ENTWEDER MAN STELLT SICH DER VERGANGENHEIT, ODER MAN WIRD SIE NICHT LOS

„ENTWEDER MAN STELLT SICH DER VERGANGENHEIT, ODER MAN WIRD SIE NICHT LOS“ Grußwort von Günter Saathoff, Vorstand der Stiftung „Erinnerung, Verantwortu...
Author: Detlef Schuler
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„ENTWEDER MAN STELLT SICH DER VERGANGENHEIT, ODER MAN WIRD SIE NICHT LOS“ Grußwort von Günter Saathoff, Vorstand der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) bei der Tagung „Zwangsarbeit für das Reich 1941-1945. Praxis und Erinnerung in deutschen und russischen Perspektiven“ am 14. November 2011 im DHI Moskau

Sehr geehrter Herr Dr. Katzer, sehr geehrter Herr Sabarowski, lieber Herr Dr. Wagner, sehr geehrte Damen und Herren, sehr herzlich begrüße ich Sie seitens unserer Stiftung zu der Tagung „Zwangsarbeit für das Reich 1941-1945. Praxis und Erinnerung in deutschen und russischen Perspektiven“. Diese Tagung versteht sich auch als Beitrag zur wissenschaftlichen Begleitung der Ausstellung „Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg“, hat aber natürlich eine eigenständige Bedeutung und Ausrichtung. Sie hat zum Ziel, eine Bestandsaufnahme der Forschung zum Thema zu leisten, die Zusammenarbeit zwischen russischen und deutschen Historikern und Historikerinnen zur Erforschung der NS-Zwangsarbeit, d.h. eine gemeinsame Auseinandersetzung mit dieser gemeinsamen Geschichte zu befördern sowie zu einer Verständigung über strittige bzw. in den verschiedenen Perspektiven überoder unterrepräsentierte Aspekte beizutragen. Das begrüße ich sehr und ich bin gespannt auf neue Erkenntnisse wie auf neue Blickwinkel auf das Thema.

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Der sich seit etwa 20 Jahren entwickelnden umfangreichen auch transnationalen Auseinandersetzung mit dem Thema Zwangsarbeit ging eine lange Geschichte der Nicht-Thematisierung voraus. Es ist deshalb kein Zufall, dass eine solche Konferenz wie die heutige oder auch die Ausstellung, die nun in Moskau gastiert, erst im Jahr 2011 stattfinden. Die lange Nicht-Thematisierung, man kann auch sagen: Verleugnung, dieses Unrechts betrifft beide Seiten. In Deutschland fiel der Blick bei der Aufarbeitung des NS-Unrechts nach Kriegsende zunächst auf die Täter und da vor allem auf die sog. Hauptverantwortlichen. Das hatte für uns Deutsche einen Vorzug: verglichen mit diesen Haupttätern erschienen die kleineren Täter, gar die Mitläufer und Weggucker, als ausgesprochen harmlos – man konnte sich also mit Blick auf die großen Kriegsverbrecher geradezu komfortabel fühlen. Vor allem aber blieben die systematischen Betrachtungen massenhaften Unrechts, hier etwa der Zwangsarbeit, außen vor. Dies hatte wesentlich finanzielle Gründe, denn die Aufarbeitung hätte unvermeidlich die Frage nach einer Entschädigungsberechtigung für die NS-Opfer aufgeworfen. Eine solche Auseinandersetzung war während des Kalten Krieges weder gewollt noch wäre sie wahrscheinlich für die Opfer umsetzbar gewesen. In der DDR wähnte man sich auf der Siegerseite und die alten Faschisten alle in Westdeutschland. Thematisiert wurde – in der Wissenschaft wie in der Bildung – allein der kommunistische Widerstand; weder die Leningrader Blockade noch der Warschauer Ghettoaufstand oder die Massendeportationen zur Zwangsarbeit kamen im Geschichtsunterricht vor. Die Frage einer Entschädigungsberechtigung für frühere NS-Opfer im Ausland, etwa bezüglich der Zwangsarbeiter, stellte sich die DDR nicht. In der Sowjetunion zählte vor allem das Heldentum, also der siegreiche Kampf gegen den Faschismus. Es kann politisch gar keinen Zweifel daran geben, dass ohne den Kriegseinsatz der sowjetischen Truppen weder die Befreiung vom Nationalsozialismus noch etwa die Befreiung des KZ Auschwitz denkbar gewesen wäre. Der siegreiche Kampf wurde mit millionenfachem Blut der Soldaten und der Zivilbevölkerung erkauft. In diesem Prisma der Erinnerung und Aufarbeitung hatten aber weder die nach Deutschland deportierten zivilen Zwangsarbeiter noch sowjetische Kriegsgefangene Platz. Ihnen wurde sogar Kollaboration und Verrat unterstellt, und selbst den Sowjetbürgern, die den Krieg auf okkupiertem Gebiet überlebt hatten, schlug Misstrauen entgegen. Alle mussten sich erklären, und das führte zu einem großen und langen Schweigen oft bis in die Familien hinein; ein Schweigen, das wie das deutsche Schweigen, jahrzehntelang auch die Wissenschaft prägte.

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Soweit mein kurzer Blick zurück, der den Ausgangspunkt bis zum Jahre 1989, also bis zur allmählichen Überwindung des „Eisernen Vorhangs“ und der Teilung Europas markiert. Wir haben vieles davon inzwischen hinter uns gelassen: in Deutschland sind auch die Opfer der Zwangsarbeit und vieler anderer Formen des NS-Unrechts in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt, und immer mehr schwierige Themen wurden zum Gegenstand innergesellschaftlicher sowie grenzüberschreitender Debatten. Diese Öffnung war und ist ohne das Schwinden der Blockkonfrontation in Europa nicht vorstellbar. Und so hat sich gerade in den zurückliegenden 20 Jahren vieles verändert, und manches davon haben wir selbst beeinflusst. Ich erinnere mich daran, wie noch zu Beginn der 90er Jahre deutsche Botschaften hilflos, ja geradezu überfordert auf individuelle Anfragen ehemaliger KZ-Häftlinge aus Osteuropa reagierten, die eine Unterstützung oder nur eine Entschuldigung für das erlittene Unrecht wollten. Als im Deutschen Bundestag eine kleine Fraktion die Forderung eingebracht hatte, dass man sich doch endlich um die Entschädigung der vielen Millionen NS-Opfer in Osteuropa, namentlich der Zwangsarbeiter kümmern sollte, erzeugte das nicht nur jahrelange, zunächst ergebnislose, Debatten im Bundestag. Dies schlug auch in den dortigen Ländern unerwartete Wellen und erzeugte diffuse Erwartungshaltungen und weitergehende Diskussionen. Ich erinnere nur an die Berge von Schreiben Betroffener, die bei der Organisation „Memorial“ eingingen und zum Teil nach Deutschland weitergeleitet wurden. Nachdem Polen im Kontext der 2+4-Verhandlungen erreicht hatte, dass in Warschau im Jahr 1991 eine mit deutschen Bundesmitteln finanzierte Stiftung für NS-Opfer, ausgestattet mit 500 Mio. DM, gegründet wurde, gab es schließlich auch kein „Halten“ mehr bezüglich ähnlicher Erwartungshaltungen oder Forderungen aus der Sowjetunion. Ich betone: aus der Sowjetunion, nicht der Sowjetunion. Denn einerseits sah sich die dortige Regierung zunächst ratlos, wie sie nach 1991 mit dem Thema überhaupt umgehen sollte, auch aufgrund der Diskussionslage und historischen Bewertung im eigenen Land. Was dürfe man berechtigterweise von Deutschland fordern, wie verhält sich das deutsche Entschädigungsrecht zu dem Reparationsverzicht, den die Sowjetunion 1953 gegenüber Deutschland erklärt hatte? Das fragte mich 1991 vertraulich mit Bitte um Rat eine Delegation der Sowjetischen Botschaft in Bonn. Ich erwähnte gerade ein „einerseits“. Das „andererseits“ kommt jetzt: der Lauf der Dinge wollte es, dass während der anschließenden Gespräche und Verhandlungen mit Deutschland die Sowjetunion sich transferierte in die GUS-Staaten, später wiederum gefolgt von wei-

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teren staatlichen Eigenständigkeiten etwa der baltischen Staaten. Unmittelbare Folge war, dass am Ende der Verhandlungen mit der Bundesregierung ab 1993 es nicht eine Vereinbarung mit der Sowjetunion, sondern mit der Russischen Föderation, der Ukraine und Belarus gab. Stiftungen mit dem Namen „Verständigung und Aussöhnung“ wurden hier gegründet, die zusammen eine Milliarde DM aus Deutschland für ehemalige NS-Opfer erhielten. Zur Auflage wurde gemacht, dass bei der Verteilung auch Überlebende anderer bisheriger Staaten der Sowjetunion einbezogen werden sollten, etwa der südlichen GUS-Staaten und der baltischen Staaten. Das blieb politisch nicht folgenlos und konfliktlos. Das Geld wurde im Übrigen von der Bundesregierung en bloc übergeben – Details, an welche Gruppen von NS-Opfern in diesen Ländern die Mittel gehen sollten, interessierten die deutsche Regierung damals nicht. Das Geld war auf jeden Fall nicht prioritär für die ehemaligen Zwangsarbeiter vorgesehen. Diese Unklarheit war den beteiligten drei GUS-Staaten sicherlich auch recht. Auch dies blieb politisch nicht ohne Folgen, etwa bezüglich der Sorgfaltspflicht für die Umsetzung. So bestand die Aufgabe für den Zeitraum bis etwa zum Jahr 2000 vor allem darin, diese Mittel in den Ländern an die Überlebenden zu bringen. Auf den wissenschaftlichen Dialog beider Seiten – hier des mittlerweile vereinigten Deutschlands, dort der nunmehr in neuen Nationalstaaten etablierten Nachfolgestaaten der Sowjetunion – griff das Thema in diesem Zeitraum nicht über. In Deutschland gab es bereits seit dem Ende der 80er Jahre, „angefeuert“ durch viele lokale und überregionale Initiativen der Zivilgesellschaft, die das Schicksal der ehemaligen Zwangsarbeiter entdeckten und in Forderungen zur Aufarbeitung und Entschädigung an die Politik ummünzten, auch Impulse für die Wissenschaft. Die Sache änderte und erweiterte sich am Ende der 90er Jahre. Als im Jahr 2000 schließlich nach Klagen in den USA und internationalen Verhandlungen der Bundesregierung und der deutschen Wirtschaft mit den Vertretern mehrerer Regierungen die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gegründet wurde, hatte man aus den Erfahrungen der 90er Jahre gelernt: Die Auszahlungen an die ehemaligen NSZwangsarbeiter wurden in Partnerschaft mit den besagten Stiftungen und vier weiteren sogenannten Partnerorganisationen, nach gemeinsamen Kriterien und mit einer strengen Mittelkontrolle weltweit umgesetzt. Das bedeutete eine enge Kooperation mit der Stiftung EVZ und ständige internationale und bilaterale Kommunikation.

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In diesem Kontext erblühte auch der Bedarf an zusätzlicher Forschung zur Zwangsarbeit, hier ganz konkret vor allem die Suche nach Dokumenten zur Verifizierung der Anspruchsberechtigungen und zur Bewertung tausender Lager, insbesondere auf dem Boden der besetzten Gebiete, im Hinblick darauf, ob diese die vom Gesetz geforderten Haftkriterien erfüllten. Wir haben in diesem Zeitraum gemerkt: eigentlich wissen wir noch viel zu wenig über die Organisation, die Bedingungen, die Ausprägungen und die Verläufe der Zwangsarbeit in den besetzten Gebieten – und auch über die Schicksale derer, die nach 1945 in ihre Heimatländer zurückkehrten. (Zitat:) „Bei uns im Lande hat die Erforschung der NS-Zwangsarbeit erst begonnen, wurde auch politisch erst möglich, mit dem Auszahlungsprogramm der Stiftung EVZ im Jahre 2000“ sagte mir im vorletzten Jahr ein namhafter Historiker aus Belarus. Das sagt vieles. Wie würde eine solche Formulierung im Hinblick auf Russland oder die Ukraine präzisiert werden müssen? Das ist sicherlich eine wesentliche Grundfrage auch der heutigen Tagung. Wir können hier pointiert vermelden: die Forschung folgte im Wesentlichen – davon gibt es natürlich Ausnahmen – der Praxis und dem komplexen nationalen und internationalen Erinnerungsdiskurs, nicht umgekehrt. Ich will hier nur knapp darauf verweisen, dass die Stiftung EVZ, die ich hier vertrete, nicht nur den gesetzlichen Auftrag erhielt, weltweit, vor allem in den mittel- und osteuropäischen Ländern, zusammen mit ihren sieben Partnerorganisationen individuelle Leistungen für ehemalige Zwangsarbeiter und andere NS-Opfer zu erbringen – eine Aufgabe, die im Jahre 2007 abgeschlossen wurde. Die Stiftung EVZ erhielt in der Präambel des Gesetzes auch den Auftrag, dazu beizutragen, „die Erinnerung an das Unrecht des Nationalsozialismus auch für kommende Generationen wachzuhalten“. Die beiden Stifter, die die Mittel für dieses Gesetz beisteuerten, Deutscher Bundestag und die deutsche Wirtschaft, haben der Stiftung EVZ damit langfristig die Förderung zivilgesellschaftlicher Projekte in einem breiten thematischen Spektrum zur Aufgabe gemacht. Dies ermöglichte und ermöglicht weiterhin vielen Überlebenden, noch einmal nach Deutschland zu reisen oder an sozialen Projekten an ihren Wohnorten teilzunehmen. Es ermöglichte einen regen Jugendaustausch zu historischen und aktuellen Fragen und auch – in einem finanziell engen Rahmen – die wissenschaftliche Auseinandersetzung insbesondere mit der NS-Zwangsarbeit. Die große Ausstellung zur Zwangsarbeit, die eigenverantwortlich von der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora konzipiert wurde und nun in Moskau gastiert, wäre

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ohne diesen weiterführenden gesetzlichen Förderauftrag, der zukunftsgerichtet ist, materiell nicht möglich gewesen. Begleitet wurde dieser Prozess der Auszahlungen aber, und dies möchte ich hier ausdrücklich betonen, durch einen vielfältigen gesellschaftlichen Prozess in unseren Ländern, einen Prozess, der zum Teil noch anhält und in jedem Land unterschiedliche Ausprägungen hat: deutsche Familien begannen, nach „ihren“ Zwangsarbeitern zu suchen, nach früheren Mägden, Knechten und Kindermädchen. Örtliche Initiativen suchten nach Dokumenten für die ehemaligen Zwangsarbeiter, luden diese ein und erforschten die lokale Geschichte der Ausbeutung von Zwangsarbeitern. Aktionäre übten Druck auf Unternehmen aus, sich ihrer NSGeschichte zu stellen. Begegnungen und Austausch führten zu Freundschaften und zu Versöhnung. Und auch in Russland brach vieles auf: wegen der Auszahlungen erfuhren plötzlich Kinder und Enkel, das die Eltern oder Großeltern während des Krieges nach Deutschland deportiert worden waren. 2005 wurde in Moskau zum 60. Jahrestag des Sieges eine Ausstellung präsentiert, die auch Tabus berührte. Dort hieß es auf einer Tafel unter anderem: „Die wichtigste Komponente im Prozess der Repatriierung war die politische Überprüfung oder Filtration. Sie wurde vom militärischen Nachrichtendienst (SMERSCH) durchgeführt. Der Verdacht konnte auf buchstäblich jeden fallen, der sich für längere Zeit außerhalb der Reichweite der sowjetischen Organe und der sowjetischen Propaganda aufgehalten hatte.“ Der deutsche Bundespräsidenten Christian Wulff hat die Schirmherrschaft für die Ausstellung „Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg“ übernommen. Der russische Staatspräsident hat ihm gegenüber zu Jahresbeginn seine Bereitschaft erklärt, diese Ausstellung nach Moskau zu holen. Das Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Krieges in Moskau hat dieses Anliegen mit seinen Partnern in die Tat umgesetzt. Auch die Ausstellung gab uns in den letzten Monaten und gibt uns weiterhin die Chance, miteinander ins Gespräch zu kommen: während der heute beginnenden Tagung, aber auch zuvor bei Treffen mit Opferverbänden, bei Lehrerfortbildungen und bei der sozialpolitischen Konferenz „Die ältere Generation: Gesellschaft und Politik“ im Oktober in Moskau, die alle in Begleitung der Ausstellung stattfanden. Allen, die dies ermöglicht haben, möchte ich ausdrücklich danken, insbesondere Ihnen, Wladimir Iwanowitsch (Sabarowski). Diese Entwicklungen zeigen: wir befinden uns auf einem Weg der historischen Aufarbeitung des NS-Unrechts, und wir sind noch nicht am Ziel. Es war ein europaweit verübtes Unrecht des NS-Regimes. Das impliziert einerseits den Bedarf für jeweils nationale bzw. regionale

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und für bilaterale Betrachtungen, aber, aus systemischen Gründen, eben auch den Bedarf europäischer wissenschaftlicher Perspektiven. Vieles bleibt also noch zu tun. Das betrifft nicht allein die Aufarbeitung im engeren Sinne, das betrifft in besonderer Weise die öffentliche Gedenkkultur. Hier gibt es m.E. weiterhin erhebliche Defizite, auch in Deutschland. Deshalb hat die Stiftung EVZ in diesem Jahr anlässlich des 70. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion ganzjährig eine Veranstaltungsreihe in Berlin durchgeführt, die den zivilen Opfern des Vernichtungskrieges gewidmet war. Die Stiftung EVZ befasste sich darin nicht nur mit der Erinnerung an die Zwangsarbeit. In einer ersten Veranstaltung sprachen die Botschafter der Russischen Föderation, der Ukraine und von Belarus über die Folgen des Krieges heute. Drei Veranstaltungen waren bzw. sind drei speziellen Bevölkerungsgruppen gewidmet, die systematischen Massenmorden zum Opfer fielen: Juden, Roma sowie Kranke und Behinderte. Die Veranstaltung im Juni thematisierte die deutsche Hungerpolitik gegen sowjetische Bürger und insbesondere das Schicksal der Kinder. Die Reaktionen, die wir darauf bekamen, zeigen, wie wenig bekannt all diese Facetten des NS-Unrechts in Deutschland sind. Wie werden sie z.B. in Russland erinnert, gewürdigt oder in der Wissenschaft behandelt, wie in der Ukraine, in Belarus oder Polen? Im Rahmen unseres Förderprogramms „Geschichtswerkstatt Europa“ fand ebenfalls im Kontext des Jahrestages des 22. Juni in Kiew ein internationales Forum statt. Dort wurden schwierige Themen kontrovers diskutiert. Genau das brauchen wir, um einander verstehen zu können. Der Krieg brachte für diejenigen, die ihn erlebten, sehr unterschiedliche Erfahrungen, und diese haben sie an ihre Nachkommen überliefert, und sei es unbewusst. Daraus ergibt sich naturgemäß eine Vielfalt von Sichtweisen. Wenn diese nicht miteinander in Beziehung gebracht werden, können sie für heutige politische Ziele instrumentalisiert werden. Aber nicht Konfrontation, sondern Verstehen und wenn möglich Versöhnung ist unser Ziel. Nicht vergessen werden dürfen die Menschen, die das nationalsozialistische Unrecht überlebten und die jetzt im Alter dessen Folgen besonders hart spüren. Es werden immer weniger, und uns bleibt nicht mehr viel Zeit, uns um sie zu kümmern. Sie zu besuchen, ihnen zuzuhören, sie mit anderen Menschen zusammenzubringen und den Bedürftigen unter ihnen die notwendige Hilfe zukommen zu lassen ist eine Aufgabe sowohl für die Gesellschaft und als auch für den Staat. Die Stiftung EVZ unterstützt deshalb zivilgesellschaftliche Organisationen, die diese Arbeit leisten.

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All diese Bemühungen unternehmen wir, weil wir wissen: Entweder man stellt sich der Vergangenheit, oder man wird sie nicht los. Wir haben die Wahl: Konflikte, die aus der Vergangenheit herrühren, aufzuarbeiten, zu lösen oder sie fortwirken zu lassen. Wir wissen aus Deutschland: dies war – und ist in Teilen noch – ein schmerzhafter Prozess. Die Wissenschaft kann helfen, für einen solchen Aufarbeitungsprozess fundierte Erkenntnisse und Interpretationen des historischen Geschehens bereitzustellen. Das betrifft aus meinem Blickwinkel zwei voneinander abzugrenzende Perioden: das Verfolgungsgeschehen und das spätere Verarbeitungsgeschehen, pointiert gesagt: die jahrzehntelange Verleugnungsgeschichte, die seit zwei Jahrzehnte allmählich überwunden wird. Dies ist eine Herausforderung auch an diese Konferenz. Ich danke dafür dem Deutschen Historischen Institut, das diese Konferenz ausrichtet. Ich danke den Referentinnen und Referenten vorab für die Bereitstellung neuer Erkenntnisse und freue mich auf einen schöpferischen Dialog in den nächsten zwei Tagen. Herzlichen Dank!

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