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Eine Reise ans Ende der Sprache

Unt e r w e g s m i t Schlit t e n h u n d e n in O s t g r ö n l a n d

I h r e H u n d e s c h l i t t e n e r i n n e r n an Ho l z pr i ts c he n a u f K u f e n : D i e R e i s e mit de n o s t g r ö n l ä n d i s c h e n J ä g e r n ist e i ne Re i s e i n d i e e i n d r ü c k l i c h e Welt

Text und Fotos: Thomas Häusler

d e s e w i g e n E i s e s u n d a n d i e G r e nzen d e r S p r a c h e.

Wehmütig schwebt das Heulen in der kalten Luft. Es stammt vom abendlichen Chor in Tiniteqilâq, einem abgelegenen 100-Seelen-Flecken in Ostgrönland. Rund 200 Schlittenhunde jaulen ihre ungestillte Sehnsucht in die tief verschneite Landschaft hinaus. Am nächsten Tag wollen wir mit 50 von ihnen und den Schlitten los. Zehn Tage lang geht es auf die Jagd mit den Inuit Enoch, Salu, Barseley, Peter und Tobias. Gemeinsam werden wir auf dem vereisten Meer Robben auflauern, vielleicht sogar Eisbären und Narwalen.

Wer z uviel fragt, bleibt ausgeschlossen Die Jäger sprechen kaum etwas anderes als Ostgrönländisch, einzig Tobias kann Dänisch und einige Brocken Englisch. Darum ist auch Baldvin mit dabei, ein Isländer,

5 Unter den Füssen der Schlittenhunde und dem Eis liegt der 400 Meter tiefe Fjord.

der seit zehn Jahren in Grönland lebt. Baldvin wirkt als Dolmetscher – und das ist hier vor allem im übertragenen Sinn nötig. Als Kulturvermittler erklärt er beim abendlichen Kochen im Camp: «Erst wenn man einige Tage mit Männern wie Salu und Tobias unterwegs war, wird klar, dass sie einem Zeichen geben, wenn man etwas wissen muss. Die Leute hier reden kaum.» Sie ziehen zum Beispiel kurz die Augenbraue hoch. Geben sie kein Zeichen, dann läuft alles weiter wie gehabt. Manches wird rätselhaft bleiben in den kommenden Tagen, anderes erschliesst sich tatsächlich nur aus Gesten oder Handlungen. «Wer zu viel fragt, der bleibt ausgeschlossen», sagt Baldvin. Am besten man mache sich

unsichtbar, so lebten die Jäger irgendwann ihr normales Leben, trotz der Anwesenheit der Fremden. Es entsteht eine schwebende Stimmung des Geheimnisvollen, die zu diesem archaischen Land des Eises passt. Irgendwo im Innern der Rieseninsel, auf dem mächtigen Eispanzer, der neun Zehntel von ihr unter sich begraben hat, irgendwo dort lebe sogar noch ein unbekanntes Urzeitvolk, munkeln manche Ostgrönländer. Ihre wenigen eigenen Siedlungen wurden auch erst 1884 zum ersten Mal von Dänen entdeckt, die seit dem 18. Jahrhundert die stärker bevölkerte Westseite kolonisierten. Damals herrschte im Osten Grönlands die Steinzeit, nur etwa 400 Menschen klammerten sich in der unwirtlichen Gegend ans Leben. In den 2000 Jahren davor waren die Bewohner der Ostküste vermutlich

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hautnah mehrfach ausgestorben und immer wieder neu von Kanada her eingewandert. Am nächsten Morgen packen wir unsere Ausrüstung auf die Schlitten. Es sind etwa drei bis vier Meter lange Holzpritschen auf Kufen. Am Ende des Gefährts ragen zwei Griffe in die Höhe, daran hält sich der Jäger fest, wenn er hinten auf den Kufen steht und lenkt. Früher wurden die Schlitten von Robbensehnen zusammengehalten, heute tun dies Nylonfäden. So sind die Schlitten flexibel und brechen auf der holprigen Fahrt nicht auseinander. Das

6 Peter (vorne) mit Passagierin auf dem Weg zu den Robbenjagdgründen.

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hautnah einzige Holz, das es in den alten Zeiten in ganz Grönland gab, wurde auf dem Meer aus Sibirien herangetrieben. Auch die Kleidung der Jäger hat sich verändert. Statt Eisbärfellhosen und Robbenfellanoraks tragen sie heute, was sie im einzigen Laden des Weilers bekommen können: Ostfriesennerze oder billige, gefütterte Overalls.

Neun z ähe Kerle und üble Fürz e Die Jäger beginnen die Hunde vorne an die Schlitten zu binden. Ich fahre heute mit Peter. Sein Gespann besteht aus neun zähen Kerlen mit blond und dunkel geschecktem Fell. Sie sind etwas kleiner als Schäferhunde. Jeder läuft an einer unterschiedlich langen Leine, damit sie sich nicht zu arg in die Quere kommen. Peter schwingt

seine lange Peitsche – und die Hunde jagen los. «Driiidriiidriii – rechts, rechts», ruft er ihnen zu. Gleich darauf steigt einem mit dem Fahrtwind der Gestank ihrer Fürze in die Nase. Zuerst geht es über den zugefrorenen Fjord, der sich zwischen die steilen Küstengipfel schiebt. Man kann sich die Landschaft etwa so vorstellen, wie wenn die Alpen bis 1000 Meter unter die höchsten Spitzen vom Meer überflutet worden wären. Es ist ein Reich aus felsigen Inseln und Bergen, Fjorden und Gletschern. Und über allem liegt Schnee. Die Sonne hinter Wolken und Nebel taucht alles in ein unwirkliches Licht. Auf dem Meereis saust der Schlitten so schnell dahin, dass man nicht mehr hinterher rennen könnte. Darum hat Peter wie jeder Jäger hinten am Schlitten eine lange Leine befe-

stigt, die er blitzschnell ergreifen muss, falls er vom Schlitten stürzt. Die Schlittenhunde sind wild. Wenn sie rennen, ist die Meute fast nur mit der eisernen Kralle hinten am Schlitten zu bremsen, die der Jäger mit seinem Gewicht in den Untergrund wuchtet. Doch bald ist es mit der rasenden Fahrt vorbei. Wir müssen einen 700 Meter hohen Pass erklimmen. Peter und die anderen Jäger treiben ihre Hunde an, die sich keuchend in ihre Geschirre stemmen. Dabei geht es zuweilen ruppig zu und her. Ich laufe schwerer keuchend als die Hunde

Barseley schleicht sich an eine Robbe an. Ab und zu prüft er mit dem Fernglas, ob sie ihn bemerkt hat.

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5 Nach einem Wärmeeinbruch überzieht Schmelzwasser das Meereis.

Z um Er fo l g v e r d a m m t Aber die Eisbären sind ohnehin nur eine seltene Dreingabe für die Jäger. Ihre wichtigste Nahrungsgrundlage sind die Robben, sozusagen die Kartoffeln der Inuit. In ihrem eisigen Land ohne Landwirtschaft waren sie immer auf die Jagd angewiesen. Sind die Robben früher einmal ausgeblieben, sind die Menschen verhungert. Heute passiere das nicht mehr, aber die meisten Jäger seien arm, erzählt Tobias. «Wir müssen alles jagen, was wir erwischen können: Robben, Narwale, Walrosse, Eisbären, Fische.» Ohne Hundegespann könne ein Jäger nicht jagen, und ohne

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Futter könnten die Hunde nicht laufen. Ein Jäger ist also zum Erfolg verdammt. Diese simple Wahrheit zeigt sich am Abend, als wir nach einer rasenden Abfahrt am Sermilikfjord ankommen. Die Hunde haben schwer gearbeitet und verlangen ungestüm bellend nach Futter. Da wir heute nichts gejagt haben, werfen die Jäger den angeketteten Hunden Trockenfutter vor, das sie teuer kaufen müssen. Die Tiere schlafen stets draussen, auch wenn die Temperatur wie heute Nacht auf -20 Grad fällt. Die Jäger übernachten in einer einfachen Holzhütte, ihre Schlafsäcke sind kaum den Namen wert. Als Kind lebte Tobias noch 250 Kilometer von Tasiilaq entfernt, dem Hauptort der Gemeinde Ammassalik, zu der auch unser Ausgangspunkt Tiniteqilâq gehört. Einige Winterhäuser, von denen es heute nur noch Ruinen gibt, bildeten eine kleine Siedlung. Die Mauern der Hütten waren aus rohen Steinen und Torf gefügt, als Heizung brannte Robbenfett auf einem Stein. «Mein Vater war Jäger, und er wollte, dass ich auch einer werde. Wir machten fast alles selbst, die Teile für die Schlitten und die Kajaks.» Der Weg nach Tasiilaq zum Einkaufen dauerte mit dem Hundegespann mehrere Monate. Heute ist vieles anders. Wenn er nicht auf der Jagd ist, lebt Tobias in Tasiilaq in einem geheizten Holzhaus. Immer mehr Inuit wenden sich vom Jagen ab. Wenn sich Gelegenheit bietet, arbeitet auch Tobias für den sich zaghaft entwickelnden Tourismus. Daher kommt es, dass er im Gegensatz zu den anderen vier Jägern ab und zu etwas erzählt.

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nebenher. Trotz Minusgraden landet die monströse Daunenjacke bald auf dem Schlitten. Auf der Passhöhe rasten wir, und die Jäger halten Ausschau nach Eisbären. Baldvin erzählt, dass die Bären hier manchmal durchziehen auf ihrem Weg zum Sermilikfjord, der auch unser Ziel ist. «Wenn die Jäger frische Spuren entdecken, folgen wir ihnen.» Leider werden wir die ganzen zehn Tage über keine Eisbären sehen. Nur zweimal ihre Spuren. Die Jäger der Gegend dürfen pro Jahr 20 Eisbären erlegen, so haben es die Behörden bestimmt. Niemand weiss allerdings, wie viele Bären es hier gibt. Die Quote stützt sich also nicht auf Fakten ab. Trotzdem halte er sich daran, sagt der Jäger Tobias. «Wahrscheinlich könnte man mehr Eisbären jagen. In zehn Jahren sollte das Wissen über die Verbreitung der Eisbären grösser sein – dann dürfen wir womöglich mehr jagen.»

Troll Wall Jacket Innenansicht

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55 Vom Eisberg aus suchen die Jäger den Fjord nach Robben ab. 5 Die Beute wird vorne auf dem Schlitten verstaut. U ne r tr ä g l i c h l a u t e S c h r i t t e de s Gr e e nho r n s Am nächsten Morgen wölbt sich ein stahlblauer Himmel über dem Fjord, der hier mehrere Kilometer breit ist. Eisberge, gross wie Kirchen, ragen aus der glatten Eisfläche. Sie wurden im Sommer vom Meer her hinein getrieben und sind stecken geblieben. Diese Märchenlandschaft lockt mich in aller Frühe hinaus, als alle anderen noch schlafen. Ich wandere zu den bizarr geformten Eisgiganten. In der Stille erscheinen mir meine Schritte unerträglich laut. Unter der Schneedecke funkeln die Eisberge – flaschengrün, türkis, dunkelblau. Als ich zur Hütte zurückkehre, erwartet eine Lektion das arktische Greenhorn. Baldvin gibt mir zu verstehen, dass es äusserst leichtsinnig war, ohne die Jäger aufs Eis zu gehen, können dort doch Eisbären lauern. «Falls man alleine einem begegnet, muss man sich langsam und für den Bären gut sichtbar zurückziehen», klärt er mich auf.

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5 Bei schlechtem Wetter kommen die Robben nicht aufs Eis, dann fischen die Jäger.

Einige Stunden später bin ich wieder draussen auf dem Fjord, dieses Mal – wie es sich gehört – in Begleitung. Drei Jäger sind auf einen Eisberg geklettert und suchen mit Ferngläsern nach Robben. Die Tiere halten sich den ganzen Winter über mit der Schnauze ihr eigenes Atemloch offen. Bei schönem Wetter kriechen sie dort aufs Eis und sonnen sich. Drei schwarze Punkte sind in der Ferne zu sehen. Es sind drei Robben. Enoch zieht sich einen billigen, weissen Maleranzug über. Einzig sein bronzefarbenes Gesicht fällt noch auf. Eine halbe Stunde schleicht er sich Richtung Beute. Nichts von Massenabschlachterei, an die viele beim Stichwort Robbenjagd denken mögen. Es handelt sich hier nicht um industrielle Jagd wie in Kanada, sondern um mühsame Knochenarbeit. Manche Robbe flüchtet im letzten Augenblick durch ihr Loch im Eis und die lange Pirsch war umsonst. Ein Einwohner von Tiniteqilâq fischt am frühen Morgen auf dem Fjord.

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5 Am Eisrand. Bei kritischen Verhältnissen prüfen die Jäger mit einer Eisenspitze die Festigkeit des Eises.

Doch Enoch hat Glück. Etwa 200 Meter vor dem Ziel legt er seine Kleinkaliberflinte an und trifft die Robbe hinter dem Auge. Das Eis unter dem Tier färbt sich rot. Zurück bei den Schlitten, zerlegt er die Beute. Die dunkelrote Leber essen die Jäger gleich roh. Sie ist zart und schmeckt nach Eisen wie das Blut, das man sich nach einem Schnitt vom Finger wegsaugt. Vielleicht schwingt noch etwas Fisch mit. «Früher glaubten die Inuit, die Seele des Beutetiers werde frei gesetzt, wenn sie die Leber roh essen. Heute ist es wie ein Snack», erzählt Baldvin. Die rohe Leber war hier früher auch fast die einzige Quelle für das lebenswichtige Vitamin A – was die Inuit allerdings nicht wussten. Dann hackt Enoch ein Loch ins Eis und bald kochen die Robbenstücke im Meerwasser auf dem zischenden Kocher. Auch Peter und Salu kommen zurück, beide waren erfolgreich. Ihre Robben werden heute Abend knapp als Futter für die Hunde reichen. Das Tier, das Enoch gerade kocht, essen die Jäger noch auf dem Fjordeis. Die Inuit pflegten stets einen ausgeprägten Gemeinsinn. Selbst der glückloseste Jäger und seine Familie bekamen von der Gemeinschaft immer etwas ab.

Trotzdem wollen die Jäger hinaus. Fangen sie schon keine Robben, können sie wenigstens mit der Leine fischen. Man kann unmöglich auf dieses Eis, denkt sich der Laie. Doch die Furcht sei unbegründet, erklärt Baldvin: «Meereis ist flexibel, so bricht es nicht. Da aber Wasser obendrauf ist, werden die Jäger das Eis fortlaufend mit einer Eisenspitze testen.» Und tatsächlich, das Eis hält unter unseren Stiefeln. Auch als wir über Spalten gehen, unter denen schwarz die Tiefen des Meeres lauern. Nach über einer Stunde Marsch kommen wir dort an, wo die Fluten an der Eiskante nagen und vom Wind darüber hinweggetrieben werden. Auch diese grandiose Szenerie brennt sich ins Gedächtnis ein. Selbst ein so schweigsamer Jäger wie Salu wird bei diesem Anblick kurz pathetisch und kramt sein Englisch hervor. Ein einziges Wort genügt: «Beautiful.»  ]

Height climbed: 2683 meters Barometer: 1020 hPa, rising Sunset: 20.41 Altitude: 1280 meters above office politics

Infoblatt und Literatur Beim outdoor guide kann ein ausführliches Infoblatt zu

A uf M e e r e i s w i r d U n m ö g l i c h e s m öglich

Reisen nach Ostgrönland mit vielen nützlichen Tipps bezogen werden. Per Post mit frankiertem Antwortcouvert

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an: outdoor guide, Fleubenstrasse 6, 9450 Altstätten. Via Website www.outdoor-guide.ch oder per E-Mail: [email protected].

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Während des Mahls diskutieren die Jäger mit Baldvin die Pläne für die nächsten Tage. Das Wetter soll schlechter werden. Trotzdem wollen die Männer die Jagd fortsetzen. Seit Urzeiten sind sich die Inuit unstete Verhältnisse gewöhnt. Ihre einzige Gewissheit war der stete Wechsel. So können sie auch die unscheinbarsten Zeichen in ihrer Umwelt deuten. Das bestätigt sich ein paar Tage später. Es ist tatsächlich wärmer und stürmischer geworden. Durch Schneeregen sind wir mit den Hundeschlitten zu einer anderen Hütte auf einer Insel gefahren. Tief und dunkelviolett hängen die Wolken am Himmel. Das Meereis ist knöcheltief von Schmelz- und Meerwasser überflutet, das von der Eiskante her mit Macht herandrängt.

Literatur: Jean Malaurie, «Mythos Nordpol. 200 Jahre Expeditionsgeschichte», National Geographic, 400 Seiten, 39.95 Euro, ISBN-Nr.: 3-936559-20-1. Gretel Ehrlich: «This Cold Heaven: Seven Seasons in Greenland», Vintage, 400 Seiten, ca. 10 Euro (englisch), ISBN-Nr.: 0-679-44200-6. Die Schriftstellerin Ehrlich verfällt der Welt der Inuit und des Eises und erzählt davon in einer stimmungsvollen, unaufgeregten Prosa.

SUUNTO LUMI Julia takes a well-deserved break atop Moser Mandl peak in Austria – far from her office cubicle. “You get so caught up in routine that you forget how nice it is to just live without one, even if it’s just for a while. My Suunto Lumi reminds me that it’s always possible.” For more on Suunto Lumi, visit www.suunto.com Because life is not a spectator sport.