Ein Strassenverkehrsunfall mit bemerkenswerten Folgen. KADNER GRAZIANO, Thomas Michael, LANDBRECHT, Johannes

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Author: Steffen Fromm
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Ein Strassenverkehrsunfall mit bemerkenswerten Folgen

KADNER GRAZIANO, Thomas Michael, LANDBRECHT, Johannes

Reference KADNER GRAZIANO, Thomas Michael, LANDBRECHT, Johannes. Ein Strassenverkehrsunfall mit bemerkenswerten Folgen. JURA, 2014, p. 624-631

DOI : 10.1515/jura-2014-0072

Available at: http://archive-ouverte.unige.ch/unige:44670 Disclaimer: layout of this document may differ from the published version.

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DE GRUYTER

Juristische Ausbildung 2014(6): 624-631

Methodik ZR

Kla usur Prof. Dr. Thomas Kadner Grazia no LL.M. (Harv.) und RA Dr. Jo hannes La ndbrecht LL. B. (Lon don)

Ein Straßenverkehrsunfall mit bemerkenswerten Folgen DOl 10.1515/ jura-2014-0072

SACHVERHALT

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lieh, nur den für ihn gewohnten Weg zwischen Haus und Fußballverein zu wählen, woran sich K auch immer hält. Das Auto des A erleidet einen Sachschaden von 1.500€. K selbst wird nicht verletzt, jedoch entsteht ein Sachschaden an seinem Fahrrad in Höhe von 320 € . A und K (dieser vertreten durch seine Eltern) verlangen voneinander Schadensersatz. A ist von diesem Ansinnen des K empört. Er habe bei dem Unfall gestanden und eine ganz passive Rolle gespielt. Von ihm sei keine Gefahr für K ausgegangen. In dem Vertrag zwischen A und der Auto-Bank AG ist vorgesehen, dass A für jede Beschädigung des Pkw einzustehen hat. Vorsichtshalber ermächtigt die Bank den Leasingnehmer zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen wegen Beschädigung des Pkw durch Dritte.

Der A fährt an einem Samstag mit seinem Pkw zum Einkaufen. Eigentümer des Fahrzeugs ist der Leasinggeber Auto-Bank AG. An einer roten Ampel im Stadtgebiet hält A vorschriftsmäßig an und wartet. Von links nähert sich der achtjährige K, der wie jeden Samstag seit etwa zwei Jahren auf dem Weg zum Fußballtraining ist, mit seinem Fahrrad der Kreuzung. Er möchte nach rechts in die Straße einbiegen, aus der A kommt und in der A an der Ampel wartet. Das Fahrzeug des A ist für K deutlich sichtbar, die Verkehrslage insgesamt übersichtlich, die Kreuzung baulich großzügig ausgestaltet. K ist jedoch unaufmerksam und fährt mit deutlich Frage 1: Kann A von überhöhter Geschwindigkeit. Aufgrund dessen gelingt ihm (a) Kund/oder der Abbiegevorgang nicht und er fährt frontal in das Fahr(b) dessen Eltern Mund V zeug des A. Die Eltern Mund V des K hatten diesem wiedermit Erfolg Ersatz des Sachschadens an seinem Pkw holt erläutert und vorgeführt, wie er sich verkehrsgerecht verlangen? verhalten muss. Auch das Verkehrstraining in der Schule hat K erfolgreich absolviert. In den ersten Monaten, die K Frage 2: Hat K einen Anspruch gegen A auf Ersatz des zum Fußballtraining gefahren ist, hatten M oder V außer- Schadens, den sein Fahrrad bei dem Unfall erlitten hat? dem den K auf dem Fahrrad begleitet, damit sich K die Strecke einprägen konnte. Seit etwa l 1/2 Jahren begleiten die Eltern den K allerdings nicht mehr, weil er sich mittLÖSUNG lerweile in der Stadt auskennt. Sie ermahnten ihn ledig-

A. Frage 1 a): Anspruch des A gegen K 1 Der Fall ist inspiriert durch das Urteil des BGH v. 17. 4. 2007- VI ZR 109/06, BGHZ 172, 83. Er wurde ergänzt um Aspekte, die in weiteren Fällen der Rechtsprechung zu diesem Themenkomplex eine Rolle spielten. Thomas Kadner Graz iano: Der Autor ist Ordentlicher Professor an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universtität Genf. Johannes Lan dbrecht: Der Autor ist Rechtsanwalt in Genf, vormals wissenschaftlicher Mitarbeiter an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Genf.

1. Anspruch aus § 823 12 A könnte wegen der Beschädigung des Pkw gegen K einen Anspruch auf Schadensersatz i. H. v. 1.500€ aus § 823 I

2 Die im Folgenden zitierten §§ entstammen, wenn nicht anders bezeichnet, dem BGB.

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haben. Dies setzt eine rechtswidrige und schuldhafte Verletzung in einem der in§ 823 1 genannten Rechtsgüter des A voraus. Der Pkw stand im Eigentum der Auto-Bank, so dass A nicht in seinem Eigentum verletzt ist. Er könnte aber in seinem Recht zum Besitz des Pkw als »sonstigem Recht« verletzt sein. Es ist anerkannt, dass auch der Besitz ein absolutes Recht und Gegenstand des Schutzes durch § 823 1 sein kann3 • Vorliegend begehrt A allerdings Schadensersatz nicht wegen einer Störung im Besitz (sog. Nutzungsinteresse), sondern wegen der Substanzverletzung des Pkw (sog. Haftungsinteresse). Bei Verletzung seines Besitzes kann dem Besitzer tatsächlich u. U. nicht nur ein Anspruch auf Ersatz des Nutzungsschadens, sondern auch auf Ersatz des Substanzschadens an der Sache zustehen 4 • So spricht die Rechtsprechung dem Leasingnehmer einen Anspruch aus § 823 1 gegen den Schädiger der Leasingsache dann zu, »wenn der Leasingnehmer wegen der Beschädigung des Eigentums des Leasinggebers, von dem er seinen Besitz ableitet, diesem vertraglich ersatzpflichtig ist«5. So ist die Sachlage im vorliegenden Fall: Aist Leasingnehmer der Sache und dem Leasinggeber nach dem Leasingvertrag für jede Beschädigung der Sache verantwortlich. Bei dieser Sachlage genießt sein Besitz an dem Pkw deliktischen Schutz und zwar ausnahmsweise auch bezüglieh des Substanzschadens an dem Plspezifische Gefahr< des motorisierten Verkehrs verwirklicht hat. Der Unfall war einzig und allein auf ein Verhalten des K zud) Teleologische Reduktion des§ 82811: Erfordernis rückzuführen. A machte nichts anderes, als sich mit seieiner typischen Überforderungssituation? A trägt vor, er habe bei dem Unfall gestanden und eine nem Fahrzeug zu einer bestimmten Zeit an einem beganz passive Rolle gespielt. Von ihm sei keine Gefahr für K stimmten Ort zu befinden. Von seinem Pkw ging in der ausgegangen. Fraglich ist, ob es einer Entlastung des K konkreten Situation keine Gefahr aus, die auf die Genach § 828 II entgegensteht, dass sich das Fahrzeug des A schwindigkeit des Pkw zurückzuführen war. im konkreten Fall gar nicht bewegte und Kin ein stehendes Die >besonderen Gefahren< können sich allerdings 9 im >ruhenden Verkehr< verwirklichen13 • Der BGH forauch Fahrzeug hineinfuhr • § 828 II wurde im Jahre 2002 ins BGB eingeführt, weil dert allein, dass sich das Kind allgemein in einer verkehrsdie komplexen und oft schwer überschaubaren Vorgänge typischen Überforderungssituation befindet. Er verlangt im Straßenverkehr das Beurteilungsvermögen und die Re- nicht, dass der Autofahrer zu dieser Situation etwas beiaktionsfähigkeit von 7 bis 10-Jährigen regelmäßig über- getragen (oder er den Unfall gar verschuldet) hat. Als altersbedingte Defizite des Kindes, die eine Überfordern. Kinder dieses Alters sollen für fahrlässig verforderungssituation begründen können, werden insbes. ursachte Schäden im Straßenverkehr daher nicht haften. Im Hinblick auf diese Ratio der Vorschrift hat der BGH die noch nicht völlig ausgebildete Fähigkeit des Kindes § 828 II 1 teleologisch reduziert. Hiernach greift dieses Haf- genannt, Entfernungen und Geschwindigkeiten richtig tungsprivileg »nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift einzuschätzen. In einem neueren Urteil führt der BGH aus, nur ein, wenn sich bei der gegebenen Fallkonstellation eine »typische Gefahr des motorisierten Verkehrs [könne) eine typische Überforderungssituation des Kindes durch auch von einem Kraftfahrzeug ausgehen, das im fließendie spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs rea- den Verkehr anhält (d. h. seine Geschwindigkeit auf Null reduziert)« 14, und zwar auch dann, wenn der Fahrer des lisiert« hat10 • Fraglich ist hiernach zunächst, ob A in der konkreten Fahrzeugs sich verkehrsordnungsgemäß verhalten hat. Situation am >motorisierten Verkehr< teilnahm. Nach der Die Urteilsbegründung sowie der Leitsatz des zitierten UrRechtsprechung nimmt ein Fahrzeug auch dann am flie- teils führen zwar weiter aus, dass das stehende Fahrzeug ßenden Straßenverkehr Teil, wenn der Fahrer vorüber- »auf der Fahrbahn für das Kind ein plötzliches Hindernis gehend verkehrsbedingt hält11 • »Der Begriff der >Fahrt< ist bilde[n müsse], mit dem [das Kind] möglicherweise nicht nach allgemeinem Sprachgebrauch nicht eindeutig. Hie- gerechnet hat«, doch scheint dies nicht als wirklich einrunter ist [„.) nicht nur der bloße Zustand des Fahrens zu schränkendes Kriterium gedacht zu sein, weil das Fahrverstehen, den die StVO in der Regel mit dem entsprechen- zeug auch in der betreffenden Entscheidung kein »plötzliden Tätigkeitswort >fahren< oder seinen Abwandlungen ches Hindernis« darstellte, sondern bereits aus 20 Metern umschreibt (vgl.§§ 2ff.), sondern auch der Gesamtvorgang Entfernung für das Kind zu sehen war15 • Trotzdem hat der der Benutzung des Kraftfahrzeuges als Beförderungsmittel BGH § 828 II angewandt und die Haftung des Kindes verim Straßenverkehr, um von einem Ort zum anderen zu neint. gelangen [„.]. Dieser einheitliche Vorgang wird nicht da-

8 BGH, Urt. v. 27. 05. 1993 - III ZR 59/92=NJW1993, 2173; Kaufmann, in: Geige!, Haftpflichtprozess, 26. Auf. 2011, Kap. 25, Rn. 6. 9 Hier liegt ein Schwerpunkt des Falles. Bessere Bearbeitungen müssen diese Frage aufwerfen und diskutieren. 10 BGH, Urt. v. 30. 11. 2004 - VI ZR 335/03, BGHZ 161, 180 und BGH, Urt. v. 21. 12. 2004 - VI ZR 276/03, VersR 2005, 378. 11 Vgl. BGH, Urt. v. 17. 04. 2007, VI ZR 109/06, Rn. 11 = BGHZ 172, 83.

12 BGH, Urt. v. 12. 12. 2000, VI ZR 411/99. 13 BGH, Urt. v. 11. 03. 2008, VI ZR 75/07, Rn. 6 = VersR 2008, 701: Fährt ein Kind mit einem Fahrrad gegen ein mit geöffneten hinteren Türen am Fahrbahnrand stehendes Fahrzeug, so entfällt seine Haftung nach§ 828 II. Anders, wenn ein neunjähriges Kind infolge leichter Unaufmerksamkeit mit dem Fahrrad gegen einen ordnungsgemäß geparkten PKW fährt: BGH, Urt. v. 21. 12. 2004, VI ZR 276/03 = NJWRR 2005, 327. 14 BGH, Urt. v. 17. 04. 2007, VI ZR 109/06, Rn. 10. 15 BGH, Urt. v. 17. 04. 2007, VI ZR 109/06, Rn. 2.

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Vorliegend hat sich K mit seinem Fahrrad auf eine Kreuzung zubewegt und hierbei die eigene Geschwindigkeit unterschätzt. Kreuzungssituationen bergen in der Regel besondere Anforderungen an den Verkehrsteilnehmer, da mit Fahrzeugen aus verschiedenen Richtungen zu rechnen ist. Täuscht man sich über die Verkehrslage, können auch im Verkehrsraum stehende Fahrzeuge - wie vorliegend der Pkw des A - zu (gefährlichen) Hindernissen werden.

e) Zwischenergebnis

§ 828 II ist für die vorliegende Fallkonstellation daher nicht teleologisch zu reduzieren. Eine deliktische Haftung des K ist somit nach§ 828 II 1 ausgeschlossen. Wie erwähnt, hat K den Unfall nicht vorsätzlich herbeigeführt, so dass der 8-jährige K auch nicht nach§ 828 II 2 haftet.

3. Ergebnis

A hat wegen der Beschädigung des Pkw keinen Anspruch gegen K aus § 823 I auf Erstattung der Reparaturkosten von 1.500€16 •

II. Anspruch aus § 7 StVG Eine vom Verschulden unabhängige Haftung des K nach § 7 StVG kommt nicht in Betracht, da die objektive Haftung aus§ 7 StVG gemäߧ 1 Abs. 2 StVG nur den motorisierten Verkehrsteilnehmer trifft, nicht den Fahrradfahrer.

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Die Billigkeitshaftung nach § 829 setzt zunächst voraus, dass der Minderjährige den objektiven Tatbestand einer unerlaubten Handlung verwirklicht hat; wie soeben dargelegt, hat K den A an seinem Besitz an dem Pkw rechtswidrig geschädigt. Zudem muss die Tat grundsätzlich schuldhaft iSd § 276 begangen worden sein, wegen des§ 828 fehlt allein die Verschuldensfähigkeit. Auch dies ist, wie dargelegt, der Fall (s.o.). Die Haftung setzt des Weiteren voraus, dass die Billigkeit unter Berücksichtigung aller Umstände die Schadloshaltung des Geschädigten erfordert, nicht nur erlaubt18 . Dies setzt ein wirtschaftliches Gefälle zwischen den Parteien, also erheblich bessere Vermögensverhältnisse des Schädigers als des Geschädigten, voraus 19 • Entsprechende Angaben für ein solches wirtschaftliches Gefälle zwischen den Parteien sind im Sachverhalt nicht ersichtlich, so dass auch eine Haftung des K nach § 829 ausscheidet. Weitere Anspruchsgrundlagen sind im Verhältnis A gegen K nicht ersichtlich. K haftet somit nicht für den Schaden am Pkw des A.

B. Frage 1 b): Anspruch des A gegen Mund V, die Eltern des K A könnte gegen Mund V, die Eltern des K, einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 1.500 € aus § 832 I 1 haben.

1. Aufsichtspflicht für K Als Mutter und Vater sind Mund V über den 8-jährigen K aufsichtspflichtig (§§ 1626 I, 1631 I).

III. Anspruch aus § 829 Es kommt somit allein eine Billigkeitshaftung des K nach § 829 in Betracht, sofern »Ersatz des Schadens nicht von einem aufsichtspflichtigen Dritten erlangt werden kann«, d.h. vorliegend von seinen Eltern (dazu sogleich, unter B.)11.

16 Weitere mögliche Anspruchsgrundlage:§ 823 II 1 i. V. m. § 1 StVO. Das Problem der Deliktsfähigkeit stellt sich hier jedoch in gleicher Weise wie bei§ 823 1, so dass auf eine Behandlung dieser Vorschrift hier verzichtet wird. 17 Zum Aufbau: Die Frage der Billigkeitshaftung des Minderjährigen kann hier behandelt werden oder unten, nachdem die Prämisse (Eltern haften nicht) geklärt ist.

II. Rechtswidrige Schädigung des A durch K K hat, wie von § 832 I 1 vorausgesetzt, einem Dritten (hier A) rechtswidrig einen Schaden an einem der durch die §§ 823 ff. geschützten Rechtsgüter zugefügt (s.o.). Auf ein Verschulden und die Verschuldensfähigkeit des Minderjährigen kommt es insoweit nicht an. § 832 I statuiert eine Haftung der Aufsichtspflichtigen für deren vermutetes Eigenverschulden. Auch die Kausalität zwi-

18 Palandt/Sprau, 72.Aufl., 2013, § 829, Rn. 4. 19 Palandt/Sprau, 72.Aufl., 2013, § 829, Rn. 4.

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sehen der vermuteten Pflichtverletzung der Eltern und dem Schaden wird vermutet. Die Voraussetzungen einer Haftung von Mund V nach § 8321 1 sind somit im Grundsatz erfüllt.

III. Exkulpation wegen Einhaltung der Aufsichtspflicht durch M und V Die Eltern könnten aber nach § 832 1 2 exkulpiert sein. Dann müssten sie ihrer Aufsichtspflicht genügt haben (Entlastungsbeweise für das Verschulden) oder der Schaden müsste auch bei gehöriger Aufsicht entstanden sein (Entlastungsbeweis für die Kausalität). Die Eltern Mund V ließen den 8-jährigen K alleine am Straßenverkehr teilnehmen. Fraglich ist, ob sie damit ihren Aufsichtspflichten über den K nachgekommen sind (1.). Unter Umständen ist eine verschärfte Aufsichtspflicht anzunehmen, weil das Kind selbst, d. h. der unmittelbare Schädiger, gemäߧ 828 II nur sehr eingeschränkt für Schäden im Straßenverkehr haftet (2.).

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K hat den Verkehrsunterricht in der Schule absolviert. Die Eltern haben ihn zudem selbst in verkehrsgerechtem Verhalten unterwiesen und sind mit ihm die Strecke zum Fußballtraining - die der K auch am Tag des Unfalls benutzte - eine Zeit lang abgefahren, damit er sich den Weg, den Verkehr und das auf dieser Strecke konkret erforderliche Verhalten einprägen konnte. K war bereits 8 Jahre alt und hatte mindestens zwei Jahre Erfahrung auf der von ihm am Unfalltag gewählten Strecke durch die Stadt. Er war somit sowohl in der Schule als auch individuell von den Eltern in den Verkehrsregeln unterwiesen worden. Zwar ließen die Eltern den K danach alleine Fahrrad fahren ohne unmittelbare Beaufsichtigung (Sichtkontakt), doch liegt darin alleine noch keine Aufsichtspflichtverletzung23. Im Gegenteil gebietet es§ 1626 II bei der Erziehung sogar, dem Kind zunehmend einen eigenen Freiraum einzuräumen. Hiernach haben die Eltern des K ihrer Aufsichtspflicht genügt.

2. Strengerer Standard wegen § 828 II?

1. Aufsichtspflicht

Das Maß der gebotenen Aufsicht (Überwachung, Belehrung, Kontrollen) bestimmt sich nach Alter, Eigenart und Charakter des Kindes sowie der Voraussehbarkeit schädigenden Verhaltens; insgesamt danach, was verständige Eltern vernünftigerweise in der konkreten Situation an erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen treffen müssen, um die Schädigung Dritter durch ihr Kind zu verhindern20. Vor diesem Hintergrund ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, ob M und V ihrer Aufsichtspflicht nachgekommen sind 21 . Die Rechtsprechung geht davon aus, dass Kinder grundsätzlich schon ab dem 6. Lebensjahr mit dem Fahrrad am Straßenverkehr teilnehmen dürfen. Eine Verletzung der Aufsichtspflicht liegt insbesondere dann nicht vor, wenn das Kind hinreichend in den Verkehrsregeln unterwiesen worden ist22 •

20 Palandt/Sprau, 72. Aufl., 2013, § 832, Rn. 10. 21 Manche Bearbeiter waren hier ausgesprochen streng. Schärfere Anforderungen an die Eltern führen aber letztlich dazu, dass Kinder im Alter des K selbst in ruhigen Wohngegenden kaum selbstständig am Straßenverkehr teilnehmen könnten. Hier wird leicht übersehen, dass bei Minderjährigen immer ein Restrisiko verbleibt und auch der Gesetzgeber keine lOOo/o-ige Risikovermeidung verlangt, was nicht zuletzt durch § 828 II belegt wird. 22 Vgl. etwa OLG Koblenz, Beschl. v. 21. 01. 2009-12U1299/08.

Fraglich ist allenfalls, ob sich der Maßstab, der an die Aufsichtspflicht der Eltern anzulegen ist, deshalb verschärft, weil das zu beaufsichtigende Kind selbst nur sehr eingeschränkt haftet(§ 828 II). Der Gesetzgeber wollte mit der Neuregelung des § 828 II die Entlastung für Kinder unter 10 Jahren im Straßenverkehr erreichen, nicht aber die Haftung der Aufsichtspflichtigen verschärfen24 . Eine solche Verschärfung würde die Privilegierung der Kinder konterkarieren und die Haftung für den Unfall lediglich in der Familie umschichten25 • Ergebnis der neuen Rechtslage ist, dass die Autofahrer zusätzlichen Versicherungsschutz suchen müssen bzw. die Versicherungen ihre Policen ändern. Damit werden Schäden, die daraus resultieren, dass Kinder nicht alle Situationen meistern können, solidarisch auf alle diejenigen verteilt, die vom Straßenverkehr profitieren, nämlich in erster Linie die Autofahrer selbst. Gleichzeitig werden dadurch indirekt die Familien entlastet26 • Kinder müssen an den

23 Vgl. LG Osnabrück, Urt. v. 02. 07. 2008 - 2 S 201/08 im Leitsatz 1; OLG Oldenburg, Urt. v. 04. 11. 2004 -1U73/04, Rn. 11. 24 Vgl. LG Osnabrück, Urt. v. 02. 07. 2008 - 2 S 201/08 (Leitsatz 2: »Die Haftungsprivilegierung des§ 828 Abs. 2 für noch nicht 10 Jahre alte Kinder führt nicht zu einer erhöhten Aufsichtspflicht der Eltern«). 25 Vgl. ausführlich OLG Oldenburg, Urt. v. 04. 11. 2004 - 1 U 73/04, Rn.14. 26 Angesichts der zunehmend familienfreundlichen Politik wohl ein wichtiges Motiv des Gesetzgebers.

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heutigen Straßenverkehr und seine Gefahren herangeführt werden, doch tragen diese Kosten aufgrund des § 828 II nun in geringerem Maße die Familien. Der Großteil der Lasten wird auf den Staat übertragen (Verkehrserziehung in der Schule) bzw. auf die Gesamtheit der Autofahrer umgelegt (Kfz-Versicherung).

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1. Voraussetzungen des Anspruchs aus§ 71 StVG

Bei dem Zusammenprall mit dem von A gesteuerten Pkw wurde das Fahrrad des K geschädigt. Dieser Schaden müsste beim Betrieb eines Kfz entstanden sein.

a) Bei Betrieb des Kraftfahrzeugs?

IV. Ergebnis M und V haben ihrer Aufsichtspflicht genügt, sind somit exkulpiert und dem A daher nicht zum Ersatz des Schadens in Höhe von 1.500€ verpflichtet27 •

C. Frage 2: Anspruch des K gegen denA K könnte seinerseits einen Anspruch gegen A auf Erstattung des Schadens am Fahrrad in Höhe von 320 €haben.

1. Anspruch aus § 823 1 Ein solcher Anspruch könnte sich aus§ 823 I ergeben. K hat bei dem Vorfall einen Schaden an seinem Eigentum erlitten. Dieser Schaden beruhte auf einer Handlung des A, nämlich dessen Teilnahme am Straßenverkehr. Bei einer Verletzung in einem absolut geschützten Rechtsgut (wie hier dem Eigentum) ist die Rechtswidrigkeit indiziert. An dem Unfall trifft den A aber keinerlei Verschulden, so dass ein Anspruch des K gegen A aus§ 823 I ausscheidet28 •

II. Anspruch aus § 7 1StVG Ein Schadensersatzanspruch des K gegen A könnte sich jedoch aus§ 7 I StVG ergeben. Dies setzt voraus, dass beim Betrieb eines Kraftfahrzeuges eine Sache beschädigt wurde. In diesem Fall ist der Halter verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen, es sei denn, es liegt ein Fall höherer Gewalt vor.

27 § 823 1 wird soweit als lex generalis verdrängt, als die Eltern nicht parallel eine Verkehrssicherungspflicht verletzt haben, vgl. Staudinger, in: Schulze, BGB, 7. Aufl., 2012, § 823, Rn. 3. 28 Ein Anspruch aus § 823 II i. V. m. § 303 StGB scheitert ebenfalls jedenfalls am fehlenden Verschulden des A.

Der Begriff des Betriebs eines Kraftfahrzeugs ist nach hM weit auszulegen. Er umfasst alle Schadensabläufe, die durch den Kraftfahrzeugverkehr beeinflusst sind. Das Fahrzeug ist in Betrieb, solange es sich im öffentlichen Verkehrsbereich bewegt oder in verkehrsbeeinflussender Weise ruht29 • Der Pkw des A stand vor einer Ampel, als es zu dem Zusammenstoß zwischen Fahrrad und Pkw kam. Der Schaden entstand somit beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs.

b) Zu rechnungszusammenhang/Kausalität

Es könnte aber fraglich sein, ob der erforderliche Kausalzusammenhang zwischen dem Betrieb und dem Schadensereignis (»bei«) gegeben ist. Bloße Anwesenheit des Kfz am Unfallort ohne einen weiteren Verursachungsbeitrag genügt noch nicht; es muss sich die spezifische Gefahr des Kfz als Betriebsmittel verwirklichen30 • Kommt es zu einer Berührung von Kfz und Verletztem, so ist der Zurechnungs- bzw Kausalzusammenhang aber regelmäßig zu bejahen31 • Zwar hielt A mit seinem Fahrzeug an einer Ampel, als es zu dem Unfall kam. Doch nahm er mit dem Pkw betriebsspezifisch am Straßenverkehr teil und schaffte damit erst die Möglichkeit, dass es zu dem Unfall und dem Sachschaden am Fahrrad des K kommen konnte. Auch der erforderliche Kausalzusammenhang zwischen dem Betrieb des Pkw und dem Schadensereignis ist damit gegeben.

c) Haltereigenschaft des A

Schließlich müsste A Halter des Pkw sein. - A gebrauchte den Pkw für eigene Rechnung und besaß die Verfügungsgewalt über das Fahrzeug. Auf die Eigentumsverhältnisse kommt es im Rahmen des § 7 I StVG nicht an32• Auch der Leasingnehmer ist daher als Halter anzusehen.

29 Wandt, Gesetzliche Schuldverhältnisse, 5. Aufl., 2012, § 21, Rn. 12. 30 Wandt, Gesetzliche Schuldverhältnisse, 5. Aufl., 2012, § 21 Rn. 13f. 31 Wandt, Gesetzliche Schuldverhältnisse, 5. Aufl„ 2012, § 21, Rn. 13. 32 Wandt, Gesetzliche Schuldverhältnisse, 5. Aufl„ 2012, § 21, Rn. 8f.

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2. Haftungsausschluss

III. Anspruch aus § 18 11 StVG

Die Ersatzpflicht des Halters ist gemäß § 7 II StVG ausgeschlossen, wenn der Unfall durch höhere Gewalt verursacht wurde. Unter höherer Gewalt sind außergewöhnliche, betriebsfremde, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter (betriebsfremder) Personen herbeigeführte Ereignisse zu verstehen, die nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar sind 33 • Der durch die Unachtsamkeit des K verschuldete Unfall stellte zwar für A ein von außen kommendes Ereignis dar, doch war dieses Ereignis nicht durch elementare Naturkräfte verursacht. Auch ist ein solches Verhalten eines 8-Jährigen nicht gänzlich unvorhersehbar. Die Haftung des A ist somit nicht wegen höherer Gewalt ausgeschlossen.

A war Fahrer des am Unfall beteiligten Pkw. K könnte gegen ihn daher schließlich auch einen Anspruch auf Ersatz des Schadens an seinem Fahrrad aus § 18 1 1 StVG haben. Gemäß § 18 1 1 StVG ist in den Fällen des § 7 1 StVG auch der Führer des Kraftfahrzeugs zum Ersatz des Schadens verpflichtet. Die Ersatzpflicht ist allerdings nach § 18 1 2 StVG ausgeschlossen, wenn der Schaden nicht durch ein Verschulden des Führers verursacht ist. Wie gesehen, liegen vorliegend zwar alle Voraussetzungen eines Anspruchs gegen A aus§ 7 1 StVG vor. Den A trifft an dem Unfall aber keinerlei Verschulden, so dass er nach§ 18 12 StVG exkulpiert ist.

3. Mitverschulden, § 9 StVG i. V. m. § 254

Fraglich ist allerdings, ob den K ein Mitverschulden trifft, das gemäß § 9 StVG entsprechend § 254 anspruchsmindernd zu berücksichtigen sein könnte. Hat der Geschädigte das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet, so ist er gemäß § 828 II für den Schaden, den er verursacht, nicht verantwortlich. § 828 II stellt den Minderjährigen, der das zehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, von jeglicher Verantwortlichkeit frei, unabhängig davon, ob er »Täter« oder »Opfer« des Verkehrsunfalls war34 • § 828 II schließt auch aus, ein eigenes Mitverschulden des Minderjährigen zu seinen Lasten zu berücksichtigen35 •

33 Wandt, Gesetzliche Schuldverhältnisse, 5. Aufl„ 2012, § 21, Rn. 16. Weiterführende Anmerkung: Die Neufassung dieser Vorschrift stellt eine Haftungsverschärfung gegenüber der früheren Fassung dar, nach der schon ein »unabwendbares Ereignis« die Haftung entfallen ließ. 34 Vgl. Heß, in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, StVR, 22. Aufl„ 2012, § 9, Rn. 13. - Ein eventuelles Mitverschulden seiner gesetzlichen Vertreter muss sich der Minderjährige außerhalb einer rechtlichen Sonderbeziehung zwischen den Parteien (Schädiger und Geschädigter, hier A und K) nach h. M. nicht zurechnen zu lassen, vgl. Palandt/ Grüneberg, 72. Aufl„ 2013, § 254, Rn. 49 m. w. N.; Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 24. Aufl„ Rn. 865ff. (mit Nachw. zum Meinungsstand). Es kommt insoweit daher nicht darauf an, ob M und V ihre Sorgfaltspflicht erfüllt haben. - Wie oben gesehen, sind V und M ihren Sorgfaltspflichten zudem voll und ganz gerecht geworden. 35 Siehe stellvertr. Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 24. Aufl„ Rn. 866.

IV. Ergebnis K hat gegen A damit einen Anspruch aus § 7 1 StVG auf Ersatz des Schadens an seinem Fahrrad i. H. v. 320€.

D. Gesamtergebnis Damit ergibt sich als Gesamtergebnis des Falles, dass der an der Ampel stehende A den Schaden, den er an seinem Pkw erleidet, selbst tragen muss. K, der auf den Pkw des A aufgefahren ist und den Unfall allein verschuldet hat, kann dagegen von A mit Erfolg Ersatz des Schadens an seinem Fahrrad verlangen. Dieses - für viele Klausurbearbeiter überraschende Gesamtergebnis erklärt sich mit zwei grundlegenden Entscheidungen des Gesetzgebers: Erstens sollen Kinder unter 10 Jahren im Straßenverkehr weitgehend von einer Haftung freigestellt werden. Zweitens soll das Risiko, dass Kinder im Straßenverkehr Schäden erleiden, nicht von deren Eltern getragen werden, sondern wird auf die Gesamtheit der motorisierten Verkehrsteilnehmer umgelegt und damit sozialisiert. Treffen beide Prinzipien im konkreten Fall aufeinander, so kann dies - wie vorliegend - zu bemerkenswerten Ergebnissen führen.

Hinweis: Der Fall wurde in der Übung im deutschen Zivilrecht für Fortgeschrittene, die an der Universität Genf traditionell angeboten wird (vgl. www.unige.ch/droit/ bgb), als Klausur gestellt (Kategorie: Standardprobleme, durchschnittlicher Schwierigkeitsgrad). Die Autoren sind erreichbar unter [email protected] und jland [email protected]. Siehe für weitere Genfer Klausuren zum BGB: Kadner Graziano/Wiegand, Kaufrechtliche und deliktische Haftung für >Weiterfresserschäden