Ein Europa ein Volk?

Serie Europa (III) Europäer aller Länder sind auf der Suche nach einer Idee: Wie soll das Europa der Zukunft aussehen? Könnte ein Staatenbund der Nat...
Author: Hella Günther
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Europa (III) Europäer aller Länder sind auf der Suche nach einer Idee: Wie soll das Europa der Zukunft aussehen? Könnte ein Staatenbund der Nationen funktionieren? In einer dreiteiligen Serie berichtet der SPIEGEL über neue Pläne zum Umbau der Europäischen Union und die Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“. Wissenschaftler sind sich einig: Im 21. Jahrhundert werden sich die Gesellschaften der Welt wie nie zuvor mischen. Das grenzenlose Internet wird die Köpfe und Herzen stärker prägen als nationale Gewohnheiten.

EUROPAS ZUKUNFT

Ein Europa – ein Volk? Wie die Bürger von Nationalstaaten zu einem Wir-Gefühl finden könnten uropa hat ein Gesicht. Es kann grinsen und hat Sommersprossen. Fast jeder kennt das Gesicht, es gehört zu Daniel Cohn-Bendit, 66, dem grünen Europaabgeordneten und Ex-Revoluzzer. Kein anderer kann Europa erklären wie der „Rote Dany“. Kein anderer kann wie der polyglotte Weltbürger in fast allen Ländern des Kontinents die Menschen dazu bringen, zuzuhören und ein bisschen von der Begeisterung aufzuschnappen, die er für Europa verstrahlt: „Die Vereinigten Staaten von Europa wird es geben. Da bin ich ganz sicher.“ Cohn-Bendit will bei der nächsten Europawahl nicht mehr antreten, er will seinen Ruhestand genießen. Leute wie er brauchen keine Rücksicht mehr zu nehmen auf die Empfindlichkeiten der Mitgliedstaaten, auf Parteikalkül. Dany latscht quer durch überkommene Schrebergärten politischer Macht und politischer Mächte. So gesehen ist Europa ganz einfach. Das vereinigte Europa könnte, so stellt es sich der Grünen-Politiker vor, etwa so organisiert sein wie die Bundesrepublik Deutschland: mit einer Regierung in Brüssel, das ist die Kommission, deren Mitglieder werden vom Europäischen Parlament (EP) gewählt; und als zweiter Kammer neben dem Parlament – so wie der Bundesrat als Vertretung der Bundesländer – der Rat in Brüssel, der ebenfalls an der Gesetzgebung für Europa beteiligt ist. Außen- und Verteidigungspolitik, die Finanz- und weite Teile der Wirtschaftspolitik würden von Brüssel aus gesteuert. Die Vereinigten Staaten von Europa: So könnten sie aussehen. Politiker verschiedenster Couleur, in Brüssel und in vielen Mitgliedstaaten, auch in Deutschland, sehen das ähnlich. Doch wer außer dem Sonnenschein Cohn-Bendit traut sich das schon auszusprechen? Wer mit solchen Modellen spielt, kommt schnell in den Verdacht, ein Vaterlandsverräter zu sein. Alle Macht nach Brüssel? Was sollen die Parteifreunde, die Wähler daheim sagen?

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Die Voraussetzungen dafür werden In vielen Think-Tanks Europas haben Politikwissenschaftler und Intellektuelle nach Auffassung der Europa-Optimisten den europäischen Bundesstaat sogar ständig besser. „Die Behauptung, es gebe schon weiter gedacht. Wäre es nicht sinn- kein europäisches Volk, steht in Widervoll, nach dem Vorbild der Vereinigten spruch zum systemischen ZusammenStaaten von Amerika, den Rat durch ei- wachsen der multikulturellen Weltgesellnen Senat zu ersetzen? Wie in Washington schaft“, sagt Habermas. Viele sehen das wären die Emissäre aus den Bundesstaa- ähnlich: Die Gesellschaften der Welt werten dann nicht einfach Regierungsmitglie- den im 21. Jahrhundert vollkommen neu der, sondern in den Staaten gewählte Ver- gemischt, traditionelle Identitäten bleiben treter, Senatoren eben, die eine direkte bestehen, verlieren jedoch ihre prägende Kraft. Die Nation der Deutschen wird demokratische Legitimation hätten. Auch in den USA, wo viele um die Zu- nicht untergehen, aber ihre Gesellschaft kunft des Gegenübers fürchten, wird mit- hat an nationaler Exklusivität verloren, gedacht. Vom New Yorker Völker- und seit jeder fünfte Deutsche einer EinwanEuroparechtler Joseph Weiler etwa dererfamilie entstammt. Dass neben die nationalen Identitäten kommt der Vorschlag, an die Spitze eines vereinten Kontinents ein europäisches eine gemeinsame europäische Identität Verfassungsgericht zu stellen. Es soll tritt, ist für den Frankfurter Staatsrechtler nach Karlsruher Vorbild die Macht von Erhard Denninger geradezu unvermeidBrüssel kontrollieren und notfalls korri- lich. Schon heute gebe es einen „Konsens gieren – und den Bürgern das gute Ge- über ethische Grundfragen“. Der Respekt fühl vermitteln, dass da jemand aufpasst. vor der Menschenwürde, dem Individuum Damit das Geschrei unter den nationalen und dem demokratischen Gesetz eint die Verfassungsgerichten nicht so groß ist, Europäer ebenso wie der unbedingte Glausollen die Mitgliedstaaten Richter von be an die unsichtbare Hand des Marktes daheim zur Brüsseler Superinstanz schi- und die unbedingte Notwendigkeit, diesen Markt sozialstaatlich zu bändigen. cken dürfen. „Die ethische Exklusivität, die einen Pläne, wie Europa als Großmacht politisch vereint den Märkten und den ande- nationalen Staat charakterisiert“, sagt der ren Weltmächten gegenübertreten soll, britische Politikberater Robert Cooper, gibt es zuhauf; Gelehrte vieler Disziplinen „passt nicht mehr in eine Zeit ohne Grenarbeiten an Entwürfen für eine funktions- zen.“ Nationaler Patriotismus sei von gesfähige europäische Demokratie – ein Ge- tern. Cooper, der lange Jahre für den Rat meinwesen, dessen Bürger sich wie „Wir, in Brüssel arbeitete und mittlerweile den Auswärtigen Dienst der EU berät, findet die Europäer“ fühlen und verhalten. Einer ihrer Wortführer, wenn auch nicht inzwischen die Eurokraten „patriotiso eloquent wie Cohn-Bendit, heißt Jürgen scher“ als seine Landsleute. Es ist ein weltbürgerlicher MenschenHabermas. „Mit einem territorialen Größenwachstum und einer numerischen Er- rechtspatriotismus, durchaus ähnlich dem weiterung der Grundgesamtheit der Be- „Verfassungspatriotismus“ der Deutschen, teiligten ändert sich allein die Komplexität der die Bonner Republik des Grundgesetdes Meinungs- und Willensbildungsprozes- zes so friedlich, bescheiden und weltoffen ses“, behauptet der Demokratie-Denker. erscheinen ließ. Er beruht auf einem überDie „Kooperation der Bürger aller betei- nationalen Konsens, der neue Institutioligten Staaten“ setze freilich voraus: funk- nen wie den Internationalen Strafgerichtstionierende „Deliberation“, den europa- hof in Den Haag hervorgebracht hat, wo weiten öffentlichen Diskurs und „Inklu- die ethischen Grundwerte einer postnasion“, die gleichberechtigte und barriere- tionalen Gesellschaft bewacht werden. freie Möglichkeit eines jeden, in der GeBei so viel Gemeinsamkeit hindern kulsellschaft der Europäer mitzumachen. turelle Unterschiede eine gemeinsame GeD E R

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JULIEN BEHAL / PICTURE ALLIANCE / EMPICS (L.); FRANK HEUER / LAIF (R.)

U-Bahn-Station in London

Kind mit Ponys in Irland CAPMAN / SIPA (L.); ARCTICPHOTO / LAIF (R.)

TOBIAS HASE / DPA (L.); DIAGENTUR / MCS (R.)

Wahllokal in Oberbayern Fischer in Portugal

Schlittenführerin in Norwegen

Roller-Fahrer in Rom

MARTIN EGBERT

durchs Feuer demokratischer Wahlen müssen. Kein Kommissar, auch nicht der Kommissionspräsident, regiert in Brüssel, weil seine Ideen und Reden auch nur einen Wähler überzeugt hätten. Kommissare werden von den nationalen Regierungen geschickt – nicht etwa von den nationalen Parlamenten. Und die Abgeordneten des EU-Parlaments, die mittlerweile immerhin die Kommission als Ganzes bestätigen müssen, haben ihren Wählern auch nicht viel zu sagen. In der Regel sind sie daheim unbekannt. Bei den national organisierten Europawahlen sind zwar die Gesichter der Spitzenleute von den Listen kurz auf lieblos zusammengehauenen Wahlplakaten zu sehen. Darüber und darunter stehen jedoch in der Regel Themen, die wenig mit Europa und viel mit dem nationalen Profil der jeweiligen Partei zu tun haben. Woher sollen sie auch kommen, die europapolitischen Aufreger? „Auf den Bundesparteitagen spielte Europa bisher keine Rolle“, sagt Lambsdorff. Wozu auch? Was es in Europa zu regeln gibt, wird ja ohnehin zunehmend nicht in Brüssel, sondern unter den Regierungschefs der Mitgliedstaaten ausgemacht. Die Delegitimierungsspirale dreht sich immer weiter. Wahlen für das große Einigungsprojekt werden für die Parteien zur lästigen Pflichtübung – und für die Wähler. Wahlbeteiligung zuletzt: 43 Prozent. Nur ein Wettstreit um Namen und Nasen kann die europäische Öffentlichkeit beflügeln und präsentable Ergebnisse zeitigen. Es ist der Europäer Wolfgang Dolmetscher im EU-Parlament in Straßburg: Im Dampfkochtopf des Konferenzraums Schäuble, der seit langem fordert: „Ich sellschaft nicht. Das pluralistische, föderal gibt“, so das Resultat, „keine prinzipiel- wünsche mir die Direktwahl eines euroorganisierte Volk der Deutschen hat am len Hindernisse für die Einführung einer päischen Präsidenten. Dann werden wir eigenen Leib erfahren: Um zusammen deliberativen Demokratie in Europa.“ Da schon bei der ersten Wiederwahl ein sehr Politik zu machen, muss man nicht diesel- war, im Dampfkochtopf des Konferenz- viel stärkeres europäisches Bewusstsein be Musik lieben und auch nicht dieselben raums, so eine Art europäisches Mini- haben.“ Ein Präsident für Europa, Chef von Europäischem Rat und Kommission, Vorstellungen von Pünktlichkeit, Sauber- Volk zusammengekocht. Eine große Überraschung ist das nicht: mit politischer Gestaltungsmacht und keit und Ordnung haben. Das weltweite Kommunikationsnetz des Internets‚ prägt Ein Blick in die viersprachige Schweiz neuen Kompetenzen: Im Wettbewerb um die Köpfe und die Herzen der nachwach- zeigt, dass demokratischer Diskurs auch so ein Amt und so einen Bewerber könnsenden Generationen von Europabürgern über Sprachgrenzen hinweg funktioniert. te Öffentlichkeit entstehen. Ideen dieser Art grassieren in den meisohnehin stärker als die Traditionen am Ka- Attraktiv ist so ein Diskurs freilich nur, wenn er von spannenden Wortführern ten EU-Ländern. Die Kommissare, stellt chelofen oder in der Taverne zu Haus. betrieben wird. Nur dann werden die na- sich beispielsweise der britische ThinkUnd die Barriere der Sprache? Wissenschaftler des Brüsseler Think- tionalen Medien jenen Job erledigen, den Tank-Stratege Charles Grant vor, könnTanks „Europolis“ haben 2009 ein Expe- Habermas ihnen als „Verantwortung für ten in den 27 Nationen getrennt gewählt riment veranstaltet: Sie versammelten drei das Gelingen Europas“ aufbürdet: „Sie werden – der vom EU-Parlament ausgeTage lang 348 Männer und Frauen aus den müssen den Blick der Leser für die Sicht- suchte Kommissionschef stellt sich aus den Wahlsiegern ein Top-Team von zehn verschiedenen Sprachgebieten des Kon- weisen der anderen öffnen.“ Das gehe nur, sagen die Journalisten, Leuten zusammen, die anderen werden tinents. Begleitet von Moderatoren und Dolmetschern, sollten die Teilnehmer wenn es etwas zu erzählen gebe. „Es soll- Stellvertreter. Um die Demokratie aus den Mitgliedüber zwei anspruchsvolle Themen streiten: ten endlich interessante Leute nach Brüssel geschickt werden“, fordert Alexander staaten nach Europa zu bringen, müsste Klimawandel und Migration. Zwar brachte die vielsprachige Gruppe Graf Lambsdorff, der Vorsitzende der auch der Rat, das Vertretungsorgan der der Europäer auch nach drei Tagen Dis- FDP-Gruppe im Europaparlament. Die Mitgliedsländer, umgebaut werden. Ähnkussion keine Antworten zustande. Aber „Geschichten, die wir erzählen“, sagt er, lich wie der kühne Cohn-Bendit stellt sich Meinungsforschung zu Beginn und nach seien „zu kompliziert“, die Leute, die sie etwa der liberale Graf Lambsdorff die Konferenz der Staats- und RegierungsAbschluss der Debatte ließ die Wissen- erzählen, meist zu langweilig. Langweilig und kompliziert ist die chefs als zweite Gesetzgebungskammer schaftler immerhin Wirkung über alle Sprachgrenzen hinweg erkennen: Das Brüsseler Politik, weil die Beteiligten an- neben dem Parlament vor. Damit das Meinungsbild hatte sich verändert. „Es ders als in den Mitgliedstaaten nicht Volk sehen kann, was die exekutiven Her104

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JOHANNES EISELE / DAPD

ren im fernen Brüssel entscheiden, will Kandidaten wäre das ein Kraftakt, denn ständig Kontakt zur Bundestagsfraktion Lambsdorff den Europäischen Rat zwei- sie müssten ihren Wahlkampf in mehre- der Grünen hält und Bürgerrechtsveranteilen: Als Gesetzgebungsgremium ver- ren Ländern und unter Umständen in staltungen in der Hauptstadt organisiert. Doch trotz aller Mühe bleibt unüberhandelt er öffentlich und entscheidet – mehreren Sprachen führen. Zu viel verlangt? Einmal gewählt, sol- sehbar, dass die Pioniere der europäiwie der deutsche Bundesrat – mit Mehrheit. Fürs „operative Alltagsgeschäft der len die Europaabgeordneten ja schon heu- schen politischen Willensbildung in der Regierungsabsprachen“ (Lambsdorff) darf te politisch für alle 27 Länder denken – Brüsseler Entscheidungsmaschinerie noch das Gremium dann die Türen schließen und in den verschiedenen Amtssprachen immer keinen angemessenen Platz haben. „Das EU-Parlament muss die Rechte beder EU kommunizieren können. und weitermauscheln wie bisher. Doch ist es möglich, Demokratie auf kommen, eine ihm verantwortliche euroNur der Wettbewerb um eine gemeinschaftliche europäische Politik könnte die so hoher Ebene zu praktizieren und zu- päische Regierung zu wählen und zu konwichtigsten Agenten eines europäischen gleich den Kontakt zu den Wählern in trollieren“, fordert der Berliner EuropaWir-Gefühls – die Parteien – auf Trab der deutschen oder gar griechischen Pro- rechtsprofessor Christian Calliess, „längst bringen. Parteien wirken, so steht es im vinz zu halten? Viele Abgeordnete des überfällig ist zudem ein Initiativrecht für Grundgesetz, „bei der politischen Wil- EU-Parlaments sind ständig auf Achse, die Gesetzgebung.“ Das Parlament in Straßburg ist bislang ein reilensbildung des Volkes mit“. nes Veto-Parlament, das die Ähnlich ist es in den anderen Vorschläge der Kommission Staaten. Doch bislang geht es akzeptieren kann – oder auch stets um die Willensbildung nicht. in den Nationalvölkern. Ein Parlament, wenn es Es gibt keine europäische Vertreter des Souveräns sein Arena. Keine der nationalen will, kann nicht warten, bis Polit-Organisationen ist beman ihm Rechte gibt. Es muss reit oder auch nur in der sie sich nehmen. Stefan ColLage, einen europäischen lignon, Professor für WirtWillensbildungsprozess zu orschaftspolitik, hält Vorlesunganisieren. Zwar haben die gen in Pisa und Hamburg darmeisten Parteien sich auf EUüber, wie das gehen könnte: Ebene zusammengeschlos„Die Abgeordneten müssen sen. Aber es fehlt ihnen jedes Rat und Kommission so lange eigene Programm. ihre Zustimmung verweigern, So sind die Zusammenbis ihre Rolle gestärkt ist.“ schlüsse der SozialdemokraEin Parlament mit dem ten, der Konservativen oder Recht, eigene Gesetze zu erder Grünen Schaumgebäck finden, könnte tatsächlich wie das „Europa der Bürger“. den Einigungsprozess rasant Kein Wähler kann hier Mitbeschleunigen. Dann könnglied werden, transnationale EU-Abgeordneter Cohn-Bendit: „Will man dazugehören?“ ten die Pläne durchgesetzt Wahllisten für Europawahlen hat bisher keine der Gruppierungen auf- um zu beweisen, dass es geht. „Jede Wo- werden, die eine ganze Liga von EP-Abgestellt. „Echte europäische Parteien“ che“, sagt der FDP-Mann Lambsdorff, sei geordneten schon seit Jahren verfolgt und wünscht sich Graf Lambsdorff, „die in er in seinem Wahlkreis im Rheinland – die den Mitgliedstaaten ein Graus sind: eigene Steuern für Brüssel. jede Europawahl mit einem Spitzenkan- schließlich sei das sein Zuhause. Ein Prozent Mehrwertsteuer-Aufschlag Alle Abgeordneten wohnen dort, wo didaten gehen, den sie dann dem Europaparlament zur Wahl zum Kommissions- sie gewählt sind. Ein Zimmer in einer WG in den Ländern, direkt an die EU abgein Hannover: Das ist das Zuhause des führt, zudem eine Abgassteuer – das präsidenten vorschlagen“. Um die Provinzialität der Parteien auf- Grünen-Abgeordneten Jan Philipp Al- könnte nach Berechnungen im Auftrag zubrechen, hat sich die „Reflection brecht. Die Wähler des auf Innen- und des französischen Think-Tanks „Notre Group“, ein internationaler Kreis von Eu- Sicherheitspolitik spezialisierten EP-Man- Europe“ schon reichen, den gesamten EUropadenkern um den ehemaligen sozialis- nes sind verteilt auf Niedersachsen, Jahresetat von derzeit rund 130 Milliartischen Spanien-Premier Felipe González, Schleswig-Holstein und Hamburg. „Was den Euro zu finanzieren. Der einigende Effekt einer direkten ein verblüffend einfaches Mittel ausge- in Brüssel diskutiert wird, geht vor Ort dacht: Jeder Bürger der EU soll sich an doch unter.“ Der Streit um die Fluggast- EU-Steuer wäre überwältigend. Der alte den nationalen Wahlen in jedem EU-Land daten oder das Swift-Abkommen mit den eifersüchtige Streit zwischen Ländern, die beteiligen dürfen – so weit er dort einen USA etwa: „Ich bin ständig unterwegs, aus ihrer Staatskasse mehr zahlen, als sie um zu erklären, mit welch harten Banda- zurückbekommen, und jenen, die mehr festen Wohnsitz hat und Steuern zahlt. Das Ergebnis könnte ein heilsames gen das Europaparlament um die Bürger- bekommen, als sie einzahlen, wäre hinfällig. Jeder Bürger hätte für sein Europa Durcheinander sein: Deutsche Parteipo- rechte der Europäer kämpft.“ Aus eigener Initiative hat Albrecht re- selbst zu zahlen. Umgekehrt, so weiß aus litiker müssten sich plötzlich mit den Problemen beschäftigen, die in Deutschland gionale Büros in den Landeshauptstädten Erfahrungen im eigenen Staat der New lebende Ausländer haben, ja, wenn sie Kiel, Hamburg und Hannover aufgebaut. Yorker Professor Weiler, wächst mit dem klug sind, müssten sie diese Leute sogar Seine Leute sind ständig präsent in den Recht der Zentralregierung, eigene SteuBüros der Landes-Grünen. Albrecht sagt, ern zu kassieren, auch deren Legitimität. in ihren Wahlkampf integrieren. Vielleicht wird es nie ein europäisches Der nächste Schritt, so fordert die Re- er versuche, „die grünen Fraktionen auf flection Group, wäre dann der über die allen Ebenen zu vernetzen“. Sogar in Ber- Volk werden, das die Aktivisten vom EP Grenzen: „Cross border lists“, nationen- lin, als Gast in einem kleinen Zimmer da zusammentrommeln. Vielleicht ist übergreifende Wahllisten, sollten die Par- des Bundestagsgebäudes Unter den Lin- Europa zu groß und zu verschieden für teien für die Wahl von Abgeordneten den, hat er einen Stützpunkt mit Com- das große Wir der Vereinigten Staaten. zum Europaparlament aufstellen. Für die puter, Fax und einem Mitarbeiter, der Doch manche Politikwissenschaftler saD E R

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Europa-Gegner in Frankreich 2005: „Dann wird ein zweites Mal abgestimmt“

gen, das mache nichts. Europa könne auch ohne Volk ein Erfolg werden. Zum Beweis verweisen sie auf Johannisbeerlikör. Was wäre Europa ohne Cassis? Wenn die griechische Politikprofessorin Kalypso Nikolaïdis ihren Studenten in Oxford ihr Modell eines vereinten Europa erklären will, stellt sie zu Vorlesungsbeginn eine Flasche des französischen, klebrigen roten Grundstoffs für Kir Royal aufs Pult. Den Deutschen war der Cassis-Ausschank lange Jahre verwehrt. Der Alkoholgehalt des Getränks – zu wenig für einen Schnaps, zu viel für einen Aperitif – fügte sich nicht in die bundesrepublikanischen Normen. Der Import war verboten, zum Schutz der Verbraucher vor Alkohol. Der Cassis-Streit zwischen Deutschland und Frankreich mündete 1979 in eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), die Europawissenschaftler wie Nikolaïdis für historisch halten: Was für Frankreich gut sei, so entschieden die Richter in Luxemburg, könne für Deutschland nicht schlecht sein. Wenn eine Sache in einem Land der EU anerkannt sei, müsse sie auch von den anderen akzeptiert werden. Kir Royal für alle. Der seitdem in Europa geltende zentrale Grundsatz der „ge106

genseitigen Anerkennung“ hat zu umstrittenen Einrichtungen geführt wie dem Europäischen Haftbefehl. Parallel dazu hat sich das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung zu einem sehr differenzierten Instrument gegenseitigen Verständnisses entwickelt – so lehrt es Nikolaïdis, die auch Mitglied des Rats der Europa-Weisen in der Reflection Group ist. Der EuGH verfügte etwa in einem späteren Urteil von 1986, dass in Deutschland zugelassene Holzmaschinen zwar von französischen Behörden für den Import akzeptiert werden müssen – allerdings mit verschärfter Sicherheitsüberprüfung. Fürsorgliche Begründung: Französische Industriearbeiter seien einfach ungeschickter als die deutschen. Nach dem Gründervater der Europäischen Union, dem Franzosen Jean Monnet, ist die Methode benannt, nach der Europa jahrzehntelang so ziellos wie erfolgreich gebaut wurde. Die Methode Monnet beruht auf der Kettenreaktion von Sachzwängen: Der Spill-over-Effekt eines Integrationsschritts entsteht durch die Probleme, die dabei geschaffen werden – und die nur durch einen weiteren Integrationsschritt zu lösen sind. Motto: Mal sehen, was passiert. D E R

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Der dramatische Anwendungsfall der Methode Monnet war die Erfindung des Euro. Von vornherein war allen Kundigen klar, dass es dabei nicht bleiben könne, dass die gemeinsame Währung den Sachzwang auslösen würde, eine politische Union als nächsten Integrationsschritt zu bauen. Es könnte auch diesmal funktionieren, wenn auch unerwartet dramatisch. Doch eine Politik, die jede Entscheidung als Konsequenz einer vorangegangenen Entscheidung zu rechtfertigen weiß, wird der Antwort auf die wichtigste Frage enthoben: Wozu das alles? Was ist das Ziel? Was war das Ziel der Maastricht-Konferenz, die 1991 den Euro beschloss? Die Frage, wozu die Währungsunion eigentlich gut ist, findet hierzulande ihre Antwort im Verweis auf die Vorteile für mittelständische Exportunternehmen. Doch das ist kein Ziel europäischer Politik. Europa ist nicht zu einen, wenn es kein Ziel hat. Denen, die in Brüssel endlich Politik machen wollen, ist das schon lange bewusst. FDP-Mann Lambsdorff hält es für die „Grundfrage“ der Union: „Was wollen wir eigentlich?“ Lambsdorff sieht bei den Wortführern einer europäischen Einigung zwei Konzepte, die miteinander nur schwer vereinbar sind: Die einen – in erster Linie Deutsche – wollen eine ProblemlösungsEU, die dem Kontinent Sicherheit, gutes Leben, gute Luft und einen funktionierenden Markt garantiert. Die anderen – in Großbritannien beispielsweise – wollen, so Lambsdorff, „die Union als geopolitischen Stabilisator mit möglichst vielen Mitgliedern“. Das Ziel: eine Weltmacht der Werte, ein weltweiter Exporteur für Frieden und Freiheit. So braucht man eigentlich zwei Europa: eins für die Welt, eins für zu Hause. Das geostrategische Projekt Europa ist auf Erweiterung angelegt, das kontinentale auf Vertiefung. Das muss nicht bedeuten, dass man getrennte Wege geht. Lambsdorff spricht, ähnlich wie Joschka Fischer, von einer „differenzierten Integration“, mit einem festen Kern, in dem die Willigen tatsächlich weitgehend auf ihre Souveränität zugunsten einer stark ausgebauten europäischen Regierung verzichten. Eine solche Regierung könnte europäische Politik machen. Sie könnte, gestützt auf den Mehrheitswillen europäischer Bürger, massiv Klimaschutz betreiben und eine gemeinsame Energiepolitik, sie könnte Wirtschaft und Finanzen, sogar die Staatsetats für den EU-Raum verbindlich organisieren. Eine solche Regierung hätte nicht nur die Macht, sondern auch die Legitimation, Finanztransfers zwischen reichen und armen Mitgliedstaaten zu verfügen. In Fragen von Krieg und Frieden, etwa einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, stellt sich Lambsdorff

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GOETZ SCHLESER / VISUM

eine besondere demokratische Unter- als „transnationale“ Gebilde. Der Wis- Kernbestand an Souveränität gehört. mauerung vor: Ein parlamentarischer Kon- senschaftler verweist beispielhaft auf den Aber wie ewig muss die Ewigkeitsklausel gress, zusammengesetzt je zur Hälfte aus Gründergeist, der in der Präambel zur sein? Artikel 146 sieht vor, dass das deutEuropaparlamentariern und Abgeordne- Verfassung des neuen deutschen Staates sche Volk „in freier Entscheidung“ sich ten aus den Mitgliedstaaten, könnte mehr- Ausdruck fand: „von dem Willen beseelt, eine ganz neue Verfassung geben darf – heitlich entscheiden. So ein Super-Gremi- als gleichberechtigtes Glied in einem ver- auch die Ewigkeitsklausel kann den Souum – und nicht die einzelnen nationalen einten Europa dem Frieden der Welt zu verän nicht daran hindern. Also darf das deutsche Volk beschließen, so die SchlussParlamente – könnte auch über wichtige dienen“. Das Bundesverfassungsgericht, so se- folgerung, die mittlerweile sogar VerfasÄnderungen des EU-Vertrags befinden. Wären das dann die Vereinigten Staa- hen das viele Experten, werde binnen sungsrichter nahelegen, in einer neuen kurzem nicht anders können, als seine Verfassung alles so zu machen wie in der ten von Kerneuropa? In Berlin mögen viele sich so etwas strengen Grenzen zu lockern. Wie eine alten – nur viel europafreundlicher. Ein nicht vorstellen. Schlagkräftige Brüsseler Mahnung lesen sich die Zeilen, die der freiwilliger Souveränitätsverzicht wäre Instanzen bedeuten eine Schwächung der Historiker Hans-Ulrich Wehler soeben in mit dem Verfassungsjoker 146 per Volksnationalen Regierung. Zwei Probleme ha- einem Sammelband zum 60. Geburtstag abstimmung möglich. Doch wie würde so eine ben die Deutschen: das BunVolksabstimmung ausgehen? desverfassungsgericht und Gibt es eine Mehrheit für das Volk. Europa? Habermas weist darDie Karlsruher Richter auf hin, dass das Volk weder haben in ihrem Urteil zum in Deutschland noch bei den Lissabon-Vertrag verlangt, Nachbarn jemals unter fairen ein Kernbereich nationaler Bedingungen zu Europa beSouveränität müsse beim fragt worden ist. Wer weiß, deutschen Staat bleiben. Der wie der Souverän denkt? Der Souveränitätskern, so das UrSouverän weiß es mangels teil, sei betroffen, wenn den funktionierender europäiDeutschen „ihre Fähigkeit zu scher „Deliberation“ (Haberselbstverantwortlicher politimas) ja selbst nicht. Und die scher und sozialer Gestaltung verlorenen Volksabstimmunder Lebensverhältnisse“ gegen über die EU-Verfassung nommen sei. Erst kürzlich in Frankreich und in den Nieverkündete der Verfassungsderlanden sind ein schwaches gerichtspräsident, der SpielIndiz: In beiden Staaten verraum, den das Grundgesetz zerrten Fehlinformationen für die weitere europäische und innenpolitische Ranküne Integration eröffne, sei „wohl das Bild. weitgehend ausgeschöpft“. Das neue „Elitenprojekt“, Doch in der Krise regt sich Europa-Denker Habermas: „Zusammenwachsen der Weltgesellschaft“ so Habermas, bestehe darin, auch unter Verfassungsrechtlern Widerstand gegen die harte Linie aus des Gerichts veröffentlichte: „Mit Span- dass Politik und Wissenschaft den BürKarlsruhe. Der Berliner FU-Professor Cal- nung“ dürfe man auf das „interpretatori- gern Europa und ihre Ziele erklären. Geliess etwa hält einen „Kompetenztransfer sche Kunststück“ der Karlsruher warten, sucht sind Leute, die Europa ein Gesicht für stärker europäisierte Finanz-, Wirt- im nächsten Urteil die strengen Vorgaben geben, eines, das grinsen kann, eines mit schafts- und Haushaltspolitik“ aus den im Lissabon-Verdikt wieder aufzufressen. Sommersprossen, Leute eben wie Daniel So groß dürfte das Kunststück nicht Cohn-Bendit. Nationen nach Brüssel für unvermeidbar. Wer sagt denn, wirft der Grüne ein – Das Prinzip staatlicher Souveränität, sein. Denn im Protestgeschrei gegen das die internationale Nationen-Ordnung, die als Integrationsbremse empfundene Ur- und grinst –, dass die Leute nicht mitmanoch auf den Westfälischen Frieden von teil ist der Ausgangspunkt der richter- chen, wenn man sie nur richtig fragt, in 1648 zurückgeht, hat in Zeiten globaler lichen Bedenken untergegangen: Nicht einer Volksabstimmung unter allen EuKrisen allenfalls folkloristische Bedeu- um ihrer selbst willen ist die deutsche ropäern? „Wenn mindestens 60 Prozent tung. „Man muss sich fragen, ob es staat- Souveränität geschützt, sondern nur, der Bevölkerung und 60 Prozent der Mitliche Souveränität faktisch noch gibt“, damit die Beteiligungsrechte der Bürger gliedstaaten zustimmen, ist die neue Ordsagt Wolfgang Wessels, Europawissen- an der Politik nicht ausgehebelt werden. nung angenommen.“ Und wenn die Franzosen, für die er im schaftler an der Universität Köln: „Die In dem Maße, in dem Brüsseler Entscheieinzelnen Staaten sind doch längst nicht dungen besser vom Volk legitimiert wer- EU-Parlament sitzt, dennoch dagegenmehr Herren des Geschehens.“ Irgend- den, kann Karlsruhe bei der Übertragung stimmen? „Das wird nicht passieren“, sagt Cohn-Bendit. wann, vermutet Wessels, würden auch von Kompetenzen kulanter werden. Und wenn doch? „Dann wird ein zweiVorsichtshalber wird in der Not, wedie betroffenen Bürger merken, dass der „Raum des Grundgesetzes nicht mehr die nigstens in Finanzfragen Kompetenzen tes Mal abgestimmt. Diesmal über die nach Brüssel zu übertragen, nun über Frage, ob man noch zur EU gehören will. optimale Problemlösungsebene ist“. Und haben die Gründerväter der Nach- eine Grundgesetzänderung nachgedacht, Das abzulehnen trauen sich selbst die kriegsordnung eine Relativierung der die dem Verfassungsgericht seine Argu- Franzosen nicht.“ Hach, Europa macht Spaß. Für die Souveränität nicht ohnehin angelegt? mentationsgrundlage entziehen könnte. Staaten wie Italien oder die Bundesrepu- Artikel 79, die sogenannte Ewigkeitsklau- Vereinigten Staaten von Europa, sagt blik, die auf den Trümmern des Zweiten sel, verbietet zwar jede Änderung, die Cohn-Bendit, würde er doch noch einmal Weltkriegs neu entstanden, seien nicht genauer bezeichnete Grundlagen des Wahlkampf machen. „Vielleicht dauert mehr als klassische Nationalstaaten ge- deutschen Verfassungsrechts berührt – es noch 40 Jahre. Aber vielleicht erleb dacht, sagt der Demokratieforscher Hau- wozu zumindest für Karlsruhe auch die ich’s ja noch.“ THOMAS DARNSTÄDT, CHRISTOPH SCHULT, HELENE ZUBER ke Brunkhorst, sondern von vornherein Verfügungsgewalt des Volkes über einen D E R

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