Dostojewski: Das Leben ist ein ganzheitliches Kunstwerk. Leben bedeutet, ein Kunstwerk aus sich selbst zu machen. 2

1942 1 Dostojewski: „Das Leben ist ein ganzheitliches Kunstwerk. Leben bedeutet, ein Kunstwerk aus sich selbst zu machen.“2 19.1.1942 Es ist kalt … Ma...
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1942 1 Dostojewski: „Das Leben ist ein ganzheitliches Kunstwerk. Leben bedeutet, ein Kunstwerk aus sich selbst zu machen.“2 19.1.1942 Es ist kalt … Man sagt, es sei heute 24 Grad minus. Die Leute eilen eingemummelt und ziehen irgendwie merkwürdig den Bauch ein. „Unsere Kama“3, die Salzach, ist voll von großen schwimmenden Eisschollen. Grauer Nebel liegt über der Stadt. Aus unseren Fenstern sieht man nicht einmal die Festung.4 Alle meine Gedanken sind im fernen Russland, bei meinem Jungen.5 Herr, erhalte ihn! Es ist schrecklich, schrecklich in unserer Zeit zu leben! Ich kaufte Zwiebeln auf Lebensmittelkarten. Dort erzählte die bleiche, müde und abgequälte Frau Dr. Bauer6, sie komme gerade vom Bahnhof. Sie begleitete ihren Mann, der zu einer Ausbildung fuhr. Die Verkäuferin in der Bäckerei erzählte, ihr Bräutigam sei gefallen und ihre ganze Jugend sei zugrunde gerichtet. Es ist kalt, kalt auf der Welt zu leben! Ich war in der Kirche. Ebenmäßig, warm und freundlich brennt das kristallene Lämpchen. Es verspricht Ruhe, Freude und Stille. Herr, denke an die leidenden Menschen und hilf ihnen! … Es ist kalt und schrecklich in unserer Zeit zu leben! 20.1.1942 Ich bin furchtbar beunruhigt wegen Schurotschka. Wen man auch auf der Straße trifft, die erste Frage lautet: „Wann haben Sie einen Brief bekommen? Von welchem Datum?“ Der letzte Brief war vom 2. Januar. 18 Tage sind vergangen, seit mein Junge geschrieben hat. Wo ist er? Was ist mit ihm? Jeden Tag schicke ich kleine, armselige Päckchen zu fünf Dekagramm. Aber können sie ihm denn helfen? Und bekommt er sie auch? Mein Gott, wie tut es mir in der Seele weh und wie schrecklich ist es, nur von der Erwartung zu leben und nicht in der Lage zu sein, seinem einzigen Kind in seinen schrecklichen, grauenvollen Tagen zu helfen …

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Heute war ein grauer Tag. Alle Bäume hatten einen leichten, silbrigen Raureif. Die Sonne war seltsam – eine rote Kugel, die unwahrscheinlich und unbegreiflich neben der Silhouette der Festung hing. Wenn ein Künstler dies malte, würden alle sagen, so komme es in Wirklichkeit nicht vor. So erscheint mir jetzt auch unser ganzes Leben als unglaublich schwerer, grausamer Traum. Die Zärtlichkeit von Arno7 wärmt mich, sonst könnte ich verzweifeln … Am meisten schätze ich Liebe, Güte, Stille, Zärtlichkeit und herzliche Aufmerksamkeit. Ich bemühe mich, selbst überall aufmerksam und liebevoll zu sein, Licht und Trost zu spenden. Ich bin sehr traurig, dass alle meine Bücher verboten sind.8 Ich möchte einen Roman schreiben, aber Arno sagt: „Es hat keinen Sinn. Es wird ihn sowieso niemand drucken!“ 21.1.1942 Heute ist ein lieber Brief von Schurotschka vom 7.1.42 gekommen. Wir sind sehr glücklich! 22.1.1942 Heute ist es genau sieben Monate her, dass Schurotschka in den Krieg gezogen ist! Wie viele Monate noch werden wir ihn nicht sehen? Wieder hängt neben der Festung die orangefarbene, graue Sonne. Es ist kalt. Der kälteste Tag in diesem Winter. Man sagt, am Morgen sei es 27 Grad minus gewesen. Von der Salzach ist fast nichts übrig geblieben. Ein kleines Rinnsal im Schnee, an dessen Ufern, wie graue Steine, die Möwen lagern. Wie ist es möglich, dass sie nicht erfrieren? Am Mittagessen in der Diätküche erzählte mir meine Nachbarin, ihr Mann sei innert zweieinhalb Jahren Kriegseinsatz dreimal am Kopf verletzt worden. „Wer sagt, er opfere mit Freude einen geliebten Menschen, liebt entweder diesen Menschen nicht oder er lügt!“, sagte sie. „Für mich wäre es furchtbar, den Mann zu verlieren!“ Sie hat ein müdes, bleiches, sympathisches Gesicht. Auffallend sind die Falten um Nase und Mund. „Ich möchte so gerne ein Kind haben, die Jahre vergehen, ich arbeite von morgens bis abends. Jeden Tag schreibe ich abends meinem Mann einen Brief und er schreibt mir auch jeden Tag!“ Von ganzem Herzen

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wünschte ich ihr, dass ihr Mann gesund aus dem Krieg zurückkehre. Was für ein Glück, dass Arno bei mir ist! Ich liebe ihn mit jedem Tag mehr und mehr, obwohl es scheint, mehr zu lieben sei unmöglich! 23.1.1942 Es ist noch kälter als gestern. Als schmaler Streifen windet sich die Salzach und weißer Dampf steigt von ihr auf, als ob ihr das Atmen schwerfiele. Der Schnee knirscht unter den Füßen, der Frost beißt an Wangen und Nase. Man sagt, es sei heute 32 Grad minus. Ich möchte furchtbar gerne ein Drama oder eine Komödie für das Theater schreiben. Ich kann nicht begreifen, weshalb mir Romane so leicht von der Hand gehen und ich für das Theater bisher nichts schreiben konnte. Heute dachte ich den ganzen Tag nach, fast bis der Kopf schmerzte, aber es ist mir bis jetzt nichts eingefallen. Arno sagt: „Zerbrich dir nicht den Kopf, dein Stück wird sowieso niemand spielen, da deine Bücher verboten sind.“ Aber ich muss trotzdem schreiben! 24.1.1942 Es schneit. Die Dämmerung bricht herein … Der schmale Streifen der noch nicht gefrorenen Salzach murmelt vor sich hin … Im Zimmer ist es warm und gemütlich. Arno spielt auf dem Flügel. Ich mache Feldpostpäckchen. Es läutet. Domanig ist gekommen. 25.1.1942 Schnee, Schnee, Schnee … Die Füße bleiben im Schnee stecken, man kann nur mit Mühe gehen. Zum Mittagessen gingen wir in den „Münchnerhof“9, dann waren wir im Kino. Arno ist zärtlich und lieb … Ich liebe unsere stillen, gemütlichen Sonntage so sehr, wenn wir den ganzen Tag allein sind. 26.1.1942 Berge von Schnee … Und er fällt und fällt, schwer, nass und dicht. Ich möchte so gerne ein Drama schreiben. Ein solches, dass die Herzen aller zusammenzucken und durch das Erlebte für lange Zeit

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erschüttert sind. Jedes Verbrechen, auch ein kleines, ganz gleich wogegen – gegen sich oder andere – zieht stets Bestrafung nach sich … Dieses Thema ergab die besten Werke von Dostojewski und Tolstoi. Soll ich es auch nehmen? 27.1.1942 Für meinen Roman als Stimmungsbild: ein früher Wintermorgen. Es herrscht noch tiefe Dämmerung … Nur in den Fenstern blinken Lichter. Ein kalter, erbarmungsloser Wind dringt durch den Mantel. Es ist unerträglich kalt. Aber sie geht am Ufer des reißenden, Eisschollen treibenden Flusses in der Hoffnung, ihn zu sehen. Der kalte Wind schleicht unter den Hut, es frieren die Wangen, die Nase und die Ohren, die Füße versinken im Schnee. Dort in der Ferne gehen Menschen. Vielleicht geht auch er. Aber es ist zu dunkel, um zu erkennen, wer da geht… Sie geht und denkt, wie quälend ist diese Sehnsucht der Frau nach dem Mann, nach einer verwandten Seele. Sehnt er sich ebenso nach ihr? Es wurde heller. Hier im Schnee sind Spuren männlicher Füße, feste, energische. Vielleicht sind es die Spuren seiner Füße? Vielleicht ist er hier schon gegangen? Wie viel Schnee! Alle Bäume, die Säulen der Brücke – alles, alles liegt im Schnee. Der Schnee deckt auch die Spuren zu … Vielleicht die Spuren seiner Füße. Sie geht bis zu jener Stelle, jener Straße, wo es keine Hoffnung mehr gibt, ihn zu sehen. Und plötzlich wird alles so leer, nutzlos und kalt. Die Stadt erwacht in ihrer ganzen märchenhaften Schönheit. Ein Wintermärchen herrscht nach wie vor über der Stadt, aber sie weiß, der ganze Tag ist verdorben. Sie hat ihn nicht gesehen. Die Stimmung fällt bis zum Nullpunkt … Und so ist es jeden Tag, jeden Tag! Hoffnung in der Dämmerung des erwachenden Morgens und Enttäuschung bei Tagesankunft … Und nur Arbeit, Arbeit, Arbeit und die verkümmernde Sehnsucht nach ihm! Was Einsamkeit für eine Frau bedeutet, kann nur verstehen, wer sie erlebt hat. Die Sehnsucht nach Liebe! Die ewige Sehnsucht der Frau nach dem Mann! In ihr steckt etwas Irrationales, Mystisches. Alle suchen, der Sinn des Lebens jeder Frau ist in der Liebe zum Mann und zur Mutterschaft. Und in dieser Sehnsucht nach dem Mann liegt eine tiefe Tragödie der Frau. Denn

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der Mann hat noch den Beruf. Keine Frau, sofern sie eine richtige Frau ist, wird sich nur mit irgendeiner Beschäftigung zufriedengeben. Sie braucht Liebe! 31.1.1942 Ich habe angefangen, ein Schauspiel zu schreiben, ich arbeitete den ganzen Tag. Die vorangehenden Tage weinte ich sehr viel. Der zweite Sohn der Familie von Cramm ist gefallen.10 Ein schrecklicher Eindruck! Das ist ein solches Leid, ein solches Leid! … 1.2.1942 Heute ist Schurotschka zwanzig Jahre alt geworden! Vor zwanzig Jahren wurde unter unwahrscheinlich schweren Bedingungen mein Junge geboren und ist am Leben geblieben!11 Herr, erhalte ihn auch jetzt in seinen schweren, schrecklichen Tagen!… Und wie vor zwanzig Jahren sage ich heute: „Du musst leben! Du wirst leben, mein teurer, zärtlich geliebter Junge.“ 2.2.1942 Heute ging Arno um sechs Uhr abends weg und kehrte um zehn Uhr zurück. Er hatte Zeichnen und einen Russischkurs. Um zehn Minuten nach neun Uhr klingelte das Telefon. Eine Frauenstimme sagte: „1106/2? Dr. von Hoyer? Bleiben Sie am Telefon, ein Ferngespräch …“ Und sie nannte eine Stadt. Es war keine deutsche Stadt, aber was für eine, konnte ich nicht verstehen. Dann ertönte in der Ferne eine männliche Stimme, die der Stimme von Schurotschka bis ins Letzte ähnlich war: „Hallo, ist dort bei Dr. von Hoyer?“ Und dann rief die liebe, ferne Stimme viele Male: „Hallo! Hallo!“ Ich antwortete, aber derjenige, der mit mir sprechen wollte, hörte mich nicht. Und plötzlich wurde alles still … Ich rief im Fernamt an und fragte, wer mit mir gesprochen habe. Die junge Frau antwortete sehr lieb, es sei ein Ferngespräch gewesen, aber sie könne nicht feststellen mit wem. Nach einer halben Stunde rief sie nochmals an und sagte, zu ihrem großen Bedauern sei es ihr nicht gelungen festzustellen, wer mit mir gesprochen habe. Die Stimme, die liebe, ferne Stimme meines Jungen ging im Äther unter. War es

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Schurotschka? Aber das ist unmöglich. Woher und wie hätte er sprechen können? Aber eine Sehnsucht, die wahnsinnige Sehnsucht der Mutter nach ihrem Kind, erwachte in mir … Eine ungestüme, hemmungslose Sehnsucht … Wo ist mein Junge? Vielleicht leidet er, friert er, hungert?… Und ich bin nicht in der Lage, ihm zu helfen … Er kann meine Stimme nicht hören, meine Zärtlichkeit kann nicht bis zu ihm dringen und ich bin nicht in der Lage, seine Leiden zu lindern … Das ist eine Folter, eine schleichende, grausame Folter. Wann wird sie aufhören? Wer weiß es? … Aber ich wünsche niemandem, niemandem sie zu erleben! 3.2.1942 Für meinen neuen Roman: Unter den Füßen graubraune Massen von Schnee. Vom Himmel fallen leichte, weiße Flocken. Sie geht und denkt an ihn. Unerwartet steht er vor ihr. Freude strahlt in ihren Augen. Sie gehen zusammen. Die Füße bleiben im Schnee stecken. „Warum sind Sie nicht gekommen?“, fragt sie. „Ich konnte nicht. Es gab eine dringende Sache.“ – „Weshalb küssen Sie mich nie?“ – „Ich habe Angst vor Ihnen!“ – „Aber die andere küssen Sie?“ – „Ja. Sie liebt mich mit einer andern Liebe!“ Es schneit weiter. „Und Sie werden mich nie küssen?“ – „Nur an Ostern, wenn alle einander küssen.“ Sie gehen schweigend weiter. „Ich habe hier etwas zu erledigen!“, sagt er. „Wann werde ich aufhören, die ganze Zeit an Sie zu denken?“, fragt sie. „Diese Zeit wird kommen!“, sagt er. Sie sieht, dass an der Ecke vor einem Plakat die Frau steht, die ihn mit jener Liebe zu lieben versteht, die er braucht. Eine tödliche Trauer lastet auf ihrer Seele. Wann, wann hat das angefangen? Wann habe ich aufgehört, ihn so zu lieben, wie er es will? Unter den Füßen braune Schneemassen. Es ist mühsam zu gehen. Es ist schwierig, einen Menschen zu lieben, der nie mit einer solchen Liebe antworten kann, mit der sie liebt. Hat sie wirklich keine Kraft, ihn zu vergessen? Wo ist ihre Willensstärke? Und sie beschließt, ihn nicht mehr zu lieben, ihn zu vergessen, für einen anderen zu leben …

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4.2.1942 Von Schurotschka kam ein rührender Brief vom 18.1.42. Er bittet, ihm ernsthafte, wissenschaftliche Bücher zu schicken und nicht billige Romane. Wie freut es einen, sich bewusst zu sein, dass seine Seele trotz des ihn umgebenden Schreckens fähig ist, sich für ernsthafte Bücher zu interessieren. Mein lieber Junge, sei mutig und stark! Und dein Glück wird noch kommen! 5.2.1942 Ich war bei der Familie von Cramm12. Ich brauchte eine Stunde bis zu ihnen durch die lange, lange, verschneite Allee13. Das Haus ist ganz im Schnee versunken. Das in seinem schwarzen Kleidchen rührende Fräulein Ruthchen, groß und schlank mit einem anmutigen, blassen Marmorgesichtchen. Die Baronin ganz in Schwarz, abgemagert, mit Spuren von Tränen im Gesicht. Ein Leid, das für immer bleiben wird. Zwei Söhne zu verlieren! Sie umarmt und küsst mich. Wir weinen beide. Dann erzählt sie vom Tod ihres Sohnes. Sie machte kein Foto von ihm, sie nahm nur eine Haarlocke. Beerdigt ist er auf einem Friedhof in Warschau. Sie konnte ihm nicht so viele rote Rosen bringen, wie sie es wollte. Im zerstörten Warschau ist er zusammen mit sechzehn weiteren Soldaten begraben – ihr zärtlich geliebter Sohn. Der Dackel Iris steht an der Baronin in die Höhe und tut die ganze Zeit so, als ob er sie trösten wolle, indem er sie mit der Vorderpfote berührt und sie mit klugen, verstehenden Augen anschaut. Ich ging ganz erschüttert weg. Den ganzen Tag ist meine Seele durch die Tiefe des menschlichen Leids erschüttert … Was kann unglücklicher, tragischer sein als der Mensch? 6.2.1942 Auf der Straße hielt mich eine Dame an: „Frau Rachmanowa, ich kenne Sie so viele Jahre – und Sie sind immer jung, schön und elegant! Alle altern, aber Sie nicht!“ Ihre Worte erfreuten mich, und wie ausgerechnet am gleichen Tag sagte einer von den Brückenarbeitern, an denen ich vorbeiging: „So ein leckertes schwarzes Mädchen!“ Ich aber dachte: „Ich bin 43 Jahre alt und wenn sie wüssten, wie viel Kummer und Traurigkeit meine Seele bedrücken!“

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7.2.1942 Von Schurotschka kam ein lieber, zärtlicher Brief. Wir sind glücklich. Er bittet, ihm Bücher zu schicken. Arno kaufte Bücher für ihn. 8.2.1942 Ich stand anderthalb Stunden Schlange, um Karten für das Gastspiel der Tschechowa14 zu bekommen. Es war sehr, sehr kalt und ich war ganz durchfroren. Es standen etwa zweihundert Menschen an. Es kommt ein Soldat heran und stellt sich fröhlich in die Schlange. Dann beginnt er zu fragen, wer wozu ansteht. „Ach, das ist für Mittwoch! Und ich dachte für heute! Ich habe nur für heute Urlaub! Na, dann gehe ich weiter!“ Und fröhlich lächelnd entfernte er sich. 8.2.1942 Heute hörte ich zum ersten Mal das Zwitschern der Vögel im Garten und als wir am Abend vom Theater zurückkehrten, standen am Ufer der Salzach unter den verschneiten Bäumen zwei umschlungene Paare. Die Männer waren in Soldatenuniform. Es scheint, der Frühling kommt doch, obwohl es immer noch kalt und neblig ist … 9.2.1942 Für meinen Roman: „Ich habe Angst vor Dir.“ Die nie befriedigte Sehnsucht nach Liebe. Das Verlangen nach Berührung. Wenn es keine körperliche Nähe gibt, erstarrt die Seele in trauriger Einsamkeit. Das Körperliche und Seelische in der Liebe zu trennen ist unmöglich. Die Liebe ohne das Lied des Körpers ist keine echte Liebe zwischen Mann und Frau. Die Liebe ohne Seele ist ebenfalls keine echte Liebe. Das Ideal: Das Einswerden der körperlichen und seelischen Liebe. Die Frau schätzt am meisten Zärtlichkeit. Wenn es sie nicht gibt, bleibt die Kälte der Einsamkeit. Es war für sie schrecklich zu erkennen, dass er sie körperlich nicht lieben will. Den Kuss, das Streicheln mit der Hand – alles nahm er ihr weg. Und plötzlich wurde ihr klar, dass sie bei den Begegnungen zur Passivität verurteilt war! Nur kluge Gespräche trösten eine Frau nicht. Es zeigte sich jetzt: in allen Gesprächen und Begegnungen war das Liebkosen seiner Augen und die Nähe ihrer Körper, die sich zu-

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einander hinzogen, für sie das Wertvollste gewesen. Jetzt hat er alles Physische weggenommen und gleichsam die zarten Blumen ihrer Seele gebrochen. Dieses Thema entwickeln: das Verlangen der Frau nach Zärtlichkeit. Nicht unbedingt bis zum Letzten. Nur die Zärtlichkeit braucht sie. Ohne diese Zärtlichkeit breiten sich Enttäuschung, Leere und Unzufriedenheit aus. Letzten Endes der Typ der verbitterten alten Jungfer. *** Hinter dem Fenster rauscht der Fluss. Sein Rauschen sagt mir, dass ein Tag nach dem andern vergeht und der Tod immer näher und näher ist … Der Tod! Jeder Mensch muss diesen schrecklichen Augenblick durchmachen. Ich denke oft an den Tod. Deshalb kann ich auch niemals böse sein. Von früher Kindheit an wusste und spürte ich, dass es den Tod gibt. Deshalb war meine Seele niemals böse. 10.2.1942 Heute erwachten Arno und ich um sechs Uhr. Ich wechselte in sein Bett, schmiegte mich an ihn, er umarmte mich – und es war so warm, so gemütlich, so schön! Meine liebe Sonne – er ist mein einziger Trost in diesen schweren Tagen! Er ist so zärtlich, aufmerksam und lieb! Heute Morgen las man am Radio Verse, etwas in der Art: „Ich küsse nur gerne einen trotzigen Mund, welcher verweigert …“ Gerade ein passendes Zitat für meinen Roman. Ich würde gerne erfahren, von wem das ist. 25.2.1942 Nach quälenden Tagen des Wartens kam von Schurotschka ein lieber Brief vom 10.2.42. 16.4.1942 Jede Woche bringe ich Kartoffeln vom Markt für Frau Reiter (unsere Hausmeisterin)15. Vier Kilogramm, die uns zustehen, gebe ich ihr ab. Für sie ist dies eine große Hilfe. Wir essen ja keine oder nur sehr wenig Kartoffeln.

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