürlich erneut eine Übersetzung.16 14

Vgl. M. Tilly, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005, 45 – 48.100 –112. Zur altkirchlichen Sprachenvielfalt vgl. den Überblick bei: P. Bruns, „Kult(ur)und Volkssprachen in der Alten Kirche“, in: Forum Katholische Theologie 29 (2012), 241–250. 16 Zu den durchaus gespannten und bis heute spannenden Debatten im Laufe der Hauptepochen der Kirchengeschichte vgl. z. B. U. Heil, Art. „Hieronymus (AT)“, in: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/21182/ (letzter Zugriff: 13.6.13); A. Fürst, „Veritas latina. Augustins Haltung gegenüber Hieronymus’ Bibelübersetzung“, in: Revue des Études Augustiniennes 40 (1994), 105 –126; 15

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5. Welche Sprache spricht Gott? Auch der hebräische Bibeltext selbst, in welcher Rezension auch immer, spricht ja nicht einfach die Sprache Gottes. Was und wie im Himmel, also im göttlichen Bereich, gesprochen wird, war zwar immer wieder Gegenstand frommer wie gelehrter Spekulation.17 Umgekehrt behauptet aber auch das den Herrn gleichsam zitierende „Wort Gottes“ nicht, es gebe in phonetischer, semantischer oder grammatischer Weise unmittelbar wieder, was von Gott her auszurichten befohlen wurde.18 Es spricht eben nicht die Bibel die Sprache Gottes, auch nicht das Alte Testament, auch nicht der eine oder andere prophetische Einzeltext. Es kann immer nur umgekehrt sein: Gott spricht, um sich vernehmbar zu machen, die Sprache des Menschen.19 Und er spricht daher immer die Spra-

C. Linde, How to Correct the ‚Sacra Scriptura‘? Textual Criticism of the Bible between the Twelfth and the Fifteenth Century, Oxford 2012; F. Domínguez Reboiras, „Kontroversen um die hebraica veritas im frühneuzeitlichen Spanien“, in: C. Bultmann/L. Danneberg (Hrsg.), Hebraistik – Hermeneutik – Homiletik. Die „Philologia Sacra“ im frühneuzeitlichen Bibelstudium, Berlin 2011, 299 –339. 17 Vgl. z. B. aus der älteren Literatur: H. Güntert, Von der Sprache der Götter und Geister. Bedeutungsgeschichtliche Untersuchungen zur homerischen und eddischen Göttersprache, Halle 1921. 18 Vgl. dazu die immer noch lesenswerte, bei Alois von Schmid und Otto Bardenhewer angefertigte Dissertation: F. Leitner, Die prophetische Inspiration. Biblisch-patristische Studie, Freiburg i. Br. 1896, 53 –56. Zu hochinteressanten außerchristlichen Debatten zu diesem Thema vgl. S. Schreiner, Die jüdische Bibel in islamischer Auslegung, hrsg. v. F. Eißler/M. Morgenstern, Tübingen 2012, 120 –128. 19 Vgl. J. Wohlmuth, Die Tora spricht die Sprache der Menschen. Theologische Aufsätze und Meditationen zur Beziehung von Judentum und Christentum, Paderborn u. a. 2002, bes. 11.36 – 40; der Band mit dem in etwa gleichlautenden Zitat als Titel: „Dieu parle la langue des hommes“. Études sur la transmission des textes religieux, hrsg. v. B. Bakhouche/Ph. Le Moigne, Lausanne 2007, scheint weder von diesem Thema im engeren Sinn zu handeln, noch löst er die Frage nach der Herkunft dieser Formulierung auf; A. Mojola, God Speaks Our Language: A History of Bible Translation in East Africa, 1844 – Present, Rom/ Manchester 2012, hat hingegen eine etwas andere, jedoch mit unserer verbundene Frage im Blick: diejenige nach der unaufhebbaren und nichtkolonisierbaren Vielfalt der „Weiterübersetzung“, die die „Primärübersetzung“ des Sprechens Gottes, welche die biblischen Schriften in ihren Urtexten bilden, in alle Sprachen der Welt vermittelt.

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che dessen, den er anspricht.20 Genau dies ist es, was die theologische Tradition die „Kondeszendenz“ Gottes in seiner Offenbarung genannt hat.21 Wenn Gott spricht, dann bedient er sich irdisch beschränkter Mittel, und dies gilt selbst dann, wenn er, wie etwa Ps 29 es ausdrückt, sich im Donner oder im Erdbeben äußert, oder umgekehrt, wie 1 Kön 19 es andeutet, in der Stille. Es gilt umso mehr, wenn Menschen darangehen, das Ausrichten des Gotteswortes in menschliche Sprache zu gießen, in der Vielfalt der ihnen zu Gebote stehenden gattungsmäßigen, metaphorischen und stilistischen Mittel.22 Eine Garantie des Gelingens dieses permanenten Übersetzungsprozesses steht dem „Hagiographen“ dabei ebenso wenig zu Gebote wie dem Hörer und Leser, der seinen Rezeptionsprozess ebenfalls nie anders denn als Übersetzung anlegen und verstehen kann, ob er nun die Sprache des „AT“ spricht oder nicht. Auf Garantien irdischer Art hat der christliche Glaube daher auch nie gesetzt: weder auf die Expertise philologisch-historischer Wissenschaft noch auf die Eindeutigkeit der Entsprechung von Text und Sache. Dies gilt selbst für diejenigen christlichen Traditionen, die von der Selbstauslegung des Textes23 oder gar von einer materialen Identität von menschlichem Text und Gottes Wort sprechen.24 Denn auch in deren Sicht ist all dies keine Wirkung des

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Eine der schönsten sprachlichen Gestaltungen dieses Gedankens findet sich im Genesis-Kommentar des Petrus Johannis Olivi: Loquitur enim de Deo humano more, quasi mater balbutiens cum infantulis suis, ut sic eos pedetemptim doceat loqui. In: Peter of John Olivi on Genesis, hrsg. v. D. Flood, St. Bonaventure 2007, 123. 21 Vgl. DV 13, wo das Motiv der condescensio knapp entfaltet und seine Verwurzelung in der Tradition mit einem Zitat aus Johannes Chrysostomus belegt wird. 22 Vgl. DV 12, wo von den genera litteraria und genera dicendi gesprochen wird, von der temporis et culturae condicio, von den modi sueti nativi sentiendi, dicendi, narrandive. 23 Zum lutherischen Motto sacra scriptura sui ipsius interpres vgl. B. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 207f. 24 Gegen ein solch verengtes Verständnis einer Verbalinspiration vgl. etwa die bedeutsamen Ausführungen bei: E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 1977 u.ö., 209f.: Die biblischen Texte „… reden von Gott, weil sie, indem sie die Geschichte seiner Menschlichkeit zur Sprache bringen, an dieser Geschichte partizipieren, in ursprünglicher Sachlichkeit. Zu dieser Sach-

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Textes selbst oder seiner irdischen Verfasser, sondern des in ihnen, mit ihnen und durch sie wirkenden Gottesgeistes.25 Zwar können wir also keinen sprechenden Gott vernehmen – dies gilt im Übrigen auch für Christus: für ihn selbst, wie für die, die ihn hören –, aber in der Kraft des Geistes können wir den die Sprache des Menschen sprechenden Gott hören.26

6. Jesus Christus: Die Sprache, in die Gott sich übersetzt Mit dem Christus-Titel sind wir schon zu einem weiteren, vorletzten Thema gelangt. Ob wir nun den für die Christen exklusiven Träger dieser Titulatur den Sohn, den mit dem Finger Gottes operierenden Reichsboten oder das menschgewordene Gotteswort nennen: Immer ist es derselbe Grundgedanke. In ihm – und eben nicht allein und schon gar nicht primär in Äußerungen sprachlicher Art, und seien sie noch so kostbar und wahrheitshaltig – spricht Gott menschlich lichkeit gehört jedoch eine Einschränkung, die angebracht werden muß. Sie besagt, daß sich Gott auch in diesen Texten nicht unmittelbar als Gott erschließt. Die neutestamentlichen Texte sind bereits Folgen der Selbsterschließung Gottes. Und die alttestamentlichen Texte sind von diesen Folgen sozusagen eingeholte Wege zu diesen hin. Die biblischen Texte sind zwar als fixierte Traditionsprozesse … eine unersetzbare Wirklichkeit. Sie wissen sich jedoch selber von diesem Ereignis, gerade indem sie von ihm reden, streng unterschieden. Sie sprechen nicht die Sprache Gottes, sondern unsere menschliche Sprache. Aber sie sprechen, indem sie die Grenzen unserer Sprache nicht verlassen, davon, daß Gott selber gesprochen hat. Sie geben Gott als einen Redenden zu erkennen. Indem sie das tun, wehren sie allerdings dem Mißverständnis, als sei die Bibel selbst ein redender Gott. Scriptura sacra non est dei loquentis persona!“ Dieser Gedanke gilt auch dann, wenn man darin die eigenständige Bedeutung des Alten Testaments vielleicht doch als unterbestimmt betrachtet und den etwas intellektualistisch klingenden Terminus „Selbsterschließung“ lieber durch den der „Selbstmitteilung“ oder „Selbstgabe“ ersetzt sehen möchte. 25 Daher kann und muss die Heilige Schrift, „… in demselben Geist [im lat. Original groß geschrieben!], in dem sie geschrieben wurde“ (DV 12), auch gelesen und verstanden werden. 26 Dies wäre u.U. noch etwas stärker zu betonen im Blick auf die ansonsten äußerst ansprechenden, teilweise durch Hamann inspirierten Gedanken, die Joachim Ringleben unter dem Titel „Jesus – der Exeget der Vatersprache“ und besonders im Zusatz „Jesus der Hermeneut“ formuliert, in: Ders., Jesus: ein Versuch zu begreifen, Tübingen 2008, 226 –236.

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zu den Menschen.27 Er ist ganz Wort, ganz Anrede.28 Er ist – wie die Schrift, die von ihm zeugt, und daher natürlich in jeder Hinsicht „vor“ ihr – vere verbum Dei.29 Und selbst er ist es nicht unmittelbar, denn dann stünden wir ihm nicht nur teilweise, sondern restlos ratlos gegenüber. Den garstig breiten Graben überwindet der sprechende Gott von sich aus, indem er über-setzt, indem er sich übersetzt. Er übersetzt sich in wahrhaft menschliches Dasein, Dei loquentis persona.30 Auch dies ist, wie schon das Entstehen und Verstehen der Heiligen Schrift, nur denkbar in der Kraft des Geistes, der diesem Gotteswort in Person zu irdischer Präsenz verhilft, es in dieser erhält und es auch in deren eigenem Ende nicht untergehen lässt. Und

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„… durch Christus, das fleischgewordene Wort … in Taten und Worten … durch seine ganze Gegenwart und Verkündigung [tota Suiipsius praesentia ac manifestatione], durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine glorreiche Auferstehung von den Toten …“ (DV 4); auch das schöne Wort aus DV 12, „durch Menschen nach Menschenart gesprochen“, das an dieser Stelle natürlich von der Heiligen Schrift ausgesagt ist, gilt daher zuvörderst vom menschgewordenen Gotteswort selbst. Dies sagt derselbe Text etwas später: „Denn Gottes Worte, durch Menschenzunge ausgedrückt, sind menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst des Ewigen Vaters Wort durch die Annahme des Fleisches menschlicher Schwachheit den Menschen ähnlich geworden ist.“ (DV 13) – Die Fragestellung, ob man neben oder gar vor die Wortoffenbarung ausdrücklich auch die Tatoffenbarung stellen sollte, war übrigens in der diese Passagen vorbereitenden Unterkommission der Theologischen Konzils-Kommission durchaus umstritten; während etwa Sebastiaan Tromp SJ, der Sekretär der Kommission, Mitarbeiter des Heiligen Offiziums und langgedienter Professor an der Gregoriana, vehement die eindeutige Vorrangigkeit des Wortes verteidigte, brachte der englische Konvertit, Abt und Exeget Christopher Butler OSB ebenso nachdrücklich die gegenteilige Ansicht ins Spiel; zwar konnte er sich bei dieser Gelegenheit noch nicht durchsetzen, der endgültige Text trägt aber seiner Sicht der Dinge Rechnung. Vgl. die Aufzeichnungen zweier Augen- und Ohrenzeugen zum 21./22.4.1964: Y. Congar, Mon Journal du Concile, hrsg. v. É. Mahieu, Paris 2002, Bd. 2, 65f.; U. Betti, Diario del Concilio. 11 ottobre 1962 – Natale 1978, Bologna 2003, 38 – 40. 28 Vgl. H. U. von Balthasar, „Gott redet als Mensch“, in: Ders., Verbum Caro. Skizzen zur Theologie I, Einsiedeln 1960, 73 – 99, bes. 90f. 29 DV 24, hier wiederum von der Schrift ausgesagt. Es ist daher alles andere als zutreffend, wenn Karl-Heinz Menke in seiner polemischen Schrift: Sakramentalität. Wesen und Wunde des Katholizismus, Regensburg 2012, von „der katholischen Tradition“ behauptet: „Diese bezeichnet nur Christus als Wort Gottes, nicht aber die Heilige Schrift.“ (Ebd., 71) 30 Vgl. E. Jüngel, Gott (s. Anm. 24), 210.

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auch die Lesbarkeit dieser Übersetzung beruht nicht auf dem hermeneutischen Vermögen religiöser Virtuosen, sondern wiederum auf derselben Gotteskraft, die nun nicht, wie das Wort, dem Menschen entgegentritt, sondern in ihm wirkt: „Niemand kann sagen, Jesus Christus ist der Herr, außer im Heiligen Geist.“ (1 Kor 12,3)

7. Ein letzter Schritt? Trinitätstheologische Perspektiven Der christliche Glaube kann es hierbei zweifellos bewenden lassen. Die Theologie hat dagegen eine Art sancta curiositas, falls es so etwas gibt. Sie versucht auch hier noch einen Schritt weiter zu kommen. Zumindest kann sie dies im Modus der Frage tun. Wenn denn Karl Rahners sogenanntes Axiom31 gilt, dass nämlich Gott in seiner Selbstmitteilung kein anderer ist und sein kann als der sich mitteilende Gott selbst, und wenn dies trinitätstheologisch gewendet heißt, dass die Art und Weise der heilsgeschichtlichen Begegnung zugleich etwas sagt über das innere Leben Gottes selbst, das ja der Grund dieser Selbstgabe ist, dann ließe sich dem Modell der Übersetzung vielleicht noch ein weiterer Aspekt abgewinnen: Gott übersetzt sich in die Welt des Menschen im Wort und im Geist. Sein Wort ist es, das hörbar und sichtbar erscheint, „vielfach und auf vielerlei Weise“ zunächst, „zuletzt im Sohn“ (Hebr 1,1). Sein Geist ist es, der dieses Hören und Sehen ermöglicht. Aber gibt es nicht in all dem eine Dimension, in der in einem präzisen Sinn alles „Hören und Sehen vergeht“? Ist es nicht gerade das, besser: der, den die Heilige Schrift, und den auch Jesus – in welcher Sprache und mit welchem Wort auch immer – den Vater nennt? Dieser erscheint nicht. Er ist „… immer der Unsagbare, das heilige Geheimnis“.32 Er ist es aber nicht auf die immer wieder einmal bedachte Weise göttlicher Restverschlossenheit.33 Er gibt sich ganz, aber er gibt

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Vgl. K. Rahner, Grundkurs des Glaubens. Studien zum Begriff des Christentums, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 26, Zürich u. a. 1999, 135f. 32 Ebd., 135. 33 Vgl. dazu: G. Wenz, „Für uns gegeben. Grundzüge lutherischer Abendmahlslehre im Zusammenhang des gegenwärtigen ökumenischen Dialogs“, in: Ders. u. a., Mahl des Herrn. Ökumenische Studien, Frankfurt a.M./Paderborn, 223 –338, 305.

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sich ganz im Sohn durch den Geist. Daher übersetzt der sogenannte ungläubige Thomas in seinem erstaunlichen Bekenntnis es recht, wenn er angesichts des Auferstandenen ausruft: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28); aber er tut dies gleichsam im Modus der Rückübersetzung aus dem Zieltext (den er vor sich hat) in den Ausgangstext (den er in ihm erkennt).34 Dieser bleibt Ausgangstext, Quelle und Ursprung der ganzen Gottheit, wie die Väter gesagt hätten.35

34 Vgl. meine Ausführungen hierzu: „Communio. A Problematic Keyword of Contemporary God-Talk“, in: N. Hintersteiner (Hrsg.), Naming and Thinking God in Europe Today. Theology in Global Dialogue, Amsterdam/New York 2007, 365 –374. 35 Vgl. die bekenntnishafte Zusammenfassung altkirchlicher Trinitätslehre durch die 11. Synode von Toledo (675) in DH 525 –532, 525: Fons ergo ipse [= Pater] et origo est totius divinitatis.

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Die Bibel in der Liturgie Sondierungen zu Dei Verbum 21 am Beispiel von Dan 3* Ansgar Franz

Im 21. Kapitel der dogmatischen Konstitution Dei Verbum heißt es: „Die Kirche hat die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes Gottes wie des Leibes Christi ohne Unterlaß das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reicht“. In einer prominenten lateinisch-deutschen Ausgabe der Konzilsdokumente, in der 2. Auflage des „Lexikon für Theologie und Kirche“, kommentiert der damalige Tübinger Dogmatiker Joseph Ratzinger diese Aussage wie folgt: „Der Text [der dogmatischen Konstitution] unterstreicht damit noch einmal, was schon durch die Liturgiekonstitution deutlich gemacht worden war: daß die Liturgie des Wortes nicht eine mehr oder minder verzichtbare Vormesse, sondern grundsätzlich gleichen Ranges mit der im engeren Sinn sakramentalen Liturgie ist; daß die Kirche als Gemeinschaft des Leibes Christi gerade auch Gemeinschaft des Logos ist, vom Wort her lebend, so daß ‚Fleisch‘ und ‚Wort‘ die beiden Weisen sind, wie der ‚Leib Christi‘, des fleischgewordenen Wortes, auf uns zukommt und unser ‚Brot‘ wird.“1 * Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines in italienischer Sprache gehaltenen Vortrags auf dem Kongress „Die Heilige Schrift im Leben der Kirche. 40 Jahre Dei Verbum“ (Rom, September 2005); die „Mündlichkeit“ ist weitgehend beibehalten. 1 Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung, Sechstes Kapitel. Kommentar von J. Ratzinger, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 13: Das Zweite vatikanische Konzil. Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen. Kommentare, Teil II, 21986, 572. Zu der Parallelisierung der beiden „Tische“, der des Wortes und der des Herrenleibes, die in der nachkonziliaren Theologie zur Rede von der „Sakramentalität des Wortes“ geführt hat (mit dem derzeit letzten Höhepunkt in dem nachsynodalen apostolischen Schreiben Benedikts XVI. „Verbum

382

Ansgar Franz

Die Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium, auf die der Kommentar Ratzingers verweist, hatte die Bedeutung der Bibel für die Liturgie gleich zu Beginn hervorgehoben, wo vom Wesen des Gottesdienstes die Rede ist (SC 6f.). In einem der Erneuerung der Liturgie gewidmeten Abschnitt präzisiert sie: „Von größtem Gewicht für die Liturgiefeier ist die Heilige Schrift. Aus ihr werden nämlich Lesungen vorgetragen und in der Homilie ausgedeutet, aus ihr werden Psalmen gesungen, unter ihrem Anhauch und Antrieb sind liturgische Gebete, Orationen und Gesänge geschaffen worden, und aus ihr empfangen Handlungen und Zeichen ihre Bedeutung. Um daher Erneuerung, Fortschritt und Anpassung der heiligen Liturgie voranzutreiben, muß jenes innige und lebendige Ergriffensein von der Heiligen Schrift gefördert werden, von dem die ehrwürdige Überlieferung östlicher und westlicher Riten zeugt“ (SC 24).2 Im Folgenden soll diese von den beiden Konzilsdokumenten hervorgehobene Bedeutung der Bibel für die Liturgie an einem konkreten Beispiel veranschaulicht werden, nämlich an jener Geschichte aus dem 3. Kapitel des Buches Daniel, das von dem Geschick und dem Gesang der drei Jünglinge im Feuerofen erzählt.3 Das Beispiel bietet Domini“ über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche vom 30. September 2013) vgl. A. Franz, Das theologische Verständnis der Auswahl von Verkündigungstexten für die Liturgie, in: B. Jeggle-Merz/B. Kranemann (Hrsg.), Liturgie und Konfession. Grundfragen der Liturgiewissenschaft im interkonfessionellen Gespräch, Freiburg i. Br. 2013, 17–28, 18 –21; J. Baumgartner, Das Wort, das in der Liturgiefeier zum Sakrament wird, in: J. Schreiner (Hrsg.), Freude am Gottesdienst. Aspekte ursprünglicher Liturgie (FS Josef Plöger), Stuttgart 1983, 155 –173. 2 Zu Artikel 24 der Liturgiekonstitution vgl. neuerdings A. Zerfaß/A. Franz (Hrsg.), Wort des lebendigen Gottes. Liturgie und Bibel (Pietas Liturgica 16), Tübingen/Basel 2014 (im Druck). 3 Aus der Fülle der Literatur zu Dan 3 sei hier nur verwiesen auf M. Mark, Der Lobgesang der drei jungen Männer, in: Trierer Theologische Zeitschrift 107 (1998) 45 – 61; J. Hennig, Zur liturgischen Tradition der Jünglinge im Feuerofen, in: Heiliger Dienst 22 (1968) 151–156; P. Carmassi, „Mysterium magnum factum est in Babylonia“. Ausführungen zum Ambrosianischen Fest der Drei Jünglinge und seine patristischen Hintergründe, in: Ecclesia Orans 15 (1998) 323 – 402; F. M. Kulczak-Rudiger/P. Terbuyker/M. Perkams/H. Brakmann, Art. „Jünglinge im Feuerofen“, in: Reallexikon für Antike und Christentum 19 (2001) 346 –388; K. Bracht/D. S. du Toit (Hrsg.), Die Geschichte der Danielauslegung in Juden-

Die Bibel in der Liturgie

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sich aus verschiedenen Gründen für eine exemplarische Begehung an: 1. Die liturgische Tradition kennt diese biblische Erzählung in drei grundlegenden Zyklen der Konkretisierung des Pascha-Mysteriums4, nämlich im Tages-, Jahres- und Lebenskreis. 2. Die Erzählung bzw. das Motiv der drei Jünglinge ist in drei für die Liturgie grundlegenden Gattungen präsent, nämlich als Lesung, als Gesang und als Gebet. 3. Neben diesen formalen Gründen ist die Erzählung aus Dan 3 auch von ihrem Inhalt her als Beispiel geeignet, denn sie mündet in die Aufforderung zum Lobpreis Gottes, auf den auch alle Liturgie ausgerichtet ist. Doch die Bibel verschweigt nicht, dass der Lobpreis, den die Kirche in der Zeit zwischen Pfingsten und der Parusie darbringt, mitten in den Bedrängnissen und Widrigkeiten dieser Welt dargebracht werden muss. Auch die Gläubigen haben Anteil an der Schöpfung, die, wie Paulus sagt, gegenwärtig in Wehen liegt und seufzt (Röm 8). 4. Die Perikope Dan 3 ist geeignet, exemplarisch auf ein grundsätzliches Problem der derzeitigen Leseordnung, dem Ordo Lectionum Missae, hinzuweisen.

tum, Christentum und Islam. Studien zur Kommentierung des Danielbuches in Literatur und Kunst (BZAW 371), Berlin 2007; K. Wessel, Art. „Daniel“, in: Lexikon des Mittelalters III (1986), 535 –537; ders., Art. „Jünglinge im Feuerofen“, in: Reallexikon zur Byzantinischen Kunst III (1978), 668 – 676; grundlegend A. Albert-Zerlik, Rezeption biblischer Themen in Liturgie und Dichtung am Beispiel der Erzählung von den drei Jünglingen im Feuerofen (Dan 3), in: A. Zerfaß/ A. Franz (Hrsg.), Wort (s. Anm. 2). 4 Zum Begriff „Pascha-Mysterium“ und seine Bedeutung für das konziliare Liturgieverständnis vgl. H. Volk, Theologische Grundlagen der Liturgie. Erwägungen nach der Constitutio De Sacra Liturgia, Mainz 1964, 81; Österliches Heilsmysterium. Das Paschamysterium – Grundmotiv der Liturgiekonstitution. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von T. Bogler (Liturgie und Mönchtum 36), Maria Laach 1966; A. A. Häußling, „Pascha-Mysterium“. Kritisches zu einem Beitrag in der dritten Auflage des Lexikon für Theologie und Kirche, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 41 (1999) 157–165; J. Bärsch, Paschamysterium. Ein „Leitbegriff“ für die Liturgietheologie des Westens aus österlichem Erbe. Vortrag auf der GSCO-Jahrestagung 2010 (Gesellschaft zum Studium des christlichen Ostens) 23./24. April 2010 in Eichstätt (http://www.ku.de/fileadmin/110503/Paschamysterium_Vortrag.pdf; letzter Zugriff: 15.2.2014).

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Besuchen wir nun in gebotener Kürze zunächst drei exemplarische Orte, an denen die biblische Erzählung der drei Jünglinge in der Liturgie rezipiert wurde.

1. Dan 3 als Lesung der Pascha-Vigil Neben dem Herrenmahl am Sonntag als Wochengedächtnis der Auferstehung des Gekreuzigten begehen die christlichen Gemeinden das Jahresgedächtnis des Pascha-Mysteriums in Gestalt einer Nachtwache, deren erste Phase durch Wachen, Gebet und einen ausgedehnten Lesegottesdienst charakterisiert ist und auf den als zweite Phase das österliche Mahl folgt.5 Spätestens seit dem 4. Jh. gehört die Lesung aus Dan 3 zum Grundbestand der Vigil-Lesungen und findet Verbreitung in den meisten Riten des Ostens und Westens. Die folgende Übersicht zeigt die Leseordnungen der Jerusalemer und byzantinischen Tradition als Beispiele für die morgenländischen Kirchen, sowie die spanische, gallische und römische Tradition als Beispiele für die abendländischen Kirchen.6 Morgenland

Abendland

Jerusalem (5. Jh.)

Byzanz (8. Jh.)

Spanien (11. Jh.)

Gallien (7./8. Jh.)

Rom (8. Jh.)

Gen 1

Gen 1

Gen 1

X

Gen 1

Gen 22

Jes 60

Gen 2

X

Gen 5

Ex 12

Ex 12

Jes 55

Gen 7

Gen 22

Jona 1– 4

Jona 1– 4

Gen 5

Gen 22

Ex 14

Ex 14

Jos 5

Ex 13 –15

Gen 27

Jes 54

5

Vgl. H. Auf der Maur, Die Osterfeier in der Alten Kirche. Aus dem Nachlass herausgegeben von R. Meßner und W.G. Schöpf. Mit einem Beitrag von C. Leonhard (Liturgica Oenipontana 2), Münster 2003, 100 –111. 6 Vgl. A. Baumstark, Nocturna Laus. Typen frühchristlicher Vigilienfeier und ihr Fortleben vor allem im römischen und monastischen Ritus (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 32), Münster 1957, 34 –104, speziell 46f.; H. Auf der Maur, Feiern im Rhythmus der Zeit I. Herrenfeste in Woche und Jahr (Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft 5), Regensburg 1983, 72–77.

Die Bibel in der Liturgie

385

Jes 60

Ex 13 –15

Gen 22

Ex 12

Bar 3

Ijob 38

Weih 3

Dtn 31–32

Ex 13 –15

Ez 37

2 Kön 2

1 Kön 17

Gen 27

Ez 37

Jes 4

Jer 38

Jes 61

Ex 12

Jes 1–5

Ex 12

Jos 1

Gen 22

2 Chr 34f.

Jos 3f.

Jona 3

Ez 37

Jes 61

Ez 27

Jona 1–3

Dtn 31

Dan 3

2 Kön 4

Dan 3

Dan 3

Dan 3

Jes 63 Jer 38 Dan 3

Auswahl und Anordnung der alttestamentlichen Lesungen sind zu einem gewissen Grad variabel, doch zeigt sich ein gemeinsamer Grundbestand, der allen fünf aufgeführten Traditionen eigen ist: Gen 1 (die Schöpfung), Gen 22 (die Bindung Isaaks), Ex 12 (das Pascha mit dem Vorübergang des Würgeengels), Ex 14 (die Rettung am Schilfmeer) und Dan 3.7 Bemerkenswert ist, dass alle Ordnungen Dan 3 an das Ende des vigilaren Wortgottesdienstes stellen. Ein Motiv hierfür dürfte darin liegen, dass ursprünglich mit der letzten Lesung und ihrem Canticum der Einzug der Neugetauften vom Baptisterium in die Kirche stattfand. Die Gemeinde empfing ihre neuen Schwestern und Brüder also mit der Zusicherung, dass die Treue im Bekenntnis zu Gott und der noch in äußerster Bedrängnis vollzogene Lobpreis am Ende doch – allen irdischen Mächten und Gewalten zum Trotz – zu Erlösung und Befreiung führen wird. Das Beispiel zeigt deutlich die Dimension liturgischer Schriftlesung: Die Verkündigung der Bibel im Wortgottesdienst ist nicht ein-

7 Vgl. A. Baumstark, Nocturna Laus (s. Anm. 6), 48f., der in der Zusammenschau weiterer, auch syrischer Traditionen zu dem Schluss kommt: „Im einzelnen stand von Hause aus fest die Eröffnung der Lesungen der Osternacht durch den Bericht über Schöpfung und Sündenfall und ihr Abschluss durch die Erzählung von den drei Jünglingen im Feuerofen. Zwischen diesen Endpunkten haben mindestens das Isaakopfer, der Auszug aus Ägypten und Jonas nicht weniger unverbrüchliche Gegenstände der Lesung gebildet.“

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fach die Verlesung frommer Geschichten oder die Erörterung lebensrelevanter Themen zur Erbauung und Belehrung, sondern sie ist die anamnetische Proklamation der mirabilia Dei, der Heilstaten Gottes, als einer im Glauben zu ergreifenden Gegenwart.8 Durch die rituell inszenierte Schriftlesung wird die jeweils gegenwärtige Zeit der feiernden Gemeinde mit der in der Bibel kodierten Heilszeit identifiziert. Diese biblische Heilszeit erstreckt sich von der Schöpfung bis zur Vollendung, von der Genesis bis zur Apokalypse. Das Hier und Heute der Gemeinde wird, so könnte man sagen, in die Heilszeit der Bibel vergegenwärtigt. Ausdrücklich ins Wort gehoben wird diese Dimension der Schriftverkündigung in der Feier des jüdischen Pessach-Mahles, wo es nach der Haggadah, der Erzählung von der Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens, heißt: „In jeder Generation soll jeder Mensch sich so betrachten, als sei er selbst aus Ägypten ausgezogen, denn es steht geschrieben: ‚Und du sollst deinem Kind an jenem Tag folgendes erzählen: Dies geschieht wegen der Taten, die der Ewige an mir getan hat, als ich aus Ägypten ausgezogen bin‘ (Ex 13,8). Nicht unsere Vorfahren allein hat Gott – Gottes Heiligkeit sei gepriesen! – erlöst, sondern mit ihnen erlöst Gott auch uns, denn es steht geschrieben: ‚Euch habe ich von dort herausgeführt, um euch in das Land zu bringen, das ich euren Vorfahren versprochen habe zu geben‘ (Dtn 6,23).“9

8 Vgl. etwa A A. Häußling, Liturgie: Gedächtnis eines Vergangenen und doch Befreiung in der Gegenwart, in: Ders. (Hrsg.), Vom Sinn der Liturgie. Gedächtnis unserer Erlösung und Lobpreis Gottes (Schriften der Katholischen Akademie in Bayern 140), Düsseldorf 1991, 118 –130; R. Meßner, Der Wortgottesdienst der Messe als rituell inszenierte Christusanamnese, in: Heiliger Dienst 66 (2012) 171–185; A. Franz, Kirchenlied und Heilige Schrift, in: Theologie der Gegenwart 48 (2004/5) 275 –280; ders., Die Bedeutung der Bibel für die Liturgie. Ortbesichtigungen am Beispiel von Ps 23, in: Bibel und Kirche 4 (2009) 233 –238. 9 Die Pessach Haggada, hrsg. von M. Shire mit Illustrationen aus Handschriften der Britisch Library, Berlin 2001, 36. In der christlichen Liturgie wird diese Dimension der Vergegenwärtigung etwa durch das liturgische „heute“ ins Wort gehoben; so beginnt das Tagesgebet am Ostersonntag mit „Gott, der du uns am heutigen Tag durch deinen Sohn, nachdem er den Tod besiegt hat, den Zugang zum ewigen Leben erschließt“; in der Magnificat-Antiphon der 2. Weihnachtsvesper heißt es: „Heute ist Christus geboren, heute ist der Retter erschienen; heute singen die Engel auf Erden …, heute jubeln die Gerechten“.

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Nicht die drei Jünglinge allein hat der Ewige aus dem Glutofen befreit, sondern mit ihnen befreit er auch uns.

2. Dan 3 als Canticum des sonntäglichen Morgengebetes Diejenigen Cantica, die als Teil der Schriftlesungen in der Pascha-Vigil verkündet werden, finden ab dem 4. Jh. Eingang in das tägliche Morgengebet.10 Das Gebet am Ende der Nacht erhält auf diese Weise eine Erinnerung an die Osternacht, jeder Morgen wird zur Anamnese des Auferstehungsmorgens. Während die byzantinische Tradition die tägliche Rezitation mehrerer Cantica hintereinander vorsieht,11 verteilt die römische Tradition die Cantica auf die einzelnen Wochentage. Das Canticum aus Dan 3 erhält dabei den herausgehobenen Platz der Sonn- und Festtage:12 Vor den Lobpsalmen 148 –150 „Laudate Dominum“ erklang das Canticum trium puerorum „Benedicite omnia opera Domini Domino: laudate et superexaltate eum in saecula“. Durch die Herauslösung des Canticums aus der Osternachtlesung wird die Aufforderung zum Lobpreis zwar von dem Erzählzusammenhang des Danielbuches getrennt, doch bleibt das Geschick der drei Jünglinge durch die das Canticum rahmenden Antiphonen präsent. Während diese im Westen eher knapp und nüchtern sind – etwa: „Die drei im Glutofen riefen wie aus einem Munde und sangen: Gepriesen ist Gott“13 –, kennt die Ostkirche poetisch entfaltete 10

Vgl. die immer noch grundlegende Studie von H. Schneider, Die altlateinischen biblischen Cantica (Texte und Arbeiten 1,29 –30), Beuron 1938, 4 –17, 58 –75; weiterhin Ders., Die biblischen Oden im christlichen Altertum, in: Biblica 30 (1949) 28 – 65; ders., Die biblischen Oden seit dem 6. Jahrhundert, in: ebd., 239 –272; ders., Die biblischen Oden im Mittelalter, in: ebd., 479 –500; J. Mearns, The Canticles of the Christian Church Eastern and Western in Early and Medieval Times, Cambridge 1914. 11 Vgl. R. Taft, The Liturgy of the Hours in the Christian East: Origins, Meaning, Place in the Life of the Church, Kerala o.J., 199 –221; H.-J. Schulz, Liturgie, Tagzeiten und Kirchenjahr des byzantinischen Ritus, in: W. Nyssen/H.-J. Schulz/ P. Wiertz (Hrsg.), Handbuch der Ostkirchenkunde II, Düsseldorf 1971, 57– 65. 12 Vgl. H. Schneider, Cantica (s. Anm. 10), 62. 13 R.-J. Hesbert, Corpus Antiphonalium Officii III (Rerum Ecclesiasticarum Documenta, Series Maior, Fontes IX), Roma 1968, Nr. 5176: „Tres ex uno ore clamabant in camino ignis et psalebant: Benedictus Deus“.

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Formen wie etwa die folgende aus dem Pfingstkanon des Kosmas Monachos: „Die heiligen drei Jünglinge, die in den Feuerofen geworfen waren, wandelten durch Hymnengesang in Tau die Glut, indem sie riefen: Gepriesen bist du, Herr, Gott unserer Väter“.14 Begegnet den Gläubigen in der Pascha-Vigil die Lesung von den drei Jünglingen als eine im hörenden Vollzug anzunehmende Proklamation der mirabilia Dei, so treffen sie im Morgengebet auf das Canticum der drei Jünglinge als einen im meditierenden Vollzug aufzunehmenden Gesang. Die Betenden müssen selbst den Text im Singen erstehen lassen,15 ihm einen Klangleib geben, ihn durch ihren Atem zum Leben erwecken. Auch dies ist ein Akt der Vergegenwärtigung: Zusammen mit den drei Jünglingen im Feuerofen singen die Gläubigen, als seien sie schon befreit. Im Vollzug des Lobgesangs werden die Singenden von einer Zukunft berührt, die im Vergangenen gründet.16 Durch die singende Stimme wird solche Zukunft präsent gesetzt und wird insofern evident: „Sie wandelten durch Hymnengesang in Tau die Glut“, wie es in der ostkirchlichen Antiphon heißt. Aus dem Hymnengesang, dem Lobpreis Gottes, erwächst eine Kraft, die die Gegenwart verändert.

14

Übersetzung nach K. Kirchhoff, Osterjubel der Ostkirche. Hymnen aus der fünfundzwanzigtägigen Osterfeier der Byzantinischen Kirche, Zweiter Teil: Das Pentekostarion, Münster o.J., 191 (Pfingstkanon des Kosmas Monachos, Siebente Ode). 15 Dass die Cantica von den Gläubigen selbst gesungen wurden, geht aus der Epistula 71,3,5 des Augustinus an Hieronymus hervor. Dessen Neuübersetzung des Buches Jona hatte bei den Gläubigen zu Tumulten geführt, da der Text von dem abwich, was sie auswendig zu singen gewohnt waren (CESL 34,253); nach dem Zeugnis des Afrikaners Verecundus (6. Jh.) „wären die Cantica der Bibel den Gläubigen bereits so geläufig gewesen, daß die Betrunkenen sie bei Gelagen sogar sangen“ (H. Schneider, Cantica (s. Anm. 10), 20). 16 Vgl. C. Reich, „… dein ist die Herrlichkeit“ – Doxologische Spurensuche im Horizont von Te deum und Feuerofen, in: Arbeitsstelle Gottesdienst. Informations- und Korrespondenzblatt der Gemeinsamen Arbeitsstelle für gottesdienstliche Fragen der EKD (GAGF) 17 (2003) 4 –11.

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3. Dan 3 als Motiv im Paradigmengebet der Sterbeliturgie Sterben und Tod eines Christen sind zusammen mit dem Begräbnis die letzte Station seines Lebenspascha, das mit der Taufe auf den Tod Christi begonnen hat und nun im eigenen Sterben, im Übergang aus jener Welt zum Vater, vollendet wird. Die Kirche hat seit ältester Zeit diesen Übergang begleitet, indem sie dem Sterbenden in seinen Nöten beisteht und Gott um die Aufnahme seiner Seele bittet. In diesem Zusammenhang dürfte die Geschichte der drei Jünglinge schon früh eine bedeutende Rolle gespielt haben, wie die verbreitete Verwendung dieses Motivs auf Sarkophagen und in der Katakombenmalerei belegt.17 Innerhalb der gottesdienstlichen Sterbebegleitung findet sich ein Gebet, dessen Sprachform bereits aus den Märtyrerakten der Alten Kirche bekannt ist18 und das im römischen Rituale von 1614 folgenden Gestalt hat: Paradigmen der Sterbebegleitung

Lesungen der Osternacht

Libera, Domine, animam servi tui (ancillae tuae), sicut liberasti Henoch et Eliam de communi morte mundi Noe de deluvio

Gen 5

Abraham de Ur Chaldeorum Job de passionibus suis Isaac de hostia, et de manu patris sui Abrahae

Gen 22

17 Vgl. R. Seeliger, Palai martyres. Die Drei Jünglinge im Feuerofen als Typos in der spätantiken Kunst, Liturgie und patristischen Literatur, in: H. Becker/ R. Kaczynski (Hrsg.), Liturgie und Dichtung 2 (Pietas Liturgica 2), St. Ottilien 1983, 257–334; speziell zur reichen ostkirchlichen Tradition vgl. G. Kaster, Art. „Drei Jünglinge im Feuerofen“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie 6 (1974) 96f. 18 Vgl. J. Ntedika, L’évocation de l’au-delà dans la prière pour les morts. Étude de patristique et de liturgie latines (IVe–VIIIe S.) (Recherches Africaines de Théologie 2), Louvain/Paris 1971,72– 83; die wohl ältesten Zeugnisse sind die im 5. Jh. redigierte Passio S. Philippi episcopi Heraclae sowie die aus dem 6. Jh. stammende Passio sanctae Iulianae Nicomediae.

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Lot de Sodomis, et de flamma ignis Moysen de manu Pharaonis regis Aegyptorum

Ex 14

Danielem de lacu leonum Tres pueros de camino ignis et de manu regis iniqui

Dan 3

Susannam de falso crimine David de manu regis Saul, et de manu Goliae Petrum et Paulum de carceribus Et sicut beatissimam Teclam virginem … de tribus atrocissimis tormentis liberasti …

Die Bitte an Gott um die Errettung der Seele des Sterbenden wird begründet mit dem in der Bibel bezeugten rettenden Handeln Gottes, das in 13 Beispielen (Paradigmen) konkretisiert wird: Gott möge die Seele aus allem Leiden befreien wie er befreit hat Henoch und Elia vom Schicksal des irdischen Todes, Noach vor der Sintflut, Abraham aus Ur in Chaldäa, Ijob von seinem Leiden, Isaak vom Opferaltar, Lot aus dem Brand Sodoms, Moses aus der Hand Pharaos, Daniel aus der Löwengrube, die drei Jünglinge aus dem Glutofen und aus der Hand des gottlosen Königs, Susanna von der falschen Anklage, David aus der Hand Sauls und Goliaths, Petrus und Paulus aus dem Kerker und schließlich die Märtyrerin Thekla aus den drei Folterqualen. Hier begegnet das Motiv aus Dan 3 vielleicht am deutlichsten in der Dimension des vergegenwärtigenden Gedächtnisses: In einer konkreten Situation, dem Sterben eines Christen, erinnern die Betenden Gott an seine früheren Heilstaten; Ziel dieses Erinnerns ist, dass er sich auch jetzt als der erweisen möge, als der er sich seit jeher erwiesen hat, nämlich als Retter und Befreier. Vier der elf alttestamentlichen Paradigmen, unter ihnen auch Dan 3, begegneten bereits in den Lesungen der Pascha-Vigil. Der Lebensabend des Christen ist bestimmt von dem Ausblick auf den Auferstehungsmorgen. Die exemplarische Begehung dreier Orte, an denen Dan 3 in der Liturgie der Kirche Aufnahme findet, führte zu drei verschiedenen Konkretisierungen des Pascha-Mysteriums, nämlich im Tages-, Jahres- und Lebenskreis, und zur Rezeption der Bibel in drei verschiedenen liturgischen Gattungen, nämlich in Lesung, Gesang und

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Gebet. Alle drei Orte zeigen, dass der Bibel im Gottesdienst grundlegend eine anamnetische Dimension eigen ist: Die Gegenwart wird als von Gott umfangene Heilszeit qualifiziert, indem sie mit der in der Bibel bezeugten Heilszeit identifiziert wird. In der vom Heiligen Geist getragenen gottesdienstlichen Feier, in der die Gemeinde dem Vater durch seinen Christus den Lobpreis darbringt, werden die vergangenen mirabilia Dei vergegenwärtigt und die noch ausstehenden mirabilia Dei antizipiert. Liturgie ist in ihrem Kern die rituell vollzogene Anamnese der Schrift. Die Bibel, so könnte man pointiert sagen, ist von allen liturgischen Büchern das wichtigste und als einziges wirklich unverzichtbar.

4. „Auf daß den Gläubigen der Tisch des Gotteswortes reicher bereitet werde …“ (SC 51) Abschließend sei auf ein Defizit in der gegenwärtigen Rezeption der Bibel im Wortgottesdienst hingewiesen. Denn macht man die Probe aufs Exempel und fragt nach der heutigen Verwendung von Dan 3 in der Liturgie, so zeigt sich, dass die Perikope zwar als Canticum im Morgengebet und als Motiv in der Sterbebegleitung noch präsent ist – eine Präsenz freilich, die wohl der Mehrzahl der Gläubigen unzugänglich bleibt –, dass sie aber als Lesung verschwunden ist. Aus der Pascha-Vigil wird sie bereits 1956 im Zuge der Reduzierung der Vigillesungen von zwölf auf vier ausgeschieden, und auch der Ordo Lectionum Missae von 1969 sieht sie nicht als Lesung der Sonn- und Festtage vor. Dies ist umso verwunderlicher, als gerade der Ordo Lectionum die Forderung des Konzils, „den Tisch des Gotteswortes reicher zu bereiten“ (SC 51) einlösen wollte und tatsächlich mit seinen drei Lesejahren und der allsonntäglichen Verkündigung einer alttestamentlichen Perikope einen nicht zu unterschätzenden Reichtum an Schriftlesungen bereithält. Dennoch birgt die Leseordnung eine Reihe von Problemen, die mit dem Kompositions- und Auswahlverfahren der Lesungen verbunden sind.19 Auf ein Problem sei 19 Vgl. A. Franz, Wortgottesdienst der Messe und Altes Testament. Katholische und ökumenische Lektionarreform nach dem II. Vatikanum im Spiegel von Ordo Lectionum Missae, Revised Common Lectionary und Four Year Lectionary: Positionen, Probleme, Perspektiven (Pietas Liturgica. Studia 14), Tübingen 2002.

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hier kurz hingewiesen: An den Sonntagen im Jahreskreis wird dem in Bahnlesung gereihten Evangelium eine thematisch „passende“ alttestamentliche Lesung zugeordnet. Bei diesem exklusiv durch die Thematik des Evangeliums gesteuerten Auswahlverfahren besteht anscheinend die Gefahr, in der Tradition der Kirche hochgeschätzte alttestamentliche Perikopen aus dem Blick zu verlieren: neben der Erzählung von den drei Jünglingen (Dan 3) auch die Erzählungen von Kain und Abel (Gen 4), von Jakobs Traum der Himmelsleiter (Gen 28) und seinem Kampf mit Gott (Gen 32), von Josef und seinen Brüdern (Gen 37f.), von David und Goliath (1 Sam 17) und von Daniel in der Löwengrube (Dan 6), um nur einige wenige zu nennen. Andere zeitgenössische Leseordnungen, die in Abhängigkeit mit der römischen Ordnung entstanden sind, etwa das britische Four Year Lectionary (1990)20 oder das Reformmodell „Patmos“ (1997)21, decken den „Tisch des Gotteswortes“ mit diesem in unserer Leseordnung vergessenen „Brot“. Ich denke es ist notwendig, auch in unserer Kirche den mit dem Ordo Lectionum Missae eingeschlagenen Weg der Reformen weiterzuführen. Denn es wäre ein empfindlicher Verlust, wenn diese und andere Zeugnisse der Schrift aus dem Gedächtnis der heutigen Gemeinden verschwinden würden. Die prophetische Kraft der Erzählung der drei Jünglinge im Feuerofen, Gegenwart zu deuten und Gegenwart zu verändern, scheint manchmal außerhalb der Kirchenmauern deutlicher erspürt zu werden als im Innern des Kirchenschiffs. Etwa zu derselben Zeit, in der Dan 3 als Lesung in der Osternacht entfällt, ist das Motiv der drei Jünglinge in Malerei, Musik und Literatur in erstaunlich hohem Maße präsent. Als ein Beispiel für viele sei hier auf ein Gedicht der Lyrikerin Christine Busta verwiesen,22 die aus dem Lobpreis der Jünglinge die Hoffnung schöpft, dass der Gesang der Verfolgten letztlich doch über die Verfolger triumphieren wird:

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A Four Year Lectionary, hrsg. von der Joint Liturgical Group, Norwich 1990. Vgl. H. Becker, „Dies große Wort, geschrieben weiß auf schwarz“. Patmos: Begegnungen mit der Bibel im Kontext von Kultur – Liturgie – Spiritualität, in: A. Zerfaß/A. Franz (Hrsg.), Wort (s. Anm. 2). 22 C. Busta, Wenn du das Wappen der Liebe malst … Gedichte, Salzburg 1981, 120. 21

Die Bibel in der Liturgie

Als man sie in den Ofen warf, sangen die Jünglinge im Feuer, überliefert die Bibel. Pablo Neruda berichtet: Als man Nazim Hikmet, den Dichter, in eine Jauchengrube stieß, begann er aus dem Unrat zu singen. Die Schergen sind immer schlecht beraten, manchmal auch die Verfolgten. Doch der Gesang behält recht.

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Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Ansgar Franz. Geb. 1959 in Bingen/Rhein. Seit 2005 Professor für Liturgiewissenschaft und Homiletik an der Kath.-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Prof. Dr. Christian Frevel. Geb. 1962 in Siegen. Seit 2004 Professor für Altes Testament an der Ruhr-Universität Bochum. Research Associate am Department of Old Testament Studies, University of Pretoria, Südafrika. Prof. Dr. Leonhard Hell. Geb. 1958 in Hilpoltstein. Seit 2001 Professor für Dogmatik und ökumenische Theologie an der Kath.-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Prof. Dr. Thomas Hieke. Geb. 1968 in Pegnitz. Seit 2007 Professor für Altes Testament an der Kath.-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Prof. Dr. Konrad Huber. Geb. 1965 in Heinfels, Österreich. Seit 2011 Professor für Neues Testament an der Kath.-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz. Geb. 1936 in Sigmaringen. Seit 1983 Bischof von Mainz. 1987–2008 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. 2001 Erhebung zum Kardinal durch Papst Johannes Paul II. Honorarprofessor der Universitäten Mainz und Freiburg i. Br. und Träger zahlreicher Ehrendoktorwürden. Prof. Dr. Hanna Liss. Geb. 1964 in Burgwedel/Hannover. Seit 2003 Professorin für das Fach Bibel und Jüdische Bibelauslegung an der Hochschule für Jüdische Studien, Heidelberg. Prof. Dr. Manfred Oeming. Geb. 1955. Seit 1996 Ordinarius für Alttestamentliche Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg. Erzbischof Dr. Jean-Claude Périsset, ehem. Apostolischer Nuntius in Deutschland. Geb. 1939 in Estavayer-le-Lac, Schweiz. 2007–2013 Apostolischer Nuntius in Deutschland.

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Dr. Dr. Oliver Reis. Geb. 1971 in Köln. Seit 2008 Akademischer Oberrat am Institut für Katholische Theologie der Technischen Universität Dortmund. PD Dr. Ralf Rothenbusch. Geb. 1963 in Zweibrücken. Seit 2010 Studienleiter an der Akademie des Bistums Mainz, Erbacher Hof; Dozent für Exegese des Alten Testaments am Interdiözesanen Seminar zur Priesterausbildung St. Lambert, Lantershofen. Prof. Dr. Thomas Ruster. Geb. 1955 in Köln. Seit 1995 Professor für Systematische Theologie/Dogmatik an der Fakultät für Humanwissenschaften und Theologie der Technischen Universität Dortmund. Prof. Dr. Adrian Schenker OP. Geb. 1939 in Zürich. 1991–2004 Professor für Theologie und Exegese des Alten Testaments an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg/Schweiz. Prof. Dr. Ludger Schwienhorst-Schönberger. Geb. 1957 in Lüdinghausen. Seit 2007 Professor für Alttestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Wien. Prof. Dr. Angelika Strotmann. Geb. 1956 in Osnabrück. Seit 2008 Professorin für Neues Testament am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn. Prof. Dr. Peter Walter. Geb. 1950 in Bingen/Rhein. Seit 1990 Professor für Dogmatik und Direktor des Arbeitsbereichs Quellenkunde der Theologie des Mittelalters (Raimundus-Lullus-Institut) an der Theolgischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Prof. Dr. Josef Wohlmuth. Geb. 1938 in Laibstadt. 1986 –2003 Professor für Dogmatik an der Kath.-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

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