Albert- Ludwigs-Universität Freiburg Institut für Erziehungswissenschaften
Betreuer: Dr. Patrick Blumschein
Die Integration Blinder und Sehbehinderter in Regelschulen Eine dialektische Deduktion von Herausforderungen und Chancen bei Integrativmaßnahmen
Martin Rehfuss Engelberger Str. 41g 79106 Freiburg 0761 / 15 15 77 83 E- Mail:
[email protected] Fächerkombination: Fachsemester:
Französisch
&
Geographie
(Staatsexamen) 11/10
Erklärung: Ich erkläre, dass ich die Arbeit selbständig angefertigt und nur die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Alle Stellen, die dem Wortlaut oder dem Sinn nach anderen Werken, gegebenenfalls auch elektronischen Medien, entnommen sind, sind von mir durch Angabe der Quelle als Entlehnung kenntlich gemacht. Entlehnungen aus dem Internet sind durch Ausdruck belegt.
Freiburg im Breisgau, den 8en Oktober 2008
______________________
2
Inhalt
1
EINLEITUNG
5
2
DEFINITORISCHE ANNÄHERUNGEN
9
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 3 3.1 3.2 3.3 4 4.1 4.2 4.3 4.4 5 5.1 5.2 6
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 7
7.1 7.2 7.3
ALLGEMEINES SEHSCHÄDIGUNG SEHBEHINDERUNG BLINDHEIT REGELSCHULE INTEGRATION INKLUSION GESCHICHTE DER SEHGESCHÄDIGTENBILDUNG GESCHICHTLICHER ÜBERBLICK DER TRAD. SEHGESCHÄDIGTENBILDUNG GESCHICHTLICHER ÜBERBLICK DER INTEGRATIVEN BESCHULUNG ZUSAMMENFASSUNG GRUNDKONZEPTE DER INTEGRATIVEN BESCHULUNG ALLGEMEINES KONZEPTIONELLE VERFAHRENSWEISEN IN ABHÄNGIGKEIT DER SCHULART ZIELGLEICH ODER ZIELDIFFERENT - DIE WAHL DES UNTERRICHTSMODUS ZUSAMMENFASSUNG RECHTLICHE GRUNDLAGEN BEI INTEGRATIVER BESCHULUNG DIE RECHTS- UND ERLASSLAGE ZUSAMMENFASSUNG
9 10 10 10 11 11 12 13 13 17 19 21 21 22 27 30 31 31 36
SONDERSCHULE ODER REGELSCHULE – DIE FRAGE NACH DER AMBIVALENZ EINES SEPARIERENDEN SCHULSYSTEMS
37
ALLGEMEINES DER SONDERPÄDAGOGISCHE FÖRDERBEDARF UND DESSEN UMSETZUNG DAS LEITBILD DER SONDERSCHULEN DAS LEITBILD DER INTEGRATIONSSCHULEN DER BLICK ÜBER DEN NATIONALEN ZAUN ZUSAMMENFASSUNG
37 40 44 46 48 50
DIE PSYCHISCHE ENTWICKLUNG BLINDER UND SEHBEHINDERTER KINDER UND JUGENDLICHER ALLGEMEINES DIE PSYCHISCHE ENTWICKLUNG IM RAHMEN VON INTEGRATIVEN BESCHULUNGSMAßNAHMEN ZUSAMMENFASSUNG
51 51 55 59
3
8
UNTERRICHTSPRAXIS IN KLASSEN MIT INTEGRIERTEN SCHÜLERN
60
8.1 GRUNDPRINZIPIEN PÄDAGOGISCHEN HANDELNS 60 8.2 DIDAKTISCH-METHODISCHE BESONDERHEITEN BEI SEHGESCHÄDIGTEN SCHÜLERN 69 8.2.1 ALLGEMEINES 69 8.2.2 DIE ADAPTION DER ARBEITSKONDITIONEN BEI SEHBEHINDERUNG 71 8.2.2.1 Tafelbilder 71 8.2.2.2 Textmaterial und Arbeitsblätter 72 8.2.2.3 Schriftlichkeit 73 8.2.2.4 Bild- und Kartenmaterial 74 8.2.2.5 Klausuren 75 8.2.3 DIE ADAPTION DER ARBEITSKONDITIONEN BEI BLINDHEIT 75 8.2.3.1 Tafelbilder 75 8.2.3.2 Textmaterial und Arbeitsblätter 76 8.2.3.3 Schriftlichkeit 77 8.2.3.4 Bild- und Kartenmaterial 78 8.2.3.5 Klausuren 79 8.3 FACHSPEZIFISCHE IN- UND OUTPUTS DER INTEGRATIVEN BESCHULUNG 79 8.3.1 ALLGEMEINES 79 8.3.2 SPRACHUNTERRICHT 81 8.3.3 NATURWISSENSCHAFTLICHER UNTERRICHT 82 8.3.4 SPORTUNTERRICHT 86 8.3.5 GEMEINSCHAFTSKUNDE- UND GESCHICHTSUNTERRICHT 89 8.3.6 RELIGIONS- UND ETHIKUNTERRICHT 90 8.3.7 GEOGRAPHIEUNTERRICHT 91 8.3.8 MUSIKUNTERRICHT 92 8.3.9 KUNSTUNTERRICHT 94 8.4 ZUSAMMENFASSUNG 96 9
SYNTHESE UND AUSBLICK
9.1 9.2
SYNTHESE AUSBLICK
102 102 108
10 LITERATUR
110
11 ANHANG 1: TRANSKRIPTE DER INTERVIEWS VON VIER INTEGRATIONSPÄDAGOGEN
119
11.1 11.2 11.3
119 119 120
ALLGEMEINES LEITFRAGEN TRANSKRIPTE
12 ANHANG 2: ABBILDUNGEN DER GÄNGIGSTEN MECHANISCHEN UND ELEKTRONISCHEN LESE- UND SCHREIBHILFSMITTEL BEI SEHSCHÄDIGUNG
146
4
1 Einleitung Die Integration von blinden und sehbehinderten Schülern1 an allgemeinen Regelschulen bleibt, selbst nach über dreieinhalb Jahrzehnten integrativer Regelschulerfahrung, ein Phänomen, das gesellschaftlich fernab einer als „normal“ empfundenen Beschulungspraxis rangiert. Seit dem Beginn der Blindenbildung, Anfang des 19. Jahrhunderts, seitdem die Möglichkeit zur Ausbildung von Blinden ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen war, wurde das Blindenbildungssystem parallel zum Regelschulsystem entwickelt und beinahe 200 Jahre lang quasi als viertes Glied, nämlich als dasjenige einer Sonderschule, mit unserem dreigliedrigen System mitgeführt. Erst in den 70erJahren begannen, unter gewaltigem logistischen und pädagogischen Einsatz, die ersten Versuche einer gemeinsamen Beschulung von sehgeschädigten und normalsichtigen Schülern. Die integrative Beschulung folgt damit knapp zehn Jahre später dem allgemeinen Trend hin zu offeneren Unterrichts- und Schulformen. Die ersten Integrativmaßnahmen standen nicht nur unter hohem Erwartungsdruck,
weil
ein
historisch
gewachsenes
und
erfolgreiches
Blindenbildungssystem über mehr als eineinhalb Jahrhunderte lang zum normalen Schulsystem koexistierte und damit der integrativen Beschulung einen Teil ihrer Existenzberechtigung abzusprechen schien, sondern wurde von Befürwortern der separativen Beschulung regelrecht bekämpft, weil eine erfolgreiche Beschulung unter den gegebenen Umständen nicht nur abwegig erschien, sondern auch, weil eine Durchlässigkeit des etablierten Systems nicht im Interessensbereich der vergleichsweise jungen Sehgeschädigtenpädagogik stand. Die integrative Regelpraxis an den Versuchsschulen machte jedoch bald klar, dass
eine
chancengleiche
Teilnahme
von
Sehgeschädigten
am
Regelschulunterricht nicht nur möglich, sondern auch gewinnbringend sowohl für die integrierten, als auch für die sehenden Schüler sein konnte. Zudem führte eine weitere Entwicklung dazu, dass für manche sehgeschädigte Schüler und deren Eltern die Integration zu einer Perspektive wurde, nämlich diejenige von sich rasant fortentwickelnden technischen Möglichkeiten, die die schriftliche
1
Es ist selbstverständlich, dass hier Schülerinnen und Schüler in jeder Hinsicht gleich geachtet und gleich behandelt werden sollen. Wenn an dieser Stelle und in der Folge auf die Genusmorpheme für die weiblichen Formen verzichtet wird, so nur, um eine verbesserte Lesbarkeit zu erreichen. Eine Gleichstellung der Geschlechter ist selbstverständlich.
5
Kommunikation zwischen den sehgeschädigten Schülern und normalsichtigen Personen enorm erleichterte und weiterhin in zunehmendem Maße vereinfacht. Computergestützte Arbeitstechniken bilden in diesem Zusammenhang die Schnittstelle, die in der Lage ist, dem normalsichtigen Benutzer zeitgemäße Kommunikation und multimediales Arbeiten zu ermöglichen und dem blinden Benutzer, zumindest zu einem Teil, hinsichtlich der Schriftlichkeit das Augenlicht zu ersetzen. Für
Entspannung
in
der
integrativen
Regelbeschulung
sorgte,
auf
schulrechtlicher Ebene, eine Empfehlung der Kultusministerkonferenz von 1994, in der verfügt wurde, dass die Erfüllung sonderpädagogischen Förderbedarfs nicht mehr zwangsläufig an Sonderschulen gebunden bleiben müsse. Im Zuge dessen wurde gleichsam von außen wie auch von innen ein Öffnungsprozess der Sonderschulen insofern initiiert, als dass sie, weg von reinen stationären Internatsschulen, hin zu überregionalen integrativen Förderzentren avancierten, die mit spezifischen Didaktikpools und speziell ausgebildetem Personal die Förderung der Integrativschüler empfindlich verbessern. Mittlerweile wurden mit dem bestehenden sonderpädagogischen Fördersystem an Integrativschulen viele Erfahrungen gemacht. Eine gewisse Ausdifferenzierung und Konsolidierung des Systems findet statt. Dennoch ist die Beschulungssituation als solche für die Sehgeschädigten und deren Eltern insofern immer noch unklar, als dass nur wenige Institutionen über wirklich adäquate
und
sehgeschädigten
neutrale Kind
Informationen
allein
gelassen
verfügen, werden
Eltern
oder
die
mit
ihrem
Familien
in
Interessenskonflikte eines gesellschaftlichen Systems geraten, in dem sich zum Teil immer noch integrative und separative Kräfte gegenüberstehen. In der vorliegenden Arbeit sollen Widerstände und Effekte der integrativen Beschulung aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden und einen entsprechenden Rückbezug auf den integrativen Regelschulunterricht erfahren. Insbesondere soll darauf fokussiert werden, wie sich die integrative Beschulung aus historischer, rechtlicher, psychologischer und pädagogischer Sicht darstellt. Besonderes Augenmerk soll hierbei auf die weiterhin zu überwindenden Widerstände gerichtet werden, die sich für den Sehgeschädigten und für dessen Eltern hinsichtlich der spezifischen Pädagogik für die Umsetzung des sonderpädagogischen Förderbedarfs, mithin also für das zuständige integrative Förderzentrum, den Betreuungslehrer und die unterrichtenden Regelschullehrer 6
und schließlich in Hinsicht auf spezifische Unterrichtssituationen in den einzelnen Fächern an Regelschulen ergeben. Diese zu überwindenden Widerstände gliedern sich in extrinsische und intrinsische Faktoren, die sich an mehreren Schnittpunkten verzahnen können. Die aus einer Integrativbeschulung resultierenden Effekte sind insofern gleichsam als intrinsisch und extrinsisch zu betrachten, als dass sie einerseits auf
den
methodisch-didaktischen
Unterrichtskomplex
zurückwirken
und
andererseits außerhalb des Klassenkontexts auf eine heterogene Gesellschaft Einfluss nehmen und somit auch makrosoziologische Auswirkungen bedingen können. Zu Gunsten eines verständnisorientierten und logisch kohärenten Aufbaus werden zuerst die in Deutschland herrschenden gesamtgesellschaftlichen Auffassungen zur Blindenbildung anhand der historischen Gegebenheiten der Blindenbildung selbst entwickelt und sollen in einem zweiten und dritten Schritt zuerst auf die integrative Beschulung im Allgemeinen bezogen werden, um letztlich die Frage nach den heute gängigsten Beschulungsmaßnahmen aufzuwerfen. In einem weiteren Schritt sollen die heute gängigsten integrativen Beschulungskonzepte vorgestellt werden, wobei wesentliche Vorzüge und Defizite der spezifischen Integrationsformen aufgezeigt werden sollen. Hierbei wird auch die oft gestellte Frage nach dem Unterrichtsmodus umrissen und eine entsprechende Erläuterung angeboten. Als besonderes Hindernis für die integrative Beschulung galt und gilt die vielfach unsichere Rechtssituation, die sich mittlerweile zwar verbessert, vor dem Hintergrund des föderalen Bildungssystems jedoch nicht völlig aufgeklärt hat und nicht nur in Grenzfällen eine hohe Komplexität in sich birgt. Nichtsdestoweniger
bietet
sie
dem
sehgeschädigten
Schüler
heute
weitgehende Wahlfreiheit der Beschulung, was die Frage nach den primären motivativen Faktoren seitens der an der Integrationsmaßnahme unmittelbar beteiligten Personen aufwirft. Neben der sich zwar vereinfachenden, jedoch weiterhin diffizilen Situation des Status der integrativen Beschulung und
ihrer Wahrnehmung in der
Öffentlichkeit, sowie einer in der Natur der Sache liegenden Verschmelzung von Sonderpädagogik
und
der
allgemeinen
Pädagogik
zu
einer
für
den
Sehgeschädigten möglichst optimalen Fördergrundlage soll untersucht werden, ob eine Verzahnung von sehgeschädigtenpädagogischen und allgemein 7
pädagogischen Elementen Effekte in Integrationsklassen bewirken kann, die das methodisch-didaktische Repertoire einer allgemeinen Regelschulpädagogik für die normalsichtigen Schüler sinnvoll ergänzt, bzw. die gemeinsame Unterrichtssituation
zu
psychologisch-pädagogischen
Effekten
für
den
sehgeschädigten Schüler führt, von denen er in verstärktem Maße profitieren kann. Auch hierfür soll detailliert auf Erkenntnisse aus der Blinden- und Sehbehindertenpsychologie sowie auf Grundlagen und Erkenntnisse aus der Sonder- und Integrationspädagogik rekurriert werden. Besondere Beachtung soll den zu einer neuen integrationspädagogischen Einheit verketteten Leitlinien und, in einem weiteren Schritt, denjenigen Auswirkungen geschenkt werden, die den Unterricht von Integrationsklassen insgesamt betreffen. Etwaige Effekte sollen einen Rückbezug auf die aktuellen Bildungsstandards von Gymnasien in Baden-Württemberg erfahren. Obwohl eine qualitative Dialektik kaum eindeutige oder allgemein gültige Aussagen zulässt, liegt die Vermutung doch nahe, dass die allseits unternommenen
Anstrengungen,
im
Falle
von
gelungenen
Integrativmaßnahmen positive Effekte nicht nur für den Sehgeschädigten, sondern auch für dessen Klassenkameraden evozieren. Im Zuge dieser im allgemeinen
noch
relativ
aufwändigen
Beschulung
muss
sich
die
Integrationspädagogik auch die Frage gefallen lassen, ob die aufgewandte „Energie“ an den Widerständen des Förderschwerpunkts und/oder des herrschenden Systems gänzlich aufgezehrt wird, also kaum in Relation zu ihnen steht, oder ob sich darüber hinaus Synergieeffekte für die weitaus überwiegende
Zahl
der
normalsichtigen
Mitschüler
ergeben,
die
den
Regelschulunterricht bereichern. Ziel dieser Arbeit ist es, einen Beitrag zu leisten gegen die weiterhin in der Gesellschaft vorherrschende Verklärung der Auswirkungen der gemeinsamen Beschulung von blinden und normalsichtigen Schülern, um, wie zu hoffen ist, weitere symbiotische Brückenschläge von Sonderpädagogik und allgemeiner Regeschulpädagogik vorzubereiten, die nicht nur den integrativen Unterricht, sondern den Regelschulunterricht insgesamt einer zunehmend heterogenen Schülerschaft sinnvoll effektivieren.
8
2 Definitorische Annäherungen 2.1 Allgemeines Wie jeder Versuch ein pädagogisch relevantes Phänomen in einer kurzen Definition zusammenzufassen, bleibt auch dieser, der die wichtigsten Begriffe dieses Themas umreißen soll, lediglich eine Annäherung und damit notwendig unzureichend. Er soll jedoch dazu gereichen, ein exakteres Verständnis und eine prägnantere Terminologie zu bewirken. Vor allem stellt sich die Frage, aus welchem Grund überhaupt eine Definition von Sehschädigung, Integration und Inklusion notwendig ist, wenn es sich in der pädagogischen Arbeit doch stets um einen individuellen Fördergedanken eines Schülers mit Sehschwierigkeiten handelt (vgl. Drave [1990]). Dennoch ist eine begriffliche Klärung notwendig, […] z.B. wenn unter sozialrechtlichem Aspekt das Bedürfnis nach einem objektivierenden Maß für die Schwere der Behinderung auftritt, das zur Gleichbehandlung vor dem Gesetz beiträgt oder wenn makropädagogische Entscheidungen getroffen werden müssen, wie z.B. solche über die Entscheidung der Beschulung eines sehgeschädigten Kindes etc. (vgl. Drave [1990], 10) Obwohl diese Definitionen aus dem medizinischen Bereich entlehnt sind, daher zum Teil einen abstrakten Charakter besitzen und soziale Komponenten nur marginal berücksichtigen, so sind sie doch auch ein wichtiges Mittel zur individuellen Eruierung für die Intensität und der Art der Förderung und somit eine Leitlinie für ein adäquates Erziehungsprogramm vor dem Hintergrund der sich ergebenden Förderschwerpunkte. Es bleibt anzumerken, dass die Zuweisung von Förderbedarf oder, im Umkehrschluss, die Fähigkeit zu bestimmten Kompetenzen nicht an diese Definitionen, die eine große Rolle bei vielen Integrationsfragen unserer Tage spielen, geknüpft werden kann, weil der individuelle Adaptionsprozess, die Copingstrategien und die Einflüsse des persönlichen Charakters, die ebenfalls über das soziale Umfeld auf den Betroffenen zurückwirken, hier nicht ausreichend berücksichtigt sind.
9
2.2 Sehschädigung Es ist heute allgemein anerkannt, dass eine Vielzahl von unterschiedlichen Abstufungen der Sehschädigung besteht, die nicht einfach unter den Begriff Blindheit subsumiert werden dürfen, wie dies in der Vergangenheit oft geschehen ist. Bemühungen, Sehschädigung pädagogisch zu definieren, orientieren sich meist an ophthalmologischen Funktionsmesswerten. Wenn in der Folge also von Sehschädigung gesprochen wird, so ist darunter jedwede Einschränkung des Sehvermögens zu verstehen, die nicht mit entsprechenden Sehhilfen korrigiert werden können (vgl. Walthes [2002]), worunter also auch cerebrale Sehschädigungen (CVI) zu zählen sind.
2.3 Sehbehinderung Gemäß
des
Beschlusses
der
Bildungskommission
des
Deutschen
Bildungsrates von 1973 gilt als sehbehindert und damit spezifisch zu fördern, wer trotz Korrektur normale Sehfunktionswerte nicht erreicht. (vgl. Eberwein [1998]). Man unterscheidet zwischen Sehbehinderten, deren Sehschärfe für die Ferne und/oder für die Nähe auf 1/3 bis 1/20 herabgesetzt ist oder die einen Gesichtsfeldausfall
von
entsprechendem
Schweregrad
aufweisen,
und
hochgradig Sehbehinderten mit einer Herabsetzung auf 1/20 bis 1/50 der Norm. Sehbehinderung kann auch durch nicht exakt messbare Beeinträchtigung, wie hohe Blendungsempfindlichkeit oder asthenopische Beschwerden definiert werden. Die Angabe der Sehschärfe erfolgt in Form eines einfachen Bruches, eines Dezimalbruches oder einer prozentualen Angabe. So bedeutet 1/20 etwa, dass auf einen Meter erkannt wird, was eigentlich in einer Entfernung von 20 Metern erkannt werden müsste. Zu beachten ist weiterhin, dass der Begriff der "Sehbehinderung" im deutschsprachigen Raum unterschiedlich verwendet wird. So wird in der BRD von "sehbehindert" (ehemalige DDR - "sehschwach") gesprochen, während in Österreich der Ausdruck "sehgestört" und in der Schweiz der Terminus "sehgeschädigt" verwendet wird. Dabei wird der Bereich der Sehschädigungen grob unterteilt in Sehbehinderung und Blindheit (vgl. Schultheis [1977]).
2.4 Blindheit Eine völlige Blindheit im engeren Sinne, die sog. Amaurose, besteht dagegen, wenn Lichteindrücke überhaupt nicht wahrgenommen werden können. 10
Außerdem gelten neben den völlig Blinden als praktisch blind: Personen, deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 einer normalsichtigen Person beträgt und bei denen nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach obigem Punkt gleich zu achten sind (vgl. Weprich; Große [2007] / Schultheis [1977]).
2.5 Regelschule Von einer Regelschule oder Normalschule soll im Zusammenhang dieser Arbeit gesprochen werden, wenn es sich um eine Schule handelt, die sich sowohl in ihrer Organisation, d.h. in ihrer Zusammensetzung (Addition), als auch in Hinblick auf Methodik und Didaktik, nicht wesentlich von traditionellen Schultypen unterscheidet. Dazu gehört auch, dass es leistungsmäßig undifferenzierte Jahrgangsklassen, sowie Klassen- und Fachlehrer und fernerhin feste Klassenräume für den gesamten Klassenverband gibt (vgl. Appelhans [1977]).
2.6 Integration Diese Definition gestaltet sich deshalb schwierig, da die Gültigkeit immer auf den Bereich beschränkt ist, für den sie entwickelt wurde. Im herkömmlichen Sinne meint der Begriff Integration, so weist das Lateinwörterbuch aus, die (Wieder-)Herstellung eines Ganzen. Die Integration von Behinderten, hier von Sehgeschädigten, ist die (Wieder-)Eingliederung in soziale Gebilde, die zunächst und überwiegend von nicht behinderten, hier also Sehenden, getragen werden. Die Qualität der Integration schwankt in ihrem Ausmaß zwischen
den
Gegenständen,
verschiedenen
Lebensbereichen
denen
eine
Sehgeschädigtenintegration
sich
gewendet
Gruppe heißt
und
zwischen
zuwendet.
dies:
ein
Auf
Blinder
den die bzw.
sehbehinderter Schüler hat beispielsweise im Sprachunterricht wesentlich bessere Chancen, als vollwertiger, als integrierter Partner zu gelten, als z.B. beim Kriegspielen auf dem Schulhof. Das Ausmaß der so bedingten Differenzen ist abhängig von dem Verhältnis zur Bezugsgruppe, den individuellen Sozialkompetenzen, den Copingstrategien des Sehgeschädigten (vgl. Schultheis [1969]).
11
2.7 Inklusion Während Integration voraussetzt, dass vor dem Ereignis derselben eine Segregation des Individuums stattgefunden hat, kann Inklusion als ein makrosoziologisches Phänomen der „Nichtaussonderung“ verstanden werden. Sie impliziert neben einer Akzeptanz der individuellen Heterogenität einen Perspektivenwechsel dahingehend, dass nicht nach den „Defekten“, sondern nach den Möglichkeiten der Subjektentwicklung gefragt wird. Aus der Sicht des Betroffenen bedeutet Inklusion ein Streben nach entwicklungsinitiierenden Lebenssituationen, um auf dieser Basis die Behinderung als subjektiv „sinnvoll“ zu begreifen (vgl. Von Daniels [2003]). Dies setzt eine Gesellschaft voraus, in der Diskriminierungen und Zuschreibungen, die diesen Entwicklungsprozess hemmen oder sogar behindern, nicht mehr stattfinden. Inklusion ist also mithin eine ganzheitliche Einstellung gegenüber einer heterogenen sozialen Gruppe und betrifft nicht ausschließlich die Mitglieder von Randgruppen, wie es die Integration vorsieht. Insofern geht der Begriff der Inklusion weit über den der Integration hinaus, denn er setzt am heterogenen Kollektiv, nicht mehr am segregierten Individuum an. Zu den Kennzeichen von Inklusion zählen nach Feuser: •
das ganzheitliche Verständnis von Menschen als bio-psycho-soziale Einheit,
•
das Erkennen von Kompetenzen jedes Menschen, das beinhaltet, dass bestimmte Momente und Merkmale eines Menschen, die in der Regel als Defizite betrachtet werden, als Kompetenzen erkannt werden, die weiterzuentwickeln und nicht wegzutherapieren sind,
•
das gemeinsame Spielen, Lernen und Arbeiten von allen Kindern in Kooperation miteinander an gemeinsamen Gegenständen,
•
das sich Wenden gegen alle Momente der Selektion und Segregation,
•
die Realisierung einer entwicklungslogischen Didaktik, die keineswegs pädagogisch beliebig ist (vgl. Feuser [1995]).
In der vorliegenden Arbeit verwende ich bewusst den Begriff Integration, da die momentanen Verhältnisse eher den Zuständen der Integration als der Inklusion entsprechen, obgleich bereits manche erfreuliche Schritte in diese Richtung getan werden.
12
3 Geschichte der Sehgeschädigtenbildung 3.1 Geschichtlicher Überblick der traditionellen Sehgeschädigtenbildung Ernsthafte Bemühungen um eine systematischen Blindenerziehung und bildung gibt es erst seit einer vergleichsweise kurzen Zeit, diejenigen um eine spezifische Sehbehindertenbildung sind noch jünger. So sind keinerlei Versuche von Blindenerziehung aus der Antike oder aus dem Mittelalter überliefert. Zwar gibt es aus jeder Epoche Zeugnisse von einzelnen gebildeten Blinden, die für ihre Fähigkeiten bewundert wurden, die Stellung der Gesellschaftsformen zur Masse der blinden Menschen war dagegen jedoch uneinheitlich. Die Einstellungen schwankten zwischen Tötung und Verstoß der Blinden, bis hin zu ihrer Verehrung in einigen Gesellschaften (vgl. Degenhardt [2001]). Im Mittelalter rückte dann der karitative Gesichtspunkt in den Vordergrund und führte
schließlich
zur
Gründung
von
Blindenbruderschaften
als
Selbsthilfeeinrichtungen (vgl. Rath; Dreves [2006]). Wichtige Impulse lieferte zudem mithin das Gedankengut der einsetzenden Aufklärung sowie literarische Äußerungen und deren Rezension zum Thema Blindheit in der aufkommenden Salonkultur,
das
Vorurteil
der
Nichtbildbarkeit
von
Blinden
allmählich
aufzubrechen und damit einen wichtigen Schritt hin zur sozialen Integration dieser Randgruppe zu tun (vgl. Helm; Weinert [2005]; Rath; Dreves [2006]). Das Sonderschulwesen der Sehgeschädigten kann in Deutschland auf eine über
200-jährige
Geschichte
und
Entwicklung
zurückblicken.
Die
Blindenanstalten bzw. Blindenheime, die hauptsächlich privat-philanthropischen oder kirchlich-karitativen Initiativen entsprangen, etablierten sich im Zuge einer sich allmählich verändernden Perzeption der Sehgeschädigten in der Gesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts in sehr kleinem Rahmen in ausgesuchten Städten des deutschsprachigen Raums. Namentlich die erste ihrer Art auf deutschem Territorium war und ist die Johann-August-ZeuneSchule für Blinde in Berlin, mit deren Gründung im Jahre 1806 der Beginn einer systematischen und organisierten Blindenbildung eingeleitet wurde (vgl. Spiess [2007]). Wirft man einen kurzen Blick über die Landesgrenzen hinaus, erkennt man, dass sich das Grundkonzept der Berliner Blindenschule an jenem der beiden ersten Blindenschulen Europas, nämlich der 1784 durch 13
Valentin Haûy in Paris und der 1804 von Johann Wilhelm Klein in Wien gegründeten Blindenbildungsanstalten orientierte. Hernach wurde in den Anstalten in sehr kleinem Rahmen unterrichtet (zumeist 2 oder 3 Schüler), wobei nach bewiesenem Lernerfolg versucht wurde, die Anstalten weiter auszubauen. Die Gründungsphase dieser ersten Einrichtungen fiel in eine Epoche diverser, zum Teil tiefgreifender Veränderungen im politischen, kulturellen und sozialen Leben in den verschiedenen Regionen des losen Staatengebildes, in dem die Deutschen damals lebten. Umso erstaunlicher erscheint es auf den zweiten Blick, dass fast zeitgleich an verschiedenen Orten eine Art kollektiven Bewusstseins zur Realisierung von Hilfen für eine Randgruppe drängte, die besonders unter sozialer Ungleichheit litt: die relativ kleine Gruppe blinder Menschen, die bislang dazu verurteilt war, sich ihr Leben durch Betteln zu finanzieren. Allerdings
schwang
in
dieser
ersten
Gründungsphase
der
Blindenbildungsinstitute sicherlich auch die Motivation mit, für die zu erwartenden Kriegsblinden eine adäquate Präventivmaßnahme zu schaffen (vgl. Rath; Dreves[2006]). Bis zur Jahrhundertmitte wurden etwa zwanzig weitere Blindenbildungsinstitute im deutschsprachigen Raum errichtet, wobei diese in den folgenden Jahrzehnten um den ersten Platz hinsichtlich der Qualität der Ausbildung konkurrierten. Es wurden Zusatzkriterien ins Feld geführt, z.B. das Bestehen einer staatlichen Anerkennung oder das Vorliegen eines Konzepts und Lehrplans
(vgl.
Rath;
Dreves
[2006]).
Grundsätzlich
verfolgten
die
Blindenanstalten dieser Zeit zwei unterschiedliche Ansatzpunkte, um eine möglichst große Zahl von blinden Menschen zu einem „brauchbaren Mitglied der Gesellschaft“ zu erziehen. Am Pariser Blindenbildungsinstitut wird der Antagonismus, die polare Spannung zwischen dem Bestreben der Vermittlung einer ganzheitlichen humanistischen Allgemeinbildung und einer utilitaristisch, auf die „Nützlichkeit“ innerhalb der Gesellschaft ausgerichteten Ausbildung deutlich. Während Haûy theoretischen Elementarunterricht erteilte, bildete der Mechaniker Hildebrand an einer eigenst konstruierten Spinnmaschine in der institutseigenen Spinnerei aus. Auf diese Weise sollte zumindest einem kleinen Teil der Blinden die Möglichkeit zum selbständigen Erwerb ihres Lebensunterhalts gegeben werden (vgl. Rath; Dreves [2006]). In diesen ersten Anfängen der Blindenbildung war Hildebrands Konzept das erfolgreichere, da 14
sich Haûy mit einem großen Problem konfrontiert sah: die Brailleschrift war noch nicht erfunden und die Möglichkeit zur Vermittlung von theoretischen Bildungsinhalten oder Literatur dadurch sehr eingeschränkt. Trotz aller Bemühungen schafften es selbst aus dem kleinen Kreis der schulisch gebildeten Blinden nur die wenigsten, für ihr täglich Brot selbst aufzukommen. Der weitaus überwiegende Teil verfolgte nach wie vor die Tätigkeit des Bettelns (vgl. Dreves [1998]; Jeschke [2000]). Trotz des einsetzenden gesellschaftlichen Umdenkens galten Blinde grundsätzlich als erwerbsunfähig, obwohl schon Anfang des 16. Jahrhunderts der spanische Humanist und Sozialreformer Julian Ludovicus Vives (1492 1540) die Meinung vertreten hatte, dass Blinde in unterschiedlichen Bereichen durchaus arbeitsfähig seien und zumutbare nützliche Arbeit leisten könnten. Ihre vorgebliche Unfähigkeit zur Arbeit, mutmaßte er, beruhe nicht auf ihrem Gebrechen, sondern auf Faulheit und Liederlichkeit (vgl. Mell [1952]). Ein weiteres, gesamtgesellschaftliches Problem, von dem natürlich
auch
das
Blindenwesen
betroffen
war,
bestand
in
der
fortschreitenden Industrialisierung und der ansteigenden Bevölkerungszahl, was für einen Arbeitskräfteüberschuss sorgte und unter anderem auch die manuelle Arbeit der Blinden überflüssig machte. Die Folge war zunächst eine
sich
verstärkende
Armut
der
Blinden,
bevor
sie
von
der
Industrialisierung in Form von einer sich entwickelnden Blindenschrift und neuen Berufsbildern profitieren konnten. Daher wurde in den Blindenbildungsanstalten in erster Linie das Grundprinzip der von Pablasek und vielen anderen geforderten „Blindenfürsorge von der Wiege bis zum Grabe“ durchgeführt, was den Betroffenen zwar eine physische Existenz sicherte, sie jedoch unmittelbar in die Segregation führte (vgl. Rath; Dreves [2006]). Bemerkenswerterweise haben ausgerechnet die Blindenpädagogen des deutschsprachigen Raums die pädagogischen Hilfen zur Selbsthilfe der Blinden weitgehend ignoriert und dadurch mitgeholfen, ein Fürsorgesystem
zu
etablieren,
durch
das
Blinde
als
Objekte
der
Anstaltsfürsorge zeitlebens kontrolliert und diszipliniert wurden (vgl. Rath; Dreves [2006]). Abweichend von dem, zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vorherrschenden Prinzip der stationären Blindenbildung, wurde in den
1830er-Jahren
von
der
Posener
Provinzialverwaltung
der
erste
15
Integrationsversuch von Blinden unternommen, der jedoch sowohl aus Mangel an Interesse der Öffentlichkeit, als auch der Schulbehörden scheitern sollte. Dieses frühe Konzept integrativer Blindenfürsorge wurde aber vor allem deshalb nicht weiter verfolgt, weil es die staatliche Schulaufsicht ungleich stärker eingebunden hätte als für die von den Provinzen zu tragende Anstaltsfürsorge vorgesehen. Mit anderen Worten: dieses Staatsschulmodell wurde
aufgegeben,
weil
es
nicht
mit
dem
wirtschaftsliberalen
Grundverständnis der preußischen Bürokratie harmonierte (Rath; Dreves [2006], 38). Außer
dem
offensichtlichen
Blindenbildungswesen
Problem
seinerzeit
noch
der einen
Ausgrenzung, weiteren
hatte
das
grundlegenden
Schwachpunkt: trotz aller Bemühungen konnte nur ein geringer Teil der bildungsfähigen Sehgeschädigten überhaupt erreicht und ausgebildet werden. Und dies obwohl im Jahre 1883 im Deutschen Reich bereits 24 öffentliche Blindenbildungsanstalten existierten (vgl. Graßmann [2006]). Viele Blinde und hochgradig sehbehinderte mussten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mangels Alternative normale Volksschulen besuchen, wo sie noch keine spezifische Förderung erhielten oder sie mussten dem Unterricht gänzlich fernbleiben (vgl. Graßmann [2006]). Fernerhin ergab sich ein weiteres systematisches Defizit: die Sehbehinderten, die Schwachsichtigen, wie sie damals genannt wurden, nahmen mit ihrem verbleibenden Sehrest eine Zwischenposition zu beiden Gruppen, den Normalsichtigen und den Blinden, ein, was ihre Ausbildung enorm erschwerte. Oft wurden sie ebenfalls in den Blindenanstalten beschult, wobei sie sich hier dem etablierten, auf Blinde zugeschnittenen, didaktischen System unterordnen mussten und keine spezifische Förderung entsprechend ihrer Möglichkeiten erhielten, was zu Konfrontationen und nicht selten zur Unterforderung führte (vgl. Graßmann [2006]). In Anbetracht dieses Missstandes sollte es dennoch bis zum Jahre 1919 dauern, bevor die erste Sehbehindertenschule durch Hermann Herzog in Berlin gegründet wurde. Trotz der offensichtlichen Notwendigkeit vollzogen sich die weiteren Gründungen nur schleppend, wobei Mitte des 20. Jahrhunderts Eröffnungen in größerer Zahl erfolgten. Bis
heute
erlebt
das
Sehgeschädigten-Sonderschulwesen
eine
stetige
Fortentwicklung und Ausdifferenzierung der Förderschwerpunkte. Öffentliche Sehgeschädigtenschulen wurden flächendeckend erst errichtet, nachdem im 16
Jahre 1911 in den Schulgesetzen der Länder auch eine Schulpflicht für Behinderte aufgenommen worden war. Mit der allgemeinen Schulpflicht wurde im Übrigen deutlich, wie viele Kinder dem konventionellen Schulunterricht zu folgen
nicht
in
der
Lage
waren,
woraus
sich
weitere
Formen
der
Sonderbeschulung entwickelten (vgl. Eckhardt [2005]).
3.2 Geschichtlicher Überblick der integrativen Beschulung Wie im vorigen Abschnitt bereits kurz umrissen wurde, gab es bereits im 19. Jahrhundert – jedoch seinerzeit oftmals aus Gründen der Perspektivlosigkeit – die
ersten
Versuche
von
integrativer
Beschulung
von
Blinden
und
Sehbehinderten. Die noch kaum entwickelte Blindenpädagogik, sowie fehlende oder nicht adaptierte Unterrichtsmaterialien und das noch nicht Vorhandensein einer praktikablen Blindenschrift wie auch das mangelhafte Interesse aller Beteiligten behinderten die ersten integrativen Schulversuche. Überhaupt gab man sich hinsichtlich der generellen Bildungsfähigkeit und vor allem der gegebenen beruflichen Perspektiven der wenigen blinden Schulabsolventen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts äußerst kritisch. Aufgrund dieser fehlenden Mittel und Strategien wurde die Aufmerksamkeit zur Gänze auf die Blindenbildungsinstitute
gelegt.
Und
tatsächlich
war
es
an
diesen
Blindenbildungsanstalten, in den folgenden Jahrzehnten enorme Fortschritte hinsichtlich der didaktischen und adaptiven Methoden zu schaffen (vgl. Graßmann [2006]). Die gemeinsame Unterrichtung blinder und sehender Kinder kam jedoch nie völlig zum Erliegen. Allein die damals noch desolate Verkehrssituation erforderte nicht selten die Beschulung von Sehgeschädigten in den Volksschulen. Dies wurde jedoch weniger als eine chancenträchtige, als vielmehr eine Notsituation begriffen und entsprechend gewürdigt. Die Bildung in den Blindenanstalten galt weithin als spezialisierter und hochwertiger und diesem Anspruch wurde sie auch gerecht. Viele der in den Blindenanstalten gewonnenen Methoden und Techniken wurden von Blindenpädagogen wie Johann Georg Knie in Schriften wie die „Anleitung zur zweckmäßigen Behandlung blinder Kinder in öffentlichen Volksschulen", die er 1858 bereits in der fünften Auflage verlegen ließ, nach „außen“ weitergegeben und stellten die ersten Leitfäden der schulischen Integration blinder und sehbehinderter Kinder dar (vgl. Graßmann [2006]). Gleichwohl, je besser man das Anstaltsleben kannte und je mehr man es forcierte, desto evidenter zeigte sich, nach einer adäquaten Ausbildung auch die Notwendigkeit einer lebenslangen Integration des Blinden, die mit der zwischenzeitlich systematisierten, lebenslangen 17
Blindenfürsorge nicht erreicht wurde. Bei der Bilanz seines Lebenswerks musste selbst der Begründer des Wiener Blindeninstituts, Johann Wilhelm Klein 80jährig in den 1840er-Jahren feststellen, […] dass sein Anstaltsunterricht in dieser Hinsicht versagt habe und stattdessen vielmehr eine häusliche Erziehung der blinden Kinder geboten sei. Der Unterricht müsse daher in den Familien und Ortsschulen stattfinden (vgl. Rath; Dreves [2006], 39). Durch diese Erkenntnis hatte
Klein ein bereits im Jahre 1846 von der
österreichischen Regierung erlassenes Dekret bewirkt, das verfügte, dass blinde Kinder die ortsansässige Grundschule besuchen sollten. […] Da blinde Kinder an den Lehrgegenständen des Elementarunterrichts teilnehmen können, so ist dafür zu sorgen, dass derlei Kinder die öffentlichen Schulen besuchen (Rath; Dreves [2006], 40). Mit dem technischen Fortschritt und einer sich allmählich vollziehenden Konsolidierung
der
neuen
Blindenpädagogik
erlangten
die
Blindenbildungsinstitute großes Ansehen bei den Betroffenen und erzielten beachtliche Erfolge hinsichtlich der Ausbildung ihrer Zöglinge. Die Curricula dieser Schulen waren nun ähnlich denen vergleichbarer Schulen für sehende Kinder. So erreichten viele Absolventen von Blindenschulen später ein Universitätsstudium. (vgl. Hatlen [1991]). Dies war ein weiterer wesentlicher Grund dafür, warum lediglich ein Bruchteil der blinden oder sehbehinderten Jugendlichen integrativ am Heimatort beschult wurde. Dennoch blieb die integrative Beschulung unter führenden Blindenpädagogen eine sich langsam abzeichnende Alternative, für den das österreichische Dekret ein früher amtlicher Beleg ist. Seither wurde die gemeinsame, wohnortnahe Bildung von sehenden und nicht sehenden Kindern immer wieder angeregt, fand aber in der Bildungsöffentlichkeit keine ausreichende Resonanz, um sich gegenüber der fest etablierten Anstalts-Infrastruktur Aufmerksamkeit zu verschaffen (vgl. Degenhardt [2001]). Die Propaganda des zweiten Weltkriegs tat ihr übriges, um der Grundidee der Integration den ideologischen Boden zu entziehen (vgl. Hudelmayer [2006]). Die 60er und 70er Jahre waren geprägt von einem umfassenden
Ausbau
und
einer
weitreichenden
Differenzierung
des
Sonderschulwesens, um dem Recht auf Bildung für alle behinderten Kinder und Jugendlichen
zu
entsprechen
und
den
unterschiedlichen
Bedürfnissen
bestmöglich gerecht zu werden (vgl. www.kmk.org [21.11.2007]). Die sich 18
bereits in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts gestaltende Entwicklung in den USA, blinde und sehbehinderte Kinder in größerem Umfang in den örtlichen Regelschulunterricht zu integrieren, fand in den 70er Jahren allmählich auch in der BRD – beeinflusst durch ein gewandeltes Verständnis von Behinderung und pädagogischen Fördermaßnahmen -, durch offenere Formen des Unterrichts und durch verbesserte Rahmenbedingungen an den öffentlichen Schulen (z.B. günstigerer Schüler-Lehrer-Schlüssel und durch eine höhere Bewertung der wohnortnahen Schule (vgl. www.kmk.org [21.11.2007]) verstärkte Resonanz und ging einher mit ersten versuchsweise angelegten Projekten in einer Vielzahl von Einzelmaßnahmen, die in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts teilweise in Regelangebote überführt wurden. Integration war nun nicht mehr nur das Ziel, sondern das Mittel selbst. Seither sind verschiedene Formen der Zusammenarbeit zwischen Sonder- und Regelschulen entstanden, die sich nicht zuletzt in den sich in den Erziehungswissenschaften entwickelnden integrationspädagogischen Ansätzen immer wieder neu befruchten. Gerade zwischen den Sonderschulen für Sehgeschädigte und den örtlichen Regelschulen geschieht aktuell eine enge Verzahnung, in pädagogischer Hinsicht ebenso wie in Bezug auf die spezifische Förderung des integrierten Schülers (vgl. Ziehmann [2008]). Die Schularten erfahren zur Zeit eine rapide Verschmelzung der bestehenden Strukturen vor dem Hintergrund einer schülerorientierten, individuell optimalen Förderung. Es ist jedoch anzumerken, dass diese Art der spezifischen Förderung von Sehgeschädigten an allgemeinen Schulen mithin an weiterführenden Schulen oftmals problematischer umzusetzen ist als in Grundschulen, wo die gegenseitigen pädagogischen Schnittmengen eine größere Akzeptanz und eine entsprechende Umsetzung erfahren (vgl. Meinhardt-Nanz [2008]).
3.3 Zusammenfassung Die inzwischen sehr ausgefeilten und vielfältigen Konzepte der Blinden- und Sehbehindertenschulen sind nach wie vor different und beinhalten die unterschiedlichsten Förderschwerpunkte vor dem Hintergrund einer Vielzahl von
Bildungswegen
und
Schulabschlüssen.
Aufgrund
der
historischen
Entwicklung geschieht die Beschulung von Blinden und Sehbehinderten in Deutschland weiterhin und größtenteils nicht integrativ, d.h. in stationären und geschlossenen Bildungsanstalten, mit speziell zugeschnittener, oftmals auch sehr individueller Förderung. Das Blinden- und Sehbehindertenschulwesen, 19
entsprungen aus karitativen Motiven und vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Umdenkens, existierte während seiner Geschichte quasi stetig parallel zum herkömmlichen Regelschulsystem. Staatliche Absichten zur organisierten Blindenbildung waren zum Teil zwar vorhanden, sie beschränkten sich jedoch, wenn überhaupt, lediglich auf die Schaffung von stationären Bildungs- und Arbeitsanstalten, womit die „Blindenführsorge von der Wiege bis zum Grabe“ initiiert wurde. Zudem proklamierte die sich ausbildende Blindenpädagogik eine Sonderstellung der Blindenbildung. Allein durch die faktische Neuerschaffung der Fachrichtung wurden derart umfassende neue Erfahrungen gemacht, dass sie sich bald schon von der gängigen allgemeinen Pädagogik hinsichtlich ihrer Methodik und der eingesetzten Lehrmaterialien so stark abgrenzte, dass ein Austausch, wie ihn z.B. Johann Georg Knie zeitlebens forcierte, eher die Ausnahme als die Regel war. Selbst innerhalb des Systems, also von Sonderschule zu Sonderschule, war der Informationsfluss so gering, dass quasi kein Informationsaustausch stattfand. Die Trennung der beiden Systeme war somit vollzogen und sollte erst in den späten 70er-Jahren in Deutschland durch die allmähliche Etablierung der integrativen Beschulung langsam wieder aufgehoben werden. Eine sich allmählich abzeichnende und weiterhin zunehmende Durchlässigkeit der beiden Schularten gewann Gestalt vor einem sich nach und nach wandelnden Verständnis von Behinderung und erweiterten makropädagogischen Konzepten. Heute ist die Integration von Behinderten in ihrer Ausprägung und ihren Formen stark abhängig von der Bildungspolitik der einzelnen Bundesländer. Sehgeschädigte, die in weiterführenden Schulzweigen integrativ unterrichtet werden, sind in ihrer Anzahl so gering vertreten, dass man weiterhin von Einzelmaßnahmen sprechen muss und eine wissenschaftliche Begleitung der Maßnahme kaum erfolgen kann (vgl. Walthes [2003]). Der historische Hintergrund schwingt bislang in den aktuellen argumentativen Leitlinien bei der Beschulungsfrage immer noch mit und beeinflusst nicht wenig auch weiterhin die Fremdwahrnehmung von blinden Kindern ebenso wie die Art ihrer Erziehung, weil seither blindenpädagogische Impulse ausschließlich von den Blindenbildungszentren ausgingen und damit der Eindruck entsteht, dass Sehgeschädigte nur auf diesem Wege eine adäquate Erziehung erfahren könnten bzw., im Umkehrschluss, seitens der Bildungspolitik oftmals eine Erhaltung der Trennung von Sonderschul- und Regelschulsystem gerechtfertigt 20
wird. Die sich zur Zeit forcierende Durchlässigkeit des Sonder- und Regelschulsystems ist geprägt von einer umsichtigen und ganzheitlichen Konzeptionalität und, auf pädagogischer Ebene, einem hohen Maß an gegenseitigen Ausprägung
Profitieren, und
wobei
eingeräumt
werden
muss,
dass
die
Umsetzung der Konzepte, sowie die Intensität der
Zusammenarbeit regional sehr unterschiedlich sein können und auch von Schulart zu Schulart schwanken.
4 Grundkonzepte der Integrativen Beschulung 4.1 Allgemeines Heute ist die Integrationsdiskussion innerhalb der Sehgeschädigtenpädagogik an einem Punkt angelangt, wo Fragen ihrer grundsätzlichen Relevanz nicht mehr diskutiert werden müssen (vgl. Walthes [1998]). Vielmehr gewinnt die eingangs gestellte Frage an Bedeutung, welche Widerstände im Falle einer integrativen Beschulung eines sehgeschädigten Schülers nach wie vor zu überwinden
sind
und
Integrativmaßnahme
welche beteiligten
Möglichkeiten
sich
Schüler
ergeben
für
alle
an
können.
der Die
Wechselwirkungen einer heterogenen Gruppe, wie sie die Integration initiiert, differieren vor dem Hintergrund des Modus der Integration, welcher sich zwischenzeitlich aus beschulungstechnischen Gründen mehr oder weniger eng an die Form der Behinderung und an die Schulart knüpft. Es sollen im Folgenden
die
verschiedenen,
bei
Sehbehinderung
angewandten
Integrationsmodi aus vier Gründen beleuchtet werden: •
Die diversen Integrationskonzepte sind in Deutschland unterschiedlich stark verbreitet, sind aber alle noch angewandte Praxis.
•
Die sozialen und pädagogischen Effekte sowohl für das sehgeschädigte Kind
als
auch
für
dessen
Klassenkameraden
bergen
in
den
unterschiedlichen Integrationsmodi verschieden starke Ausprägungen. Bislang dominiert in sämtlichen Schularten bei Sehschädigung der Modus der Einzelintegration. Nimmt die integrative Beschulung in Deutschland einen ähnlichen Weg, wie in den bereits Jahrzehnte lang integrierenden europäischen Nachbarländern, was zu erwarten ist, so ist zu befürchten, dass die Integrativmaßnahmen aus Kostengründen gebündelt und in Form von homogenen Gruppen auf bestimmte Klassen beschränkt werden. Diese 21
Maßnahmen reduzieren die positiven Effekte einer Integration gewaltig (vgl. Maikowski [1998]). •
Die einzelnen Grundkonzepte sind ein hervorragendes Steuerelement für das Maß der Integration. In Anbetracht der sehr stark variierenden Intensität und Ausprägung der Förderschwerpunkte, bilden die Integrationsmodi eine angemessene pädagogische Antwort auf die Frage nach einer wie auch immer gearteten „Zumutbarkeit“ der für sinnvoll erachteten Integrationsexposition.
Ganz gleich, welcher Modus gewählt wird, es wird nie, und das ist das Entscheidende bei all diesen Formen, der Grundgedanke einer vollwertigen gesellschaftlichen Integration des Sehgeschädigten außer Acht gelassen, den der Blindenpädagoge Lembcke schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgendermaßen formulierte: […] der Blinde lebt in einer durch Sehende geschaffenen Umwelt und muss aus diesem Grund für diese auch ausgebildet und ausgerüstet sein. Das bedeutet, dass ein Verstehen der Belange der Sehenden durch die Blinden und umgekehrt nur erfolgreich sein kann, wenn „ihre Vorstellungswelt dem Umfange und dem Inhalte nach sich deckt“ (Lembcke [1902], 68 nach: Graßmann [2006], 89). Knapp 90 Jahre später fasst Hatlen in einem generellen Leitsatz die Situation in Deutschland folgendermaßen zusammen: Die Ausweitung von Programmen zur integrierten Beschulung blinder und sehbehinderter Schüler in der Regelschule ist unausweichlich (Hatlen [1991]).
4.2 Konzeptionelle Verfahrensweisen in Abhängigkeit der Schulart Im Laufe der sich entwickelnden integrativen Beschulung im Rahmen von diversen Unterrichtsmodellen haben sich mehrere integrative Grundkonzepte abgezeichnet, die je nach „Integrationsgrad“ bzw. sonderpädagogischer Förderungsintensität bzw. mit der Schulart variieren können. Diese erfuhren in der Vergangenheit, und tun dies auch noch heute, in den einzelnen Bundesländern verschiedenste Ausprägungen und Bündelungsmaßnahmen und damit auch verschwimmende Grenzen. Die gesetzliche Grundlage, auf die später noch hinreichend eingegangen werden soll, ist verwirrend und 22
unübersichtlich und kennt zudem oftmals ein gewisses Maß an Willkür, da sie immer noch in den meisten Bundesländern lediglich Empfehlungscharakter besitzt und zudem bis Oktober letzten Jahres in sämtlichen Bundesländern noch an einen Finanzvorbehalt gebunden war. In Folge dessen wurden viele angestrebte Integrativmaßnahmen in der Vergangenheit schlichtweg finanziell ausgehungert (vgl. Maikowski [1998]). Generell zeichnen sich positive Trends mittlerweile in beinahe allen Bundesländern ab. Am weitesten gediehen sind die Bemühungen zur Integration jedoch in Hessen, dem Saarland, SchleswigHolstein, Berlin und Hamburg, wo die Gesetzgebung sämtliche Schularten für alle Behinderungsformen geöffnet hat (vgl. Maikowski [1998]) und zum Teil auch die gemeinsame Erziehung von Behinderten und Nichtbehinderten Vorrang
vor
der
Sonderbeschulung
erhielt.
Andere
Länder
haben
Formulierungen in die Schulgesetze eingebracht, die zwar prinzipiell die gemeinsame
Förderung
ermöglichen,
diese
jedoch
an
bestimmte
Voraussetzungen knüpfen: Die Integration einzelner behinderter Kinder in allgemeinen Schulen ist nicht beabsichtigt, wenn dies eine zieldifferente Förderung voraussetzt (vgl. www.rps-schule.de/ghrs/sos/foerderung_bw.html [18.11.2007]; www.behinderung.org/gesetze/intgestz.htm [21.11.2007]). Die
sehr
vorsichtige
und
zögerliche
Etablierung
der
integrativen
Schulmaßnahmen, die von einzelnen Initiatoren bereits Mitte der 70er Jahre eingeleitet wurden, gingen aus einem schulhistorischen Hintergrund hervor, der, wie gezeigt wurde, auf gesellschaftlichen Widerstand und eine geringe soziale Akzeptanz schließen lässt. Herausforderungen mussten nach und nach gemeistert, Bedenken abgebaut werden, bis die integrative Beschulung eine Alternative, nicht nur in pädagogischer Hinsicht für das sehgeschädigte Kind, sondern auch in den Köpfen darstellte. Insbesondere am letzteren Ziel ist sie, was sich auch in der aktuellen Gesetzeslage widerspiegelt, bis dato noch nicht völlig angelangt. Die folgend skizzierten Formen der integrativen Beschulung spiegeln daher mit einigen Ansätzen auch die Vorsicht wieder, die es zu walten lassen galt, um die Integration in einen Gesellschaftsbereich voranzutreiben, von dem die Sehgeschädigten seit Beginn ihrer schulischen Bildungsoffensive systematisch ausgeschlossen waren (vgl. Hatlen [1991]). Die diversen Konzepte finden sich heute vor dem Hintergrund der divergierenden Gesetzeslage der Länder und einer Adaption an die unterschiedlichen 23
Regelschulformen in vielen Abwandlungen wieder (vgl. Dicke; Maikowski [1998]). Mithin kann man drei Grundkonzepte unterscheiden, die in ihren jeweiligen Subsystemen ihre spezifische Umsetzungsintensität aufweisen und dem Bestreben einer möglichst optimalen individuellen Förderung Rechnung tragen können. 1. Die Außenklasse: Bei dem Konzept der Außenklassen stellt eine konventionelle Schule entsprechende Räumlichkeiten zur Verfügung, die von einer Klasse einer Blinden- oder Sehbehindertenschule dauerhaft genutzt werden. Der Unterricht der Außenklasse wird mit Lehrkräften aus der Sonderschule bewerkstelligt, die äußeren und zeitlichen Abläufe dieser Außenklassen orientieren sich jedoch an der Gastgeberschule, die Pausen und sonstige schulische Aktivitäten verbringt die Außenklasse zusammen mit den anderen Schülern, zum Teil existieren Kooperationen in Teilbereichen mancher Unterrichtsfächer (vgl. Isar-projekt.de [29.11.2007]), wodurch in einem geschützten Rahmen eine soziale Integration im schulischen Umfeld geschaffen werden kann. Das Risiko zur Ausbildung von homogenen Gruppen ist jedoch vergleichsweise hoch. 2 2. Integrationsklassen: Bei Integrationsklassen werden sehbehinderte und normal sehende Schüler überwiegend im Klassenverband gemeinsam unterrichtet, wobei diese Klassen in den gesamtschulischen Abläufen keine Sonderstellung erhalten. In manchen Fächern wie Sport oder Mathematik werden solche Klassen jedoch separiert unterrichtet,
um
eine
spezifischere
Förderung
zu
gewährleisten.
Ein
Lehrertandem aus jeweils einem Regelschul- und einem Sonderschullehrer garantieren auch in den übrigen Fächern eine optimale Förderung (vgl. www.isar-projekt.de [29.11.2007]). Diese heterogenen Integrationsklassen, die zumeist verkleinert sind und nach einem bestimmten Schülerschlüssel (oft ein Verhältnis von 6/1 von normal sehenden zu Sehbehinderten) unterrichtet werden, erfordern jedoch hinsichtlich der Prozesse innerhalb der Schülergruppe besondere Aufmerksamkeit, da das zeitweise Auftrennen der Klasse in zwei Gruppen negativ auf die Gesamtlernsituation rückwirken kann. Dies belegen
2 Oft wird das System der Außenklasse bei schwierigen oder Schülern mit mehrfachen Behinderungen eingesetzt und zum Teil auch als Sparmaßnahme für teure Sonderschulen gesehen Teure Sonderschulen können geschlossen und das Ganze kann mit geringeren Mitteln in der allgemeinen Schule fortgesetzt werden (vgl. Preuss-Lausitz [1997], S.19).
24
unter anderem
Erfahrungen aus Frankreich. Über die Effekte des dort
gängigen Konzepts der „intégration partielle“, dem die Idee der deutschen Integrationsklassen recht nahe kommt, wird von den betroffenen Eltern der sehgeschädigten
Schüler zwar sehr positiv berichtet (vgl. www.enfant-
aveugle.com [26.11.2007]), hinsichtlich der gruppendynamischen Effekte innerhalb einer „offenen“ Klasse wird jedoch auch zur Vorsicht gemahnt: La classe est un lieu où l'on apprend ensemble. Un minimum de cohérence groupale est nécessaire aux apprentissages. On doit veiller avec une particulière attention à ce que le groupe n'éclate pas en permanence et la scolarisation à temps plein apparaît très souhaitable en particulier dans ces classes d'intégration où la constitution du groupe est souvent plus problématique que dans une classe ordinaire. C'est là une première raison de se montrer extrêmement méfiant vis à vis des soi-disant integrations à temps partiel. Une scolarisation à temps partiel, observe avec raison, peut être un obstacle à un véritable sentiment "d'appartenance" (Courteix [2000]). Die Integration geschieht bei diesem Konzept auf schulischer und sozialer Ebene; der Integrationsgrad ist höher als bei dem Konzept der Außenklassen, die Affinität zu homogenen Gruppen wird verringert. Gleichzeitig findet man hier häufiger auch die zieldifferenten Unterrichtsformen. 3. Einzelintegration: Bei einer einzelintegrativen Maßnahme wird ein sehbehinderter Schüler in eine Regelschulklasse integriert und zusammen mit seinen Mitschülern von einer Lehrkraft der Regelschule unterrichtet. Zusätzlich erhält dieser Schüler bedürfnisgemäß zugeschnittene Unterstützung eines sog. Integrations- oder Betreuungslehrers, der das Ziel verfolgt, sowohl dem Schüler eine spezifische sonderpädagogische Unterstützung zu geben als auch als Bindeglied zwischen den unterrichtenden Lehrkräften, dem Schüler und den Eltern zu fungieren. Der Betreuungslehrer wird unterstützt durch die Arbeit einer Assistenzkraft, die als zusätzliche Unterstützung am Klassenunterricht teilnehmen kann. Ziel ist eine möglichst seltene Anwesenheit dieser Hilfskraft, um den sozialen Fokus beim sehgeschädigten Schüler zu belassen und nicht auf eine andere Person zu lenken (vgl. Ziehmann [2008]). Diese Auslotung kann, insbesondere bei Schülern mit hohem Förderbedarf, zum Teil recht schwierig sein. Diese Hilfskraft übernimmt außerdem einen Teil der spezifischen Materialadaptation 25
für den sehgeschädigten Schüler. Vorteil bei dieser Integrationsform ist, dass das Risiko zur Bildung homogener Peergroups ausgeschaltet und der Schüler dauerhaft zum Umgang mit seinen normalsichtigen Klassenkameraden angehalten ist (vgl. www.isar-projekt.de [29.11.2007]; Meinhardt-Nanz [2008]). Die meisten Integrationen von Blinden und Sehbehinderten fanden bislang auf der Basis einer Einzelintegration und in Integrationsklassen statt, wodurch vielfältige Erfahrungen sowohl mit diesen Integrationsformen selbst, als auch für den Bereich der nötigen Copingstrategien gemacht werden konnten. Trotz einer noch bislang nicht fundierten Datengrundlage, zeigen sich bereits ansatzweise folgende Muster, die hier zu Gunsten eines besseren Verständnisses stark vereinfacht und generalisiert wiedergegeben werden sollen: •
das Konzept der Integrationsklassen scheint sich in der Grundschule und in Gesamtschulen zu bewähren,
•
das Prinzip der Außenklasse wurde in jeder Schulart und allen Klassenstufen eingesetzt,
•
die Einzelintegration greift besonders erfolgreich in der Mittel- und Oberstufe (vgl. www.isar-projekt.de [20.12.2007]; www.behinderung.org [19.12.2007]).
Hinsichtlich des Integrationspotentials weisen diese drei Systeme in der Regel eine Hierarchisierung auf: der Integrationsgrad steigt vom AußenklassenKonzept bis zur Einzelintegration stark an, weil der Effekt der Ingroups verringert wird (vgl. Appelhans [1977]). Die sich hinsichtlich der Integration ergebenden spezifischen Anforderungen und Schwierigkeiten steigen ebenfalls mit dem Grad der Integration. Obwohl sich eine Tendenz dahingehend andeutet,
dass
das
Konzept
der
Einzelintegration
hinsichtlich
einer
ganzheitlichen und vollwertigen sozialen Integration die größten Erfolgschancen beinhaltet, so ist diese Frage hoch komplex und beinhaltet insbesondere im psychosozialen Bereich eine enorm große Zahl an Faktoren, von denen die Frage nach dem Integrationsmodus nur ein Teil ist. Eine gelungene soziale Integration unter Normalsichtigen hängt in erster Linie von der Persönlichkeit des Sehgeschädigten ab und variiert auch insofern stark, als dass die Gruppe der Sehgeschädigten in psychosozialer Hinsicht eine viel heterogenere Gruppe darstellt als dies bei normalsichtigen Kindern und Jugendlichen der Fall ist (vgl. Ziehmann [2008]).
26
4.3 Zielgleich oder zieldifferent - die Wahl des Unterrichtsmodus Ausgehend von den diversen Integrationsformen stellt sich im herrschenden System nicht nur die Frage nach der konzeptionellen Umsetzung, d.h. die Frage, in welchen Integrationsmodus ein Schüler integriert werden soll, sondern auch, nach welchen Lernzielen gestrebt werden soll. Hier spielen mehrere Aspekte
eine
entscheidende
Integrativmaßnahme
Rolle,
maßgeblich
in
die die
bislang Höhe
im des
Falle
einer
festgestellten
sonderpädagogischen Förderbedarfs mit einfließen. Dieser entscheidet letztlich in der aktuellen gesetzlichen Situation über den empfohlenen Unterrichtsmodus oder im Extremfall auch über die Art der Beschulung. Prinzipiell
kann
zielgleich
Binnendifferenzierung Integrationsklassen
und
zieldifferent
bei
Sehgeschädigten
wird und
in
der
unterrichtet
Grundschule
zum
werden. Teil
praktiziert,
Eine
noch wo
in der
sonderpädagogische Förderbedarf, in der Regel, aufgrund der zu erlernenden sehgeschädigtenspezifischen
Techniken
noch
höher
ist,
während
das
zeitgleiche und zielgleiche Lernen zumeist an weiterführenden Schulen im Rahmen von Einzelintegrativmaßnahmen, nicht zuletzt aus personellen Gründen (eine Lehrkraft pro Klasse) angestrebt wird (vgl. Hänß [1997]; Maikowski [1998]; Ziehmann [2008]). Das auf diese Weise praktizierte binnendifferenzierte Lernen wird weniger als eine generelle Lernzieldifferenz zwischen
den
normalsichtigen
und
den
sehgeschädigten
Schülern
durchgeführt, sondern manifestiert sich viel mehr in einer auf die spezifischen Lernfelder zugeschnittenen Förderung, die beim Sehgeschädigten in aller Regel eine Verlagerung hin zum oftmals defizitären Komplex der Begriffsbildung beinhalten kann. Im Unterricht der Grundschule äußert sich dies viel mehr in temporären Divergenzen; nur selten differieren die Lerninhalte. Allerdings werden jene, im Zuge der Materialadaptation, quantitativ komprimiert und erfahren so eine stärkere Akzentuierung und eine erhöhte didaktische Dichte (vgl. Ziehmann [2008]). Insofern hat eine so geartete Binnendifferenzierung in den meisten Fällen keine weiterführenden Konsequenzen für allgemein schultechnische Abläufe. Differenzieren heißt Unterschiede machen in der Zeit, den Lernorten, den Aufgaben, in der Organisation, beim Material. Differenzieren heißt, alle Schüler und Schülerinnen von ihrer persönlichen Situation aus möglichst gut zu fördern. Differenzieren heißt, dass Schülerinnen und Schüler zur gleichen 27
Zeit Verschiedenes machen und zu verschiedenen Zeiten das Gleiche (Poppe [1998], 175). Eine zum Teil binnendifferenzierte didaktische Struktur bei integrativen Grundbeschulungen erhält vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Sehgeschädigtenschulen in Baden-Württemberg generell und nicht nur partiell ihre Schüler ein Jahr länger grundbeschulen und dies auch so in den Schulgesetzen der meisten Bundesländer verankert ist, eine andere Qualität. (vgl. www.isar-projekt.de [22.12.2007]). Es bleibt anzumerken, dass bei integrierten blinden und sehbehinderten Schülern in aller Regel, sofern keine anderen Beeinträchtigungen vorliegen, eine Differenzierung im Sinne eines lernzieldifferenten Unterrichts nur in den Bereichen avisiert werden muss, in denen die sonderpädagogische Förderung zwingend anders strukturierte Lernfelder vorsieht. Dies ist in aller Regel außerhalb eines Grundbeschulungskontextes nicht mehr nötig und wird zudem von den Schulgesetzen vieler Bundesländer als „Conditio sine qua non“ explizit eingefordert. Tabelle 1: Angewandte Formen der integrativen Beschulung Sehgeschädigter an allgemeinen Schulen und deren Status in den Bundesländern der BRD (Stand 2006)
Bundesland
Status
Vorgesehener
Integrationsform
Unterrichtsmodus
BadenWürttemberg Bayern
in allen Schularten möglich in allen Schularten möglich
zielgleich
Berlin
in allen Schularten möglich, integrative Beschulung vorrangig vor Sonderbeschulung in allen Schularten möglich, integrative Beschulung vorrangig vor Sonderbeschulung in allen Schularten möglich, Wahlfreiheit eingeschränkt
zielgleich und zieldifferent
Einzelintegration, Außenklassen Einzelintegration, Integrationsklassen, Außenklassen Einzelintegration, Integrationsklassen
zielgleich und zieldifferent
Einzelintegration, Integrationsklassen
zielgleich
Einzelintegration
Brandenburg
Bremen
zielgleich
28
Hamburg
in allen Schularten möglich, integrative Beschulung vorrangig vor Sonderbeschulung Hessen in allen Schularten möglich, integrative Beschulung vorrangig vor Sonderbeschulung, Wahlfreiheit eingeschränkt Mecklenburgin allen Schularten Vorpommern möglich, integrative Beschulung vorrangig vor Sonderbeschulung, Wahlfreiheit eingeschränkt Niedersachsen in allen Schularten möglich Nordrheinin allen Schularten Westfalen möglich Rheinlandin allen Schularten Pfalz möglich
Saarland
zielgleich und zieldifferent
Einzelintegration, Integrationsklassen
zielgleich und zieldifferent
Einzelintegration, Integrationsklassen
zielgleich und zieldifferent
Einzelintegration, Integrationsklassen
zielgleich und zieldifferent zielgleich und zieldifferent zielgleich und zieldifferent
Einzelintegration, Integrationsklassen Einzelintegration, Integrationsklassen Einzelintegration, Integrationsklassen (nur an Grundschulen) Einzelintegration, Integrationsklassen, partielle Integration, Außenklassen
in allen Schularten zielgleich möglich, integrative Beschulung vorrangig vor Sonderbeschulung zielgleich Sachsen in allen Schularten möglich, Wahlfreiheit eingeschränkt zielgleich und Sachsenin allen Schularten zieldifferent Anhalt möglich, Wahlfreiheit eingeschränkt zielgleich Schleswigin allen Schularten Holstein möglich, integrative Beschulung vorrangig vor Sonderbeschulung zielgleich Thüringen in allen Schularten möglich, Wahlfreiheit eingeschränkt Quelle: Eigener Entwurf (vgl. Löbbing; Wewel [2006]).
Einzelintegration, partielle Integration, Außenklassen Einzelintegration, Integrationsklassen
Einzelintegration
Einzelintegration
29
4.4 Zusammenfassung Die Formen der gemeinsamen Erziehung unterscheiden sich neben dem Ausmaß ihrer Realisierung, das noch immer stark parteipolitisch geprägt ist, vor allem
zwischen
den
einzelnen
Bundesländern.
Schleswig-Holstein,
Brandenburg, Hessen, das Saarland und Hamburg sind in dieser Hinsicht sicherlich
bislang
am
weitesten
gediehen.
Es
gibt
hier
detaillierte
Handlungsvorschriften und es gibt gesetzliche Regelungen für alle Schularten, keine Behinderungsform ist ausgeschlossen (vgl. Maikowski [1998]). Hinsichtlich der Integrationsquoten und der absoluten Zahlen der Schüler mit „Förderschwerpunkt Sehen“ existiert eine relativ große Bandbreite in den einzelnen Bundesländern, die nicht immer mit den jeweiligen gesetzlichen Grundlagen deckungsgleich sind. Hierfür können maßgeblich institutionalisierte integrationspädagogische Promotoren als initiierende Größen gelten, wie Abbildung 1 impliziert.
0,14
0,12
0,1
0,08
Integration FöS 0,06
0,04
0,02
0 BW SL HB
BE ST HH
TH SN NW
D
BB RP BY
HE MV SH
NI
Abb. 1: Quote sonderpädagogischer Förderbedarf im „Förderschwerpunkt Sehen“, Quelle: Pluhar [2008]. Die integrative Regelpraxis hat eine große Bandbreite, die in den einzelnen Bundesländern voll ausgeschöpft wird. Hierbei ist der Grad der Integration abhängig von dem gewählten Integrationsmodus. Die Integrationsmodi selbst 30
sind oftmals an bestimmte Schularten geknüpft, wobei insbesondere in den Stadtstaaten aufgrund von Bündelungsmaßnahmen diesbezüglich fließende Grenzen existieren. Hinsichtlich des Integrationsmodus der Sehgeschädigten hat sich bundesweit der Modus der Einzelintegration aufgrund ihrer geringen Anzahl und der dadurch bislang unmöglichen Bündelung durchgesetzt. Dieser garantiert das höchste Maß an Integration, birgt jedoch zugleich die entsprechend höheren Anforderungen an den sehgeschädigten Schüler. Aufgrund
dieser
werden
bei
integrativen
Grundbeschulungen
partiell
zieldifferente Unterrichtsformen durchgeführt, die die etwaige Doppelbelastung des
Copings
auffangen.
Auch
werden
hierfür
im
schulischen
und
außerschulischen Kontext gezielt Assistenzkräfte eingesetzt, eine Maßnahme, die nicht uneingeschränkt positiv zu bewerten ist.
5 Rechtliche Grundlagen bei integrativer Beschulung 5.1 Die Rechts- und Erlasslage Obgleich Integration seit den 70er Jahren in zahlreichen Projekten erfolgreich umgesetzt wird und die Integration bei entsprechenden Voraussetzungen seitens des zu integrierenden Schülers, der Bereitschaft der Eltern und einer adäquaten Unterstützung des Sachträgers nicht nur eine Möglichkeit darstellt, sondern zu einer echten Alternative zur Sonderbeschulung avanciert ist, gibt es für sehbehinderte und blinde Schüler noch keinen uneingeschränkten Rechtsanspruch auf integrative Beschulung. Über ein halbes Jahrhundert hinweg galt die gesetzliche Regelung nach dem „Reichsschulpflichtgesetz“ von 1938, welches ausführte, dass Kinder wegen einer Behinderung zum Besuch der „ihrer Eigenart entsprechenden Sonderschule“ verpflichtet sind. Dies führte dazu, dass seit 1938 in Deutschland die Überweisung in eine Sonderschule auch gegen den erklärten Willen der Eltern möglich war. In keinem anderen Land der westlichen Industrienationen gibt es ein Gesetz, das, nicht einmal theoretisch, die Entscheidung der Überweisung auf eine Sonderschule gegen den erklärten Willen der Eltern ermöglicht. Selbst Länder wie Frankreich oder Belgien, die bisher nur wenige Ansätze zur schulischen Integration entwickelt haben, lassen die Beschulung von Kindern mit Behinderung zu, wenn vor Ort Lösungen gefunden werden und wenn die Eltern dies ausdrücklich wünschen (vgl. Schöler [2004]). Es ist jedoch anzumerken, dass heute in aller Regel auch hier in Deutschland diese Praxis verfolgt wird. 31
Tatsächlich gibt es nur wenige Fälle, in denen eine Beschulung gegen den ausdrücklichen Wunsch der Eltern angeordnet wird. In den meisten Fällen geschehen bei Vorortbeschulungen große Anstrengungen auf allen Seiten, die bestehenden
personellen,
dinglichen,
pädagogischen
und
finanziellen
Gegebenheiten so zu optimieren, dass daraus sinnvolle Rahmenbedingungen für eine integrative Beschulung resultieren können (vgl. Ziehmann [2008]; Meinhardt-Nanz [2008]). In der Vergangenheit trugen die Empfehlungen des deutschen Bildungsrates von
1973,
die
Entscheidung
der
KMK
1994,
zahllose
positive
sonderpädagogische Gutachten und, auf internationaler Ebene, die SalamancaErklärung von 1994 ihren Teil dazu bei, die alten Beschulungsstrukturen aufzubrechen und eine höhere Durchlässigkeit zwischen den Schularten zu bewirken. Trotzdem stellte erst im Oktober 1997 das Bundesverfassungsgericht in einem Grundsatzurteil fest: Integrative Beschulung wird von der pädagogischen Wissenschaft wie von maßgeblichen politischen Gremien überwiegend positiv beurteilt und als verstärkt realisierungswürdige Alternative zur Erziehung und Unterrichtung in Sonder- und Förderschulen befürwortet [...] •Die zielgleiche wie die zieldifferente integrative Erziehung und Unterrichtung ist unter dem Vorbehalt des organisatorisch, personell und von den sächlichen Voraussetzungen her Möglichen gestellt […] •Ein
Einschätzungsspielraum sowie
der
Vorbehalt
des
tatsächlich
Machbaren und des finanziell Vertretbaren bestehen bei der Ausgestaltung des Regelungskonzepts durch den Gesetzgeber […] •Bei der Entscheidung der Schulbehörde sind nicht nur das Recht des Schülers auf eine seine Anlagen und Befähigungen möglichst weitgehend berücksichtigende Ausbildung (Art. 2 Abs. 1 GG) und das Recht der Eltern aus Art. 6 bs. 2 Satz 1 GG zu beachten, den Bildungsweg in der Schule für ihr Kind im Rahmen von dessen Eignung grundsätzlich frei zu wählen. Zu berücksichtigen sind vielmehr auch die zusätzlichen Bindungen, die sich für die Schulbehörde aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergeben […] •Die Überweisung eines behinderten Schülers an eine Sonderschule stellt nicht schon für sich eine verbotene Benachteiligung dar. Nur die Überweisungsverfügung, die den Gegebenheiten und Verhältnissen des 32
jeweils zu beurteilenden Falles ersichtlich nicht gerecht wird, ist durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG untersagt (vgl. www.servat.unibe.ch [13.12.2007]). Mit dieser gesetzlichen Grundlage konnten sich Eltern und Schüler, die eine integrative Beschulung wünschten, offiziell zwar gegen eine generelle Überweisung in eine Sonderschule wehren, jedoch zeigte die Praxis, dass der Schulträger allzu häufig von den gerichtlich verfügten Restriktionen Gebrauch machte. In der Folge wurden mehrere hundert Kinder pro Schuljahr mit diesen Vorbehalten
weiterhin
von
Integrativmaßnahmen
ausgeschlossen
(vgl.
Eberwein [1997]). Der integrativen Beschulung wurde zwar an sich Priorität eingeräumt und die Länder
aufgefordert,
diese
Form
der
Beschulung
in
den
jeweiligen
Schulgesetzen als Regelfall vorzusehen, es stellt sie jedoch auch unter einen Haushaltsvorbehalt, der eine Integration unter die Bedingung des tatsächlich Machbaren und einer angemessenen Finanzierbarkeit stellt. Mit diesen beiden Bedingungen hielt das Bundesverfassungsgericht den jeweiligen Schulträgern jederzeit die Möglichkeit offen, die Wahl der Beschulung mit dem Verweis auf eine Nicht-Finanzierbarkeit oder einen etwaig zu hohen sonderpädagogischen Förderbedarf jederzeit einzuschränken. Die soziale Benachteiligung, die durch die Schaffung des 1995 erweiterten Grundrechts in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG (Grundrecht für Behinderte) aufgehoben werden sollte, wurde dadurch letztlich nicht beseitigt, denn die staatlichen Behörden konnten dieses Grundrecht mit diesem Urteil und dem Hinweis auf leere Sonderschulklassen jederzeit einschränken. Es wäre undenkbar, für den Besuch anderer Schularten, beispielsweise für den Besuch des Gymnasiums, ebenfalls einen Finanzierungsvorbehalt vorzusehen. Im Hinblick auf individuell und sozial Benachteiligte gilt diese Entscheidung jedoch als zumutbar, obwohl sie diese Kinder und Jugendlichen ein zweites Mal benachteiligt. Dies ist umso bedauerlicher, als der Art. 3 Abs. 3 Satz 2 eine "Bevorzugung" bzw. Gleichstellung zugelassen hätte, wie das BVerfG ausdrücklich bestätigt hatte (vgl. Eberwein [1997]). Ein weiterer folgenschwerer Irrtum seitens der Schulbehörden war die während langer Jahre aufrecht erhaltene Annahme, dass integrative Beschulung prinzipiell teurer sei als ein Platz in der Sonderschule, was in vielen Quellen widerlegt wird (vgl. unter anderem Kern [1995]; Preuß-Lausitz [1998]). Hernach werden unter Berücksichtigung aller Posten – und nicht nur wie seitens der 33
Behörden oft geschehen, im Vergleich der reinen Lehrerkosten - für einen Sonderschulplatz Gesamtkosten errechnet, die rund vier bis achtmal so hoch liegen wie diejenigen eines entsprechenden Integrationsplatzes. Nichts desto weniger war dieses Urteil für die Betroffenen ein Erfolg, denn es machte ebenfalls deutlich, dass seitens des Schulträgers eine genaue Begründung für eine Überweisung in eine Sonderschule nötig war, die eine umfassende und individuelle
Prüfung
des
Einzelfalls
voraussetzte.
Zudem
konnte
als
Rechtsgrundlage für die Integration bis dato lediglich auf eine Empfehlung der Kultusministerinnen und –minister von 06.05.1994, zurückgegriffen werden, in der ausgeführt wurde, dass die Integration von Blinden und Sehbehinderten in Regelschulen eine verstärkt zu berücksichtigende Aufgabe für alle Schulen sei und
dass
die
Erfüllung
sonderpädagogischen Förderbedarfs
nicht an
Sonderschulen gebunden werden dürfe (vgl. Schöler [2005]). In der Folge brachten die Länder auch entsprechende Ergänzungen in die Schulgesetze und Verwaltungsvorschriften ein, die einem blinden bzw. sehbehinderten Schüler zumindest prinzipiell die Möglichkeit einräumten, dieselbe Schule zu besuchen wie dessen Freunde oder Geschwister (vgl. Maikowski
[1998]).
Die
veränderten
Schulgesetze
begründen
jedoch
übereinstimmend weiterhin keinen Rechtsanspruch auf integrative Maßnahmen. Sie beinhalten zumeist eine Formel, die ähnlich lautet wie im schleswigholsteinischen Schulgesetz: Behinderte und nichtbehinderte Schülerinnen und Schüler sollen gemeinsam unterrichtet werden, soweit es die organisatorischen, personellen und sächlichen Möglichkeiten erlauben und es der individuellen Förderung behinderter Schülerinnen und Schüler entspricht {§ 5 Abs. 2 SchulG} (www.schulrecht-sh.de [14.12.2007]). Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts blieb der Weg der Integration weiterhin kompliziert für alle Beteiligten, denn es bedurfte, als Folge der individuellen Einzelfallprüfung, nach wie vor der Zustimmung und Koordination der
verschiedenen
Behörden
und
Kostenträger,
d.h.
eine
enge
Zusammenarbeit und weitgehendes Einverständnis zwischen der Schule, dem Schulträger
und
der
Krankenkasse
(vgl.
www.integrationskinder.org
[14.12.2007]). In der Regel werden die Kosten einer integrativen Maßnahme wie
folgt
aufgeteilt:
Personalkosten
werden
von
den
Bundesländern,
Sachkosten von den Schulträgern, Sachkosten im häuslichen bereich von den 34
Krankenkassen bzw. Sozialdiensten übernommen. Grundsätzlich stehen jedem integrativ beschulten Schüler eine Assistenzkraft, die
für die Adaption der
Unterrichtsmaterialien verantwortlich ist und auch im Unterricht selbst entsprechende Hilfestellungen leisten kann, sowie ein entsprechendes, sich nach
dem
individuellen
sonderpädagogischen
Förderbedarf
richtendes
Stundenkontingent eines Integrationslehrers zur Verfügung (vgl. Ziehmann [2008]). In
diesem
Geflecht
aus
lückenhaften
und
sich
überschneidenden
Kompetenzbereichen sind nicht zuletzt die wirtschaftlichen Reibungsverluste enorm (vgl. Preuss-Lausitz [1998]). Obwohl die Empfehlung der Kultusminister und das Urteil des BVerfG einen Schlussstrich unter die jahrzehntelang dauernden Unsicherheiten hinsichtlich des Status der integrativen Beschulung gezogen haben, wird sie trotzdem weiterhin nur in Einzelfällen und in sehr unterschiedlichem Rahmen in den einzelnen Bundesländern praktiziert. Während manche Bundesländer in einem relativ umfassenden Rahmen Integration praktizieren, gelten trotz vorhandener gesetzlicher Grundlagen in anderen Ländern integrative Schulkonzepte bis heute noch als exotisch (vgl. Tab. 1, S.27). Die integrative Schullandschaft dürfte sich in den nächsten Jahren jedoch dramatisch verändern, denn, zehn Jahre nach dem Urteil des BVerfG verfügte das Bundesverwaltungsgericht am 26.10.2007 das prinzipielle Recht auf eine integrative Beschulung von behinderten Kindern und Jugendlichen Nach den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen (§ 40 Abs. 1 Nr. 4 BSHG i.V.m. § 12 Nr. 1 der Eingliederungshilfeverordnung) umfassen die Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung Maßnahmen zugunsten behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn sie erforderlich und geeignet sind, den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern. Diese Voraussetzungen lagen nach Ansicht des BVerwG vor, nachdem das Schulamt den betroffenen Kindern bzw. ihren Eltern die Wahl zwischen einer integrativen Unterrichtung an der Montessori-Schule und dem Besuch der öffentlichen Förderschule überlassen hatte. Der Sozialhilfeträger musste angesichts der dem Kind bzw. den Eltern eingeräumten Wahlfreiheit deren Entscheidung für eine integrative Beschulung respektieren (vgl. www.juris.de [15.12.2007]). Mit der neuerlichen Entscheidung sind zwar die Finanzvorbehalte des Kostenträgers
außer
Kraft
gesetzt,
jedoch
gilt
nach
wie
vor
die 35
uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit über die Beschulung nur dann, wenn anhand des sonderpädagogischen Förderbedarfs seitens des Schulamts eine integrative Beschulung als Alternative befürwortet wird. Somit ist die Entscheidung weiterhin nicht uneingeschränkt selbstbestimmt und wird auch in Zukunft, gerade in Grenzfällen, keine völlige Wahlfreiheit garantieren. Das BVerwG macht jedoch mit seinem Urteil prinzipiell den Weg für eine Entwicklung frei, in der Deutschland, bedingt durch seine zögerliche Rechtsprechung und seinem Separationsbewußtsein im Schulwesen (vgl. Schöler
[1998]),
im
Vergleich
zu
vielen
anderen
europäischen
und
außereuropäischen Ländern noch einige Jahrzehnte aufzuholen hat.
5.2 Zusammenfassung Über lange Jahrzehnte waren sehgeschädigte Schüler dazu gezwungen, aufgrund der veralteten Schulgesetze, auch gegen ihren erklärten Willen, eine Sonderschule zu besuchen. Die Empfehlungen des Deutschen Bildungsrats von 1973 über die gemeinsame Beschulung behinderter und nicht behinderter Kinder
machte
den
Weg
frei,
für
die
ersten
zaghaften
integrativen
Schulversuche, die in den folgenden zwei Jahrzehnten in rechtlicher Hinsicht auf dieser Basis fußten. 1994 kam eine Empfehlung der ständigen Kultusministerkonferenz der Bundesländer hinzu, die diesen zwischenzeitlich zum Teil in Regelangebote überführten Integrationsmaßnahmen deutlichen Rückenwind gab, weil sie nicht nur den Eltern die Wahl der Schulart zugestand, sondern verfügte, dass die Erfüllung sonderpädagogischen Förderbedarfs nicht einzig an Sonderschulen gebunden sei (vgl. kmk.org [13.12.2007]). Die ebenfalls im Jahr 1994 unterzeichnete Salamanca-Erklärung, sowie das Urteil des BVerfG von 1997 bestärkten diese Entwicklung. Mit dem Urteil von 1997 erneuerte es das geltende Schulgesetz von 1938 und gab der integrativen Beschulung damit erstmals eine verbindliche rechtliche Grundlage. Das Urteil kannte jedoch zwei Restriktionen, die die freie Schulwahl beschnitten: die Erfüllung
eines
bestimmten
Maßes
der
sonderpädagogischen
Förderbedürftigkeit und einen Finanzvorbehalt. Knapp zehn Jahre später verfügte zwar das Bundesverwaltungsgericht, dass ein Finanzvorbehalt bei Integrativmaßnahmen
unzulässig
sei,
die
Verfügung
über
das
sonderpädagogische Gutachten besteht jedoch weiterhin. Dasjenige, das vom Schulträger erstellt wird, ist obligatorisch und in seiner Verbindlichkeit höher gestellt als der Wille der Erziehungsberechtigten des Kindes. Da der sonderpädagogische Förderbedarf eine komplexe Größe darstellt (vgl. kmk.org 36
[20.12.2007]), besteht auch für sehgeschädigte Schüler hierin eine gewisse Exposition der Willkür. Zwar muss der Schulträger detailliert begründen, aus welchen Gründen eine bestimmte Beschulung erfolgen sollte, in der Realität passiert es jedoch immer noch, dass manche sehgeschädigte Schüler einen so hohen sonderpädagogischen Förderbedarf zugesprochen bekommen, dass für sie der Besuch der Sonderschule obligatorisch wird. Insofern ist die Wahl der Beschulung bis heute zwar weitgehend gegeben, jedoch nur mit dem Einverständnis des Schulträgers, was sie nicht zu einer uneingeschränkt freien Wahl macht.
6 Sonderschule oder Regelschule – die Frage nach der Ambivalenz eines separierenden Schulsystems 6.1 Allgemeines Mit dem einstimmigen Beschluss der KMK im Mai 1994, das Eltern- und Schülerwahlrecht von behinderten Schülern zu stärken, wurde gleichsam eine Erklärung verabschiedet, die vorsieht, dem damit verbundenen Bedarf an sonderpädagogischer Förderung verstärkt auch außerhalb der Sonderschulen, d.h. in den örtlichen Regelschulen zu entsprechen. Erklärtes Ziel war es nun, nicht mehr den Erhalt des herkömmlichen Sonderschulwesens, sondern viel mehr die Sicherung personenbezogener und Schularten übergreifender sonderpädagogischer Förderungsmaßnahmen zu forcieren. Für Eltern von sehgeschädigten Kindern im Schulalter ergibt sich damit ein schwer zu lösendes Dilemma nach der Frage der adäquaten Beschulung. Das standardmäßig erstellte sonderpädagogische Gutachten leistet hier sicherlich wichtige Entscheidungshilfe, obgleich es bei blinden und sehbehinderten Schülern
ohne
weitere
körperliche,
geistige,
psychische
oder
soziale
Einschränkung meist zu Gunsten einer Regelbeschulung ausfällt (vgl. Pielage [1998]) und somit nur einen Faktor bei der Entscheidungsfindung darstellt, der die Antwort auf diese Frage in die eine oder andere Richtung tendieren lässt. Leitlinie dieser Frage für die Eltern und die an der Förderung beteiligten Pädagogen ist mithin die Leistungsfähigkeit der beiden Systeme und die jeweils daraus zu erwartenden Erfolge unter Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen des Schülers, der individuellen, sehgeschädigtenspezifischen Förderung und die Frage nach einer möglichst ortsnahen Beschulung (vgl. Ziehmann, [2008]). 37
Oft spielen beim Prozess der Entscheidungsfindung auch tiefe Emotionen, Ängste und gesellschaftliche Einflüsse eine große Rolle, die, wenn nicht unmittelbar, so doch auf unterbewusster Ebene Einfluss nehmen. In der Fachliteratur zur spezifischen Sehgeschädigtendidaktik wird dieser Punkt ebenfalls aufgegriffen: Die Forderung nach einer möglichst optimalen unterrichtlichen Förderung sehbehinderter
Schüler
ist
nur
zu
realisieren,
wenn
sehbehindertenspezifische Bedürfnisse im Hinblick auf alle allgemeindidaktischen Entscheidungsfelder bedacht werden (Krug [2001], 19). Offensichtlich haben die Argumente der Sonderschulen, insbesondere in Deutschland, noch eine hohe Überzeugungskraft, denn hier liegt der Anteil von behinderten
Schülern,
die
auf
einer
Sonderschule
beschult
werden,
durchschnittlich bei knapp 87%. Der Anteil der blinden und sehbehinderten Kinder liegt etwas niedriger, jedoch immer noch bei rund 70%, obwohl eine adäquate sonderpädagogische Betreuung vor Ort in den meisten Fällen gegeben ist (vgl. Schöler [2005]; www.integrationskinder.org [02.12.2007]). Damit ist die Integration von Sehgeschädigten trotz weiter steigender Zahlen (vgl. Preuss-Lausitz [1998]) weit davon entfernt, ein Regelfall zu sein (vgl. Drave [1990]). Allein dieser Faktor der Quantität besitzt kein geringes Einflusspotential; nach wie vor gilt es in Deutschland als weitaus „normaler“ ein sehgeschädigtes Kind auf eine Blindenschule zu schicken, als auf eine Regelschule. Es entwickelte sich jedoch in den letzten Jahrzehnten, und insbesondere in der letzten Dekade, ein starker Trend hin zur integrativen Beschulung. So stieg sie bei den blinden und sehbehinderten Schülern um mehr als 10% im Zeitraum von 1994 bis 2004 (vgl. Käsmann [2004]). Die Gründe hierfür sind vielfältig und sollen im Folgenden nur kurz skizziert werden. 1. In den letzten Jahrzehnten fand an den Sehgeschädigtenschulen ein tief greifender Profilwandel statt, der ausgelöst wurde durch einen sprunghaften Anstieg des Anteils geistig behinderter Schüler, der mit einer verbesserten Intensivmedizin bei Frühstgeborenen einherging. Hatte dieser Anteil im Jahre 1973 noch bei 23% gelegen, schnellte er bis zum Jahre 1998 durchschnittlich auf 61% (vgl. Hudelmayer [2006]). Dies bedeutete nicht nur eine grundlegende Umgestaltung, sondern auch ein deutlich gewandeltes Selbstbild der Schulen.
38
2. In den 70er Jahren wurden die traditionellen Werte zunehmend überlagert, während
Selbstentfaltung, Partizipation, Lebensqualität und Prosozialität an
Relevanz gewannen (vgl. Hudelmayer [2006]). 3. In diesem Zusammenhang ergab sich ein generell geändertes Verständnis von Behinderung und pädagogischer Förderung (www.kmk.org [06.12.2007]). 4. Ausgehend von den Beschlüssen des deutschen Bildungsrates von 1973, bzw. der KMK von 1994, wurde integrative Beschulung vermehrt auch von den Eltern gefordert und wahrgenommen (vgl. Schöler [2004]). 5. Durch einen Ausbau der sonderpädagogischen Betreuung integrierter Schüler verbesserte sich die Förderung der integrierten Sehgeschädigten rasch, wodurch die Qualität der integrativen Beschulung anstieg. Dies wirkte wiederum auf die Nachfrage zurück. (vgl. www.kmk.org [06.12.2007]). Trotz dieser verbesserten Förderung von sehgeschädigten Integrativschülern an Regelschulen, einer voranschreitenden Rehatechnik und der zahlreichen positiven Beispiele von Integrationsmaßnahmen ist zu berücksichtigen, dass die Gruppe der Sehgeschädigten aufgrund ihrer Heterogenität (vgl. Ziehmann [2008]) und der vielfältigen Förderungsexpositionen in den Familien, mithin noch das bestehende „Doppelsystem“ bedingt. Obwohl es zugunsten eines sonderpädagogischen Gutachtens eigentlich nicht sinnvoll ist, konkrete Leitlinien aufzuzeigen, sollen doch die gängigsten Voraussetzungen genannt sein, um die Frage näher zu beleuchten, welche Richtschnüre in pädagogischer Hinsicht bei einer Regelbeschulung mithin als relevant gelten. Als Voraussetzung seitens des sehgeschädigten Schülers sind zu nennen: •
die grundsätzliche Bereitschaft, in die Regelschule zu gehen,
•
ein altersentsprechend guter Stand der Selbständigkeit in lebenspraktischen Fertigkeiten, in der Fortbewegung und bei zumutbaren Lernaufgaben,
•
Selbstbewusstsein und emotionale Stabilität,
•
kein weiterer Förderbedarf im Bereich Lernen.
Seitens der Eltern sollte vorausgesetzt werden: •
volle Akzeptanz des Kindes mit seiner Behinderung,
39
•
Aufgeklärtheit über die realen Probleme der Sehschädigung und über die Schwierigkeiten, die bei einer integrierten Beschulung entstehen können,
•
aktive Mitarbeit im außerschulischen Bereich, wie z.B. Förderung von lebenspraktischen Fertigkeiten und Freizeitaktivitäten.
Ganz entscheidende Voraussetzungen müssten bei der Regelschule vorliegen: •
die grundsätzliche Bereitschaft, auch seitens der Schulaufsichtsbehörde, der Verwaltung und der Schulleitung, sehgeschädigte Schüler als Mitglieder der Schule voll zu akzeptieren, was bedeutet, dass die Regelschule ihr Selbstverständnis ändern müsste,
•
der einzelne Regelschullehrer muss bereit sein, den sehgeschädigten Schüler in seine Verantwortung voll einzubeziehen und ihn nicht als einen von außen aufoktroyierten Mitläufer zu betrachten, d.h. er müsste die später an
dieser
Stelle
Unterrichtsverhalten
noch
zu
erläuternden
vornehmen
und
Modifikationen
seinen
in
Unterricht
seinem genauer
vorausplanen, •
er muss auf diese Tätigkeit vorbereitet werden, über die potentiellen Probleme des sehgeschädigten Schülers informiert sein und schließlich gut mit
dem
unterstützenden
Betreuungslehrer
zusammenarbeiten
(vgl.
Degenhardt [2001, 38]).
6.2 Der sonderpädagogische Förderbedarf und dessen Umsetzung Wie gezeigt wurde, ist die Frage nach der Höhe des sonderpädagogischen Förderbedarfs Leitlinie und Richtschnur für die Frage, welche Beschulung für das
jeweilige
Kind
angemessen
ist.
Wegen
der
Komplexität
des
Feststellungsverfahrens können an dieser Stelle lediglich die wichtigsten einflussnehmenden Größen umrissen werden. Die KMK 1994 führte hierzu generell aus: Sonderpädagogischer Förderbedarf ist bei Kindern und Jugendlichen anzunehmen, die in ihren Bildungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten so beeinträchtigt sind, dass sie im Unterricht der allgemeinen Schule ohne sonderpädagogische Unterstützung nicht hinreichend gefördert werden können (vgl. www.kmk.org [21.11.2007]). Zu den Determinanten des sonderpädagogischen Förderbedarfs und den Aussichten einer adäquaten Umsetzung formuliert die KMK weiter: 40
Sonderpädagogischer Förderbedarf ist immer auch in Abhängigkeit von den Aufgaben, den Anforderungen und den Fördermöglichkeiten der jeweiligen Schule
zu
definieren.
Zudem
muss
eine
Bestimmung
des
Sonderpädagogischen Förderbedarfs das Umfeld des Kindes bzw. Jugendlichen einschließlich der Schule und die persönlichen Fähigkeiten, Interessen und Zukunftserwartungen berücksichtigen (vgl. www.kmk.org [21.11.2007]). Als Konsequenz ergibt sich der sonderpädagogische Förderbedarf als Spiegel, der
die
individuellen
Voraussetzungen
durch
eine
umfassende
Kind-
Umfelddiagnostik und in der Feststellung der institutionellen Voraussetzungen durch eine Analyse des Potenzials des schulischen Systems (Einstellungen des Kollegiums, materielle Ausstattung, Unterstützungskapazitäten) wiedergibt (vgl. Walthes [1998]). Drei Aspekte sind dabei repräsentativ für eine gewandelte Perzeption des Individuums, die das Können jedes Einzelnen und die individuelle Selbstbestimmung in den Vordergrund rückt: 1. von der Defizitorientierung zur Ressourcenorientierung 2. von der Rehabilitation zur Selbstbestimmung 3. vom Institutionenbezug zum Individuum-Umwelt-Bezug (Walthes [1998], 127). Umgesetzt wird die sonderpädagogische Förderung, im Falle einer integrativen Vorortbeschulung, Betreuungslehrern. pädagogen,
die
von
den
Dies von
bereits
sind
erwähnten
zumeist
Blindenschulen,
Integrationslehrern
ausgebildete im
Rahmen
oder
Sehgeschädigtenihrer
Aufgabe
als
überregionale Förderzentren, zur Verfügung gestellt werden. Je nach der ermittelten Höhe des sonderpädagogischen Förderbedarfs des betreuten Schülers,
erhält
dieser
eine
bestimmte
Anzahl
von
Wochenstunden
zugestanden, während derer ihm sehgeschädigtenspezifische Techniken vermittelt
werden,
die
ihm
bei
der
Kompensation
seines
Handicaps
unterstützen. In der Grundschule, wo der sonderpädagogische Förderbedarf noch höher ist als in den weiterführenden Jahrgangstufen, zählen hierunter sicherlich auch die Begriffsbildung im weitesten Sinne, das Lesen und Schreiben von Punktschrift, der Umgang mit taktilen Zeichenmaterialien, das Strukturieren, Erfassen und Einordnen von taktilen Abbildungen, der Umgang mit dem PC und der speziellen Software, die Handhabung von anderen 41
Hilfsmitteln wie dem Taschenrechner mit Sprachausgabe, den taktilen Rechenkästen, Vergrößerungshilfen etc. Zudem sollte der Betreuungslehrer, als zweiter Komplex seiner Tätigkeit, im sozialen Umfeld des Sehgeschädigten für Fragen, die die Behinderung betreffen, zur Verfügung stehen. Er wird damit oftmals zum Ansprechpartner hinsichtlich der Sehschädigung, der Erziehung und Ausbildung für Angehörige, Bekannte, Lehrer, Eltern der sehenden Klassenkameraden, sowie für alle anderen
Personen
im
sozialen
Umfeld.
Im
Kontrast
dazu
ist
der
Betreuungslehrer eine wichtige Bezugsquelle, wenn es darum geht, ein besseres Verständnis des sozialen Verhaltens von der sehenden Umwelt zu erlangen. Die wichtigste Vermittlerrolle nimmt der Betreuungslehrer bei der Aufklärung der Fachlehrer ein, wo es hauptsächlich darum geht, die unterrichtenden Kollegen in die Unterschiede beim sensorischen Lernen im Falle einer Sehschädigung sowie in damit in Verbindung stehende besondere Bedürfnisse im Unterricht einzuweisen, mithin also gewisse pädagogische und didaktische Standards für den sehgeschädigten Schüler zu errichten und zu erhalten (vgl. Hattenhauer [2008]). Wie wichtig diese Vermittlerrolle des Betreuungslehrers ist, soll ein Erfahrungsbericht aus den früheren Jahren der Integration verdeutlichen, bei dem eine sehbehinderte Schülerin zuerst ohne adäquate Betreuung zurechtkommen musste. Nach und nach besserte sich dann die Lage, auch wenn es einige Lehrer zu gut meinten und mich vor den Versuchstisch holten. Und ich daraufhin den Spott meiner Klasse, die damals so wenig wusste wie ich, erntete. Viele Lehrer konnten auch nicht verstehen, warum ich mich denn nicht öfter bemerkbar gemacht hatte. "Ich kann es nicht sehen." Sollte schließlich jeder sehbehinderte Schüler sagen, ich hab's nicht gerne getan, höchstens gegenüber meiner Freundin, doch kaum zu Lehrern. Es hat etwas mit Selbstbewusstsein zu tun, zehnmal am Tag zu sagen, dass man etwas nicht kann, was man gerne können würde. Das können sie selber ausprobieren, wenn sie sich zehn Mal am Tag sagen "Ich kann nicht zeichnen" wird das ihrem Selbstbewusstsein nicht gut tun. Deshalb finde ich es schön, wenn der Lehrer von sich aus sich erst einmal bemüht, Situationen aus dem Weg zu schaffen, die dem Schüler wieder dieses "Ich-kann's-nicht-Gefühl" vermitteln. Das Problem, das sie dabei haben ist natürlich, dass sie nicht 42
wissen, was ich sehen kann und was nicht. Dann fragen sie mich. Aber es ist eine schwierige Frage, denn mein Bild sieht für mich völlig normal aus. Ich habe ja nie mit normalen Augen gesehen und kann höchstens sagen, was ich nicht sehe. Doch woher soll ich wissen, was ich nicht sehe? (vgl. Kagon [1998]). Ein weiterer wichtiger Wirkungsbereich liegt im Finden, Erstellen und Adaptieren
von
Unterrichtsmaterialien.
Damit
eine
Integrativmaßnahme
erfolgreich sein kann, muss das sehgeschädigte Kind die Möglichkeit haben, auf die gleichen Materialien wie seine sehenden Klassenkameraden zugreifen zu können. Dies beinhaltet natürlich auch eine etwaige Adaption und Aufbereitung. Dafür ist es notwendig, dass der Betreuungslehrer alle Quellen von bereits aufbereiteten und adaptierten Materialien kennt und bei Bedarf auch selbst Adaptionen vornehmen kann. Hingegen erfordert diese Kompetenz auch genaue Kenntnisse darüber, welche Unterrichtsmaterialien keine besondere Aufbereitung benötigen. Er muss in der Lage sein, jegliche Lernerfahrung einzuschätzen im Hinblick darauf, wie sie für das sehgeschädigte Kind am effektivsten gestaltet werden könnte. Er muss kompetent sein, andere über alternative Lernstrategien zu beraten, Adaptionen vorzunehmen und zu entscheiden, wann eine Unterrichtssituation eine total unterschiedliche Lernstrategie erfordert. Diese Fähigkeit ist höchst komplex und spezialisiert (Curry; Hatlen [1987], nach Hatlen [1991]). Insgesamt trägt der Betreuungslehrer damit die Verantwortung für die spezifische Materialversorgung des sehgeschädigten Schülers (vgl. Vitt [2008]; Hattenhauer [2008]; Meinhardt-Nanz [2008]; Ziehmann [2008]). Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ein Perspektivenwechsel der
sonderpädagogischen
Förderung.
Es
geht
mithin
nicht
darum,
Sonderpädagogik aus den überregionalen Förderzentren, den Blindenschulen, heraus zu exportieren, sondern es geht um eine individuelle Förderung des einzelnen sehgeschädigten Schülers in dessen spezifischer Lernsituation in seinen persönlichen, physischen und sozialen Individuum-Umweltbezügen. Es ist
kritisch
anzumerken,
dass
im
strengen
inklusiven
Sinne
der
sonderpädagogische Förderbedarf ein Faktum darstellt, das eine weitere Separation vornimmt: es trennt die Schüler in zwei Gruppen, diejenigen mit und diejenigen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf. Die Realität bildet sich 43
weitaus näher am eigentlichen Leitgedanken der Inklusion ab, denn oftmals ist es gerade in Grenzfällen mehr als unscharf, wo Behinderung, also sonderpädagogischer Förderbedarf überhaupt beginnt, bzw. wo eine, wie auch immer definierte „Normalität“ aufhört. Viel sinnvoller ist eine Perspektive, weg von einer rein physischen Determinanzstruktur, hin zu einer lernfeldorientierten Förderstruktur.
Diese
weist
beispielsweise
nicht
mehr
einzig
dem
Sehbehinderten in einer Klasse bestimmte Lernfelder automatisiert zu, sondern stellt die allgemeine Frage, welche Schüler einer Klasse einen Förderbedarf im Bereich Sehen aufweisen. Da der Förderbereich Sehen Komponenten enthält, in denen auch Sehende defizitäre Strukturen zeigen können, wird diese Herangehensweise in viel stärkerem Maße der Heterogenität einer Klasse gerecht als dies beim bisherigen System möglich ist. Unter den heutigen technischen und institutionellen Voraussetzungen könnte das Sehen als ein Faktor von vielen determinierenden Faktoren begriffen werden; bislang erfährt es jedoch weiterhin eine Überhöhung im bestehenden System, die letztlich eine adäquate Förderung von normalsichtigen Kindern mit ähnlichen Lernfeldern verhindert.
6.3 Das Leitbild der Sonderschulen Die Sonderschulen, die in der Zeit der progressierenden Integration von Blinden und
Sehbehinderten,
mehr
und
mehr
die
Rolle
von
überregionalen
Förderzentren einnehmen (vgl. Drave [1997]), legitimieren ihre gleichsam weiter bestehende Rolle als separierende Schule im Wesentlichen durch die Aussage und vor dem im vorigen Kapitel kurz angerissenen veränderten Selbstbild, das sich zwangsläufig mit der sich rasant wandelnden Schülerschaft vollzog (vgl. Hudelmayer [2006]), nämlich daß sie durch eine individuelle und spezifische Ausbildung
den
Blinden
und
Sehbehinderten
mit
erhöhtem
sonderpädagogischen Förderbedarf weiterhin eine umfassendere, qualitativ hochwertigere und spezifischere Ausbildung gewähren können als dies bei einer
integrativen
Beschulung
möglich
ist
(vgl.
www.schloss-schule-
ilvesheim.de [04.12.2007]; www.blista.de [04.12.2007]). Die Seiten des Kultusministeriums erläutern hierzu: Für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und einem besonders hohen und umfassenden sonderpädagogischen Förderbedarf steht ein ausgebautes, differenziertes Sonderschulwesen mit optimalen sonderpädagogischen Angeboten zur Verfügung. Hier kann durch intensive sonderpädagogische 44
Förderung auf die individuellen Förderbedürfnisse zum Beispiel durch Entwicklungsförderung, Bewegungsförderung, Förderung von Orientierung und Mobilität, der Kommunikation, Selbstständigkeit oder die Vorbereitung auf Beruf und Leben des einzelnen Kindes oder Jugendlichen in hohem Maße eingegangen werden. Deshalb können in den Sonderschulen alle Bildungsabschlüsse der allgemeinen Schulen erreicht werden.3 Soweit die Behinderung es erforderlich macht, sind auch eigenständige spezifische Schulabschlüsse möglich (vgl. www.km-bw.de [03.12.2007]). Die Heimsonderschulen, deren Anzahl in Baden-Württemberg vergleichsweise hoch ist, werden auf diesen Seiten ebenfalls vorgestellt. Diese beinhalten neben der Sonderschule an sich noch ein angeschlossenes Internat, dem laut des Kultusministeriums eine besondere Rolle zukommt. Hernach ist das Internat ein spezieller Lebensraum, in dem auf die jeweiligen entwicklungs- und behinderungsbedingten Bedürfnisse professionell eingegangen werden kann und in dem das Kind in geschütztem Rahmen folgende Erfahrungen machen kann: •
Akzeptanz in einer homogenen Gruppe unter Gleichgesinnten, woraus Selbstvertrauen und ein positives Selbstbild entsteht,
•
Förderung der sozialen Kompetenz durch Selbsterfahrung in einer Peergroup,
•
Möglichkeit der Auseinandersetzung mit Kameraden, Freunde finden, den Umgang mit dem anderen Geschlecht üben,
•
Angebot eines Übungsfeldes zur Kommunikation, indem sowohl Sprache erweitert und gefestigt, als auch gegenseitiges Verstehen und Verständnis erreicht wird,
•
Training von lebenspraktischen Fähigkeiten durch das Üben von „echten Alltagssituationen“,
•
Kontaktaufnahme mit behinderten und nicht behinderten Jugendlichen,
•
Unterstützung des Jugendlichen beim Erschließen der ihn umgebenden Welt, wobei auch der Umgang mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Behörden, Institutionen, und anderen Situationen des täglichen Lebens z.B. kulturelle Veranstaltungen etc. geübt wird,
3 Baden-Württemberg verfügt über KEINE gymnasiale Bildungsstätte im Sonderschulbereich (vgl. www.zum.de [18.01.2008]).
45
•
die Heim-Sonderschule entlastet, begleitet und berät die Eltern des Kindes somit
bei
dessen
Betreuung
und
Erziehung
(vgl.
www.km-bw.de
[03.12.2007]). Autoren wie Krug, die in der Tradition dieser Beschulungsstrukturen stehen, argumentieren entsprechend. Auch hier wird der Perspektivenwechsel von der traditionellen Sehgeschädigtenpädagogik zur aktuellen Integrationspädagogik deutlich: Sehbehinderte Schüler unterscheiden sich als Schülergruppe in dem gemeinsamen, für den Lehr- und Lernprozess entscheidenden Merkmal der eingeschränkten visuellen Wahrnehmungsfähigkeit, die für die Betroffenen eine Beeinträchtigung im Lernprozess und Lebensvollzug bedeutet. Daher sind für diese Schülergruppe spezielle didaktische Reflexionen und Maßnahmen
erforderlich,
um
sehbehindertenspezifische
Probleme
überwinden und die Voraussetzungen für eine möglichst optimale kulturelle, soziale und berufliche Integration schaffen zu können (Krug, [2001], 18).
6.4 Das Leitbild der Integrationsschulen Die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, die in Deutschland den Prozess der
Integration
maßgeblich
voranbrachten,
sowie
die
zahlreichen
integrationspädagogischen Bemühungen in dieser Hinsicht bedingen auch heute noch eine Entwicklung, die vor mehr als 30 Jahren, als die ersten Versuche der schulischen Integration, initiiert von Peter Appelhans, in Hamburg stattfanden, ihren Anfang nahm. (vgl. Hudelmayer [2006]). Die Integration blinder
und
sehbehinderter
Kinder
und
Jugendlicher,
mehr
als
die
mehrfachbehinderter Kinder und Jugendlicher, hat in den letzten 20 Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Gab es zu Beginn der ersten Schulversuche noch
eine
deutliche
Aufspaltung
zwischen
den
beiden
Lagern
der
Integrationsbefürworter und der Integrationsgegner, so kann heute von einer Entspannung in dem Sinne gesprochen werden, als dass die allgemeine Schulpädagogik und die Integrationspädagogik viele Schnittpunkte aufweisen und sich gegenseitig immer wieder neu befruchten (vgl. Walthes [1998]). Selbst Autoren, die einer gesonderten Beschulung bei Sehschädigung eine höhere Priorität einräumen, sprechen zwischenzeitlich ausschließlich einer reellen sozialen Lernsituation weitreichende positive Effekte zu (vgl. Krug [2001]). Die Argumente, die für eine Integrativmaßnahme sprechen, setzen sich im Wesentlichen zusammen aus: 46
•
allgemeinen gesellschaftlichen Umdenkungsprozessen, die eine veränderte Auffassung von Behinderung zur Folge hat,
•
den verbesserten technischen und logistischen Gegebenheiten, die die integrative Beschulung von Sehgeschädigten wesentlich vereinfachen,
•
dem
zum
Teil
nicht
mehr
zeitgemäßen
Methodenrepertoire
der
Sehgeschädigtenschulen sowie eine Anhebung des Stellenwerts der örtlichen
Regelbeschulung,
was
eine
erhöhte
Nachfrage
nach
Integrativmaßnahmen bedingt, •
allgemeinen schulpädagogischen und integrationspädagogischen Anreizen.
Im Folgenden sollen aus diesen Kategorien wichtige Punkte näher erläutert werden: •
Eine Integration ist das wirksamste vorbeugende Mittel, um Diskriminierung in einer inkludierenden Gesellschaft zu vermeiden (vgl. Schöler [2004]).
•
Integration erhöht die Effizienz der Schulen und gewährleistet eine effektive Bildung für den Großteil aller Schülerinnen und Schüler (vgl. SalamancaErklärung [1994]).
•
Sie verringert die soziale Distanz zu Kindern mit Behinderung (vgl. www.integrationskinder.de [01.02.2008]),
•
Sie ist dadurch ein wirksames Mittel gegen Ausgrenzung von Einzelnen und
•
beugt damit Gewalt an Schulen vor (vgl. Wocken [1993]).
•
Weiterhin verändert die allgemeine Unterrichtsdidaktik nicht tief greifend, sondern ergänzt diese nur zugunsten einer erhöhten Anschauung und erhöhten Gegenständlichkeit, d.h. sie schafft einen konkreten Rahmen für handlungsorientierteren Unterricht (vgl. Badde [1997]; Ueter [1997]; BeckerSchwering [1997]; Pelet [1997]; Walthes [2003]).
•
Integration reduziert die vom Schüler zu erlernenden blindenspezifischen Arbeitstechniken auf die modernsten und effektivsten4 (vgl. Fischer [1994]).
•
Sie kann, wie die Ergebnisse der PISA-Studie zeigen, die Leistung der Gesamtheit der betroffenen Schüler steigern (vgl. Schöler [2004]) und sie
4
Viele Sonderschulen unterrichten aus historischen Gründen auch nicht mehr zeitgemäße Techniken, die den Schüler aufgrund ihrer mangelnden Kompatibilität außerhalb des Blindenwesens (z.B. Kurzbraille, Tafelschrift etc.) und ihrem enormen Zeitaufwand beim Erlernen eher isolieren als integrieren und zudem den Kontakt zur „sehenden Umwelt“ herzustellen dennoch nicht in der Lage sind (vgl. Fischer [1994]).
47
•
ermöglicht dem Sehgeschädigten eine reelle Möglichkeit zur Integration durch die selbstverständliche und ständige Förderung:
- der Copingstrategien hinsichtlich der spezifischen Arbeitstechniken, -des Trainings der sozialen Interaktionskompetenz, - der Entwicklung von Strategien, die eine zumindest partielle Teilnahme an der nonverbalen Kommunikation ermöglichen, in der die Sehgeschädigten meist Defizite aufweisen, - der Möglichkeit zum sozialen Lernen durch Nachahmung (vgl. Krug [2001]), In wirtschaftlicher Hinsicht ist eine Integration kostengünstiger als eine Sonderbeschulung (vgl. Preuss-Lausitz [1998]; Schöler [2004]). Maikowski
fasste
die
wesentlichen
Punkte
zu
den
Vorteilen
einer
Integrativmaßnahme wie folgt zusammen: Das Konzept der gemeinsamen schulischen Erziehung von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderung ist ein Schritt auf dem Weg zu einer Gesellschaft ohne Aussonderung. Die selbstverständliche und frühe Gemeinsamkeit im Handeln ganz unterschiedlicher Menschen soll das Entstehen von Vorurteilen und die häufig daraus resultierenden Formen von Ausgrenzung und Gewalt verhindern, und aus ihrem gemeinsamen Lernen und Handeln soll eine neue Vielfalt von gegenseitigen Anregungen entstehen. In der Heterogenität der Integrationsklassen liegt eine Chance für die Entwicklung individualisierender Lern- und Handlungsangebote, die allen Schülern zugute kommt und ihre unterschiedlichen Möglichkeiten optimal zur Entfaltung bringt (vgl. Maikowski [1998], 35).
6.5 Der Blick über den nationalen Zaun Nicht nur mit seinem selektiven dreigliedrigen, sondern auch mit seinem Sonderschulwesen leistet sich Deutschland eine in Europa einmalige Separation von Schülern. Im weltweiten Vergleich kann die Frage nach der Beschulung eines behinderten Kindes in der für das deutsche System typischen Form überhaupt nicht mehr gestellt werden, denn in Skandinavien, den USA oder auch Südeuropa ist der Integrationsprozess
nach
bereits
einige
Jahrzehnte
zurückliegenden
fundamentalen Schulreformen so weit gediehen, dass dort Sonderschulen z.B. für Sehgeschädigte an sich seit Beginn der 80er Jahre nicht mehr existieren 48
(vgl. Jülich [1996]). Italien beispielsweise beschult seit dem Schuljahr 1977 sämtliche
Behinderten
integrativ
und
kennt
somit
kein
separierendes
Sonderschulsystem mehr, sondern höchstens besondere Förderklassen.5 In den USA waren im Jahre 1972 bereits 65% aller Blinden und Sehbehinderten integrativ beschult (vgl. Hudelmayer [2006]). Der stetige Ausbau des Normalisierungsprozesses für Kinder mit Behinderungen gehört auch in Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland und Island zur allgemeinen Entwicklung des Schulsystems (vgl. Schöler [1995]). Neben den genannten haben auch eine Reihe weiterer europäischer Länder Gesetze erlassen, in denen die gemeinsame Erziehung Behinderter und Nichtbehinderter anstatt eines Ausbaus des Sonderschulsystems festgelegt wird. Interessant in Bezug auf diese Schulreformen sind insbesondere Österreich, Großbritannien und Spanien, die alle in diesem Bereich schon wesentlich weiter sind als Deutschland (vgl. Hug [1994]; Schöler [1998]). Die UNESCO ist eine der wichtigsten internationalen Organisationen, die sich für „Erziehung ohne Ausgrenzung“ einsetzt. Bei der UNESCO-Konsultation Sondererziehung wurde 1988 im Rahmen einer Erklärung die „Erziehung ohne Ausgrenzung“ als Hauptaufgabe für künftige Aktivitäten festgelegt: Die
Verantwortlichkeit
für
Sondererziehung
liegt
beim
gesamten
Erziehungssystem. Es sollte keine zwei getrennten Erziehungssysteme geben. Ein offeneres Erziehungssystem wird sogar von den notwendigen Veränderungen profitieren können, die es macht, um den Bedürfnissen behinderter
Kinder
zu
entsprechen.
Wenn
wir
innerhalb
des
Regelschulsystems wirksame Lernsituationen für behinderte Menschen schaffen können, so bereiten wir auch den Boden für eine für alle Schüler ideale Erziehungssituation (Schöler [1998], 55). Umgekehrt formulierte es der Hamburger Erziehungswissenschaftler Wocken: Die Sonderschule begünstigt und verfestigt die Bereitschaft zur Abgrenzung von anderen und damit zur sozialen Selbstisolation. In einer nicht aussondernden Schule hingegen lernen die Kinder: Es ist normal, verschieden zu sein (www.bildungsklick.de [10.12.2007]).
5 Restriktiv ist anzumerken, dass Italien jedoch die spezifische sonderpädagogische Förderung von behinderten Schülern nicht ausreichend umsetzt und auch keine Ausgleichsmaßnahmen geschaffen werden. So sind vielfach die Klassenstärken unvermindert und die unterrichtenden Lehrkräfte auf diese besondere Unterrichtsituation und die notwendigen kompensatorischen didaktischen Maßnahmen nur unzureichend vorbereitet (vgl. Meinhardt-Nanz [2008]).
49
6.6 Zusammenfassung Wie
gezeigt
wurde,
liegen
die
Argumente
für
einen
Erhalt
des
Sonderschulsystems in Baden-Württemberg hauptsächlich in der adäquaten Fördermöglichkeit begründet, mit deren Hilfe auch Kindern mit erhöhtem sonderpädagogischen Förderbedarf ein allgemeiner Schulabschluss ermöglicht werden kann. Die Heim-Sonderschule fungiert hierbei als besonderer, geschützter Lebensraum, in dem auf die Sehschädigung speziell eingegangen und gleichzeitig Alltagsleben in einem besonderen sozialen Lernkontext simuliert werden kann. Mittlerweile ist ein Prozess in Gang gekommen, in dem sich nicht zuletzt im Zuge der ausgelagerten sonderpädagogischen Förderung Integrations- und allgemeine Pädagogik symbiotisch ergänzen. Die integrative Beschulung selbst ist Ergebnis eines makrosoziologischen Prozesses, in dem Behinderung einen anderen Stellenwert erhielt. Die primären Effekte einer Integration liegen in drei Bereichen vor: -allgemeine pädagogische Effekte, die die Diskriminierung und Ausgrenzung von einzelnen andersartigen Schülern verhindern und damit die Inklusion von Behinderten und die Gewaltprävention betreffen, -Eröffnung
neuer
Chancen
auf
eine
ganzheitliche
Integration
von
Sehgeschädigten durch den Erwerb spezifischer sozialer und kommunikativer Techniken, sowie wirkungsvoller, auf den unmittelbaren Bedarf einer „sehenden Umwelt“ abgestimmter Copingstrategien, -Effekte in der Lerneffizienz von Integrationsklassen, die die Befriedigung einer Vielzahl von Lerntypen ermöglicht und dadurch eine Leistungssteigerung der Schüler bewirkt. Begünstigt wurde und wird der Prozess der Hinwendung zur Integration durch teilweise
weniger
zeitgemäße
Unterrichtstechniken
an
den
Sehgeschädigtenschulen sowie vor dem Hintergrund einer sich verändernden Schülerschaft, die heute zunehmend aus mehrfachbehinderten Kindern und Jugendlichen
mit
Sehschädigung
besteht.
Die
Sehgeschädigtenschulen
fungieren daher in steigendem Maße als überregionale Förderzentren für integrierte Sehgeschädigte an allgemeinen Schulen. Mit dieser mithin auch sehr kostspieligen Praxis eines „doppelten Schulsystems“ leistet sich Deutschland eine in Europa einmalige Aufspaltung der Schülerschaft. Nicht nur die USA und Kanada sondern auch zahlreiche nord- und südeuropäische Staaten verfolgen 50
seit Jahrzehnten erfolgreich das Prinzip von inkludierenden oder zumindest integrierenden Schulsystemen, die ohne eine solche Separation auskommen. Das Maß der sonderpädagogischen Förderung, das in Deutschland mit einer Zuteilung zu einer gewissen Förderungsintensität ausgedrückt wird, wird mit Hilfe des sonderpädagogischen Förderbedarfs beschrieben. Dieser ist nach wie vor die ausschlaggebende und determinierende Größe auch bei der Beschulung von sehgeschädigten Kindern. Durch die Rechtslage kann sich dieses prinzipiell sinnvolle, ganzheitliche und hilfreiche Förderungskonzept, das eigentlich für die Belange des Sehgeschädigten agieren soll, bislang unter Umständen auch noch gegen seinen eigentlichen Willen richten. Insofern kann von einer umfassenden Fördermaßnahme gesprochen werden, die einerseits in all die Bereiche eingreift, in denen die Sehschädigung Defizite verursacht, bzw. in denen sie zusätzliche Kompetenzen erfordert, die andererseits jedoch auch rechtlich verbindliche Förderstrukturen auslöst, die im Zweifelsfall dem Lebenskonzept des Sehgeschädigten zuwiderhandeln kann. Umgesetzt wird der sonderpädagogische Förderbedarf im Falle einer Integration vom Betreuungslehrer, der als Spezialist nicht nur im häuslichen Bereich und im sozialen Umfeld aufklärt, sondern auch hauptsächlich im schulischen Bereich zwischen den Bedürfnissen des sehgeschädigten Schülers und den institutionellen Herausforderungen unter Einbeziehung der Lehrkräfte vermittelt.6 In dieser Hinsicht ist er ebenso für die Beschaffung der unterrichtsrelevanten sehgeschädigtenspezifischen Materialien verantwortlich, wie auch für die Vermittlung von unabdingbaren Copingtechniken beim Sehgeschädigten sowie für deren Verständnis und Förderung bei den Lehrkräften.
7 Die psychische Entwicklung blinder und sehbehinderter Kinder und Jugendlicher 7.1 Allgemeines Ist Blindheit ein so gravierendes Persönlichkeitsmerkmal, dass sie eine besondere psychische Entwicklung des Betroffenen auslöst und damit eine generalisierbare „Psychologie der Blinden“ in Gang setzt? Diese Frage wurde 6
Im außerschulischen Bereich ist der Betreuungslehrer für die Softskills des Sehgeschädigten zuständig. Andere unabdingbare Kompetenzen, wie Mobilitäts- und Orientierungstraining oder lebenspraktische Fertigkeiten werden von anderen speziell geschulten Pädagogen übernommen.
51
mehr oder weniger von Beginn der Blindenbildung an gestellt und im Laufe der Geschichte immer wieder unterschiedlich beantwortet. Nicht selten werden bei der Beantwortung dieser Frage Extrempositionen eingenommen: einerseits wird der Blinde als „Sonderfall menschlichen Soseins“ mit einer typischen, aus dem nicht
Sehen-Können
abgeleiteten
psychischen
Struktur
ausgestattet,
andererseits werden eventuelle Auswirkungen der Blindheit auf die Psyche des Sehgeschädigten negiert; der Sehgeschädigte ist damit ein „normaler Mensch“ minus Gesichtssinn bzw. mit eingeschränktem Gesichtssinn (vgl. Rath [1999]). Fest steht jedenfalls, dass der Einfluss einer Sehschädigung auf die individuelle Persönlichkeit nicht überschätzt werden darf, sie ist […] als eine intervenierende Variable zu betrachten, deren Wirkungen mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit, in Bereichen wie Psychomotorik, mimischem Ausdruck, Wahrnehmung und Denken, Motivation, Affekte, Entwicklung zu beobachten sind. Grad und Auswirkungen in diesen Bereichen hängen von Interaktionen von anderen individuellen, sozialen und kulturellen Variablen ab (Rath [1999], 21). Da diese Zusammenhänge sehr komplex sind, lassen sich nur sehr schwer, wenn überhaupt, reine Effekte der Blindheit aus einer individuellen Psyche eines
sehgeschädigten
Menschen
extrahieren.
Die
stark
pointierten
Auffassungen Alois Kremers, die er bereits 1933 vertrat, sollten nicht ohne kritische Hinterfragung aufgenommen werden, sie zeigen jedoch eine Tendenz in der Perzeption der psychischen Entwicklung der Sehgeschädigten auf, die zum Teil auch noch Leitlinien in modernen Werken darstellen. In erster Linie ist das blinde oder sehbehinderte Kind Mensch unter anderen Menschen, Individuum unter anderen Individuen und Kind unter anderen Kindern. Zur Frage, inwiefern die Blindheit an sich die Psychologie und somit die Persönlichkeit des blinden Menschen beeinflusst, führt Kremer aus: Der Blinde als ein Generelles ist der menschlichen Gemeinschaft zugehörig, als ein Spezielles durch die besonderen Bedingungen der Blindheit geprägt und
als
ein
Individuelles
durch
die
eigene
Konstitution
und
Lebensgeschichte beeinflusst. „Die Individualität des Blinden ist irgendwie blindseinsgemäß mitbestimmt“ (Kremer [1933], 17 nach: Weinläder [2006], 215). In blindenpsychologischer Hinsicht äußerte sich Alois Kremer bereits 1933 zur so genannten psycho-physiologischen Blindseinsstruktur. Die Darstellungen 52
sind zwar in einer heute etwas eigentümlich anmutenden Sprache verfasst, entsprechen aber recht genau den Kriterien der differenziellen Psychologie, die auch noch in zahlreiche aktuelle Werke Eingang finden. Deshalb sollen diese hier umrissen werden. Die spezifischen Wahrnehmungs- und Entwicklungstendenzen, die Kremer als „Konstituanten dependentiellen
des
blind
Kontext
seins“
benennt,
entsprechender
unterliegen
Erfahrungen,
zwar
einem
begünstigen
in
verschieden starker Ausprägung jedoch mithin die folgenden Tendenzen: •
Als blindes, bzw. sehbehindertes Individuum entfällt die Wahrnehmung von Licht und Farbe, sofern die Sehschädigung 100% beträgt und diese von Geburt an bestanden hat. Daher müssen die konkreten Vorstellungen durch synästhetische Perzeption erfolgen, z.B. Tasten + Extrapolation + Bezug auf größere kognitive Einheiten.
•
Gehör, Geruch und Geschmack haben für das sehgeschädigte Kind größere Bedeutung als für seine sehenden Kameraden,
•
sein Wissen enthält zunächst weniger konkrete und gegenständliche Anschauungen,
•
es muss in einer für Sehende von Sehenden geschaffenen Welt leben und hierfür entsprechende kompensatorische Fähigkeiten ausbilden (Kremer [1933] nach Burger [1996], 34).
Durch die dauerhafte Konfrontation mit einer Umwelt, die besondere Adaptionen
erfordert,
können
sich
als
Konsequenz
daraus
für
das
sehgeschädigte Individuum spezifische Tendenzen im Verhaltenskomplex ausbilden: •
das Bevorzugen der Synthese vor der Analyse bei kognitiven Prozessen oder bei Imaginationen, weil optische Eindrücke zum Zergliedern, die synästhetische Perzeptionen jedoch zum Zusammenfügen anregen,
•
eine
Neigung
zu
subjektiverem
Empfinden,
weil
die
sehgeschädigtenspezifische Wahrnehmung oft unmittelbarer mit dem Gefühl des Angenehmen, bzw. Unangenehmen verbunden ist als die der Sehenden,
53
•
eine Tendenz zum eher abstrakten als konkreten Denken und Sprechen, weil konkrete Wahrnehmungen seltener und schwerer erworben werden können, als der durch Worte vermittelte Sinn abstrakter Begriffe,
•
eine gewisse Neigung zur Passivität, weil sie es von ihrer Umwelt gewohnt sind, nicht vorausschauend, sondern reagierend zu handeln – spontane Handlungen können leicht unvorhergesehene oder unangenehme Folgen haben,
•
Ausprägung von Minderwertigkeitsgefühlen, weil die sehende Umwelt sie stigmatisiert und bedauert,
•
Ausbildung von sog. Stereotypen - oftmals auch als Blindismen bezeichnete Verhaltensweisen, die in der Hauptsache aus mangelnder Bewegung resultieren. Diese können sich durch z.B. das Schaukeln mit dem Körper, das Reiben in den Augen, das Wackeln mit dem Kopf etc. manifestieren [vgl. Klostermann 1996]; Weinläder [2006]; (Gahrbe [1959] nach Burger [1996], 38; Krug [2001]; Köhler-Krauß [1998]).
Solche Verhaltensweisen treten oft verstärkt in den Sonderschulen auf, weil sie von den Sonderpädagogen seltener in andere, von der sehenden Umwelt verständlichere Bewegungsalternativen umgeleitet werden. Auch fehlt dort die Rückmeldung
durch
die
sehende
Bezugsgruppe,
Verhaltensweisen unmittelbar reagieren würde
die
auf
solche
(vgl. Seuß [1995]; Lürding
[1996]). Es sei an dieser Stelle noch mal hervorgehoben, dass es sich bei diesen Eigenschaften lediglich um Tendenzen handelt, die in Abhängigkeit der Umwelterfahrungen des Individuums in verschieden stark ausgeprägter Intensität oder auch überhaupt nicht – je nach den bislang gemachten Erfahrungen - vorhanden sein können. Die einzelnen sehbehinderten Schüler weisen bezüglich Art, Schwere und Kombination dieser Merkmale eine starke Inhomogenität auf (Krug [2001], 19). Ebenfalls
erfahrungsbedingt
sind
die
Einschränkungen,
die
ein
sehgeschädigtes Kind hinsichtlich seiner Aktivitäten in seiner Umwelt akzeptiert. Diese Frage kann keinesfalls auf die Art oder Intensität der Sehschädigung zurückgeführt werden. Kinder mit identischen Schädigungen und gleichem Zeitpunkt des Auftretens der Schädigung können völlig unterschiedliche 54
Verhaltensweisen zeigen. Werden dem Kind entsprechende Förderungen zu Teil und wird es zu einem progressiven Umgang mit seiner Sehbehinderung erzogen, so müssen keine gravierenden Aktivitätseinschränkungen entstehen. Die Einschränkungen gehen in den meisten Fällen von der sehenden Umwelt aus, die mangels Verständnis bzw. Vorstellungsvermögen nicht begreift, wie eine Wahrnehmung bzw. eine Auseinandersetzung mit der Umwelt mit einem reduzierten
oder
gänzlich
unvorhandenem
Sehvermögen
überhaupt
funktionieren kann. Die Notwendigkeit, sich die visuell strukturierte Welt durch synästhetische Perzeptionsstrategien, z.B. durch die Integration von Haptik, Akustik, Olfaktorik oder Bewegung, anzueignen, werden von Sehenden meist nicht verstanden und durch greifbarere prototypische Eigenschaften ersetzt. So sind es letztlich weniger die Möglichkeiten, die blinden oder sehbehinderten Menschen zur Verfügung stehen, die zu Einschränkungen der Aktivitäten führen, als vielmehr die Tatsache, dass diese Möglichkeiten durch die sehende Umwelt keine Resonanz erfahren und sich daher nicht entwickeln können. Die vielfältigen Leistungen, die einzelne blinde oder sehbehinderte Menschen in den verschiedensten Gebieten entwickelt haben, sind ein Beleg für diese These und nicht allein der besonderen Intelligenz oder der besonderen Genialität der jeweiligen Person zuzuschreiben. Möglichkeiten und Grenzen der Entfaltung der individuellen Fähigkeiten basieren immer auf dem Individuum-Umweltbezug (Walthes [2003], 75).
7.2 Die psychische Entwicklung im Rahmen von integrativen Beschulungsmaßnahmen Blinde und sehbehinderte Kinder müssen sich, wie alle behinderten Kinder, bei der
Entwicklung
ihrer
Identität,
wie
bereits
erwähnt,
mit
negativen
Erwartungshaltungen und abwertenden Reaktionen ihrer sozialen Umgebung auseinandersetzen. Wie sie diese wahrnehmen und verarbeiten, beeinflusst auch ihr Bild von sich selbst. Kinder an Regelschulen sind mit dieser Problematik sehr früh und unmittelbar konfrontiert, da sich ausschließlich Sehende in ihrem sozialen Umfeld befinden (vgl. Burger [1996]). Ihre Situation in der Regelklasse erfordert erweiterte soziale Kompetenzen, die durch diese besondere Situation gefordert und gefördert werden (vgl. Hatlen [1991]). Bezüglich der Selbstwahrnehmung des sehgeschädigten Kindes führen selbst die Integration an sich befürwortende Autoren wie Burger an, dass es bei der Identitätsentwicklung während einer integrativen Beschulung oft zu massiven Problemen kommen kann, da das sehgeschädigte Kind in vielen Situationen 55
des gemeinsamen Unterrichts seiner defizitären Sinneswelt gewahr wird (vgl. Burger [1996]). Somit wäre die Integration von Blinden und Sehbehinderten an sich ad absurdum geführt und würde nur noch als „Zweck an sich“ realisiert werden. Dass genau das Gegenteil der Fall sein kann, zeigen zahlreiche positive
Beispiele
von
gelungenen
Integrationsmaßnahmen.
Die
Sehgeschädigten als eine in sozialer Hinsicht extrem heterogene Gruppe (vgl. Ziehmann [2008]) zeigen hinsichtlich dieser Problematik eine so stark variierende Bandbreite in den entsprechenden psychischen Dispositionen, dass der Erfolg oder Misserfolg der sozialen Integration des Schülers, fernab der im Unterricht verwandten methodisch-didaktischen Adaptionen, in der Hauptsache vom
Sehgeschädigten
abhängt
(vgl.
Hattenhauer
[2008]).
Die
mithin
persönlichkeitsstrukturierenden Faktoren sollen im Folgenden, bezogen auf die Integrationssituation, beleuchtet werden. Selbstbezogene Wahrnehmungen ergeben sich aus Informationen, die ein Individuum von seiner Umwelt erhält und verarbeitet. Sie sind abhängig von dem sozialen Umfeld in dem es sich befindet, von den Rollen, die es einnimmt und von den Bezugspersonen mit denen es interagiert. Soziale Vergleiche können einerseits von der Person ausgehen, wobei sie sich selbst mit einer für sie
relevanten
Bezugsgruppe
vergleicht:
dann
spricht
man
von
Bezugsgruppeneffekten. Andererseits können Vergleiche auch von außen, also von anderen relevanten Personen, angestellt werden, wodurch dem Individuum ein bestimmtes Merkmal zugeschrieben wird: dann spricht man von Etikettierung oder Stigmatisierung (vgl. Burger [1996]). Mit dem Problem der Stigmatisierung müssen sich die integrierten Schülerinnen und Schüler zwar auseinandersetzen, es spielt, zumindest innerhalb des schulischen Kontexts, und dort wiederum hauptsächlich in den unteren Klassenstufen, jedoch eine weitaus bedeutungslosere Rolle als vielfach angenommen. Lediglich außerhalb der Schule, wo der Sehgeschädigte hauptsächlich von Erwachsenen umgeben ist, wird er in verstärktem Maße mit dieser Problematik konfrontiert werden. Der Unterschied besteht darin, dass Kinder und Heranwachsende das Charakteristikum „blind“ als eine von vielen Eigenschaften weitgehend unkonnotiert empfinden, während bei Erwachsenen oftmals dem Stigma „sehgeschädigt“ unmittelbar bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden, denen sich alle anderen Charakteristika dieser Person unterordnen. Wesentlich stärker tragen bei integrativen Kontexten jedoch die 56
eben
genannten
Bezugsgruppeneffekte,
die
einen
wesentlichen
Motivationsfaktor darstellen können (vgl. Hattenhauer [2008]). Die Bezugsgruppe ist diejenige Gruppe, mit der sich eine Person identifiziert, die sie als Bezugsrahmen für die Bildung von Verhaltensmaßstäben und Einstellungen benutzt und die für sie Vergleichsfunktion hat. Für die integrierten Blinden und Sehbehinderten sind dies zumeist zwangsläufig ihre sehenden Klassenkameraden. Als Konsequenz wird das sehgeschädigte Kind rasch die Erfahrung des „anders seins“ machen und feststellen, dass es im Vergleich zu seinen Mitschülern mehr Mühe hat, manche Dinge zu erledigen und auch manchmal auf die Hilfe seiner Kameraden angewiesen ist (vgl. Burlingham [1972]; Ziehmann [2008]). Hier kann eine Diskrepanz zwischen dem erwünschten und dem zurückgemeldeten Selbstbild des sehgeschädigten Kindes entstehen, denn es möchte auf keinen Fall anders sein als die anderen und um keinen Preis auffallen. Dass dies nicht immer möglich ist gehört auch zu der im Rahmen jeder Integration zu machenden Erfahrung. Je nach persönlicher Konstitution und sozialen Kompetenzen des sehgeschädigten Kindes können diese Erfahrungen, die der angestrebten Selbstbestimmtheit und der Unabhängigkeit im Wege stehen, zu verschiedenen Verhaltensweisen führen. Dies sind entweder - die „Instrumentalisierung“ des sozialen Umfeldes des sehgeschädigten Kindes: hierzu neigen eher unselbständige Kinder, die es zudem von ihrem häuslichen Umfeld gewöhnt sind, alle Belange von Interesse, die sie nicht selbständig oder nur mit höherem Aufwand erlangen können, mit dem Hinweis auf ihre Behinderung und dem angeblich daraus resultierenden Unvermögen durchzusetzen, was sehr bald zu gravierenden Problemen mit dessen Klassenkameraden führen wird, oder - die Ausbildung möglichst perfekter Copingstrategien, um die Momente des „Misserfolgs“ so selten wie möglich entstehen zu lassen (vgl. Burger [1996]). In den meisten Fällen einer erfolgreichen Einzelintegration wird das Kind die letztere Möglichkeit wählen, denn es merkt ebenso rasch, dass eine „Instrumentalisierung
der
Klassenkameraden“
kurzfristig
zwar
eine
Erleichterung bringt, langfristig ihm jedoch die Möglichkeit zum Vergleich innerhalb der Bezugsgruppe nimmt und ihn zudem über kurz oder lang aus der Bezugsgruppe
ausschließt,
denn
selbst
Mitschüler
mit
ausgeprägtem
Helfersyndrom werden sich ein solches im Übermaß gezeigtes Verhalten nicht 57
lange gefallen lassen (vgl. Ziehmann [2008]). Im Fall von gut integrierten Schülern mit sehendem sozialen Umfeld und ausgeprägten Copingstrategien besteht als Konsequenz der motivierenden Wirkung der Akzeptanz in der Bezugsgruppe der Sehenden die Gefahr von zu hohen, entweder von außen an den Schüler herangetragenen, oder selbst durch übertriebenen Ehrgeiz hervorgerufenen Erwartungshaltungen, die nicht erfüllbar sind und deshalb zu Misserfolgserlebnissen und letztlich zu Vermeidungshaltungen, zum Rückzug, zur Desintegration führen. Das Herausfinden und Akzeptieren der eigenen Leistungsgrenzen schwingt deshalb bei der Erlangung und Umsetzung der Kompensationsmaßnahmen als Schutz vor dem Verlust des Bezugsrahmens unterbewusst auch immer mit und kann, im Falle der Selbstüberforderung des Schülers eine entsprechende gelegentliche Vergegenwärtigung durch z.B. den Betreuungslehrer oder durch entsprechende Rückbezüge in die Bezugsgruppe der Sehgeschädigten erfordern.7 Zudem weist einiges darauf hin, dass, bei Integrativschülern, etwaig defizitäre Bereiche mit überdurchschnittlich guten schulischen Leistungen zu kompensieren versucht werden, was seinerseits wiederum oft negativ in die Bezugsgruppe zurückwirken kann (vgl. Ziehmann [2008]). Viele die Sonderbeschulung bejahende Stimmen mahnen, dass es unter diesen Umständen für einen integrierten Schüler nur äußerst schwer möglich ist, ein positives Selbstbild zu entwickeln (vgl. Krug [2001]). Manches deutet darauf hin, dass die Bezugsgruppeneffekte an dieser Stelle eine maßgebliche Rolle spielen. Der Grund dafür, weswegen diese seitens der Sehgeschädigten so hoch eingeschätzt werden, scheint unter anderem aus einem soziologischen Hintergrund zu entspringen, der Sehgeschädigten nur in manchen, von der Gesellschaft jedoch prädeterminierten Bereichen, eine direkte Partizipation gewährt und dadurch künstliche Subkontexte geschaffen werden - z.B. geschlossene Sonderschulen oder das Zu- bzw. Absprechen bestimmter Kompetenzen im Rahmen von Stigmatisierungsprozessen, die dem Anspruch auf eine Suche und der Etablierung eines reellen Platzes in der Gemeinschaft nicht genügen.
7
Viele Integrationszentren, in Baden-Württemberg ist dies die Blinden- und Sehbehindertenschule Ilvesheim, bieten speziell Kurse und Treffen für integrierte sehgeschädigte Schüler an, die einen solchen Rückbezug ermöglichen (vgl. Ziehmann [2008]).
58
Insofern generieren integrierte Schüler einen wesentlichen Motivationsfaktor aus dem Verhalten einer Gesellschaft, die stärker separiert als inkludiert (vgl. Hattenhauer [2008]). Von wesentlicher Relevanz ist die Tatsache um das Wissen, dass die von Integrationskritikern so hoch bewertete Erfahrung des „Andersseins“, die der Sehgeschädigte machen muss, außerhalb von Beschulungskontexten zu sehen ist, mit Hilfe derer man im besten Fall lediglich den Zeitpunkt dieser Erfahrungen beeinflussen könnte. In jedem Fall müssen die psychologischen Effekte einer Integrationsmaßnahme bei Sehbehinderung insofern berücksichtigt werden, als dass versucht werden sollte, zugunsten der Bezugsgruppeneffekte, in der Unterrichtspraxis, dem Schüler eine wie auch immer geartete besondere Behandlung nur dann zukommen zu lassen, wenn es aus didaktischer und oder pädagogischer Hinsicht unabdingbar ist.
7.3 Zusammenfassung Aus psychologischer Sicht ist eine sehbehinderte Person ebenso wenig eine normalsichtige Persönlichkeit minus Gesichtssinn, wie sich eine normalsichtige Person aus der Summe der Persönlichkeitsmerkmale einer sehgeschädigten Person plus Gesichtssinn zusammensetzt. Der Verlust des Sehsinns greift in Bereiche wie Perzeption, Kognition, Psychomotorik und Selbstreflexion ein. Bedingt durch die Tatsache, dass der Sehgeschädigte in einer von Sehenden für Sehende geschaffenen Welt bestehen muss, geschieht eine Adaption, die sich aus Kompensationskonzepten realisiert. Hierbei spielen synästhetische und hoch vernetzte Perzeptionsstrukturen eine wesentliche Rolle, die zwar durch einen Rückbezug auf die Umwelt mithin eine teilweise Kompensation der ausgefallenen Sinnesmodalität zulassen, jedoch auch Unterschiede in der Perzeption durch die Einbeziehung und Gewichtung von synästhetischen Eindrücken bewirken und damit zum Teil andere Verhaltensweisen gegenüber Umweltreizen und Umweltgegebenheiten bedingen. Wie hoch dieses Maß an kompensatorischen Kompetenzen ist, hängt im Wesentlichen von den Erfahrungen im Umwelt-Individuumbezug, der eigenen Konstitution und der persönlichen Lebensgeschichte ab. Von entscheidender Bedeutung sind sowohl die spezifischen Fördermaßnahmen, die der Sehgeschädigte benötigt, um entsprechende kompensatorische Fähigkeiten auszubilden, als auch die Restriktionen, die von außen herangetragen werden, sich zumeist aus 59
prototypischen Zuschreibungen der sehenden Umwelt nähren und den Sehgeschädigten in seiner freien und ungehemmten Entwicklung blockieren. Das Zusammenwirken dieser Faktoren bewirkt mithin also eine stärker oder schwächer ausgeprägte, facettenreiche psycho-physische Blindseinsstruktur, die in Intensität und charakteristischer Ausprägung in Abhängigkeit dieser Determinanten steht. Sehgeschädigte Kinder an Regelschulen sind im Rahmen ihrer Integrativmaßnahme mit einem zentralen Spannungsfeld bei der Identitätsbildung konfrontiert, nämlich demjenigen einer Bewusstwerdung der durch die Sehschädigung bedingten Andersartigkeit, die sich im täglichen gemeinsamen Beschulungsalltag in mancherlei Situationen manifestiert, und dem
der
freien
Persönlichkeitsentfaltung
unter
Zugrundelegung
eines
Bezugsrahmens zu sehenden Individuen. Die Bezugsgruppeneffekte eines sehenden Umfelds wirken in Abhängigkeit des anerzogenen Umgangs mit der Sehschädigung, der psychischen Konstitution und der kompensatorischen Kompetenzen in verschiedenen Formen, bei einer gelungenen Integration jedoch
letztlich,
trotz
mancher
Hindernisse,
immer
positiv
auf
die
Identitätsbildung des Sehgeschädigten zurück, weil er hiermit, außerhalb von künstlich
geschaffenen
prädeterminierten
Subkontexten,
Bezugsrahmen
reelle
schaffen
Bezüge
kann,
die
in
einem
weniger
auf
nicht die
defizitären, als viel mehr auf die adäquaten Leistungsrelationen zu rekurrieren scheinen. Das Bestreben nach einer in diesem Zusammenhang möglichst umfassenden Ausbildung von bewährten Copingstrategien wird nicht nur durch entsprechende Rückmeldungen aus der Bezugsgruppe immer wieder neu bestärkt, sondern sollte auch in den Unterrichtssituationen von der Lehrkraft insofern berücksichtigt und respektiert werden, als dass die Sehschädigung nicht Grund für eine wie auch immer geartete andersartige Behandlung sein sollte, wenn sie nicht in didaktisch-pädagogischer Hinsicht notwendig ist.
8 Unterrichtspraxis in Klassen mit integrierten Schülern 8.1 Grundprinzipien pädagogischen Handelns Allein aus der Sehschädigung und den dadurch implizierten, mehr oder weniger vorhandenen psychischen und physischen Prädestinationen, können noch keine
Handlungsoptionen
einer
besonderen
Pädagogik
im
Schulalltag
abgeleitet werden. Leisten können dies vielmehr die Erkenntnisse der 60
Wahrnehmungsforschung und die Erkenntnisse über die Reaktionen des sozialen und gesellschaftlichen Umfelds. Grundprinzipien pädagogischen Handelns müssen ausgehend von der theoretischen Bestimmung des Individuum-Umweltverhältnisses und der Ziele pädagogischen Handelns Prinzipien entwickeln, die die Sinnstruktur des konkreten Tuns transparent machen, gewissermaßen den roten Faden darstellen, an dem sich die einzelnen Ziele, Maßnahmen und Methoden orientieren (Walthes [2003], 93). Das primäre Ziel aller Minderheitenbewegungen, zu denen auch diejenige der Sehgeschädigten zählt, ist weniger ein pädagogisches, als ein sozialpolitisches, nämlich die chancengleiche Partizipation an allen gesellschaftlichen Prozessen. Pädagogisch gewendet würde das Ziel also lauten, diese Menschen für eine solche Partizipation vorzubereiten und auszubilden. Die zeitgenössische Sehbehindertenpädagogik
kann
dieser
Argumentationslinie
nicht
mehr
uneingeschränkt folgen und sieht vielmehr in der Individuum-Umweltinteraktion Anknüpfungspunkte für eine adäquate Partizipation (vgl. Metzler; Wachtel; Wacker [1997]; Walthes [2003]). Hier wird Erziehung nicht als eine absichtsvolle Veränderung des Jugendlichen, sondern als absichtsvolle Kontextgestaltung begriffen, in der nicht mehr das Ziel der Partizipation, sondern die Anerkennung von Differenz und dem Umgang mit Verschiedenheit im Vordergrund steht (Walthes [1998], 94). Doch dieses primäre Ziel der Sehgeschädigtenpädagogik würde im Rahmen einer Regelbeschulung unergänzt zu kurz greifen, weil es über den persönlichen Interaktionsrahmen nicht hinausgeht. Es ist dies vielmehr eine Grundvoraussetzung dafür, die die Integrationspädagogik überhaupt benötigt, um entsprechende Ansatzpunkte zu finden und obwohl diese individuelle Kompetenz zweifellos vorhanden sein muss, um eine entsprechende Kontextuierung von Sichtweisen und Sachverhalten herbeizuführen und um letzten Endes auch nicht an den Folgen einer derart implizierten psychischen Krise zu leiden, so kann die Integrationspädagogik doch nur das Ziel der Partizipation progressiv verfolgen, denn zum Einen ist dies ebenfalls formuliertes Ziel der allgemeinen Regelbeschulung, an der auch das sehgeschädigte Kind teilnimmt und zum Anderen kann Integration, also das 61
avisierte Ziel aller Randgruppen, ohne die Bedingung der Partizipation nicht existieren. Die aktuell praktizierte Integrationspädagogik an Regelschulen hat sich in den letzten Jahren verstärkt an diesen, insbesondere von Walthes aufgestellten, Leitlinien orientiert und besonders die Kontextuierung in die tägliche integrative Schulpraxis
übernommen,
was
der
psychischen
Entwicklung
der
Sehgeschädigten durchaus verstärkt Rechnung trägt. Ging man früher nämlich noch davon aus, dass die Schülerinnen und Schüler mit einer Sehschädigung sozusagen "integrationsfähig" sein müssten, um eine allgemeine Schule besuchen zu können, so ist die heutige Perspektive eine andere: im Mittelpunkt steht die Frage, wie an der allgemeinen Schule Bedingungen zu realisieren sind, unter denen Schüler mit einer Sehschädigung ohne Benachteiligung gemeinsam lernen können (vgl. Walthes [1998]; Ziehmann [2008]). Erfahrungen aus den USA und vielen europäischen Ländern, in denen die integrative Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit einer Sehschädigung als der "normale" Bildungsweg gilt, haben gezeigt, dass dies bei Bereitstellung der entsprechenden Rahmenbedingungen in vielen Fällen problemlos möglich ist und beide Seiten von einer solchen Beschulung profitieren können. Hierbei liegt in der Heterogenität der Integrationsklassen eine Chance für die Entwicklung individueller Lern- und Handlungsangebote, die allen Schülern zugute kommt (vgl. Maikowski [1998], 35). Auch der Bildungsplan des Gymnasiums in Baden-Württemberg sieht entsprechende positive Effekte in der Entwicklung von Persönlichkeitsstrukturen in derartigen Kontexten als durchaus erstrebenswert an: […] Die Schüler erkennen die Not von Randgruppen, beziehen sie ein, geben ihnen Hilfe. […] sie erfahren die Notwendigkeit und außerordentliche Wirksamkeit der Zivilcourage – oder die Scham darüber, dass sie sie nicht aufgebracht haben (vgl. Bildungsplan Gymnasium Baden-Württemberg [2004], 13). Abgesehen von den besonderen Techniken und Copingstrategien in den einzelnen Fächern, die ihrerseits für eine erfolgreiche Vermittlung von Lerninhalten
ihr
spezifisches
Maß
dahingehend
besitzen,
welche
pädagogischen und/oder didaktischen Maßnahmen umgesetzt werden müssen, um dem sehbehinderten Schüler eine möglichst optimale Teilhabe am Unterricht zu gewähren, kann für eine möglichst erfolgreiche Integration 62
folgende Grundregel gelten: der integrierte Schüler sollte nach Möglichkeit, d.h. wenn nicht didaktisch oder pädagogisch relevant, genauso behandelt werden, wie jeder andere sehende Schüler. Darüber hinaus müssen bestimmte Aspekte einer unabdingbaren Sehgeschädigtendidaktik berücksichtigt werden. Es zeigt sich jedoch, dass die Besonderheiten bei der Vermittlung von Inhalten bei sehgeschädigten weniger die didaktische, als viel mehr die methodische Ebene betreffen (vgl. Vitt [2008]). Die Argumentationsebenen zwischen Sehgeschädigtenpädagogik und allgemeiner Pädagogik haben sich zudem deutlich angenähert. So wird zum Beispiel Handlungsorientierung sowohl in der Sehgeschädigtenpädagogik als auch in der Grundschuldidaktik als wesentlicher Bestandteil gefordert (vgl. Walthes [2003]), lediglich die Begründungen sind unterschiedlich. Hat Handlungsorientierung innerhalb der Sehgeschädigtenpädagogik die Aufgabe, die verringerten direkten visuellen Reize mit der Umwelt zu relativieren, so wird sie innerhalb der Grundschuldidaktik als Reaktion auf eine Visualisierung der Welt und im Sinne der konkreten Anbindung an Erfahrungen und Erlebnisse gefordert. Ist es in der Sehgeschädigtenpädagogik der Mangel an visueller Information, der handlungsorientierte Unterrichtsgestaltung nach sich zieht, so ist es in der allgemeinen Pädagogik der Überfluss an visueller Information,
dem
Symptome
wie
Aufmerksamkeitsstörungen
oder
Reizüberflutung etc. zugeschrieben werden (Vgl. Walthes [2003], 131). Die Konsequenzen der veränderten Wahrnehmung bei Sehgeschädigten sind also denjenigen ähnlich, die in Folge der visuellen Dominanz der alltäglichen Wahrnehmung bei Sehenden gezogen werden (vgl. Degenhardt [2001]). Erfahrungen von Regelschulpädagogen im integrativen Unterricht zeigen, dass viele traditionell verwendete Konzepte und Methoden an den Erfahrungs-, Wahrnehmungsvorbeigehen
und
und
ein
Verstehensmöglichkeiten ästhetischer,
im
vieler
wörtlichen
sehender Sinne
Kinder
alle
Sinne
ansprechender und auf den Lösungsprozess statt auf das Ergebnis ausgerichteter
Unterricht
der
Heterogenität
der
Lernstrategien
aller
Schülerinnen und Schüler wesentlich stärker entspricht (vgl. Walthes [2003]). Bei blinden Kindern und Jugendlichen ist es erforderlich, Anschaulichkeit möglichst über reale Gegenstände zu vermitteln. Ein Paket Kaffee wird nicht dadurch erkennbar, dass es das entsprechende Logo und die Farbe des Kaffeeherstellers
aufweist.
Größe,
Gewicht,
das
Fühlen-Können
der 63
Kaffeebohnen und anderes mehr dienen hier eher der Veranschaulichung. Daher sind bei der Auswahl und Gestaltung von Anschauungsmaterialien vor allem folgende Faktoren zu berücksichtigen: •
die Oberflächenbeschaffenheit,
•
die Eindeutigkeit von Form, Konsistenz und Größe,
•
die Klarheit von Gliederung und Anordnung,
•
die Relation von Dimensionen,
•
spezifisches Gewicht,
•
Geruch und Geschmack,
•
bei
Kindern
mit
Sehbehinderung
zusätzlich
Kontrast,
Farbe
und
Vergrößerung. In Zusammenhängen, bei denen für Sehende unmittelbare Anschaulichkeit gegeben ist, müssen Kinder und Jugendliche mit einer Sehschädigung häufig kognitive Leistungen, insbesondere Gedächtnisleistungen und eine hohe Konzentration beim Erfassen und Erkennen der spezifisch zu lernenden Aspekte aufbringen und damit bei der Begriffsbildung einen höheren psychischen Aufwand betreiben. Daher ist grundsätzlich darauf zu achten, dass die Anschauungsgegenstände so leicht zu decodieren sind, dass sie den Lernprozess ermöglichen und unterstützen (vgl. Walthes [2003], 134). Diese Maßnahmen sind, wie zuvor bereits kurz erwähnt, zumeist von methodischer Natur und lassen sich problemlos in den integrativen Unterricht einbauen. Dennoch gibt es ein Set von spezifischen Inhalten, das vom sehgeschädigten Schüler erlernt werden muss und Grundlage für seine Copingstrategien ist. Diese Kompetenzen können zwar im Schulalltag vertieft werden, sind jedoch Grundbestandteil der sonderpädagogischen Förderung und
werden
vom
Betreuungslehrer
bzw.
anderem
Fachpersonal
wie
Mobilitätstrainer, dem Lehrer für lebenspraktische Fertigkeiten (lpF) etc. vermittelt (vgl. Kap. 6.2). Dennoch müssen die integrativ unterrichtenden Lehrkräfte dieses spezifische Set an Kompetenzen kennen, um nicht nur mit dem Schüler bzw. dem Betreuungslehrer auf einer Ebene kommunizieren zu können, sondern auch, um die im Unterricht angewandten Methoden und Abläufe entsprechend anzupassen und zu verfeinern. Hierzu gehören: 64
•
die Orientierung und Bewegung im Raum, sowohl auf der Ebene des Tastraums, als auch in Bewegungsräumen,
•
die Erarbeitung von Zusammenhängen durch Bewegung,
•
die Deutung von Geräuschen und akustischen Signalen sowie das Verhalten im akustischen Raum,
•
die Förderung der visuellen Aufmerksamkeit, der Hand-Auge-Koordination, der Raum-Lage-Wahrnehmung, der Wahrnehmung von bewegten Objekten,
•
die Verbesserung des funktionalen Sehvermögens,
•
den Umgang mit den inadäquaten Bedingungen und Reaktionen der materiellen und sozialen Umwelt,
•
Ordnungs- und Suchstrategien, Taststrategien,
•
lebenspraktische Fertigkeiten,
•
Mobilitätstraining,
•
verschiedene Schriftsysteme (z. B. Vollschrift, Eurobraille, Kurzschrift, Mathematik-, Chemie- oder Musikschrift),
•
die effektive Nutzung elektronischer, mechanischer oder optischer Hilfsmittel (z.
B.
Computersysteme
mit
Vergrößerungs-
bzw.
Sprachsoftware,
Braillezeile, Punktschriftmaschine, Bildschirmlesegerät, Monokulare, Lupen) (vgl. Walthes [2003], 132). Die genannten Spezifikationen sind nicht nur für den Lernprozess von Schülern mit einer Sehschädigung hilfreich, sondern erweisen sich als bereichernd für alle. Die Erfahrungen im integrativen Unterricht zeigen, dass auch Kinder und Jugendliche ohne eine Sehschädigung von einer Vermittlung profitieren, die eigentlich für blinde oder sehbehinderte Schüler entwickelt wurde. Die Möglichkeiten des Voneinander-Lernens scheinen vielfältiger nutzbar zu sein, als man es sich üblicherweise vorstellt. Voraussetzung hierfür ist jedoch ein Interesse an den heterogenen Lern- und Aneignungsstrategien der Kinder. Eine integrative Pädagogik an Regelschulen bewegt sich daher immer im Spannungsfeld zwischen einer spezifischen Sehgeschädigtenpädagogik und einer
Regelschulpädagogik,
wobei
sich
ihre
Elemente
gewinnbringend
verzahnen lassen und dadurch eine weitere wichtige Leistung erbringen, nämlich eine Vermittlung von Wahrnehmungsstrukturen und Wertesystemen 65
sowohl beim sehgeschädigten als auch bei seinen sehenden Kameraden. Der integrierte Schüler wird sich mit der Aneignung dieser Strukturen sehr viel effektiver in einer „Welt der Sehenden“ zurechtfinden, als dies mit einer reinen Sehgeschädigtenpädagogik gewährleistet werden könnte und die sehenden Schüler erhalten durch diese aktive Rolle im Integrationsprozess wie selbstverständlich die Möglichkeit eines Perspektivenwechsels, der nicht nur das Lernen in der Schule bereichert, sondern auch sämtliche soziale Kompetenzen auf eine heterogene Gesellschaft optimiert, deren Mitglied sie sind (vgl. Hattenhauer [2008]). Die allgemeine, immer noch gängige schulische Separation wirkt sich in den aktuellen Integrativmaßnahmen weiterhin insofern aus, als zwar all diese Ziele als sinnvoll und wertvoll gelten und gleichsam umgesetzt werden wollen, jedoch in der Praxis auf gewisse Grenzen stoßen, die durch falsche Zurückhaltung, Unwissen oder Scheu verursacht werden. Die folgende schlaglichtartige Beleuchtung einiger, für den Schulalltag relevanter Aspekte, findet an dieser Stelle nur deshalb Erwähnung, da deren Umsetzung in der Theorie zwar evident, in der Praxis jedoch deshalb defizitär ist, weil eine entsprechende Ergänzung durch die Elemente aus der Sehgeschädigtenpädagogik weiterhin noch fernab jeder „Normalität“ rangiert. Die nachfolgend aufgelisteten Aspekte entbehren deshalb nicht eines gewissen imperativen Charakters, weil sie Aspekte repräsentieren, die von Betreuungslehrern als diejenigen gelten, bei denen
seitens
der
unterrichtenden
Lehrer
immer
noch
der
größte
Klärungsbedarf besteht. •
Begriffe wie „sehen“ oder „schauen“ können im Wortlaut des Unterrichts bedenkenlos verwendet werden; das sehgeschädigte Kind benutzt diese Wörter gleichsam für seine Art der Wahrnehmung, sie sind daher nicht negativ konnotiert.
•
Bei Fragen von Mitschülern oder Erwachsenen, die die Sehschädigung betreffen, ist der Schüler, soweit gewünscht und altersgemäß, Adressat für dieselben, die Konfrontation mit diesem Thema ist für ihn Alltag und daher auch nicht unangenehm, solange die Fragen einen ernsthaften Hintergrund besitzen und sich später auf das Verhalten der Mitschüler auswirken.
•
Alle Disziplinregeln, die auch für den Rest der Klasse gelten, sind vom sehgeschädigten Schüler auch einzuhalten. Gern verwandte „Ausreden“, die 66
auf die Sehbehinderung verweisen, sind genau zu prüfen und sollten ggf. mit dem Betreuungslehrer besprochen werden (vgl. Ziehmann [2008]). •
Der Schüler ist in alle Aktivitäten einzubinden
(auch in schwierigen
Situationen wie Sport, Kunst, Handwerken etc). Für spezielle Methoden und Hilfestellungen kann jederzeit der Betreuungslehrer konsultiert werden (vgl. www.behinderung.org [03.03.2008]). •
Der
sehgeschädigte
Klassenkameraden,
Schüler in
den
ist,
im
selben
entsprechenden
Maße
wie
seine
Unterrichtssituationen
gleichsam in den Aufmerksamkeitsfokus zu stellen also auch zu Führungsrollen etc. zu ermutigen (vgl. Kap. 7.2). •
Dinge, die in einer gewissen Distanz des sehgeschädigten Kindes stattfinden, können von diesem evtl. nicht wahrgenommen werden (z.B. ein Kopfnicken, eine auffordernde Bewegung mit dem Arm etc.). Verbale Hinweise können hierfür Abhilfe schaffen.
•
Zusätzlicher Arbeitsplatz bzw. Stauraum (z.B. zum Verwahren der elektronischen Hilfsmittel etc.) können aus rein praktischen Gründen von großem Nutzen sein (vgl. www.isar-projekt.de [24.04.2008]).
•
Die Wahl des Sitzplatzes kann essentiell wichtig für eine optimale Wahrnehmung des Unterrichtsgeschehens sein. Vielfach hat sich, wegen der Nähe d.h. der besseren Sichtbarkeit auf die Tafel und einer klaren Akustik die vordere Reihe bewährt, wobei die Wahl letztlich dem Schüler überlassen werden sollte.
•
Die meisten sehgeschädigten Kinder bevorzugen es, die Aufmerksamkeit nicht auf ihre Behinderung zu lenken. Diesem Wunsch sollte entsprochen und eigens angetragene Hilfsangebote der Lehrkraft minimiert werden (vgl. Kagon [1998]).
•
Bei blinden oder hochgradig sehbehinderten Schülern sind gegenüber wenig bekannten Personen Namensverwechslungen möglich, da sich Stimmen, insbesondere in lauter Umgebung, oftmals nicht markant voneinander unterscheiden. Deshalb kann es zu Beginn helfen, bei einer Begegnung den Namen zu erwähnen, bzw. subtiler, insbesondere bei älteren Schülern geschätzt, beiläufig im Gespräch eindeutig, leicht zuzuordnende Merkmale einfließen zu lassen (vgl. www.behinderung.org [04.04.2008]). 67
•
Im Falle des Auftretens von Stereotypien (z.B. Reiben oder Finger in den Augen, Schaukeln andere zusätzliche Bewegungen), sollte das Kind zu einer guten Haltung ermutigt werden, wobei die Korrektur während des Unterrichts auf ein Zeichen erfolgen sollte, dass die Mitschüler nicht als ein solches erkennen z.B. durch Räuspern oder Husten vor dem Tisch des Schülers, klopfen mit einem Stift etc.
•
Alle Kinder sind sensibel gegenüber der Kritik von Klassenkameraden. Die Akzeptanz des Lehrers gegenüber dem sehgeschädigten Kind wird als positives Beispiel für die ganze Klasse dienen (vgl. www.behinderung.org [25.04.2008]).
•
Die Sehbehinderung sollte, in Bereichen, in denen sie keine Rolle spielt, völlig
ausgeklammert
werden.
Besondere
Hinweise
oder
Arbeits-
anweisungen während des Unterrichts sollten dem sehgeschädigten Schüler selbstverständlich aber unauffällig gegeben werden, wodurch seine Behinderung zwar nie als Tabuthema wahrgenommen wird, sie jedoch auch nicht als die dominierende Eigenschaft seines Charakters hervortritt, da sie nicht übermäßig und unablässig vor der gesamten Klasse betont wird (vgl. Hattenhauer [2008]). Die Frage, wie konsequent dies umgesetzt werden kann, ist entscheidend dafür, wie sehr das gemeinsame Lernen erleichtert werden kann. •
Da sehgeschädigten Schülern die Hilfe zur Selbsthilfe bei der Perfektion ihrer Copingstrategien ungleich mehr weiterhilft als ein gut gemeintes, jedoch nur für den Moment hilfreiches Hilfsangebot, so ist diese Form der Hilfe immer vorzuziehen.
Da
ein
weiteres
großes
Ziel
der
Integration
auch
Schaffung
einer
selbstbewussten Persönlichkeit sein soll und muss (vgl. Kap. 7), so sind möglichst viele Situationen zu vermeiden, die dem Schüler Selbstbewusstsein nehmen, bzw. ihn insofern sogar eher blockieren, als dass zu intensive Hilfestellung oder ein offensichtlicher Sonderstatus in das Sozialgefüge des Schülers eingreifen und es auf die Lehrkraft anstatt auf seine Mitschüler fokussieren (vgl. Hattenhauer [2008]). Auch die Ansprache und Funktion der Assistenzkraft muss in dieser Hinsicht kritisch hinterfragt werden. Für den Fall, dass größere Probleme z.B. im Bereich der allgemeinen Orientierung oder der lebenspraktischen Fertigkeiten vorliegen, so ist dies mit 68
dem
Betreuungslehrer
zu
thematisieren,
der
entweder
entsprechende
Kompetenzen selbst vermitteln kann oder fachkundige Hilfe hinzuzieht. In jedem Fall sollten solche Probleme außerhalb des schulischen Kontexts bewältigt werden (vgl. www.integrationskinder.org [05.05.08]). Zudem sollte man sich der psychischen Komponente der Sehschädigung zwar bewusst sein, diese jedoch nicht überbewerten, da dies sonst sowohl in den integrierten Schüler selbst, als auch in seine Klassenkameraden hineinprojiziert werden kann, und dadurch künstliche Barrieren aufgebaut werden können, die die Integration unnötig erschweren (vgl. www.isar-projekt.de [25.01.2008]).
8.2 Didaktisch-methodische Besonderheiten bei sehgeschädigten Schülern 8.2.1 Allgemeines Die für den Ablauf des Unterrichts relevanten Herausforderungen, auf die sowohl der sehgeschädigte als auch die Lehrkraft entsprechend reagieren muss, mithin also die generellen Problemstellungen der methodischen Abläufe bei Integrativmaßnahmen, liegen im wesentlichen in drei Bereichen: im abbildenden Bereich, in der Schriftlichkeit, in der Begriffsbildung. Der abbildende Bereich, der zwischenzeitlich eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Unterrichtsinhalten an allgemeinen Schulen darstellt, bildet den weitaus schwieriger zu kompensierenden didaktischen Komplex, der mit mehreren technischen und pädagogischen Maßnahmen kompensiert, bzw. je nach Schwere der Sehschädigung lediglich aufbereitet werden muss. Dieser manifestiert sich primär in Fächern wie Geographie, Mathematik, Heimat- und Sachkunde, Kunst und in den Naturwissenschaften. Für die Umsetzung wird auf sehgeschädigtenpädagogische
Techniken
zurückgegriffen,
die
oftmals
aufwändig sind und hinsichtlich ihres Umfangs individuell differieren. Die Schriftlichkeit betrifft nicht nur quasi alle Fächer, sondern stellt zusätzliche Herausforderungen in Bereichen, in denen mit einer besonderen Schriftsprache gearbeitet wird, z.B. Mathematik, Physik, Chemie oder Musik. Auch hier steigen die Schwierigkeiten und die Anzahl der hierfür benötigten Techniken proportional
zum
Grad
der
Sehschädigung.
Zwischenzeitlich
ist
die
Schriftlichkeit in Hinblick auf moderne Informationstechnik und dem ständig 69
erweiterten und vermehrten didaktischen Materials jedoch relativ leicht zu gewährleisten und stellt mit den aktuellen, medialen Lösungen eher eine technische, denn eine methodische Herausforderung dar. Der Bereich der Begriffsbildung ist, insbesondere beim blinden Schüler, von immens großer Bedeutung. Er umfasst mithin alle materiellen Dinge, die außerhalb seines Lokomotions- und Tastraumes liegen und beinhaltet daher auch
alltägliche
Dinge,
die
sich
aufgrund
ihrer
Dimension
dieser
Perzeptionsmodalität entziehen. Das Lernfeld der Begriffsbildung obliegt jedoch verstärkt den Eltern, dem Betreuungslehrer und evtl. der Assistenzkraft des integrierten Schülers, da ein thematischer Einbezug in den Regelschulunterricht in vielen Fällen über das Begriffsbildungsbedürfnis der normalsichtigen Mitschüler hinausginge und zudem den zeitlichen Rahmen sprengen würde (vgl. Ziehmann [2008]). Doch auch in diesem Bereich gibt es sinnstiftende Elemente, die der gesamten Klassengemeinschaft neue Perspektiven eröffnen können. Daher sollte der Regelschullehrer, wenn ein entsprechender Fall vorliegt, diese sehgeschädigtendidaktischen Elemente zumindest in seinen allgemeindidaktischen Überlegungen berücksichtigen. (vgl. Ziehmann [2008]). Beim sehbehinderten Schüler ist es für eine korrekte Einschätzung seiner Potentiale und Grenzen von großer Bedeutung zu berücksichtigen, dass, insbesondere bei einer hochgradigen Sehbehinderung, der gemessene Visus an sich nicht viel über die tatsächliche Leistung aussagt, die mit den Augen noch vollbracht werden kann. Zwei Kinder können den gleichen gemessenen Visus aufweisen, jedoch hängen ihre tatsächlichen visuellen Leistungen stark davon ab, wie effektiv die Restsehschärfe ausgenutzt wird. Dies ist wiederum davon abhängig, wie gut das Kind bereits gelernt hat, die verbleibende Restsehschärfe zu seinen Gunsten zu nutzen, sich darauf zu verlassen und mit diesem gewonnenen Vertrauen noch effizientere Nutzungsstrategien zu entwickeln. Zudem spielen, insbesondere bei einem schwachen Visus, Faktoren wie Gesichtsfeldeinschränkungen, Lichtverhältnisse, Beleuchtungsintensität, Entfernung zum Objekt, Kontrast aber auch Müdigkeit oder Tagesform eine wichtige Rolle. Entsprechend den Verhältnissen kann die Sehschärfe stark schwanken. Diese Unterschiede müssen respektiert und können im Vorfeld mit dem Betreuungslehrer abgeklärt werden (vgl. Drave [1990]). Auch beim blinden Schüler spielt die Kompetenz zur Nutzung der verbleibenden Sinnesmodalitäten eine wichtige Rolle, die Strategien beziehen 70
sich jedoch verstärkt auf Perzeption, Merktechniken und das Umsetzen akustischer
und
taktiler
Merkmale
in
grafische
Inhalte.
Je
nach
Ausbildungsstand, Einübung und Akzeptanz dieser Strategien schwanken auch die Leistungen des blinden Schülers in den zu kompensierenden Bereichen. Da diese Kompetenzen in hohem Maße von der eingesetzten Konzentration abhängig sind, können sie somit auch mit der psychischen Verfassung oder der Tagesform des Schülers variieren. Insbesondere im Bereich der grafischen Umsetzung können sich daher schwankende Leistungen ergeben. Allgemein ergibt sich, bei herabgesetztem Sehvermögen, dadurch ein erhöhter psychischer Aufwand, dass Sehreize, die der Normalsichtige faktisch
simultan
aufnimmt,
nacheinander
aufgenommen
und
zusammengesetzt werden müssen. Der damit verbundene häufigere Rückbezug
verursacht
zusätzliche
Seh-
und
Gedächtnisleistungen;
Verlangsamung und raschere Ermüdung können die Folgen sein (Drave [1990], 19). Dies muss zwar berücksichtigt werden, es sollte jedoch immer die Verbesserung und eine Effektivitätssteigerung dieser Copingstrategien avisiert werden.
8.2.2 Die Adaption der Arbeitskonditionen bei Sehbehinderung 8.2.2.1 Tafelbilder Das sehbehinderte Kind hat, aufgrund seiner optischen Einschränkung, höhere Ansprüche an die Lesbarkeit und die Struktur des Tafelbilds. Prinzipiell hat es sich bewährt, das sehgeschädigte Kind in der ersten Reihe zu platzieren. Bei Blinden primär aus Gründen der Akustik, bei Sehbehinderten aus optischen Bedürfnissen. Je nach Beleuchtungsverhältnissen oder Lichtintensität wird der Sehbehinderte
entsprechende
Präferenzen
entwickeln,
sollte
jedoch,
insbesondere bei wechselnden Klassenräumen auch die Freiheit haben dürfen, seinen Platz wechseln zu können. Beim ausdrücklichen Wunsch seitens des Schülers, nicht in der ersten Reihe sitzen zu wollen, können auch Tafelkameras, Fernrohrhilfen oder Monokulare zur Kompensation der Distanz eingesetzt werden. Tafelnotizen sollten in möglichst strukturierter Form, mit deutlich lesbarer Schrift kontrastreich auf die Tafel aufgebracht werden. Hierbei helfen nicht nur eine saubere Tafel, sondern auch verschiedenfarbige Kreiden und eine ausreichende Schriftgröße. Bei längeren Tafelbildern kann es eine wesentliche Erleichterung für das sehbehinderte Kind bedeuten, wenn es 71
Tafelabschriften von seinem Nachbarn übernehmen darf oder direkt von der Lehrkraft eine evtl. vergrößerte Kopie der Notizen erhält. Auch das verbalisieren des Tafelbilds kann eine adäquate Lösung sein (vgl. www.isar-projekt.de [02.02.2008]). Bei Tafelanschriften durch die Mitschüler, bzw. im Rahmen von Methoden wie Lernwerkstatt etc. muss ebenfalls auf eine entsprechende Darstellung geachtet werden (vgl. Kagon [1998]). Falls eine digitale Präsentation erfolgt, kann diese dem Schüler gleichsam zur Verfügung gestellt werden. Ist eine computergestützte Arbeitsplatzausstattung vorhanden, kann eine effektive Hilfestellung dadurch erfolgen, dass die entsprechenden Notizen dem Schüler bereits im Vorfeld in digitaler Form zur Verfügung gestellt werden, damit sie entweder durch den Sehbehinderten selbst oder durch dessen Assistenzkraft
entsprechend
aufbereitet
und
in
der
betreffenden
Unterrichtsstunde eingesetzt werden können (vgl. Hattenhauer [2008]). Dieses Verfahren erfordert zwar eine äußerst genaue Stundenplanung und einen exakten
Zeitplan,
hat
jedoch
den
großen
Vorteil
einer
perfekten
Materialadaptation und benötigt zudem, sofern zur Präsentation vor der Klasse Medien wie Beamer oder Smartboard eingesetzt werden, keinen Zeitlichen Mehraufwand.8 8.2.2.2 Textmaterial und Arbeitsblätter Was für die Aufbereitung des Tafelbildes gilt, kann auch auf die Arbeit mit im Unterricht verwandten Arbeitsblättern und Textvorlagen bezogen werden. Je nach Visus des Kindes genügt entweder eine vergrößerte Kopie der Vorlage oder es sind weitere Adaptationen nötig. Im Fall einer vergrößerten Kopie sollte ebenfalls auf klare Kontraste geachtet werden (weißes, kein graues Papier und kräftige dunkle Farben). Die erweiterte Adaptation kann beispielsweise durch das Markieren, Einrahmen oder Unterstreichen mit dicken Faserschreibern oder durch das Hervorheben bestimmter Textabschnitte durch verschiedenfarbige Textmarker geschehen. Um generell höheren Kontrast zu erreichen, kann auch versucht werden, eine abdunkelnde Folie (zumeist in Gelb bevorzugt, obwohl es sie in verschiedenen Farben gibt) über die Vorlage zu legen. Diese verdunkeln die
Schrift und erhöhen den Kontrast zum Papier (vgl.
www.integrationskinder.org 8[05.03.2008]). Es existieren gleichsam auch längere Textvorlagen (z.B. Bücher) in Großdruck oder anders aufbereiteter 8
Aus der integrativen Unterrichtserfahrung wird deutlich, dass ein erstmaliges Digitalisieren von Tafelbildern einen erheblichen zeitlichen Mehraufwand bedeutet. Dieser relativiert sich jedoch rasch vor dem Hintergrund des vielfachen Einsatzes vor mehreren Klassen und von evtl. nötig werdenden Modifikationen und kontextuellen Anpassungen.
72
Form, so dass der Schüler nicht per se auf das anstrengende und zeitaufwändigere Lesen mit Hilfsmitteln angewiesen ist. Mit angemessener Vorlaufzeit können auch, beispielsweise bei längeren Projekten, besondere Materialien wie z.B. vergrößerte Nachschlagewerke, Kartenmaterial oder größere Textmengen beschafft bzw. adaptiert werden (vgl. www.isar-projekt.de [15.02.2008]). Für den Fall, dass der Visus des Schülers noch ausreicht, Bücher in normal großer Schrift lesen zu können, so wird, um eine bessere Lesbarkeit zu erreichen, die Vorlage entweder näher an die Augen herangebracht, oder es werden mechanische oder elektronische optische Sehhilfen verwendet. In jedem Fall sind sämtliche Formen des Lesens jedoch um ein Vielfaches anstrengender als für normalsichtige Schüler, weil der sehbehinderte Schüler durch seinen eingeschränkten Visus nur einen mehr oder weniger kleinen Teil des Textes scharf sehen kann und sich dafür stärker konzentrieren muss. Ein langsameres Lesetempo und eine herabgesetzte Übersicht über den Text können die Folge sein. Diese Tatsachen sollten bei längeren Lektüren berücksichtigt werden und rechtfertigen, z.B. im Sprachunterricht, den Einsatz von Buchständern, bzw. Hörbüchern oder auch anderen Textquellen (vgl. www.isar-projekt.de [18.03.2008]). 8.2.2.3 Schriftlichkeit Wenn der Visus des sehbehinderten Schülers nicht mehr dazu ausreicht, auf normalen Linien zu schreiben, können handelsübliche Hefte mit dickeren oder auch roten Linien verwendet werden, die auch mit einem erhöhten Linienabstand erhältlich sind. Bei Schreibanfängern können auch Vorlagen mit farbigen Schreibflächen zum Einsatz kommen, die die geschriebene Schrift stärker kontrastieren. Hinsichtlich des Schreibgeräts muss berücksichtigt werden, dass Faserschreiber, Fineliner oder Tintenroller einen höheren Kontrast ergeben als Bleistifte. Wenn sie dennoch bevorzugt werden, sollten sie weich sein, um dicker und dunkler zu schreiben. Neben der Handschrift stellt auch die moderne Informationstechnik Möglichkeiten bereit, Defizite in der Schriftlichkeit hinsichtlich Lesbarkeit oder Geschwindigkeit zu kompensieren (vgl. www.integrationskinder.org [26.02.2008]). In vielen Fällen können Sehbehinderte in Nachhinein ihre eigene Schrift nicht mehr lesen, weil sie sich entweder in ihren eigenen Abschriften aufgrund von mangelnder Struktur nicht mehr zurechtfinden, oder ihre Abschriften, bedingt 73
durch eine ungenügende Lesbarkeit in Folge eines zu rasch übernommenen Tafelbilds, nicht mehr nachvollziehen können. Oft wird der Sehbehinderte einen Moment länger für Abschriften benötigen als seine Mitschüler. Geschwindigkeit und Struktur der Abschrift können erhöht bzw. verbessert werden, wenn das visuelle Umfeld optimiert wird und sich der Gebrauch der Hilfsmittel eingespielt hat. Wenn auch dies keine Abhilfe schafft, sollte über die Nutzung eines Notebooks mit entsprechender Vergrößerungssoftware nachgedacht werden, was in einem solchen Fall auch hinsichtlich der Klausuren ein probates Hilfsmittel darstellt (vgl. www.isar-projekt.de [26.02.2008]). 8.2.2.4 Bild- und Kartenmaterial Die gewählte Adaptation von Kartenmaterial oder Grafiken richtet sich immer nach Komplexitätsgrad und Größe in Abhängigkeit des Sehvermögens des Schülers. Prinzipiell sind einfach gehaltene, dick gezeichnete, deutlich kontrastierte, strukturierte und farbige Darstellungen von Vorteil. Eventuell können zusätzliche Beschreibungen auf der Grafik, sowie, zu Gunsten einer besseren Übersichtlichkeit, eine Aufteilung in mehrere Grafiken von Vorteil sein und eine komplexere Darstellung ersetzen (vgl. Meinhardt-Nanz [2008]; www.isar-projekt.de [25.02.2008]). Bei Projektionen an der Tafel hilft dem sehbehinderten Schüler eine evtl. vergrößerte Kopie der Projektion. Für den Fall, dass Grafiken eine Adaptation erfordern, sollten folgende Grundfragen gestellt werden: •
Was soll die Grafik veranschaulichen? Kann dies entsprechend umgesetzt werden?
•
Gibt es evtl. eine andere, einfachere Möglichkeit, dies zu verdeutlichen (z.B. durch ein „Hörbild“, Beschreibungen, ein Modell, ein Artefakt oder eine reale Begegnung) (vgl. www.behinderung.org [22.03.2008]; Ziehmann [2008])
•
Ist die Information, die die Grafik beinhaltet, auch schon im Text vorhanden – ist sie redundant?
•
Kann die Abbildung bei der Umsetzung vereinfacht werden ohne die relevanten Informationen zu verlieren?
•
Ist es sinnvoller, die komplexe Information der Grafik in zwei oder drei Grafiken darzustellen? 74
•
Steht der Zeitaufwand für die Adaption in vertretbarem Verhältnis zum didaktischen Nutzen?
(vgl. isar-projekt.de [22.02.2008]; www.integrationskinder.org [01.03.2008]). In vielen Fällen hat auch hier der Betreuungslehrer Zugriff auf die verschiedensten vergrößerten und adaptierten Materialien aus entsprechenden Sonderpädagogikpools der Blinden- und Sehbehindertenschulen. 8.2.2.5 Klausuren Bei Klausuren sollte dem sehbehinderten Kind Folgendes zur Verfügung gestellt, bzw. Folgendes berücksichtigt werden: vergrößerte Abstände auf den Aufgabenblättern, bzw. separates Lösungsblatt wegen eventuell größerer Schrift des Sehbehinderten (für die Aufgabenstellung muss eine entsprechend adaptierte Kopie erstellt werden), Formatkompatibilität bei digitalen Vorlagen, Zugängigkeit eines, mit dem PC kompatiblen Druckers, entsprechend dem Erlass im Schulgesetz über den „Nachteilsausgleich für Menschen mit Behinderungen bei Prüfungen und Leistungsnachweisen“ kann eine bis zu 50%ige Arbeitszeitverlängerung angeboten werden, da das Lesen, bzw. die optische, bzw. taktile Erfassung der Aufgabenstellung und die schriftliche Ausarbeitung mehr Zeit in Anspruch nehmen. Äquivalent hierzu kann als Alternative auch die Aufgabenstellung entsprechend gekürzt werden.
8.2.3 Die Adaption der Arbeitskonditionen bei Blindheit 8.2.3.1 Tafelbilder Da blinde Schüler nicht die Möglichkeit haben, unmittelbar auf ein Tafelbild zuzugreifen, ist es notwendig, dass sie in eine akustische, digitale oder taktile Form umgesetzt werden. Im Normalfall, d.h. wenn das Tafelbild keine komplexen Grafiken enthält, genügt eine Verbalisierung entweder parallel zur Anschrift durch die Lehrkraft oder einen Sitznachbarn. Für den Fall, dass das Tafelbild Grafiken enthält, können diese entweder von der Lehrkraft oder von der Klasse verbalisiert werden. Für komplexe Darstellungen, die z.B. als Grundlage für ein Stoffkreis aus der Mathematik gereichen und auf die in weiteren Unterrichtsstunden aufgebaut werden sollen, die also nicht lediglich als Impuls oder zur Veranschaulichung von bereits hinreichend behandelten Sachverhalten dienen, empfiehlt sich eine Adaption als Relief-Folienzeichnung, 75
auf Schwellpapier oder als Modell etc. (vgl. Meinhardt-Nanz [2008]). Eine weitaus verbesserte Vorbereitung wird, wie beim sehbehinderten auch beim blinden Schüler dadurch erreicht, dass ihm Tafelbilder im Vorab digital zur Verfügung gestellt werden. In diesem Zusammenhang kann auch die Erfassung von komplexen grafischen Abbildungen, die Verdeutlichung von mehrfach gegliederten Tabellen etc. gewährt werden. 8.2.3.2 Textmaterial und Arbeitsblätter Texte und Arbeitsmaterialien müssen dem blinden Schüler in einer bearbeitbaren Form vorliegen, d.h. digital, in Punktschrift oder, bei längeren Texten,
auch
akustisch.
Blindenbildungsanstalten Ansprechpartner
Als
Ressource
genannt,
fungieren.
Sie
die
seien
als
verfügen
hierfür
die
überregionaler nicht
nur
über
größeren
Integrationserfahrenes
Fachpersonal beim Digitalisieren von Texten, sondern auch zumeist über einen inzwischen beträchtlichen und ständig wachsenden spezifischen Informationsund Didaktikpool, über den der blinde Schüler bzw. der Betreuungslehrer verfügen kann (vgl. www.isar-projekt.de [04.02.2008]). Auch gesamte Unterrichtswerke werden hier digitalisiert und aufbereitet.9 In manchen Lernkontexten, z.B. bei Lernzirkeln, Projektarbeiten, Präsentationen, unübersichtlichen
Arbeitsmaterialien
in
den
Naturwissenschaften
oder
Aufgabenstellungen bei Klausuren, haben sich Vorlagen in Punktschrift anstatt digitaler Vorlagen als sinnvoll erwiesen, da diese den Vorteil besitzen, eine größere Übersichtlichkeit zu gewähren als dies die Braillezeile oder die Sprachausgabe vermögen (vgl. Badde [1996]). Die Blindenschulen verfügen auch über entsprechende Möglichkeiten, auch umfangreichere Materialien in Punktschrift zu liefern. In Baden-Württemberg verfügen die Didaktikpools der Blindenschulen Stuttgart und Ilvesheim über die meisten gängigen digitalisierten Schulbücher und über speziell adaptierte Materialien. Ein nicht unerhebliches Problem ist inzwischen der rasche Wechsel und die Schnelllebigkeit von Unterrichtsmaterialien geworden, was zu einem sehr breiten Materialspektrum geführt hat (vgl. Meinhardt-Nanz [2008]). Da der Aufwand des Scannens sehr groß ist und die Förderzentren ebenfalls nicht über unbegrenzte materielle und personelle Kapazitäten für die elektronische Datenerfassung verfügen, muss auch an dieser Stelle evtl. mit Engpässen in
9 Die Verlage verfügen zwar bereits über alle Werke in digitaler Form, geben sie aber aus rechtlichen Gründen nicht heraus, wodurch ein kostenintensiver Merhaufwand entsteht.
76
der Materialadaptation gerechnet werden. In diesem Zusammenhang erleichtert eine
langfristige
Unterrichtsplanung
die
Materialbeschaffung
erheblich.
Entsprechendes ist mit dem Schüler und dem Betreuungslehrer abzuklären. Es ist zu beachten, dass große Lesestoffmengen auf akustischem Wege manchmal leichter und schneller zu erfassen sind als über das Braille-Lesen auf Papier oder mit der Braillezeile. Dadurch werden manche Schüler wenn möglich gerne mit der Sprachausgabe oder mit Hörbüchern arbeiten wollen. Dies sollte, insbesondere in der materialintensiven Oberstufe, respektiert werden, jedoch muss in der Unter- und Mittelstufe noch auf regelmäßiges, intensives Textlesen mit der Braillezeile oder mit Punktschriftbüchern geachtet werden, damit sich keine Rechtschreibschwächen einstellen, die sich in Folge der selteneren „Ansicht“ von tatsächlich geschriebenen Texten bei vorwiegend akustischem Lesen, ergeben können (vgl. www.isar-projekt.de [05.03.2008]). Da das BrailleLesen lediglich mit den beiden Zeigefingerspitzen der beiden Hände erfolgt, sieht der blinde Schüler beim Lesen nur jeweils ca. vier Buchstaben zur gleichen Zeit. Das Lesen wird deshalb langsamer vonstatten gehen als bei seinen sehenden Kameraden und bedarf auch beim Erlernen der Schrift einer längeren Übungsphase, um ähnliche Ergebnisse zu erzielen. 8.2.3.3 Schriftlichkeit Die modernen, auf Computertechnik basierenden Arbeitsplatzausstattungen sind mittlerweile Schnittstelle zwischen der Punktschrift und der Schwarzschrift geworden. Mit einer entsprechenden Ausstattung im Klassenraum, bestehend aus
Notebook,
Sprachsoftware
und
Braillezeile,
können
Blinde
selbstgeschriebene Texte nachvollziehen und diese gleichzeitig für Sehende zugänglich machen (vgl. www.integrationskinder.org [04.03.2008]). Diese beiden Kriterien waren vor diesen Entwicklungen nicht möglich gewesen, da der Blinde entweder Texte auf der Schreibmaschine verfassen, jedoch hinterher nicht mehr selbst lesen konnte, oder es wurde auf einer Punktschriftmaschine geschrieben, mit deren Hilfe der Blinde zwar den geschriebenen Text lesen konnte, der Sehende jedoch eine „andere“ Schrift erlernen musste. Die unleugbaren Vorteile der Informationstechnik sind Schlüssel für eine zeitgleiche und unmittelbare Schriftlichkeit zwischen Blinden und Sehenden, die keine Kenntnisse in der jeweils anderen Schrift voraussetzt (vgl. Fischer [1994]). Mithin kann der blinde Schüler mit solchen Hilfsmitteln und bei genügender Übung sehr rasch schreiben und entsprechende Textarbeit leisten. Die Ergebnisse erreichen die Lehrkraft entweder direkt über den Monitor oder in 77
beständigerer Form als Email bzw. als Papierausdruck. Hierfür muss dem Schüler ein Schwarzschriftdrucker in der Schule zur Verfügung stehen, an dem er unter anderem auch Klausuren und andere Arbeitsergebnisse ausdrucken kann (vgl. Kap. 8.2.2.5). Zeichnerische Äußerungen erfolgen auf einer speziellen Zeichentafel. Hier kann eine Positiv-Zeichnung auf sog. Zeichenfolie mit Stift oder Zirkel erstellt werden, wobei in die Zeichenfläche gedrückte Stecknadeln
Fixierhilfe
für
spezielle
Lineale,
Winkelmesser
und
Zeichendreiecke leisten. Zeichenfolie mit aufgeprägtem Koordinatengitter ermöglicht das Zeichnen von Funktionsgraphen. Beim geometrischen Zeichnen sind jedoch zeichnerische Ungenauigkeiten zu tolerieren, da jene Technik hinsichtlich
ihrer
Genauigkeit
an
gewisse
Grenzen
stößt.
(vgl.
www.integrationskinder.org [06.03.2008]). 8.2.3.4 Bild- und Kartenmaterial Die Tatsache, dass sich ein blinder Schüler in der Klasse befindet, bedeutet nicht, dass auf den Einsatz von Bild- oder Kartenmaterial verzichtet werden muss. Vielmehr ist das Erlernen der Bildverarbeitung für den sehgeschädigten Schüler eine große Chance zur Ausbildung von weiteren Copingstrategien, die über den Gebrauch im Unterricht hinausgehen, z.B. für die Erstellung von Mental
Maps
während
des
Mobilitätstrainings
etc.
und
deshalb
ein
ganzheitlicher Ansatz zur Initiierung integrativer Kompetenzen. Hierfür ist der Schüler jedoch auf eine andere Vermittlung grafischer Inhalte angewiesen, was zwar aufwändiger und generell nicht immer detailgetreu, jedoch prinzipiell möglich ist (vgl. Meinhardt-Nanz [2008]). Da die Bildverarbeitung zwischen den einzelnen cerebralen Arealen auf gleiche Weise wie bei Sehenden funktioniert, lediglich die Enervierung der Areale über andere Sinnesmodalitäten erfolgt, können Blinde sehr wohl mit Bildern arbeiten und Zuordnungen leisten (vgl. (Kahn; Krubitzer [2002]; Sadato et al. [1996]). Das in diesem Zusammenhang notwendige Verbalisieren der Bilder, gibt dem blinden Schüler die Möglichkeit zur Partizipation
ebenso wie seinen Mitschülern die Möglichkeit zur
Bildbeschreibung (vgl. Hattenhauer [2008]). Hinsichtlich der didaktischen Relevanz ist adaptiertes taktiles Bildmaterial jedoch zu bevorzugen, da auf diese Weise sprachliche Ungenauigkeiten keinen Eingang in das mentale Abbild des blinden Schülers finden und so Missverständnisse ausgeschlossen werden. Zudem erfordert die Generierung von Bildern aus Sprache ein Höchstmaß an Konzentrationsfähigkeit seitens des blinden Schülers, was je nach Konstitution des Lernenden auch nicht immer in gleichem Maße 78
vorausgesetzt werden kann. Durch adaptiertes Bildmaterial erfolgt die Perzeption schneller und unmittelbarer und ermöglicht leichter stoffliche Erweiterungen und Fortentwicklungen, die in der Folge jedoch auch wieder in verbaler Form geschaffen werden können. Mischformen in der grafischen Perzeption sind gängige Integrationspraxis (vgl. Meinhardt-Nanz; Hattenhauer [2008]). In
den
Didaktikpools
der
Blindenschulen
existiert
eine
Vielzahl
von
detailgetreuen Modellen, taktilen Atlanten und Reliefgloben, auf die über den Betreuungslehrer zurückgegriffen werden kann. Kleinere und einfachere Abbildungen können auch eigens adaptiert werden z.B. durch Schwellpapier oder als Folienzeichnung. Soweit es möglich ist, sollten Realbegegnungen nicht durch Modelle bzw. Bilder ersetzt werden. Dies beinhaltet auch das Aufsuchen unterschiedlicher Lernorte (vgl. Ziehmann [2008]). Bei der Übertragung von Bildern und Grafiken in tastbare Qualität ist vorher sehr genau der Informationsgehalt der Abbildung zu analysieren, zu extrahieren und zu reduzieren, damit eine hohe Übersichtlichkeit auch in der gröber gerasterten taktilen Form erhalten bleibt. Zudem sind taktile Zeichnungen im Vergleich zur optischen Vorlage um mindestens 50 bis 100% zu vergrößern, damit die Formen klar erkannt und die Bezüge deutlich werden (vgl. www.integrationskinder.org [27.03.2008]; Meinhardt-Nanz [2008]). Fernerhin gelten auch jene grundsätzlichen Fragen, die sich bei der Adaption von Bildmaterialen für Sehbehinderte ergeben (vgl. Kap. 8.2.2.4). 8.2.3.5 Klausuren Bei Klausuren gelten für den blinden Schüler ähnliche Voraussetzungen und Anforderungen wie beim sehbehinderten Schüler (vgl. Kap. 8.2.2.5 Punkte 2 – 4). Es sei an dieser Stelle jedoch nochmals deutlich darauf hingewiesen, dass sich bei unübersichtlichen Aufgabenstellungen, z.B. in Mathematik, auf Papier ausgedruckte Vorlagen in Punktschrift aufgrund ihrer erhöhten Übersichtlichkeit besser eignen als in digitaler Form (vgl. www.isar-projekt.de [23.03.2008]).
8.3 Fachspezifische In- und Outputs der integrativen Beschulung 8.3.1 Allgemeines Wie vorhergehend aufgezeigt wurde, bleiben die sehgeschädigtenspezifischen Probleme, die es in alltäglichen Unterrichtssituationen an Regelschulen zu kompensieren gilt, auf das Areal des abbildenden Bereichs und der Schrift79
lichkeit beschränkt. Abgesehen von den materialadaptierenden Maßnahmen, die sich in der Klasse offensichtlich darstellen, ist dies zwar im Einzelnen eine beträchtliche Menge von Veränderungen, diese betreffen jedoch in erster Konsequenz den integrierten Schüler und die Lehrkraft. Einzig die geänderte Methodik,
eine
zum
Teil
angepasste
Didaktik
und
das
Output
des
sehgeschädigten Schülers treten in der Klasse zu Tage. Die integrative Regelpraxis impliziert jedoch in den meisten Fällen einen ganz automatischen wie selbstverständlichen Einbezug der Mitschüler in die kompensatorischen Methodiken. In vielen Fällen sind die Verfahrensweisen den Schülern bereits geläufig, sie werden jedoch, in der Situation, in der sich ein Sehgeschädigter Mitschüler in der Klasse befindet, automatisch mit mehr Substanz unterfüttert. Beispielsweise erhält die so oft getätigte Aufforderung bei Themeneinstiegen „Könnte bitte jemand einmal dieses Bild beschreiben?“ in diesem Kontext eine neue Relevanz für die Schüler und steigert deren Bereitschaft wie auch deren Motivation in dieser Tätigkeit (vgl. www.isar-projekt.de [20.03.2008]). Es stellt sich nun die Frage nach den Auswirkungen, die eben jene geänderten methodisch-didaktischen Maßnahmen in Verbindung mit dem sozialen Output des sehgeschädigten Schülers auf die jeweiligen Unterrichtssituationen und den Fachunterricht besitzen. Generell ist ein verstärkter Einfluss in solchen Fächern anzunehmen, in denen die Anforderungen aus den beiden großen Kompensationsbereichen ansteigen. Fernab der theoretischen Aspekte sind natürlich in dieser Hinsicht auch noch die Persönlichkeit des sehgeschädigten Schülers und diejenige der Lehrkraft zu berücksichtigen, die die beiden Unbekannten im Gleichungssystem der fachspezifischen Auswirkungen stellen. Wie stark sich die Effekte also auswirken hängt damit im Wesentlichen von vier Faktoren ab: In welchem Maße erfordert das jeweilige Fach ein methodisches Umdenken? In welchem Rahmen setzt die Lehrkraft die entsprechenden Methoden in ihrem Unterricht um? Wie stark wird die Klassengemeinschaft in diese Methoden mit einbezogen? Wie stark bringt der sehgeschädigte Schüler seinen Output in den Fachunterricht ein? Diese Determinanten sind ausschlaggebend dafür, inwiefern jeder einzelne Schüler von den Ansätzen profitieren kann, die ihrem sehgeschädigten 80
Mitschüler einerseits eine aktive Teilnahme am Unterricht ermöglichen, und ihnen, den sehenden Schülern, eine in methodischer Hinsicht vielfältigere Didaktik gewähren. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Erfahrungen aus dem Integrationsbereich darauf hindeuten, dass im Zuge der im Rahmen einer Integration angestrebten Methodenvarianz und des sich dadurch ergebenden verringert
und
ein
Einbezug
der Klasse, die Lehrer-Schüler-Distanz
kontinuierlicherer
und
reibungsfreierer
Lernprozess
eingeleitet wird (vgl. Meinhardt-Nanz [2008]).
8.3.2 Sprachunterricht Die zu bewältigenden Herausforderungen sind im Sprachunterricht, im Vergleich zu anderen, optisch orientierteren Fächern, relativ gering. Zu einer umfassenden Teilnahme am Sprachunterricht sind in der Hauptsache die Schriftlichkeit und die Textadaption zu gewährleisten. Der abbildende Bereich kommt nur marginal und größtenteils in Form von Impulsen zu weiterführenden Thematiken hinzu (zu den Effekten der Kompensation des abbildenden Bereichs siehe auch Kap. 8.2.2.4 bzw. 8.2.3.4.). Der methodisch-didaktische Bereich wird ohnedies nur insofern verändert, als dass Sprachspiele, wie z.B. Tafelfußball oder Puzzle, modifiziert werden. Generell wird in Klassen mit sehgeschädigten Schülern eine leicht verstärkte Mündlichkeit beobachtet, was vor dem Hintergrund der gängigen Klassengrößen und der angestrebten kommunikativen Kompetenz des einzelnen Schülers ein Vorteil sein kann (vgl. Meinhardt-Nanz; Hattenhauer; Vitt [2008]). Dieses Phänomen ist nicht nur in den Fremdsprachen erwünscht, sondern nimmt auch beim Deutschunterricht einen hohen Stellenwert ein. Die Erweiterung und Vertiefung der sprachlichen Kompetenz der Schülerinnen und Schüler im mündlichen und schriftlichen Bereich ist eine der
Hauptaufgaben
des
Deutschunterrichts.
Zum Kernbereich
des
Deutschunterrichts gehört die kommunikative Kompetenz. Die Schülerinnen und Schüler erlangen Sicherheit im Verstehen auch komplexer sprachlicher Äußerungen. Sie können bewusst und konzentriert zuhören. Sie analysieren, durchschauen, reflektieren Kommunikationssituationen und sind in der Lage angemessen zu reagieren. Damit bildet sich ein sicheres Urteilsvermögen aus, das auch der schriftlichen Kommunikation zugute kommt (vgl. Bildungsplan Gymnasium Baden-Württemberg [2004], 77).
81
Die von Clymer (1961) angestellten Untersuchungen von der Relation zwischen Sprache und Intelligenz lassen vermuten, dass durch eine verstärkte Betonung der abstrakten sprachlichen Äußerungen im Zuge der Umsetzung von optischen Eindrücken in Worte Mitkopplungseffekte hinsichtlich der Fähigkeit des allgemeinen, abstrakten Denkvermögens initiiert werden (vgl. Clymer [1961]). Des Weiteren ist ein verstärkter, weil unabdingbarer Umgang mit Medien wie elektronischen Wörterbüchern zu beobachten, die durch den sehbehinderten automatisch
Schüler
integriert
aktiv
in
werden.
den Dies
Klassenunterricht stellt
eine
getragen
weitere
und
erwünschte
fächerübergreifende Verzahnung dar, wie der Bildungsplan zu den Zielen des Informatikunterrichts näher ausführt: Die von den Schülerinnen und Schülern zunehmend erworbene Sicherheit im Umgang mit den entsprechenden Geräten und Programmen befähigt sie, Informations- und Kommunikationstechnologie selbstständig im Fachunterricht als Medium des Arbeitens und Lernens einzusetzen (vgl. Bildungsplan Gymnasium Baden-Württemberg [2004], 311).
8.3.3 Naturwissenschaftlicher Unterricht Abgesehen von den fachübergreifenden Herausforderungen der generellen Schriftlichkeit, stellt sich hier eine weitere technische Hürde: das Erlernen und Darstellen der naturwissenschaftlichen Schriftsprachen mit ihren Sonderzeichen, dies insbesondere im Mathematik-, Chemie- und Physikunterricht. In didaktischer Hinsicht greifen in diesen Fächern die Effekte, die sich aus den Lösungsansätzen zur Kompensation des abbildenden Bereichs ergeben. Im Mathematikunterricht erfordern folgende Komplexe erweiterte Darreichungsformen bzw. bedingen eine veränderte Interaktion von Lehrendem und Lernenden: •
die Darstellung von Funktionsgrafen und geometrischen Formen,
•
die Erfassung von Funktionsgrafen und geometrischen Formen,
•
das Ausbilden von Relationen von geometrischen Figuren zueinander,
•
das Generieren von grafischen Bezügen bei der Kombination verschiedener Abbildungen oder Funktionsgrafen (z.B. beim Schnitt mehrerer Figuren oder Entwickeln von grafisch dargestellten Funktionen etc).
82
Diese Problemstellungen, die zwangsläufig eine andere, eine adaptierte Darstellung bzw. eine angemessene Darreichungsform erfordern, kennen mithin nur eine Lösung: die Reduktion der grafischen Elemente auf wesentliche Aspekte
zur
Erlangung
einer
adäquaten
Darstellungsform
für
den
Sehbehinderten (vgl. Kap8.2.2.4 bzw. 8.2.3.4). Der Einsatz von möglichst vielen taktilen Modellen, sowie ein konsequent verfolgtes Verdeutlichen von entsprechenden Sachverhalten anhand von einfachen, klar strukturierten räumlichen oder flächigen Figuren, bietet gleichsam
für
die
gesamte
Klasse
eine
methodische
Vielfalt
im
Zusammenwirken auch mit dem erweiterten Repertoire der zum Einsatz gelangenden Medien. Die Erfahrungen zeigen, dass die Schüler insbesondere im Bereich der Geometrie von einer hierdurch generierten und verstärkten tatsächlichen Dreidimensionalität profitieren, die ansonsten in den meisten Fällen einer Zweidimensionalität an der Tafel weichen muss (vgl. MeinhardtNanz [2008]). Eine auf diese Art vereinfachte Form der räumlichen Darstellung bewirkt ein deutlich klareres Raumbezugsverständnis bei den Lernenden und hat sich als wirksame Hilfe für die sehenden Schüler bei zeichnerischen Darstellungsformen erwiesen (vgl. www.isar-projekt.de [23.02.2008]). Da sich nicht in allen Fällen adäquate taktile Modelle finden lassen, bzw. eine Vermittlung eines grafischen Elements über Sprache manchmal, insbesondere bei einfachen Sachverhalten, schneller und praktikabler sein kann, findet häufig ein hohes Maß einer deskriptiven Sprache statt, die dem Sehgeschädigten ein bildhaftes und seinen sehenden Kameraden ein erweitertes Verständnis von grafischen Sachverhalten sowie eine generelle Erweiterung von Sprachkompetenzen gestattet (vgl. Hattenhauer [2008]). Geschieht das Umsetzen von grafischen Inhalten in Sprache durch die Schüler, so werden demnach folgende Kompetenzen erweitert und gefestigt: •
das Strukturieren von komplexen Sachverhalten, Relationen und Inhalten,
•
die sprachliche Ausdrucksweise,
•
das Kommunizieren abstrakter Sachverhalte (vgl. Ziehmann [2008]).
In dieser Hinsicht kann ein vertieftes, weil multimodales, Verständnis bei den am Prozess Beteiligten erreicht werden, was im Bildungsplan 2004 als eine der übergeordneten Kompetenzen auch klar erwünscht ist. Die Schüler sollen hiernach in der Lage sein: 83
[…] mathematische Sachverhalte mit Hilfe von Sprache, Bildern und Symbolen
beschreiben
und
veranschaulichen,
sowie
Lern-
und
Arbeitsergebnisse verständlich und übersichtlich in schriftlicher und mündlicher Form präsentieren zu können (vgl. Bildungsplan BadenWürttemberg [2004], 92).
Der Physik-, Chemie- und Biologieunterricht erfordert zwar einen geringeren Aufwand hinsichtlich der Aufbereitung von komplexen Funktionsgrafen, Figuren und Körpern, er ist jedoch mit einer aktiveren Prozesshaftigkeit bei Versuchen behaftet
als
der
Mathematikunterricht,
von
dem
er
aufgrund
ihrer
Gegenständlichkeit aber gleichzeitig auch stark profitiert. Der sehgeschädigte Schüler sollte die Möglichkeit bekommen, an dieser Prozessualität vollwertig teilzunehmen, sei es in Arbeitsgruppen oder während eines Lehrerexperiments. In Bezug auf Letztere ist es unerlässlich, dem Schüler entsprechende Aufbauten, Versuchsanordnungen, Materialien und Apparate taktil und akustisch erfahren zu lassen, bzw. zu erläutern. Es bietet sich an, den sehgeschädigten Schüler während der einführenden Erläuterungen zum Experiment an den Experimentiertisch zu holen und ihm parallel zu den Erklärungen die entsprechenden Dinge, sowie ihre Funktion und ihr Verhalten im Prozess zu beschreiben, wobei etwaige optische Effekte automatisch in die Erklärung mit einfließen werden. Wenn diese aus didaktischen Gründen der gesamten Klasse vorerst nicht mitgeteilt werden sollen, so hat es sich durchgesetzt, diese entweder dem Schüler so im Vorfeld zu erklären, dass seine Klassenkameraden es nicht hören können, oder diese unmittelbar nach dem Experiment von der Klasse beschreiben zu lassen. Eine nachträgliche Beschreibung durch die Klasse kann wiederum dafür dienlich sein, subtil eine Verständnisüberprüfung durchzuführen. Es ist ebenfalls möglich, bei nicht allzu komplizierten Versuchsaufbauten mit Materialien, die dem Sehgeschädigten bekannt sind, eine entsprechende Anordnung durch die Klasse beschreiben zu lassen, was nicht nur ein erweitertes Verständnis durch die
aktive
Beschreibung, sondern auch eine exakte Benennung und Beschreibung der Ingredienzien bedingen kann und sich somit wiederum positiv auf sprachliche Kompetenzen auswirkt (vgl. Vitt [2008]). Bei ausreichender Vorlaufzeit können über den Betreuungslehrer auch einige adaptierte Messgeräte bezogen werden, die der sehgeschädigte Schüler beispielsweise bei Gruppenarbeiten 84
zum Einsatz bringen kann. Beim Mikroskopieren kann bislang leider nur in wenigen Fällen eine entsprechend adaptierte Vergrößerung in taktiler Form zur Verfügung gestellt werden. Hier kann eine Darstellung auf Relieffolie, ein makroskopisches Modell, oder notfalls ein sich ähnelnder Gegenstand, oder eine verbale Beschreibung des optischen Eindrucks durch die Lehrkraft oder die Kameraden aus der Arbeitsgruppe erfolgen. Für eine adäquate Integration in
den
Gruppenprozess
und
zur
Verständnisüberprüfung
kann
der
sehgeschädigte Schüler beispielsweise die Ergebnisse für alle aufschreiben oder sie zur Ergebnissicherung präsentieren. Dies ist eine sehr probate Form der Integration in einen Prozess, von dem der integrierte Schüler auf den ersten Blick ausgeschlossen ist (vgl. Meinhardt-Nanz [2008]). Die Aufgliederung des Prozesses in einen rein optischen Teil zur Datenerfassung und einen Teil der Ergebnissicherung und der in Bezug-Setzung geben dem integrierten Schüler nicht nur eine aktive, partizipierende Rolle zurück, sondern fördern zu dem auch angestrebte, hoch kommunikative Prozesse und Teamgeist, was sich beispielsweise im Biologieunterricht zeigen kann und sich auch zeigen soll: Dieser Lernprozess ist häufig auf die Mitschülerin, den Mitschüler beziehungsweise die Kleingruppe angewiesen, sodass auch soziale Kompetenzen wie Kommunikation und Teamfähigkeit gefördert werden. Der Biologieunterricht eignet sich damit hervorragend für die Vermittlung von übergreifenden instrumentellen und personalen Kompetenzen (vgl. Bildungsplan Gymnasium Baden-Württemberg 2004], 203). Die weitgehend optische Absenz des Sehgeschädigten kann somit auch als eine
„Kontrollinstanz“
fungieren,
denn
dieser
kann
nur
Sachverhalte
übernehmen bzw. präsentieren, die von seinen Mitschülern einwandfrei kommuniziert und daher verstanden wurden. Anders formuliert könnte man sagen, dass der sehgeschädigte Schüler durch die Tatsache, dass ihm optische Eindrücke nur begrenzt oder überhaupt nicht zur Verfügung stehen, als „Katalysator“ für ein prozesshaftes Denken fungiert, auf welches er zur Erlangung eines Gesamtverständnisses angewiesen ist. Auf diese Weise können
wiederum
positive
Rückkopplungseffekte
in
die
Arbeitsgruppe
zurückgegeben werden (vgl. Hattenhauer [2008]). Auch der Physikunterricht soll in Unterrichtsformen durchgeführt werden, die ähnliche Kompetenzen fördern:
85
Der Physikunterricht bietet vielfältige Möglichkeiten, die sprachliche Bildung der Schülerinnen und Schüler zu fördern, da neben mathematischen Formulierungen auch das Sprechen, das Schreiben und das Argumentieren eine wichtige Rolle spielen. Handlungsorientiertes und entdeckendes Lernen und Arbeiten in Teams – auch im Physikpraktikum – sind tragende Säulen des Physikunterrichts. Diese Handlungsorientierung ermöglicht einen differenzierten Unterricht, sodass jede Schülerin und jeder Schüler eine Chance hat, auf der eigenen Stufe des Könnens zu arbeiten (vgl. Bildungsplan Gymnasium BaWü [2004], 181).
8.3.4 Sportunterricht Der Sportunterricht stellt sowohl den integrierten Schüler, als auch die Lehrkraft vor besondere Herausforderungen. Ein generelles Problem stellt sich durch die Tatsache, dass der Lokomotionsraum in der Sporthalle, wie auch in anderen großen Räumen, eingeschränkt ist. Generell kommt dieser bei blinden Schülern stärker zum Tragen als bei sehbehinderten. Obwohl auch hier keine allgemein gültige Relation zwischen verbleibendem Visus und Lokomotionsraum gelten kann, so sind doch folgende Faktoren für die räumliche Orientierung, die physische Koordination und die Affinität zu bestimmten Sportarten determinierend: •
der Zeitpunkt des ersten Auftretens der Sehschädigung,
•
die Art der Sehschädigung ,
•
die Schwere der Sehschädigung,
•
der Typus der Sehschädigung (angeboren vs. erworben) (vgl. www.isarprojekt.de [12.05.2008]).
Während der Sehbehinderte, je nach Grad der verbleibenden Sehkraft und je nach Gesichtsfeld, bei entsprechender Rücksichtnahme seiner Klassenkameraden durchaus noch an sportlichen Betätigungen mit schnellen Bewegungsabfolgen teilnehmen kann, gerät der blinde Schüler hier oftmals an seine Grenzen. Prinzipiell verfügen beide Gruppen jedoch, in Abhängigkeit von den
eingesetzten
und
umgesetzten
Copingstrategien,
über
enorme
Kompensationsfähigkeiten durch sensible und hoch vernetzte akustische, taktile, sensomotorische und/oder auch optische Adaptionen. Diese Fähigkeiten schwanken jedoch extrem stark mit den psychomotorischen Fähigkeiten des jeweiligen Schülers und müssen vom Sportlehrer und dem Betreuungslehrer 86
mittel- und langfristig ausgelotet werden (vgl. Meinhardt-Nanz; Hattenhauer [2008]). Viele gemeinschaftliche Ziele können auch durch Improvisation erreicht werden, so dass auch der Sehgeschädigte an den meisten Aktivitäten im Sportunterricht teilnehmen kann. An dieser Stelle seien z.B. Leichtathletik oder Schwimmen genannt. Zusätzlich müssen nicht alle schnellen Sportarten ein Problem sein. Sie können mit dem sehbehinderten bzw. blinden Schüler dann ausprobiert werden, wenn entweder das Sportgerät und/oder die Teilnehmer eine Möglichkeit
zur
optischen
oder
akustischen
Orientierung
geben,
z.B.
Rollschuhfahren, Ballspiele mit Klingelbällen bzw. kontrastreichen, farbigen Bällen, etc. Alle Sportarten, die keine große Schnelligkeit oder einen großen Aktionsraum als Grundvoraussetzung haben, sind hingegen relativ problemlos durchführbar. Hierzu zählen z.B. Gymnastik, Geräteturnen, Zirkeltraining, Klettern etc. Auch Sportarten, die ein räumliches Sehen als Voraussetzung haben, können vom Sehbehinderten, selbst wenn er per se nicht mehr über solche optischen Kompetenzen verfügt, zum Teil erlernt werden, da dies bis zu einem gewissen Grade in Form von kompensatorischen Maßnahmen erlernt und trainiert werden kann (vgl. www.isar-projekt.de [14.04.2008]). Bei der Frage, welche Sportarten bei welchem Visus in welcher Intensität betrieben werden können, kann keine allgemein gültige Aussage getroffen werden, es sind
hier
die
Experimentierfreude,
die
Improvisation
und
auch
die
Rücksichtnahme von Lehrkräften und Mitschülern gefragt. Von großer Bedeutung ist es jedenfalls, dem integrierten Schüler auch im Sportunterricht so oft wie möglich die Gelegenheit zu geben, sich aktiv am Klassengeschehen zu beteiligen und ihm möglichst dieselben sportlichen Aktivitäten zuzuweisen wie seinen Klassenkameraden. Dies fördert zum Einen die Integration des Schülers und sein Zugehörigkeitsgefühl innerhalb der Klasse und zum Anderen gibt es ihm die Möglichkeit, sich mit Gleichaltrigen in bestimmten Bereichen physisch zu messen, was eine enorme Bedeutung für die Ich-Kompetenz und das Selbstbewusstsein des Schülers beinhaltet. Sollte eine Vollintegration im Sportunterricht temporär, aus Gründen des Lehrplans oder der Didaktik, fehlschlagen, bzw. technisch nicht möglich gemacht werden können, so kann auch auf Alternativprogramme in Kooperation mit anderen, auch außerschulischen Sporteinrichtungen, wie z.B. ein nahe gelegenes Fitnessstudio oder eine entsprechende Tätigkeit in Kooperation mit 87
der Assistenzkraft, zurückgegriffen werden (vgl. Hattenhauer; Meinhardt-Nanz [2008]). Entsprechender Unterricht im Klassenverband entspricht jedoch in jedem Fall eher dem Leitgedanken einer Integration und wird daher immer favorisiert. Schon im 19. Jahrhundert wird auf die zum Teil vorhandenen eklatanten Retardierungen sehgeschädigter Schüler in den Bewegungsfertigkeiten hingewiesen und die besondere Bedeutung des Sports zur Linderung dieser durch die Sehbeeinträchtigung bedingten Defizite betont (vgl. Krug [2001], 22). Durch diese Leistungen erfolgt, selbst wenn nicht genau die selben Ergebnisse erbracht werden können wie bei den sehenden Mitschülern, eine Bestärkung der persönlichen psychischen Strukturen und eine Verbesserung
der
Bewegungsfertigkeit. Hingegen wird eine Ausgrenzung, z.B. durch generell andere Unterrichtsinhalte, viel eher als eine defizitäre Selbstwahrnehmung empfunden werden als eine nicht ganz adäquate Leistung innerhalb der Gruppe. Wenn aus Gründen mancher Lehrplaninhalte der Schüler doch während einer Zeit auf andere Aktivitäten ausweichen muss, so sollte man Dinge wählen, die ihm die Möglichkeit zur persönlichen Leistungsbefriedigung und des vergleichenden Leistungsmessens geben können. Hier sollten auch persönliche Präferenzen berücksichtigt werden. Generell gilt beim Sportunterricht, den Blinden bzw. Sehbehinderten selbstverständlich im Rahmen allen Sicherheitsbewusstseins und vor dem Hintergrund aller angestrebten positiven sportlichen und lokomotorischen Erfahrungen tendenziell eher zu über- als zu unterfordern. Dies wird seinen Leistungswillen extrem steigern und sein Selbstbewusstsein hinsichtlich seiner physischen Leistungsfähigkeit enorm aufbauen (vgl. Fischer [1999]). Abgesehen von den positiven körperlichen und geistigen Effekten, die sich dem sehgeschädigten Schüler aus dem Sportunterricht zusammen mit seinen Klassenkameraden eröffnen, können in diesem Rahmen auch Werte wie Rücksichtnahme auf Schwächere oder die Anerkennung von gleichwertigen, nicht gleichartigen Leistungen vermittelt werden. Die sehenden Schüler lernen hierdurch sehr subtil, sozialen Ausgrenzungen aktiv entgegenzutreten (vgl. Bildungsplan Gymnasium Baden-Württemberg [2004], 300-302). Die Erfahrungen im integrativen Sportunterricht zeigen, dass sich sehende Mitschüler oftmals sehr beeindruckt über die physische Leistungsfähigkeit und 88
die
kompensatorischen
Maßnahmen
im
Lokomotionsraum
des
Seh-
geschädigten zeigen und ihren Klassenkameraden gerne in die Aktivitäten mit einbeziehen. Der Sportlehrer kann diesen Effekt nutzen, um der gesamten Klasse Kompetenzen zu vermitteln, die bei sportlich gut ausgebildeten Sehgeschädigten
in
der
Regel
sehr
gut
ausgeprägt
sind,
nämlich
Körperbeherrschung und Körpergefühl. Diese Eigenschaften geraten nicht nur bei Kampfsportarten, sondern auch beim Geräteturnen, Klettern oder Bodenturnen zum tatsächlichen Vorteil (vgl. www.schloss-schule-ilvesheim.de [05.04.2008]). Hingegen wird der Sehgeschädigte zur aktiven und progressiven Bewegung ermuntert und kann sich neuen sportlichen Alternativen in seiner Freizeit zusammen mit sehenden Mitmenschen öffnen. Oftmals entstehen hierbei hervorragende sportliche Leistungen und die Neuerschließung von Sportarten für Sehgeschädigte (vgl. Fischer [1999]). Während des Unterrichts ist es von größter Bedeutung, den integrierten Schüler, trotz einereventuell anderen Aufgabenstellung als gleichwertigen und gleichberechtigten Sportpartner anzusehen, von dem man ebenso wie von allen anderen eine Leistung erwartet. Die Bewertung dieser sportlichen Leistungen sollte mit dem Betreuungslehrer besprochen werden, der Hilfestellung bei der Bewertung und den gesetzten Leistungsmaßstäben geben kann.
8.3.5 Gemeinschaftskunde- und Geschichtsunterricht Da der Unterricht in diesen Bereichen primär auf Schriftlichkeit, Verständnis und In-Bezug-Setzung von Ereignissen und den dadurch evozierten Effekten basiert, stellen sich zunächst keine besonderen Herausforderungen für den sehgeschädigten Schüler und die Lehrkraft. Abgesehen von der Tatsache, dass der Schüler selbstverständlich über eine funktionierende Schriftlichkeit verfügen und somit auch Zugriff auf die spezifische Schulbuchliteratur haben muss, stellen sich des Öfteren temporär begrenzte Situationen ein, die den abbildenden Bereich mit einbeziehen – z.B. bei Einstiegen mit Fotoserien etc – und die damit beim Sehbehinderten die Bild erfassenden und beim Blinden die Bild generierenden Kompetenzen fordern und fördern. Diesen Situationen ist mit den allgemeinen adaptiven Maßnahmen des abbildenden Bereichs (vgl. Kap. 8.2.2.4 und 8.2.3.4) zu begegnen und bietet, für den Fall eines Übertrags dieser Maßnahmen auf die Klasse, die Möglichkeit der Ausbildung von kommunikativen und strukturierenden Kompetenzen. Zudem resultieren aus der transmodalen Auseinandersetzung mit Grafiken, eine Intensivierung der 89
Eindrücke und oftmals eine verstärkte Wirkung der Inhalte (vgl. www.isarprojekt.de
[19.03.2008]),
was
sich
mit
den
Leitgedanken
zu
den
Bildungsstandards des Fachs deckt: Der Geschichtsunterricht regt zu selbstständigem Denken und Handeln an. Er ist aber nicht nur Arbeits- und Denkunterricht, sondern ermöglicht auch emotionale Zugänge (vgl. Bildungsplan Gymnasium Baden-Württemberg [2004], 216). Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass insbesondere blinde Schüler nicht selten Defizite in der Verfügbarkeit von Konzepten alltäglicher Dinge aufweisen (vgl. Weinläder [1998]; Walthes [1998]). Dies betrifft zumeist Gegenstände oder Objekte, die der taktilen Perzeption in erster Konsequenz unzugänglich sind, z.B. ein Stadion oder ein gotischer Kirchturm, mithin also Dinge, die mit dem Auge problemlos erfassbar sind, die sich jedoch den anderen Sinnen aufgrund ihrer Qualität sehr viel schwerer eröffnen. In diesem Fall muss mit Modellen und Nachbildungen gearbeitet werden, von denen der Schüler später durch Extrapolation ein weitgehend realistisches Konzept erschließen kann (vgl. Kap. 8.1). Gegenständliche Modelle sind also auch in diesem Unterrichtsrahmen zu bevorzugen, was auch bei den sehenden Schülern eine multimodale Perzeption und somit ein tiefgründigeres Lernen einleitet (vgl. Kap. 8.2.1; Ziehmann [2008]).10
8.3.6 Religions- und Ethikunterricht In methodisch-didaktischer Hinsicht, ebenso wie bezüglich der erzielten Effekte für den gesamten Unterricht, orientieren sich die Chancen und Herausforderungen in Religion und Ethik an den Fächern, die primär auf abstraktem Denkvermögen und Schriftlichkeit basieren. Eventuelle positive Effekte lassen sich im Bereich der Adaption bzw. Aufbereitung von grafischen Inhalten durch die Mitschüler des Sehgeschädigten erzielen. Fernerhin ergeben sich oftmals verstärkte Schwerpunktsetzungen auf die kommunikativen Kompetenzen, die in Integrativklassen meist eine höhere Sensibilität gewinnen (vgl. Vitt [2008]). Hingegen existiert eine Tendenz, den sehgeschädigten Schüler im Rahmen einiger Themenkomplexe, z.B. den sozialethischen Leitfragen, zu intensiv oder 10
Die Aufgabe des Anfüllens und Ergänzens des Konzeptrepertoires beim sehgeschädigten Schüler besitzt einen fachübergreifenden, einen makropädagogischen Charakter, dem höchste Priorität eingeräumt werden muss. Die meisten sehgeschädigtenspezifischen Techniken und Unterrichtsmethoden zielen hierauf ab und verfolgen die Absicht, dem sehbehinderten Schüler exaktere grafische Eindrücke und dem Blinden generell „Bilder“ der gegenständlichen Welt zu vermitteln, die ihm ein Zurechtfinden in der Umwelt und eine erweiterte Kommunikation ermöglichen.
90
exemplarisch als unmittelbar Betroffenen einzubinden. Dies ist eine Tendenz, die zu psychischen Konflikten seitens des Integrierten führen kann und daher mit sehr viel Sensibilität angegangen werden sollte. Auch kann der Integrationsprozess beeinflusst werden. Eine genaue Kenntnis der Sozialstruktur in der Klassengemeinschaft sowie der psychischen Verfasstheit des integrierten Schülers sind daher Grundvoraussetzung, möchte man eine entsprechende
Unterrichtseinheit
gestalten.
Optimalerweise
ist
das
sehgeschädigte Kind im Vorfeld in den Planungsprozess mit einzubeziehen (vgl. Müller-Friese [1998]). Trotzdem sollte auch hier das Thema Sozialität und Behinderung nicht tabuisiert werden. Ein angemessener Umgang mit der Sehschädigung kann auch in subtiler Form manchen avisierten Leitgedanken einen reellen Bezug geben, die primär auf folgenden Kompetenzerwerb hinleiten: 1. Die Ausbildung einer Personalen Kompetenz als Fähigkeit, sich selbst, andere Personen und Situationen einfühlsam wahrzunehmen, persönliche Entscheidungen zu reflektieren und Vorhaben zu klären. 2. Die Vertiefung der kommunikativen Kompetenz als Fähigkeit, eigene Erfahrungen und Vorstellungen verständlich zu machen, anderen zuzuhören, Rückmeldungen aufzunehmen, unterschiedliche Sichtweisen aufeinander zu beziehen und gemeinsam nach Handlungsmöglichkeiten zu suchen. 3. Die aktive Umsetzung der Sozialen Kompetenz als Fähigkeit, mit anderen rücksichtsvoll
und
verantwortungsbewusst
umzugehen,
für
andere,
insbesondere für Schwache einzutreten, Konfliktlösungen zu suchen, gemeinsame Vorhaben zu entwickeln, durchzuführen und zu beurteilen (vgl. Bildungsplan Baden-Württemberg [2004], 25).
8.3.7 Geographieunterricht Die Geographie als eine Raumwissenschaft stellt mit ihrer starken Bildhaftigkeit und ihren großräumigen Formen- und Landschaftsbezügen sicherlich eine der größten Herausforderungen für den sehgeschädigten Schüler im Unterrichtsalltag dar (vgl. www.isar-projekt.de [03.04.2008]). Hier fließen alle gesammelten grafischen Kompetenzen des sehgeschädigten Schülers zusammen, wobei natürlich wiederum der blinde Schüler unter Umständen stärker betroffen ist, als der sehbehinderte. Der Schüler profitiert im Geographieunterricht von sämtlichen erworbenen grafischen Konzepten, die es ihm ermöglichen können, 91
Prozesse bildhaft auf ein Phänomen zu beziehen bzw. Formen und Phänomene in die prozessualen Abläufe auf der Erde einzugliedern. Abgesehen von den prozessualen Wirkungsgefügen und Rückkopplungseffekten, die in der Theorie problemlos erfassbar sind, existiert eine starke abbildende Komponente, die in den aktuellen Lehrbüchern zudem auch immer stärker betont wird. Es wird hier ein Aspekt der Geographie aufgenommen, nämlich derjenige einer Derivation von Phänomenen aus grafisch dargestellten und ungesetzten Prozessen aus den verschiedenen Teilbereichen der Geographie. Das zum Einsatz kommende Kartenmaterial bezieht zusätzlich Großformen und Landschaften in diese Prozesse mit ein und lässt diese auf die verschiedenen Landschaftselemente zurückwirken. Obgleich sich hochgradig sehbehinderte oder blinde Schüler dieser Konzepte nicht unmittelbar bedienen können, kann dennoch mit einem hohen kognitiven Aufwand seitens des Sehgeschädigten geographisch gearbeitet werden, wenn entsprechende Konzepte aus anderen Quellen bezogen werden, z.B. aus Texten, Modellen, Informationssendungen im Radio und Fernsehen und natürlich, wo immer es möglich ist, aus taktilen Quellen wie Reliefkarten, taktilen Diagrammen oder Reliefgloben (vgl. www.isar-projekt.de [05.04.2008]). Nicht selten wird im Rahmen von Integrativmaßnahmen beobachtet, dass durch diese multimediale und multimodale Herangehensweise prinzipiell verschiedene Lerntypen angesprochen und befriedigt werden. Die Geographie erhebt sich damit aus einer sehr stark optischen Vermittlung ihrer Inhalte, die zum Teil einem prozesshaften Verständnis allein nicht gerecht wird. Die dadurch neu eröffneten Zugangsmöglichkeiten bergen eine erweiterte Lernzugängigkeit (vgl. www.isar-projekt.de [07.04.2008]). Verstärkt wird dieser Effekt wiederum durch einen Miteinbezug der Klasse in die Adaption des Materials durch Bildbeschreibungen oder ergänzende Erläuterungen. Oft zeigte sich
der
Effekt,
dass
auch
sehende
Schüler
nach
einer
verbalen
Kartenbeschreibung Teile von Karten oder sogar ganze Kartenblätter selbst nach einiger Zeit noch so weit internalisiert hatten, dass sie viele Gegebenheiten detailgetreu auswendig wiedergeben und damit auch im Gelände hervorragende Raumbezüge herstellen konnten (vgl. Ziehmann [2008]).
8.3.8 Musikunterricht Die Ausrichtung des Faches Musik an den allgemeinen Schulen bedingt, dass der sehgeschädigte Schüler hier in der Regel von den Vorteilen profitieren kann, die ihm sein ausgeprägtes Gehör und die oft vorhandene Neigung zur 92
Musikalität mitgeben. Insbesondere für blinde Schüler spielt Musik oftmals eine große Rolle und nicht selten genießen sie eine musikalische Ausbildung in irgendeiner Form. Oftmals ist dadurch auch ein „absolutes Gehör“ ausgebildet, was beim gemeinsamen Musizieren mit der Klasse gewinnbringend eingesetzt werden kann. Dies umso mehr, als dass beim sehgeschädigten Schüler hierdurch
schon
Anlagen
geschaffen
sind,
die
die
zu
erlangenden
Kompetenzen im Musikunterricht begünstigen. Dieser positive Effekt kann genutzt werden, um eine Motivation für die gesamte Klasse zu schaffen, die gemeinsam zu diesem Ziel geführt werden soll: Das bewusst hörende Erfassen und Verstehen eines Musikstückes erfordert Konzentration und fördert das musikalische Vorstellungsvermögen sowie die Ausbildung des Hörgedächtnisses. Anhand von konkreten Musikstücken lernen die Schülerinnen und Schüler, die grundlegenden musikalischen Gestaltungsmittel Klangfarbe)
(zum
bewusst
Beispiel
Tonstärke,
wahrzunehmen
und
ihre
Tondauer,
Tonhöhe,
Wahrnehmung
auf
unterschiedliche Weise, wie zum Beispiel durch Bewegung, bildnerisches Gestalten oder durch die Beantwortung von Fragen, zu äußern (vgl. Bildungsplan Gymnasium BaWü [2004], 271). Da bei Sehgeschädigten das parallele Notenlesen und Musizieren nicht stattfinden kann und die Notenschrift an sich nur noch in sehr eingeschränktem Rahmen Verbreitung kennt, werden Melodien beim Musikunterricht mit Sehgeschädigten meist auditiv vermittelt und seitens des Sehgeschädigten sehr rasch erlernt und umgesetzt. Der musiktheoretische Teil des Unterrichts muss im Optimalfall didaktisch verändert werden, insbesondere natürlich für den blinden Schüler, für den in aller Regel die Musiktheorie zu quasi 100% verbalisiert wird, auch außerhalb von Situationen, die ein paralleles Lesen und Musizieren erfordern. (vgl. www.integrationskinder.org [08.04.2008]). Sehbehinderte Schüler kommen hingegen in der Regel mit adäquaten Vergrößerungen und oder einem zeitlichen Zuschlag gut zu Recht. Für blinde Schüler existiert zwar eine Braille-Notenschrift, diese wird wegen ihrer Komplexität und ihres Umfangs jedoch selbst an Sonderschulen kaum noch unterrichtet und eingesetzt. In der integrativen Praxis ist man mittlerweile auch weitgehend von einer Adaption in diesem Bereich abgekommen, weil 93
•
nur eine vergleichsweise geringe Auswahl an adaptiertem Notenschriftmaterial existiert,11
•
das Erlernen der Notenschrift sehr aufwändig ist und selbst geübte Leser verhältnismäßig lange für eine entsprechende Lektüre benötigen und
•
die Notenschrift für den blinden Schüler in Braille zwar reproduzierbar, jedoch selbst unter Zuhilfenahme des Computers nicht in einer Form darstellbar ist, die sehende Lehrkräfte zu lesen in der Lage wären.
Aus diesem Grund ist man mit der Zeit dazu übergegangen, beim Erlernen eines Musikstücks in der Klasse dem Sehgeschädigten statt der schriftlichen Vorlage ein langsames zweites Vorspiel des entsprechenden Stücks oder der Passage auf einem Instrument anzubieten. In der Übungsphase werden zur Erleichterung oft auch die entsprechenden Töne oder Akkorde in das Stück gesprochen, um weitere anfängliche Unterstützung zu geben (vgl. www.isarprojekt.de [21.04.2008]). Für seine sehenden Kameraden, die zusätzlich mit Notenschrift arbeiten, hat dies wiederum eine multimodale Verknüpfung zur Folge, nämlich diejenige von optischem Zeichen und akustischem Reiz und gleichzeitig diejenige der dazugehörigen verbalen Bezeichnung. Auf diese Weise kann beim blinden Schüler auf Notenschrift verzichtet werden. Das Abprüfen entsprechender musiktheoretischer Inhalte muss als Konsequenz daraus gleichwohl in anderer Form erfolgen; es haben sich Projektarbeiten und mündliche, bzw. praktische Prüfungen als tragfähiges Mittel hierfür erwiesen (vgl. Meinhardt-Nanz [2008]).
8.3.9 Kunstunterricht Im Rahmen des Kunstunterrichts hängt eine Fortführung der herkömmlichen didaktischen Methoden beim sehgeschädigten Schüler unmittelbar vom verbleibenden Visus ab. Bei lediglich eingeschränktem Visus ist eine Partizipation ohne entsprechende Adaptivmaßnahmen kein Problem. Im Zuge der unmittelbaren Dependenz zwischen Visus und Bild müssen jedoch bei den zeichnerischen Äußerungen entsprechende Restriktionen hinsichtlich der Exaktheit der Konturen und der Farbgebung in Kauf genommen werden. Bei zu 11
In Deutschland verfügen die folgenden Einrichtungen und Institutionen zur Zeit noch über eine Auswahl von adaptierten Werken: Blindenschriftverlag und -druckerei „Pauline von Mallinckrodt“: http://www.pader-braille.de (21.04.2008). Deutsche Blinden-Studienanstalt e.V.: http://www.blista.de (21.04.2008). Deutsche Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig – DZB: http://www.dzb.de (21.04.2008). Verein zur Förderung der Blindenbildung gegr. 1876 e.V.: http://www.vzfb.de (21.04.2008)
94
niedrigem Visus hat es sich durchgesetzt, an einem Punkt, an dem es für alle Beteiligten Sinn macht, im praktischen Bereich generell zieldifferent zu unterrichten und auf Plastiken auszuweichen, die der Schüler wiederum mit Materialien bearbeitet, die eine Dreidimensionalität zulassen (z.B. Ton, Holz, Stein, Gips etc.) (vgl. Hattenhauer [2008]). Auch taktile Collagen und Arbeiten mit Draht und Metall sind kein Problem. Jener Punkt, an dem eine grundsätzliche methodische Veränderung in Erwägung gezogen werden sollte, ist entsprechend der Fähigkeiten des Schülers individuell abzuschätzen und etwaige Differenzen der Bewertung, die sich daraus ergeben, mit dem Betreuungslehrer zu besprechen. Als Leitlinie kann gelten, dass ein Wechsel des Unterrichtsmodus dann Sinn ergibt, wenn der sehgeschädigte Schüler, trotz vergrößerter Arbeitsvorlage entscheidende Konturen oder Effekte in der Bildvorlage nicht mehr zu erkennen vermag (vgl. Hattenhauer [2008]). Die Unterrichtseinheiten, die zieldifferent gegeben werden, können auch für eine Verzahnung der Themenkomplexe genutzt werden, beispielsweise beim darstellenden Zeichnen für die Sehenden und einer Erstellung einer identischen, dreidimensionalen Plastik aus z.B. Ton, mit spezifizierten Anforderungen für den hochgradig sehbehinderten, bzw. blinden Schüler. Auf diese
Weise
haben
kunsttheoretische
und
praktische
Ansätze
mehr
gemeinsame Schnittmengen und gewinnen dadurch für den Sehgeschädigten ebenfalls an Gestalt. Die Dreidimensionalität kann bei sich entsprechenden Themenbereichen gleichzeitig auch eine Möglichkeit für die Sehenden werden, einen anderen Blickwinkel auf eine Problemstellung zu erlangen, woraus neue Perspektiven und neue Problemlösungsstrategien entwickelt werden können, was auch der Bildungsplan durchaus einfordert und als übergeordnete Kompetenz als förderungswürdig ansieht: Durch
handlungsbetonte,
offene
und
gelenkte,
prozess-
und
projektorientierte Unterrichtsformen und Methoden werden emotionale, kreative, bildhaft- anschauliche, kognitive und kommunikative Fähigkeiten und Kenntnisse erworben. […] die Schüler lernen ausgehend von Erlebnis, Körpergefühl und Raumerfahrung zu gestalten und ihre Wahrnehmung von Wirklichkeit im zwei- und dreidimensionalen Bereich und in Verbindung mit der Zeit zu sensibilisieren und auszudrücken (vgl. Bildungsplan Gymnasium Baden-Württemberg [2004], 292).
95
Bei einer engen Verzahnung von theoretischen und praktischen Einheiten zwischen den beiden Unterrichtsmodi, müssen Klausuren auch nur noch in geringem Maße modifiziert werden, was eine adäquate Bewertung gewährleistet.
8.4 Zusammenfassung Das Grundprinzip pädagogischen Handelns in Integrationsklassen steht im Spannungsfeld zwischen Zielen der allgemeinen und der spezifischen Sehgeschädigtenpädagogik
und
gerät
somit
zu
einem
integrations-
pädagogischen Phänomen. Erklärtes und avisiertes Ziel ist die Ausbildung von Persönlichkeitsmerkmalen, die eine möglichst weitgehende Partizipation des Sehgeschädigten gestattet, und zwar unter Berücksichtigung seiner spezifischen Bedürfnisse, d.h. im Rahmen einer gewissen Toleranz in dem Bewusstsein eines wie auch immer gearteten „Andersseins“, dem sich die normalsichtigen Klassenkameraden stellen müssen. Eine so generierte Heterogenität der Integrationsklassen bietet vielfältige Chancen von individuellen Lern- und Handlungsangeboten, die allen Schülern zugute kommen. Die für den Integrativunterricht unabdingbaren spezifischen didaktischen Elemente können zwar in Art und Intensität mit der psychischen und physischen Konstitution des Sehgeschädigten schwanken, sind jedoch weitgehend auf den methodischen Komplex beschränkt. Sie zielen im
Wesentlichen
auf
eine
erweiterte
Handlungsorientierung
und
eine
multimodale und leicht decodierbare Anschaulichkeit ab, die möglichst häufig mit übergeordneten Kontexten verschmolzen und abgeglichen werden sollen. Die allgemeine und die Integrationspädagogik zeigen somit gemeinsame zentrale Schnittpunkte, die aus verschiedenen Argumentationslinien heraus deduziert werden, offensichtlich jedoch der Heterogenität von Lerntypen sehr viel
stärker
entsprechen,
als
eine
überwiegend
optisch
dominierte
Unterrichtsgestaltung. Der Unterrichtsalltag selbst sollte zwar stets Raum für die Spezifikationen des sehgeschädigten Schülers lassen, gleichzeitig ist die Behinderung jedoch nicht unablässig in den Fokus zu stellen, wenn es die Situation nicht erfordert oder die Klassengemeinschaft eine entsprechende Thematisierung sucht. Es ist generell für den Integrationsprozess immer hilfreicher, dem sehgeschädigten Schüler Kompetenzen zu vermitteln, die ihm bei der Erweiterung seiner Copingstrategien helfen, als eine dauerhafte Hilfestellung in der defizitären 96
Handlungsweise
anzubieten.
Unterrichtsalltag
stellen
Bei
sich
der
drei
Vermittlung zentrale
von
und
Inhalten
im
fachübergreifende
Problemstellungen für den integrierten Schüler, die unmittelbar aus der Sehschädigung resultieren und, im Gegensatz zu den psychologischpädagogischen Grundleitlinien, ein
aktives Eingreifen der Lehrkraft in die
Unterrichtsmethodik erfordern. Dies sind: •
der abbildende Bereich
•
die Schriftlichkeit und
•
die Begriffsbildung
Während die Schriftlichkeit den unproblematischer zu kompensierenden medialen Komplex darstellt - sie ist mit den modernen Lösungen der Informationstechnik bei Blinden und Sehbehinderten gleichermaßen zu einer quasi rein technischen Herausforderung geworden -, bereiten der abbildende Bereich und die Begriffsbildung, insbesondere bei Blindheit, weitaus größere Schwierigkeiten.
Hier
bildadaptierenden,
bzw.
greifen
neben
den
spezifischen
taktilen-bilddarstellenden
optischen-
Methoden,
die
in
Abhängigkeit des verbleibenden Visus modifiziert werden müssen, auch Techniken, die im Zuge der Perzeptionsforschung bei Sehschädigung entwickelt wurden. Es ist zu beachten, dass bei Sehbehinderung •
Tafelbilder so präsentiert werden, dass sie der sehbehinderte Schüler problemlos lesen kann. Hierzu gehört eine adäquate Sitzplatzwahl für den Schüler ebenso wie eine gut lesbare Schrift an der Tafel, eine klare Strukturierung des Tafelbilds und, im Optimalfall, eine vorab erfolgende Verfügbarkeit. Abschriften beim Nachbarn, eine zusätzliche Verbalisierung oder vergrößerte Kopien können hilfreich sein.
•
Textmaterial und Arbeitsblätter entsprechend adaptiert, d.h. vergrößert und kontrastiert
werden.
Der
Gebrauch
von
persönlich
präferierten
mechanischen, akustischen oder elektronischen Hilfsmitteln wird toleriert und unterstützt. Ein entsprechender Rückgriff auf optisch bereits adaptiertes Material aus den stetig wachsenden spezifischen Didaktikpools kann über den Betreuungslehrer getätigt werden.
97
•
trotz des reduzierten optischen Sinns eine für den Schüler wie für die Lehrkraft
gleichermaßen
gut
lesbare
und
effektive
Schriftlichkeit
gewährleistet ist. •
Grafiken und Abbildungen in Abhängigkeit des Visus des Schülers vergrößert, deutlich strukturiert, scharf kontrastiert und evtl., im Falle von komplexeren Darstellungen, auf mehrere Einzelgrafiken aufgeteilt werden. Vor dem Hintergrund der komplexen Adaptationen ist es sinnvoll, nach anderen,
evtl.
verfügbareren
Quellen
Ausschau
zu
halten,
Realbegegnungen zu forcieren bzw. einmal mehr die Frage nach der Sinnhaftigkeit oder der Überflüssigkeit einer Grafik zu stellen. •
Klausuren
unter
den
für
den
sehbehinderten
Schüler
optimalen
Bedingungen gestellt werden. Hinsichtlich der Schriftlichkeit sind in Bezug auf
Handschrift,
Bestimmung
evtl. größere
zum
Toleranzen
Nachteilsausgleich
bei
einzuräumen. Nach
der
Prüfungen
bei
können
Sehbehinderung zeitliche Zuschläge bis zu 50% gewährt werden, um den höheren
zeitlichen
Aufwand
beim
Strukturieren
und
Lesen
der
Aufgabenstellung auszugleichen. Die im Falle von Blindheit zu treffenden Maßnahmen hinsichtlich der Kompensation des abbildenden Bereichs und der Schriftlichkeit sind zwar ähnlich, unterscheiden sich jedoch natürlicherweise zu Gunsten einer erhöhten Taktilität im abbildenden Bereich. Mithin spielt es eine entscheidende Rolle, dass •
Tafelbilder im günstigsten Fall vorab in digitaler Form zur Verfügung gestellt werden, eher textuell als grafisch orientiert sind, generell parallel zur Anschrift eine Verbalisierung durch die Lehrkraft erfolgt, ergänzende Erläuterungen auch durch einen befreundeten Sitznachbarn erfolgen können. Grafische Inhalte werden entweder durch die Lehrkraft oder die Mitschüler
verbalisiert.
Komplexere
essentielle
oder
weiterführende
Darstellungen können als Folienzeichnung oder auf Schwellpapier haptisch dargestellt werden. •
Arbeitsvorlagen in einer nutzbaren Form, d.h. digital, akustisch oder in Punktschrift
vorliegen,
wobei
der
Betreuungslehrer
und/oder
die
überregionalen Blindenbildungszentren hierbei gleichsam als Bezugsquelle dienen können. 98
•
moderne
Arbeitsplatzausstattungen
mit
Computer,
Braillezeile,
Sprachausgabe, Scanner und Drucker sind mittlerweile Standard, sie ermöglichen eine
reibungsfreie
Textarbeit, sowie eine
direkte und
unmittelbare Kommunikation zwischen den beiden Schriftsystemen: der Braille- und der Schwarzschrift. Zeichnerische Äußerungen erfolgen über eine besondere Zeichenplatte auf Relieffolie, Toleranzen sind jedoch auch bei dieser Methode zu gewähren, da die Relieffolie nur ein gewisses Maß an technischer Exaktheit zulässt, •
Grafiken
und
Abbildungen
entweder
durch
die
Klassenkameraden
verbalisiert und somit der Eingang der Grafik über Sprache erfolgt, eine spezifische, zeitintensive Aufbereitung auf Schwellpapier bzw. Relieffolie durch den Regelschullehrer, die Assistenzkraft oder den Integrationslehrer erfolgt, oder dem Schüler durch eine Realbegegnung oder ein haptisches, dreidimensionales Modell zur Verfügung gestellt wird. Auch hierfür dienen die großen Blindenbildungsanstalten als Bezugsquellen. •
bei Klausuren auch für den blinden Schüler optimale Arbeitsbedingungen geschaffen werden. Je nach Präferenz und Aufgabentyp haben sich entweder
digitale
Vorlagen
oder
in
Punktschrift
ausgedruckte
Aufgabenstellungen bewährt. Auch der blinde Schüler erhält im Rahmen des Gesetzes zum Nachteilsausgleich bei Prüfungen zeitliche Zuschläge; diese können ebenfalls bis zu 50% betragen. Beim Sehbehinderten wie beim Blinden nimmt die Begriffsbildung einen hohen Stellenwert ein und kann nicht vollständig von der integrierenden Schule übernommen werden. Hier spielen das Elternhaus und die Frühförderung eine wichtige Rolle, wobei von der Lehrkraft in den Klassenunterricht getragene derartige Impulse dem Regelschulunterricht einen multimodaleren Akzent geben. All diese Maßnahmen, die darauf abzielen, die defizitären perzeptiven Bereiche des sehgeschädigten Schülers zu ergänzen, initiieren für den Sehgeschädigten Schüler eine spezifische, auf seine Bedürfnisse zugeschnittene Methodik. Diese Maßnahmen betreffen - sofern die Mitschüler nicht mit einbezogen werden ausschließlich den integrierten Schüler und die Lehrkraft. Positive didaktische und soziale Effekte erfahren eine Potenzierung bei einem Miteinbezug der Klassengemeinschaft. Die allgemeine Unterrichtsdidaktik wird zugunsten einer erhöhten Anschauung, weg von einer lediglich optischen, hin zu multimodalen 99
Impulsen geführt; diese Maßnahme betrifft die ganze Klassengemeinschaft. Als ein weiterer Faktor gerät schließlich der Output des Sehgeschädigten selbst, der
weniger
im
Rahmen
seiner
unmittelbaren
Teilnahme
am
Unterrichtsgeschehen, als vielmehr durch seine allgemeine Partizipation am Sozialleben in der Klasse entsprechende Impulse an die Gemeinschaft zurückgibt. Öffnet die Lehrkraft das spezifische Methodenrepertoire dem Zugriff der Klassengemeinschaft, so ergeben sich daraus erweiterte Kompetenzen bzw. Kompetenzbereiche
für die Schüler. Inwieweit die Klasse hiervon
profitieren kann, hängt mithin von folgenden Faktoren ab: •
Wie stark kann und möchte die Lehrkraft diese Methoden an die Klasse abgeben?
•
Wie hoch ist der entsprechende Bedarf im jeweiligen Fach?
•
Wie stark ist das Feedback Seitens des Sehgeschädigten?
Insbesondere der letzte Punkt hat große Auswirkungen auf die Motivation für diejenigen, die in die Umsetzung der Methoden miteinbezogen werden. Es existieren fernerhin viele fachspezifische Effekte, die natürlicherweise in den komplexen Integrationskontexten und vor dem Hintergrund verschiedener Klassensituationen eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung und Ausprägung erfahren können. Im Sprachunterricht ist eine leicht verstärkte Mündlichkeit zu beobachten, was zu einer Verbesserung der kommunikativen Kompetenzen führen kann. Hierbei scheint auch ein Zusammenhang zwischen abstrakten sprachlichen Äußerungen und allgemeinem abstraktem Denkvermögen zu existieren. Der Umgang mit modernen Medien wird verstärkt in integrative Klassen getragen. Im naturwissenschaftlichen Unterricht profitiert die gesamte Klasse von einem erweiterten und dreidimensionalen didaktischen Medienrepertoire, einem erweiterten Verständnis von Grafiken durch ein hohes Maß einer deskriptiven Sprache, einem erweiterten Verständnis von Versuchsaufbauten sowie von Prozesshaftigkeiten
bei
chemischen
oder
physikalischen
Experimenten.
Kommunikative Prozesse und Teamarbeit werden in beinahe allen integrativen Unterrichtssituationen
gefördert,
sofern
der
sehgeschädigte
Schüler
entsprechend erweiterte soziale Kompetenzen mitbringt. 100
Der Sportunterricht ist von großer Bedeutung für den sehgeschädigten Schüler. Er spielt nicht nur in Bereichen wie Psychomotorik und Bewegungstraining, sondern auch für das Selbstvertrauen und die Persönlichkeitsbildung allgemein eine große Rolle. Den normalsichtigen Schülern werden durch die gemeinsame Unterrichtung Werte wie Rücksichtnahme auf Schwächere und die Elemente von sozialer Integration vermittelt. Während des Gemeinschaftskundeunterrichts ergeben sich primär Effekte, die aus der transmodalen Erfassung von grafischen Inhalten resultieren, was eine intensivierende Auseinandersetzung mit dem Inhalt nach sich ziehen kann. Der Religions- und Ethikunterricht bietet Raum für die Vertiefung der bildbeschreibenden Kompetenzen ebenso wie für eine Sensibilisierung der kommunikativen Kompetenzen. Da der Geographieunterricht in hohem Maße mit grafischen Inhalten arbeitet, können nicht nur eine konzeptgenerierende Sprache eingeübt werden, sondern auch
aus
Abbildungen
und
Karten
extrahierte
Wirkungsgefüge
und
Raumbezüge multimodal veranschaulicht werden. Im Rahmen des Musikunterrichts gereicht die den Sehgeschädigten oftmals eigene und durch die Ausprägung und Schulung des Gehörs bedingte Musikalität der gesamten Klasse insofern zum Vorteil, als dass es als motivierender Faktor beim Musizieren eingesetzt werden kann. Da das Nachspielen von Musikstücken zumindest für den blinden Schüler über das Hörgedächtnis und nicht über die Notenschrift erfolgt, werden ganz automatisch Voraussetzungen geschaffen, die für die gesamte Klasse ein optimales Training desselben stark begünstigen können. Die Teilnahme am Kunstunterricht bedingt hinreichend einen zeitweise zieldifferenten Unterricht für den sehgeschädigten Schüler. Es wird bei Blindheit prinzipiell
in
Ausrichtung
eine jedoch
Dreidimensionalität so
abgestimmt
ausgewichen, wird,
dass
deren
sich
thematische
möglichst
große
Schnittmengen mit den Thematiken der normalsichtigen Schüler ergeben. Die neu hinzukommende dritte Dimension schafft eine neue Raumerfahrung, erweiterte Perspektiven und neue Problemlösungsstrategien für die sehenden Schüler.
101
9 Synthese und Ausblick 9.1 Synthese Die heute in den allgemeinen Regelschulen praktizierte Form der Integration von Sehgeschädigten sieht sich nach wie vor mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert, die teilweise von intrinsischer, teilweise von extrinsischer Natur sind. Führende Blinden- und Sehgeschädigtenpädagogen sind sich, was die Bewertung des Status der Beschulung von Sehgeschädigten an allgemeinen Schulen angeht, weitgehend einig: es ist, in Anbetracht der Gesamtumstände, zur Zeit noch konsequenter, die herrschenden Zustände in der schulischen gleichwertigen Partizipation, eher als Integration denn als Inklusion zu bezeichnen. Es wird sich jedoch in den kommenden Jahren noch stärker als bisher eine Hinwendung nicht nur zur Integration, sondern in allgemeinen Kontexten zu inklusiver Beschulung abzeichnen, ja abzeichnen müssen, da allein die zunehmende Heterogenität der Schülerschaft abseits der Gruppe
der
Sehgeschädigten
adäquatere
Beschulungsformen
und
Förderstrukturen suchen und bedingen wird. Die Chancen der Vielfalt, die bereits jetzt und auch schon in den vergangenen Jahrzehnten immer positiveres soziales und schulisches Feedback erfuhren und erfahren, bedingten in der Vergangenheit ein Umdenken in der Gesellschaft, das für eine integrative Beschulung der Sehgeschädigten Pate stand. Zahlreiche innen- und außenpolitische Impulse, neue Erkenntnisse in der Pädagogik sowie eine erhöhte Nachfrage nach integrativer Beschulung - allein in Anbetracht der sich rasant
fortentwickelnden
technischen
Möglichkeiten
und
den
damit
verbundenen Partizipationschancen - waren Wegbereiter für die integrative Vorortbeschulung der Sehgeschädigten, die sich bis dato unter den gegebenen sozialen, politischen, pädagogischen und technischen Umständen nicht in adäquater Form umsetzen ließ und auch nur von wenigen eingefordert wurde. Tatsächlich lag das Hauptaugenmerk in der Geschichte der Blindenbildung in ihren ersten gut 160 Jahren auf einer Etablierung und Ausdifferenzierung eines Systems,
das
auf
karitativen
Motiven
fußte
und
mit
erheblichen
Anfangsschwierigkeiten behaftet war. Bereits in jener frühen Anfangsphase räumten führende Sehgeschädigtenpädagogen und sogar Gründungsinitiatoren von Blindenbildungsanstalten grundlegende konzeptionelle Defizite des sich etablierenden Systems ein und führten diesbezüglich die parallel angelegten Bildungsstrukturen von sehgeschädigten und normalsichtigen Schülern an. 102
In unseren Tagen lösen sich die alten Formen der Beschulung von Sehgeschädigten auf und neue, flexiblere Beschulungsformen ergeben sich. Im selben Maße, wie sich die Form des Systems in den vergangenen Dekaden veränderte, so wandelten sich gleichsam die Problemstellungen, die sich aus der Kompensation der Sehschädigung im schulischen Kontext ergeben. Waren es zu Beginn der Blindenbildung eher Faktoren wie das Fehlen einer adäquaten Bildungsstruktur, die prinzipielle Einstellung der Gesellschaft zu Blindenbildung oder technische Schwierigkeiten wie das Fehlen eines für Blinde geeigneten reproduzierbaren Schriftsystems, so sind es heute größtenteils administrative und
schulsystematische
Widrigkeiten,
die
als
Widerstand
von
den
Integrationswilligen zu überwinden sind. Wie jede tief greifende Strukturveränderung, so verlief und verläuft auch diejenige der Beschulung von Blinden und Sehbehinderten langsam und in mehreren Stadien. Die meisten Reibungsverluste im Zuge des Strukturwandels ergaben und ergeben sich momentan noch systemintern, durch oppositionär gelagerte, konservative und progressive Kräfte, die einerseits die alt hergebrachten Strukturen zu erhalten versuchen, und die andererseits die schulische Integration forcieren. Dass der historische Kontext bei der im Vergleich noch sehr jungen integrativen Beschulung immer noch strukturell mitschwingt, verwundert nicht. Es waren und sind nach wie vor die Blindenbildungsanstalten, die mit ihrer stationären Beschulung das Gros der Schülerschaft selektiv ausbilden und es sind auch eben jene Einrichtungen, die maßgebliche Impulse der Blindenbildung und der Integration ausstrahlen. Man gewinnt oftmals in der herrschenden integrativen Schulpraxis - und das scheint der offensichtliche Nachteil an jenem Parallelsystem in seiner heutigen Zwischenform zu sein - den Eindruck einer aus den Blindenanstalten herausexportierten Blindenpädagogik, die bemüht ist, bewährte Unterrichts- und Betreuungsstrukturen kaum oder nur wenig angepasst in das Regelschulsystem zu überführen. Tatsächlich gehört dies jedoch zu den schwierigsten Aufgaben, die der Betreuungslehrer leisten muss: nämlich im Spannungsfeld zwischen optimaler Betreuung des sehgeschädigten Schülers und den Anforderungen des Regelschulunterrichts zu vermitteln und einen Modus zu finden, der sowohl dem Schüler eine weitestgehend gleichwertige Partizipation ermöglicht als auch in den Unterricht reibungsfrei zu integrieren ist. Gerade im Rahmen dieses Eins-zu-eins-Exports haben sich einige Strukturen etabliert, die auf sozialer Ebene die positiven Integrationseffekte zum Teil wieder aufzehren und sich nur 103
schwer in die Regelschulpraxis einpassen lassen. Da gerade der Modus der Einzelintegration die höchsten Chancen einer vollen Partizipation bietet, sind diese Strukturen in Zukunft kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls entsprechend anzupassen. Gerade anhand der in Deutschland praktizierten Formen der Integration lässt sich klar ablesen, wie schwer man sich in der Bundesrepublik immer noch damit tut, behinderte und nicht behinderte Kinder zusammen zu beschulen. Obwohl die Trennung zwischen „Behinderung“ und „Normalität“ gerade in Grenzfällen kaum noch nachzuvollziehen ist und die integrative Beschulung hinsichtlich ihrer Ausprägung und Umsetzung auch noch sehr stark in unserem föderalen System und vor parteipolitischen Interessen variiert, so ist sie doch inzwischen weitgehend, wenn auch nicht für alle Behinderungsformen, prinzipiell für viele integrationswillige junge Menschen praktizierbar und steht als adäquate Perspektive neben einer spezifischen Sonderbeschulung. Bezogen auf die Sehgeschädigten gehen die einzelnen Bundesländer trotzdem noch sehr unterschiedlich mit den Einzelmaßnahmen um. Es existieren weiterhin sämtliche Formen der schulischen Integration, von der Außenklasse bis zur Einzelintegration, von der zieldifferenten bis zur zielgleichen Unterrichtung. Auch gibt es mittlerweile zum Teil zahlreiche Mischformen der Integrationsmodi und der unterschiedlichen Curricula. Auch hier lösen sich in den einzelnen Bundesländern zum Teil die Strukturen auf und bilden neue Formen, wobei die soziale Integration der Sehgeschädigten, der Schwachpunkt des
bisherigen
stationären
Bildungssystems,
auch
bei
den
aktuellen
Integrationsmaßnahmen zurecht in den Fokus der Aufmerksamkeit gestellt wird. Auch hat sich der Blickwinkel auf das gesamte Beschulungssystem geändert. Was zu Beginn der Blindenbildung noch als Notlösung galt, eine Vor-OrtBeschulung, wird heute von den sehgeschädigten Kindern und ihren Familien verstärkt eingefordert und in den meisten Fällen als äquivalente Alternative angesehen oder gar noch höher bewertet. Die rechtlichen Grundlagen für Integrativmaßnahmen sind, als dependentielle Elemente
von
historischen
makosoziologischen Hintergrund
Strukturen,
prädeterminiert
im wie
selben die
Maße
vom
allgemeinen
Bildungsstrukturen auch. So erklären sich die erst sehr späte Erneuerung des Schulgesetzes von 1938, die erst in jüngster Vergangenheit abgeschaffte Finanzvorbehaltsbestimmung
und
das
weiterhin
beschulungsforment104
scheidende sonderpädagogische Gutachten, das nicht von neutraler Stelle erstellt wird und deshalb unter Umständen eine an sich gewollte Integration verhindert oder zumindest erschweren kann. Daher existiert trotz einer momentan relativ homogenen Bestimmungslage nach wie vor keine wirkliche Wahlfreiheit der Beschulungsform. Dennoch funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den Kosten- und den Schulträgern, den Förderzentren, den Familien und
den
unterrichtenden
Lehrkräften
innerhalb
der
Einzelmaßnahmen
mittlerweile deutlich reibungsfreier und einvernehmlicher als noch vor einigen Jahren. Nicht zuletzt wegen der aktuell angestoßenen Bildungsdiskussion, der Anpassung der Ausbildung der Schulpädagogen und einer geänderten gesellschaftlichen Sicht auf die gemeinsame Beschulung von behinderten und nicht behinderten Schülern ist ein allmähliches Umdenken zu verzeichnen, dass sich auch in den Beschulungs- und Unterrichtsstrukturen widerspiegelt. Zur Zeit arbeitet man vielerorts an Konzepten, die sehgeschädigtengerechte integrative Beschulung gewissen Förder- und Durchführungsstandards unterziehen sollen und die die koexistierende Parallelstruktur von Blinden- und Regelschulen möglichst optimal und symbiotisch zu verzahnen bemüht sind. Auch
dies
sind
Entwicklungen,
denen
Deutschland
erst
lange
nach
entsprechenden internationalen Umstrukturierungen folgt. Soziale Integrationsmotive sind ein wesentlicher Pull-Faktor wenn es um die Frage geht, ob integrativ oder gesondert beschult werden soll. Gleichsam stellt die soziale Integration bei einer Sehbehinderung nach wie vor denjenigen Komplex dar, der •
am unklarsten umrissen und definiert ist,
•
bei einer integrativen Regelbeschulung am schwersten vorherzusagen und im Vorfeld abzuschätzen ist und
•
durch elternhäusliche Erziehung nur bedingt beeinflussbar scheint.
Die Psychologie eines blinden Jugendlichen birgt in dieser Hinsicht mehr Fragen
als
gesicherte
Erkenntnisse. Sicher
ist
hingegen,
dass
eine
sehbehinderte Person ebenso wenig eine normalsichtige Persönlichkeit minus Gesichtssinn ist, wie sich eine normalsichtige Person aus der Summe der Persönlichkeitsmerkmale einer sehgeschädigten Person plus Gesichtssinn zusammensetzt. Der Verlust des Sehsinns kann in viele psychosoziale Strukturen
eingreifen,
die
die
eigene
Wahrnehmung,
die
Umwelt105
Individuumbezüge
und
das
Sozialverhalten
beeinflussen.
In
welchem
Zusammenhang diese determinierenden Strukturen stehen, bzw. welche entsprechenden
Konstellationen
eine
Integration
positiv
oder
negativ
beeinflussen, kann nicht hinreichend geklärt werden. Fest steht hingegen, dass die individuellen Ich-Kompetenzen bei einer gelungenen Integration durch vielerlei Effekte eine sehr positive Bestärkung erfahren. Da die Identitätsbildung in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle spielt und in diesem heterogenen sozialen Umfeld weitaus schwieriger verläuft als in homogenen Gruppen, ist der Integrationspädagogik in derlei Kontexten besondere Beachtung zu schenken. Die
Frage
nach
einem
Grundprinzip
pädagogischen
Handelns
bei
Integrationsmaßnahmen steht mithin immer im Spannungsfeld zwischen einer unterstützenden Unterrichtsdidaktik, sowie einer unterstützenden Pädagogik, die
besondere
Förderschwerpunkte
beinhaltet
und
einer
freien
und
selbstbewussten Entwicklung des Sehgeschädigten, die im Kontext einer sehenden Umwelt Raum für selbstbewusstes und selbstbestimmtes Handeln lassen soll. Es ist insbesondere der methodisch-didaktische Komplex, der sich als derjenige im Rahmen einer integrativen Beschulung erweist, der die gesamte Klassengemeinschaft berührt und von dem nicht nur die sehgeschädigten Schüler, sondern alle Lernenden profitieren können. Die stärksten Impulse gehen von einer stark kontextuierten, handlungsorientierten und multimodalen Didaktik aus, die darauf abzielt, die durch die Sehschädigung hervorgerufenen defizitären Sinnesmodalitäten und die dadurch verlagerten perzeptiven Lernmethoden aufzunehmen und auf eine vorwiegend optisch orientierte Umwelt zu beziehen. Besondere Berücksichtigung erfahren hierbei: die Schriftlichkeit, der abbildende Bereich und die Begriffsbildung. Diese
Maßnahmen,
die
für
ihre
Umsetzung
Modifikationen
in
der
Unterrichtsdidaktik erfordern, betreffen zunächst den sehgeschädigten Schüler und die Lehrkraft, wobei, tragfähige soziale und didaktische Strukturen vorausgesetzt, der Einbezug der Klasse in manchen Teilbereichen positiv auf 106
die allgemeine Unterrichtsdidaktik und auf soziale Kompetenzen zurückwirken können. Diese Effekte, die hier als Tendenzen aufgezeigt verstanden werden sollen, variieren vor dem Hintergrund der Intensität der umgesetzten entsprechenden didaktischen Maßnahmen, dem Maß des Einbezugs der Klassengemeinschaft in dieselben und der Qualität der sozialen Integration des Sehgeschädigten. Mithin sind dies: •
sprachliche Abstraktion, sprachliche Deskription, sprachliche Strukturierung, kommunikative Kompetenzen,
•
moderne Medien,
•
multimodale didaktische Medien,
•
prozessuales Verständnis, Rückbezug auf den Lernkontext,
•
Teamarbeit, Teamfähigkeit,
•
transmodale Verarbeitung von grafischen Inhalten,
•
Aktivierung von sekundär genutzten Sinnesmodalitäten,
•
Generierung von neuen Raumerfahrungen und -perspektiven,
•
multimodale Unterrichtsinhalte,
•
Rücksichtnahme, Integration von Randgruppen, Akzeptanz von heterogenen Lebenskonzepten und Verhaltensweisen.
Diese sozialen, pädagogischen und didaktischen Auswirkungen, wie sie eine gelungene Integration von sehgeschädigten Schülern mit sich bringt, bietet somit erweiterte Chancen für den Kompetenzerwerb, didaktische und pädagogische Zielsetzungen und erwünschte soziale Verhaltensweisen, wie sie unter anderem
im aktuellen Bildungsplan für Gymnasien in Baden-
Württemberg eingefordert werden. Mit den heutigen Gegebenheiten der EDV, dem didaktischen Wissensstand, den administrativen Voraussetzungen und den aktuellen pädagogischen Impulsen geraten die Integrationsmaßnahmen mehr und mehr zu einer organisatorisch-technischen Herausforderung, die in einer
weiterhin
immer
noch
stärker
separierenden
als inkludierenden
Gesellschaft wichtige makropädagogische Impulse liefern kann. Im Bereich der allgemeinen Unterrichtsdidaktik kann sie als katalytischer Impuls für Prozesse gelten, die die zu vermittelnden Lerninhalte auf eine Basis stellen, 107
auf der sie von einer in lerntypischer Hinsicht stark heterogenen Schülerschaft eine ganzheitlichere Internalisierung erfahren können. Bislang wurden diese Möglichkeiten noch nicht voll ausgeschöpft. Viele Prozesse, insbesondere im Bereich der multimodalen Stoffvermittlung, scheitern zurzeit noch an administrativen, finanziellen, organisatorischen oder persönlichen
Grenzen.
Besonders
an
den
Gymnasien
scheint
man
diesbezüglich noch nicht auf dem Stand des aktuell Möglichen angekommen zu sein. Es
wird
Aufgabe
weiterer
wissenschaftlicher
Erarbeitungen
sein,
auf
theoretischer Ebene weitere, profundere, didaktische und pädagogische Anknüpfungspunkte zwischen der Sehgeschädigten- und allgemeinen Didaktik aufzuzeigen, die dann letztlich, so bleibt zu hoffen, nicht nur von den Betreuungslehrern, sondern auch von den Regelschulpädagogen noch stärker anerkannt und zugunsten der Schülerschaft praktisch umgesetzt werden.
9.2 Ausblick Die bisherig vorhandenen Beschulungsstrukturen für Blinde und Sehbehinderte werden sich mittelfristig sukzessive hin zur integrativen Beschulung verlagern. Eine Hinwendung zu einer inklusiv orientierten Regelschulpädagogik wird durch die bereits eingeleiteten Prozesse weiterhin forciert werden. Die bisherigen Sonderschulen für Sehgeschädigte werden ihren Umstrukturierungskurs beibehalten
und
zukünftig
neben
der
Erfüllung
von
sehr
hohen
sonderpädagogischen Förderbedürfnissen, die hauptsächlich im Umfeld von einer Kombination aus Förderschwerpunkt Lernen und Förderschwerpunkt Sehen liegen werden, als moderne überregionale Kompetenzzentren agieren und die integrativ beschulten Sehgeschädigten mit multikompetentem Personal und spezifischen Didaktikpools an deren Heimatort unterstützen. Obwohl die Integrationszahlen in unseren Tagen auf relativ niedrigem Niveau stagnieren, ist es unerlässlich, dass das separative Schulsystem abgebaut und eine inklusive Erziehung forciert wird. Es wird dann nicht mehr um die Frage gehen, welchen Förderbedarf ein Schüler mit Behinderung hat - dies ist im strengen Sinne auch wiederum eine Form der Exklusion - sondern es wird der Blick weg von einer personenorientierten und hin zu einer klassenorientierten Förderung gerichtet werden, welche sich mithin auf die Frage konzentrieren wird, welche Schüler einer Klasse einen Förderbedarf beispielsweise im Bereich Sehen haben. Die Schulen werden auf sämtliche Arten der Förderung individuell reagieren und 108
sich, was sich bereits jetzt abzeichnet, mit einer sehr viel heterogeneren Schülerschaft auseinandersetzen müssen, von der die Sehgeschädigten lediglich einen Teil stellen. Dies ist freilich kein Prozess, der in der Gesellschaft von heute auf morgen geschieht. Es wird noch eine geraume Zeit vergehen, bis diese Tendenzen in allen Gesellschaftsschichten realisiert und akzeptiert werden. Weitere wichtige Schritte werden bis zu jenem Punkt zu unternehmen sein, bis die Inklusion aller Kinder mit einem spezifischen Förderbedarf ganzheitlich vollzogen sein wird. Vor diesem Hintergrund werden sämtliche Teilbereiche
der
Sonderpädagogik
gefordert
sein,
um
entsprechende
Brückenschläge in die allgemeine Regelschulpädagogik auf theoretischer und praktischer Ebene vorzubereiten. Die Universitäten werden in Hinblick auf die pädagogische Entwicklungen
und
erziehungswissenschaftliche
ebenfalls
inklusionspädagogische
zu
Seminare
reagieren werden
in
Ausbildung haben.
auf
diese
Entsprechende
zukünftigen
universitären
Curricula auf jeden Fall eine Rolle spielen. Das kaum beschrittene Terrain der inklusiven Unterrichtsforschung wird eine zentrale Stellung einnehmen müssen, um die Schulpraxis mit dem nötigen Know-how zu unterfüttern. Letztlich wird ein symbiotisches Verhältnis zwischen allgemeiner und Sonderschulpädagogik den Prozess der Inklusion, auf den unsere Gesellschaft zweifellos zusteuert, ja im Zuge der sich verstärkenden Heterogenität der Schülerschaft zusteuern muss, insofern bestärken, als dass es denjenigen adäquate Partizipationschancen bietet, die sich den Herausforderungen einer integrativen
Beschulung
gewachsen
fühlen
und
normalsichtigen
regelbeschulten Schülern die Möglichkeit einräumt, hinsichtlich ihrer natürlichen Heterogenität eine erhöhte Ansprache zu erfahren.
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11 Anhang 1: Transkripte der Interviews von vier Integrationspädagogen 11.1 Allgemeines Die Befragungen wurden in Form von mündlichen, standardisierten und qualitativen Interviews durchgeführt, die die Möglichkeit der interaktiven Kommunikation
zuließen.
Die
mündlichen
Interviews
wurden
deshalb
bevorzugt, weil Wert auf eine hohe Rücklaufquote gelegt wurde. Standardisierte schriftliche Interviews erhielten in einem ersten Schritt so gut wie keine Resonanz, da es sich hierbei offensichtlich um komplexe Fragestellungen handelt, deren Beantwortung zudem ein gewisses Maß an Vertrauen voraussetzt, und der Interviewer innerhalb der Fragestellungen auch sensible soziale Bereiche berührt, weil etwaige Aussagen immer auf den Erfahrungswerten mit Dritten beruhen. Auf diese Weise wurde zugleich von den erweiterten Möglichkeiten des semantischen Potentials profitiert. In den Transkripten wurden die Namen der erwähnten Schüler geändert.
11.2 Leitfragen Welche
Rolle
spielen
Beschulungsstrukturen
in heute
der
sich
noch
verändernden
die
spezifischen
Landschaft
der
Blinden-
und
Sehbehindertenschulen? Welches sind die am stärksten motivierenden Faktoren für integrativ beschulte Schüler und deren Eltern, sich der Herausforderung einer Integration zu stellen? Welche allgemeinen pädagogischen und didaktischen Konditionen müssen vorliegen, um eine Atmosphäre für den sehgeschädigten Schüler zu schaffen, die die Grundlage für eine möglichst umfassende Partizipation am Unterricht gewährleisten kann? Welche konkreten Chancen und Problemstellungen sehen Sie bei der gemeinsamen Unterrichtung hinsichtlich der Bereiche, die von der Sehbehinderung betroffen sind? Wie sehen die entsprechenden Copingstrategien dazu aus? Auf der Ebene der einzelnen Fächer: Welche konkreten Veränderungen des Fachunterrichts ergeben sich aus diesen adaptiven Maßnahmen und inwiefern verändert sich der Unterricht dadurch? 119
Gibt es in Integrativklassen Gesamtgruppeneffekte, die aus dem gemeinsamen Unterricht resultieren?
11.3 Transkripte Kathrin Vitt ist Betreuungslehrerin des 14-jährigen, hochgradig sehbehinderten Thomas, der im Rahmen einer Einzelintegration an einem Gymnasium im Großraum Mannheim beschult wird. Sie arbeitet am Integrationszentrum in Ilvesheim und ist erst vor einem Jahr zum Team hinzugestoßen.
Vitt: Die Klasse ist verkleinert, es sind lediglich 15 Schüler. Ich weiß durchaus, obwohl ich den Schüler noch nicht so lange kenne, dass Thomas bereits in der Grundschule schlechter gesehen hat als seine Klassenkameraden.
Er
hat
sich
aber
trotz
dieser
Situation
super
zurechtgefunden und war aber, von den Voraussetzungen her zumindest, nicht adäquat gefördert. Und selbst mit diesem Vorwissen, dass Thomas seine Kompetenzen so derartig gut nutzen kann, dass er selbst unter diesen, nicht optimalen Bedingungen, ohne spezifische Förderung, so gute schulische Leistungen erbringen und eine Gymnasialempfehlung bewirken kann, war schon Motivation genug, auch für die Eltern, zu sagen: „Wir verfolgen das weiter.“ Da die Zeit in diesem Falle aber sehr kurz war, das ganze spielte sich von Ostern bis zum Beginn des neuen Schuljahres ab, normalerweise gibt es bei Integrationsmaßnahmen ja einen Vorlauf von gut einem Schuljahr, aber in diesem Fall gab es das eben nicht, und deshalb war es wichtig, ein Gymnasium zu finden, das Thomas aufzunehmen bereit war und da kristallisierte sich mehr und mehr eben dieses private Gymnasium heraus, bei dem dann auch die Voraussetzungen gegeben waren, so kleine Klassen zu haben. Thomas steht mit seinem geringen Sehrest von 5% eigentlich genau zwischen dem Anwendungsbereich der Punktschrift und der Schwarzschrift. Er ist mit sehr guten Hilfsmitteln ausgerüstet, also er arbeitet mit der Tafelkamera und Notebook und zusätzlich ist es an diesem Gymnasium auch noch so, dass kaum noch mit Tafel und Kreide gearbeitet wird, sondern alles auf diesen Smartboards dargestellt wird und hinterher eben auch von Thomas direkt in der digitalen Form übernommen werden kann. Das ist eben sicherlich auch schon 120
ein ganz großer und wichtiger Faktor, dass dort vor Ort eben schon die materiellen Bedingungen optimal vorhanden sind, das ist an anderen Gymnasien oftmals nicht der Fall. Und selbst bei einem Fachraumwechsel ist das kein Thema, weil auch der Chemie- und Physikraum entsprechend so ausgerüstet ist und Thomas hat dann eben noch seine Tafelkamera, mit der er sich alle projizierten Inhalte eben noch mal vergrößert auf den Monitor holt, oder beim Schreiben den Bildschirm dann eben entsprechend halbiert. Das sind technische Neuerungen, die vor einigen Jahren überhaupt noch nicht denkbar gewesen wären. Außerdem hat Thomas ein Bildschirmlesegerät, das er auch sehr
schätzt,
das
ihm
grafische
Darstellungen,
z.B.
in
Mathematik,
entsprechend vergrößert, also auch diese Inhalte werden bei ihm noch über Bilder vermittelt. Wo er mittlerweile zur Punktschrift übergeht ist z.B. bei Präsentationen, die ja jetzt sehr zahlreich im Rahmen des neuen Bildungsplans in allen Fächern gehalten werden müssen, weil er sich in diesen Situationen eben nicht noch auf das Entziffern von riesigen Buchstaben konzentrieren muss, sondern sich auch, wie alle anderen, einen kleinen Notizzettel machen kann. Bislang hat er sich viele Dinge auch einfach nur gemerkt und hat sich entsprechende Notizen im Kopf gemacht. Aber man muss schon sagen, dass er mit Lesegerät und Tafelkamera unglaublich schnell arbeiten kann und an diesen Medien auch hängt, auch emotional. Mittlerweile ist es auch so, dass die modernen Taschenrechner, mit denen die arbeiten, auch mit dem Lesegerät gekoppelt werden können und so das Umsetzen von diesen Grafiken sehr unkompliziert auf technischem Wege erfolgt. Oft ist die Technik also weniger das Problem. Es ist oft viel komplizierter, eine wirkliche Integration zu schaffen, also auf sozialer Ebene. Und in Bezug auf Ihre Frage, was sich denn nun konkret verändert… Sie denken jetzt sicher an Bereiche, die außerhalb der möglichen technischen Unterstützung liegen. Also, es ist schon so, ich habe jetzt gerade die Situationen vor Augen, in denen Schüler miteinander arbeiten, also in Teams oder in Kleingruppen, dass da tatsächlich ja die Schüler selbst gefordert sind genauer zu verbalisieren und genauer zu erläutern, auch wenn da jetzt z.B. noch eine Abbildung irgendwo ist, dass in diesen Situationen eben die Mitschüler beschreiben, auch natürlich weil´s einfacher und schneller geht. Da sind die Klassenkameraden sprachlich natürlich deutlich gefordert. Das läuft 121
dann nicht so ab, dass jeder mal einen Blick drauf wirft und jeder redet mal eben das, was er gerade dazu im Kopf hat, sondern dass da sicherlich mehr, also quantitativ mehr, Verbalsprache existiert und dann denk ich auch eine qualitative Steigerung da ist. Thomas soll ja auch etwas davon haben. Zumindest in diesen Situationen, also wenn der Lehrer diese Strategien an die Klasse abgibt, dass dann alle was davon haben. In diesen Bereichen ist das schon deutlich. Schwieriger wird’s dann, dasselbe so ohne weiteres für den Frontalunterricht zu sagen. Ich weiß nicht, ob sich der Lehrer vor der Klasse bei Frontalunterricht auch dieselbe Mühe gibt, ich kann ja nicht fragen: „hätten Sie das jetzt anders beschrieben, wenn Thomas nicht in ihrer Klasse gewesen wäre?“ aber im Prinzip profitiert die ganze Klasse von den notwendigen Copingstrategien.
Ich
kann
vielleicht
gerade
noch
mal
das
Beispiel
Physikunterricht nennen, da fordert der Lehrer schon die gesamte Klasse auf: „so, jetzt erzähl noch mal, worum ging’s da gerade, was ist da eben passiert.“ Und davon kann schon die ganze Klasse profitieren. Leider bin ich erst zu kurz dabei, um Ihnen entsprechende Vergleiche zu liefern, aber ich erinnere mich an eine Physikstunde, da ging es um Kräfte und ich erinnere mich noch deutlich an eine Unterrichtsstunde zu meiner Schulzeit, die dasselbe Thema zum Gegenstand hatte, und damals, erinnere ich mich noch, ging mir das Thema deutlich weiter vorbei als den Schülern in dieser Klasse. Also der Rückbezug auf die Klasse scheint doch in dieser Hinsicht einiges zu bewirken. In Bereichen, in denen es auf die optische Wahrnehmung selbst ankommt, d.h. in denen die Wahrnehmung von optischen Eindrücken selbst ästhetisches Ziel ist, ich denke da jetzt an den Kunstunterricht, werden die Materialien für Thomas so aufbereitet, dass er sie auch benutzen kann. Da wird dann auf Vergrößerungen zurückgegriffen, eventuell auch mal eine Darstellung mit einem höheren Kontrast usw. Aber das ist natürlich bei einem Schüler mit einem gewissen Sehrest noch wesentlich einfacher als bei einem blinden Schüler. Ich selbst kann Ihnen dazu leider keine Erfahrungen Berichten, aber ich weiß von Kollegen, die in diesem Fall dann zieldifferent insofern unterrichten, als dass sie in den dreidimensionalen Bereich ausweichen und in der Oberstufe z.B. auch entsprechend angepasste Klausuren stellen. Diese Zwischenstufe, die Thomas aber eben einnimmt, also diejenige zwischen einem
normalsichtigen
und
einem
blinden
Schüler,
ist
nicht
ganz
unproblematisch. Denn einerseits sieht Thomas ja eben durchaus noch etwas 122
und z.B. bei Teamspielen im Sportunterricht, da ist er eben dabei, ich bin da manchmal total perplex, aber es ist unglaublich und ich könnte mir vorstellen, dass auch für die Mitschüler manchmal die Situation auch nicht ganz einfach einzuschätzen ist, denn einerseits braucht er eben manchmal Unterstützung und andererseits denken sie: „ach, der Thomas ist jetzt ja einfach so dabei, der ist ja ganz normal.“ Da denke ich manchmal, dass er doch manchmal auch aus sich raus gehen und manche Dinge einfach deutlicher einfordern könnte. Und einerseits versucht er dann eben doch noch so lange wie möglich visuell die Informationen zu sammeln und zu ordnen, andererseits könnte er sich natürlich auch kompensatorisch sagen: „Hey, ich habe den und den guten Freund in der Klasse, den könnt ich jetzt darauf ansprechen.“ Oder sie sind beim Lerngang irgendwo außerhalb der Schule unterwegs und dann zu sagen: „Okay, ich spanne den Freund jetzt für diese Sache ein.“ In dieser Hinsicht würde ich ihm auch noch gern etwas mehr Vertrauen geben. Aber es gibt sozusagen auch das andere Extrem. Schüler, die sich an andere dranhängen und andere auch durchaus für ihre Zwecke einzusetzen und in Beschlag zu nehmen wissen. Das sind natürlich alles nur Tendenzen, aber die Heterogenität in der Gruppe der sehgeschädigten ist schon sehr hoch, auf jeden Fall höher als bei den normalsichtigen Schülern. Und, um noch mal auf Ihre eingangs gestellte frage zurückzukommen, nach den Erfahrungen, die ich jetzt in der Beratungsstelle mitbekomme, gibt es da schon bestimmte Faktoren für ein gutes Gelingen. Also, man kann es prinzipiell natürlich immer ausprobieren, das ist ja auch im Schulgesetz entsprechend eingebracht, dass im Prinzip eigentlich jede Schule jedes Kind aufnehmen muss, aber es müssen schon alle Beteiligten auch mitziehen, sonst wird es nicht klappen. Das allein ist aber schon so eine Sache, also ich denke, es braucht auf jeden Fall eine gute, eine optimale Vorbereitung und dann auch vor Ort eine bestimmte Ausstattung und auch einen gewissen Willen seitens der Unterrichtenden. Und auch für Eltern bedeutet das garantiert auch einen gewissen Mehraufwand. Oft müssen die Eltern vielleicht zusätzlich Zeit investieren oder auch mal eine Fahrt extra auf sich nehmen. Also solche Dinge, und dafür muss die Bereitschaft schon da sein und ich könnt mir durchaus vorstellen, dass diese Gegebenheiten nicht überall möglich sind. Seien es die Bedingungen im Elternhaus, oder eine ablehnende Grundeinstellung seitens der Schule, das kommt nicht so selten vor und dann kann man’s einfach auch vergessen, dann macht die Integration auch keinen Sinn mehr. Außerdem bringen die Kinder so unterschiedliche 123
Grundvoraussetzungen mit, dass die Beschulung auf einer Sonderschule einfach für das Kind auch mehr Vorteile bringt. Es ist natürlich angebracht, nicht erst mit dem Einschulungsbescheid oder unmittelbar vor dem Wechsel in die Sekundarstufe I sich um diese Frage zu kümmern, sondern vielleicht auch im Vorfeld sich mit anderen Eltern zu unterhalten oder eben mit Integrationslehrern - gerade hinsichtlich der Frage: „Was kommt da auf mich zu?“ Außerdem ist die Sonderschule schon viel durchlässiger geworden, es gibt ja auch die Fälle, die erst in einer Sonderschule unterrichtet werden und später dann in die Integration kommen. Oder auch umgekehrt. Manche haben vielleicht schon ein paar Jahre Integrationserfahrungen gesammelt und fühlen sich anschließend in der Blindenschule wohler, also deshalb haben auch beide Schultypen ihre Berechtigung. Man kann also kein – wenn man so möchte – „Rezept“ erstellen, welche Zutaten für eine erfolgreiche Integration nötig sind, ich kann jetzt keine Checkliste Punkt für Punkt abhaken, sondern es sind viele Faktoren dafür notwendig, es gibt sicherlich aber günstigere und weniger günstigere Voraussetzungen, die letztlich ineinander greifen, aber hauptsächlich kommt es darauf an, zu fragen: „Was machen wir daraus?“ Und natürlich auf die Motivation des Schülers. Und bei dieser Frage, nämlich, was man mit den Voraussetzungen die ein Schüler mitbringt, noch alles machen kann, sind wir wieder bei den Copingstrategien, die sie vorher angesprochen haben, die natürlich vom Lehrer vor Ort vermittelt werden und zum anderen, und das halte ich für einen sehr wichtigen Baustein, dass sind die Schülerkurse, die wir hier auch haben und zwar sind dann eben diese Situationen gegeben: „Ich treffe mich jetzt eben mit Leuten, die können verdammt gut nachfühlen, wie ich mich in dieser oder jener Situation gefühlt habe.“ Denn dies sind auch alles Schüler, die in der Integration sind und dann eben im Schuljahr mehrere Wochenenden zu haben, wo ich zum Thema Copingstrategien, entwickeln, sei es im sozialen Bereich, in der Gesprächsführung oder noch mal einen Crashkurs in einer bestimmten PCSoftware, oder, von mir aus, auch eine sportliche Sache. Solche Sachen dann eben mit Leuten zu machen, wo ich weiß, dass ich mich mit denen in der Hinsicht sehr gut austauschen kann, weil ich weiß: „Die haben die selben Erfahrungen wie ich, die sind auch integrativ beschult. Da bin ich eben nicht der besondere, der einzelne sehgeschädigte Schüler in der Klasse, sondern kann mich mit Gleichgesinnten austauschen. “ Diese Mischung aus den Erfahrungen mit den sehenden Kameraden einerseits, verbunden mit dem Gefühl: „Ich bin 124
aber auch zu einem bestimmten Teil anders“, und der Austausch mit Gleichbetroffenen kann die Schüler auch tatsächlich stärken, und sie sind auch in den allermeisten Fällen progressiver und sicherer im Umgang mit Sehenden.
Frau
Ziehmann
ist
Sehgeschädigtenpädagogin
und
Leiterin
der
Integrationsstelle an der Blinden- und Sehbehindertenschule Ilvesheim. Mittlerweile hat sie über 20 Jahre Erfahrung in der Beschulung von Sehgeschädigten vorzuweisen. Die Integrationsstelle steht seit 8 Jahren unter ihrer Leitung.
Bei vielen Kindern ist es die logische Konsequenz, dass sie aus dem integrativen Kindergarten kommen und direkt an einer integrativen Grundschule weitermachen. Die Eltern der Schülerin, an die ich gerade denke, wollten, dass das Kind in Heidelberg in der Altstadt in die Grundschule geht und Melanie war dann im Prinzip die erste Schülerin, ich glaube in ganz Deutschland, die mit Eurobraille angefangen hat und direkt in Klasse 1 mit dem Computer eingestiegen ist. Ja, und in diesen Tagen schreibt Melanie Abitur und es war im Prinzip währen der gesamten Schulzeit so, dass sie immer Jahrgangsbeste war. Sie ist unglaublich talentiert und die Integration hat immer super funktioniert. Sie wird ihren Weg machen, ganz bestimmt. Also, am Beispiel Melanie kann ich Ihnen noch mal sehr schön erklären, was die Eltern im Prinzip bewegt, ihr Kind in die integrative Beschulung zu geben. Ich muss diese Frage aber trotzdem in zwei Teilen beantworten. Das Eine ist, was die Eltern bewegt und das Zweite ist, was wir möchten, womit sich Eltern auseinandersetzen. Also, Eltern möchten natürlich gerne, dass ihr Kind zuhause bleibt und kein anderer eine Erziehungsfunktion übernimmt, was ja der Fall wäre beim Internat und damit fünf von sieben Tagen in der Woche, was natürlich vielen Kindern mit 6 Jahren unglaublich schwer fällt. Also, ich als Mutter hätte mich, wenn diese Entscheidung angestanden hätte, von meinen Kindern niemals trennen können. Das ist ja auch eine riesige Aufgabe, die unglaublich weh tut. Und es gibt eben Eltern die sagen: „Für mich ist das völlig okay.“ Die tun sich da eben leichter. Aber, um diese Entscheidung wirklich treffen zu können, müssen sich die Eltern eben auch darüber im Klaren sein, was auf sie zukommt mit der Integration und im Gegenzug auch natürlich unsere Blindenschule hier in Ilvesheim kennen. Die ganze Geschichte ist ja kein Selbstläufer. Man muss sich da schon fragen: 125
„Was hab ich in dieser Situation für Aufgaben?“ „Was bedeutet das für mein Kind?“ Und „welche Rahmenbedingungen bieten sich mit der Sonderbeschulung und welche Rahmenbedingungen müssen an der Integrationsschule erfüllt sein, dass mein Kind eine faire Chance bekommt?“ Und genau dafür bieten wir regelmäßig den Eltern so genannte EinschulungsInformationstage an, damit sie sich entsprechend informieren können. Sie lernen natürlich bei dieser Gelegenheit auch unsere Rahmenbedingungen hier an der Sonderschule intensiv kennen, nämlich, dass z.B. ab vier Schülern eine Klasse besteht, jedes Kind hat einen PC-Arbeitsplatz. Da sind Grundschullehrer die
natürlich
eine
riesige
Erfahrung
haben
mit
dem
Ungang
mit
sehgeschädigten Schülern, sie sehen ihr Kind dann auch in den Möglichkeiten außerhalb des Unterrichts, also in den Arbeitsgemeinschaften, auf den Sportplätzen, in der Schwimmhalle, also hier wird sich wirklich Zeit genommen. Gleichzeitig werden die Eltern natürlich aber auch über die Möglichkeiten der integrativen Beschulung informiert, wo wir z.B. einen Filmausschnitt von einem integrierten Schüler zeigen, wo sehr deutlich auch das Pendant gezeigt wird. Also: normale Lautstärke, 20 Kinder, da ist eine Assistenzkraft, aber trotzdem muss der Schüler lernen: „Meine Hauptansprechperson ist der Lehrer“ und muss eben entsprechend reagieren. Man sieht die Ausstattung, die nicht unähnlich ist mit der, die wir hier an der Blindenschule anbieten, und dann erklären wir: was muss passieren, dass diese Rahmenbedingungen an der allgemeinen Schule hergestellt werden können. Und das ist dann nämlich ein Organisationsplan, der genau eineinhalb Jahre bräuchte bis alles so weit organisiert ist, bis man von adäquaten Bedingungen sprechen kann, und darauf legen wir Wert. Die Eltern müssen also beide Seiten zumindest einmal kennen gelernt haben, um später eine Entscheidung treffen zu können, die von allen Seiten mitgetragen wird. Und hier kommt dann, wenn die Entscheidung der Eltern gefallen ist, auch die integrierende Schule ins Spiel, die von uns im Rahmen einer GLK intensiv informiert wird, was auf sie zukommt, wenn sie einen sehgeschädigten Schüler integriert. Wir als Beratungsstelle wünschen uns eine Zusammenarbeit, die nicht nur von einem Menschen – im Normalfall ist das der erste Ansprechpartner einer Schule, also der Schulleiter – getragen wird, sondern möglichst vom gesamten Kollegium. Und erst wenn all dies abgeklärt ist, schreiben wir das sonderpädagogische Gutachten, und dies ist ja auch 126
gleichzeitig die Feststellung der Sonderschulbedürftigkeit, wenn wir feststellen, dass der sonderpädagogische Förderbedarf so groß ist, dass er in der Schule vor Ort unter finanziellen, pädagogischen oder medialen Rahmenbedingungen nicht herstellbar ist. Es gab auch bei uns schon mal einen Fall, wo wir gegen die Wünsche der Eltern entschieden haben, aber das ist ein Fall, der auch weiterhin problematisch ist. In Baden-Württemberg ist es ja so, dass bei einer Integration das Kind dem Bildungsgang folgen können muss. Nun haben wir seinerzeit festgestellt, dass das Kind einen zusätzlichen Förderbedarf im Bereich Lernen hatte, was die Eltern aber nicht akzeptieren wollten und trotzdem integrativ beschult haben. Und da war es nun so, dass das Kind gleich die erste Klasse wiederholt hat. Dann gab’s noch mal einen Lehrerwechsel. Das ist für ein blindes Kind nicht einfach, inzwischen ist da mit dem Schulamt etwas gelaufen, dass er in Mathematik von den Noten befreit wird und nach einem anderen Bildungsgang unterrichtet wird - viel Zauberei, die niemandem wirklich hilft, auch dem Kind nicht - zumal es ja nur ein aufgeschobenes Problem ist. Spätestens wenn es um die Frage nach den weiteren Schulgängen geht. Ich will’s mir nicht einfach machen und sagen, dass der Schüler jetzt nicht von der Integration profitieren würde, das sicher nicht, der profitiert sicherlich von der Situation, dass er unter Sehenden ist, aber, weil die Integration, so wie ich das sehe, auch in sozialer Hinsicht sehr problematisch verläuft, sind die Effekte wohl recht gering. Das muss man dann einfach auch mal in Relation sehen und da würde ich sagen, das Kind hätte hier an unserer Schule viel größere Chancen selbständig zu werden. Durch die Integration ist es mit seiner besonderen Lernsituation in einer viel größeren Abhängigkeit zusätzlich zum Zeitdruck einer normalen Schule. Also, ich sehe das ganz und gar nicht so, dass ich sage: das eine oder andere System ist gut oder schlecht, beide Systeme haben ihre Vor- und Nachteile und mein größtes Interesse war es, in den letzten zehn Jahren das herrschende Feindbild Integration aufzubrechen, zu sagen: wir sind ein System, wo Eltern die Möglichkeit haben zu entscheiden. Und wir können doch versuchen, die Übergänge so durchlässig und flexibel wie möglich zu halten. Wir hatten schon viele
Schüler,
bei
denen
der
Übergang
von
der
Blindenschule
zur
Integrativschule mühelos geklappt hat. Oder, im Gegenzug, wenn die Integration nicht klappt, dass man sich klar wird: hey, wir sind eine gute Schule hier. Und das war mein erstes Ziel, den Druck auf allen Seiten etwas raus zu nehmen. Wir haben im Prinzip nur den Job, die Rahmenbedingungen zu 127
schaffen, dass das Kind überall gute Lernchancen hat und optimal nach seinen Ressourcen
gefördert
wird.
Und
da
sind
die
Voraussetzungen
sehr
verschieden. Wir müssen wirklich genau hinsehen. Jeder Fall ist anders. Und vorher hatten Sie mir die Frage gestellt, was, auf den Schüler bezogen, die konkreten Vor- und Nachteile einer integrativen Beschulung sind. Nach meiner Erfahrung ist es so, dass sehr gute Schüler in einer kleinen Klasse an einer Blindenschule oft die einzigen sehr guten Schüler sind und dadurch zu einem überhöhten Selbstbild kommen. Und in dieser Hinsicht finde ich es günstig, dass man Konkurrenz sozusagen ab Klasse eins erlebt, auch als blinder Mensch, und seine Fähigkeiten in Relation sehen kann. Sowohl auf intellektueller Ebene, im Vergleich zu sehenden Kindern, als auch im Vergleich zu anderen blinden Kindern. Das ist der Grund, weswegen wir hier diese Wochenenden anbieten, damit sich die integrierten Schüler auch mit Gleichgesinnten vergleichen können. Andererseits kann man bei diesen Gelegenheiten natürlich auch lernen, Probleme zu relativieren. Also in einer Integration gibt es sicher einige Situationen, wo man merkt: „Da hab ich einen Nachteil aufgrund der Blindheit.“ Und du musst dich viel bewusster damit auseinandersetzen, diese Nachteile auch wieder zu relativieren und zu sagen: „Es ist ein Nachteil, aber ich habe den Job zu lernen, wie ich am besten damit arbeiten kann und das kompensieren.“ Und das macht dich eben wieder fit für später, für den Beruf, für das Studium. Wir informieren z.B. die Assistenzkraft darüber, auch in diesen Situationen, in denen der Sehgeschädigte Schüler zuerst einen Nachteil hat, z.B. in Mimik und Gestik, eine Zeit lang zumindest, den Übersetzer zu spielen, damit das Kind entsprechende
Copingstrategien
ausbilden
kann.
Wir
haben
als
Integrationszentrum eben auch die Aufgabe, auf diese Heterogenität der Gruppe der blinden Schüler zu reagieren, die übrigens viel größer ist, als die der Sehenden Schüler. Und jetzt komme ich zurück auf das, was ich vorher mit dem Vergleich mit Sehenden auch ausdrücken wollte. Also, ich empfinde es so, dass eine Integration eine Riesenmotivation in der Grundschule sein kann, eine Riesenmotivation dann wieder gegen Ende der Schulzeit und ein riesiges Problem in der Zeit der Pubertät. Das machen wir dann den Eltern auch schon relativ früh bewusst, dass es Trauerphasen geben wird, wo der blinde Schüler, die blinde Schülerin feststellt: „Hey, nur wegen meiner Blindheit bin ich nicht attraktiv!“ Dann kommt eben die Phase, wo die Mädels nur noch in den Spiegel gucken, sich schminken, irgendwie auffallen wollen und du hast es mit einer 128
blinden Mitschülerin zu tun, die das nicht einmal wahrnimmt, wie schön du bist. Ist blöd oder? Und die Erfahrung ist da, dass es dann eben auch wichtig ist, eben auch wieder aus diesem Loch herauszukommen und dann vielleicht daraus auch eine Stärke zu gewinnen, die dich vielleicht auch sicher macht und sagen lässt: „Wenn jemand etwas mit mir zu tun haben will, dann hat das auch ganz andere Beweggründe und die sind mir wichtig.“ Man hat dann eben aus dieser Situation der Blindheit heraus die Möglichkeit, zu viel erwachseneren Umgangsformen zu kommen, nämlich Beziehungen
in
tragen
Kontextgeschichten,
der Hinsicht herauszufinden, was wirklich gute und
das
das, was
eben
sind
ja
nicht
diese
wirklich
gute
Kommunikation
visuellen und
gute
Beziehungen ausmacht, das läuft auf anderen Wegen ab. Verbal hat man ja unter Umständen auch die Chance, Beziehungen auf einer viel tieferen Ebene zu verankern, als dieses oberflächliche Geplänkel. Ich finde auch, dass man eben diese Effekte auch in den Klassen bemerkt, also in der Grundschulzeit auf jeden Fall. Die Schüler sind es gewohnt, Dinge sehr genau beschreiben zu lernen, also wir hatten z.B. bei Melanie den Fall, dass die Mitschüler immer sagten: „Das ist ungerecht, wie schafft die das immer, so schnell auswendig zu lernen?!“ Und da haben eben die Lehrer einmal ein Gedicht mit der ganzen Klasse unter der Augenbinde erschlossen und sie haben wirklich schneller gelernt. Also hab ich wirklich einen Nutzen, wenn ich manchmal eben auditiv vorgehe und mich nicht ablenken lasse durch zu viele visuelle Extras die mir gar nichts nützen. Und das ist ja auch ein Vorteil, den du als blinder Mensch hast: du bist nicht abgelenkt durch tausend andere kleine Bildchen, die dir in dieser Situation nichts nützen; du konzentrierst dich aufs Wesentliche. Bei den Schülern, die ich kenne und die gut sind, kommt das genau nämlich zum tragen: die vergessen nämlich Dinge viel seltener. Das ist auf einer tieferen Ebene gelernt durch Begriffsbildung, durch zusätzliches taktiles Material, durch vielleicht das Konzentrieren auf das Wesentliche, auf die Essenz. Du musst vorsortieren als blinder Mensch, und wir können den Schülern zeigen wie. Ein Bild wird vereinfacht, die Beschreibung wird angepasst auf das Erfahrbare und damit hast du aber auch die Chance für dich, das auch echt zu speichern, das hält eine Weile, manchmal für immer, das ist dann sozusagen auf der Festplatte. Das sind aber auch Dinge, die können im Extremfall eben auch zu Neid in der Klasse führen - bei Melanie ist das auch 129
gelegentlich der Fall. Wir hatten auch schon Situationen, wo die sehenden Schüler auch das gleiche Material wie der blinde Schüler benutzen wollten, weil eben alles klarer dargestellt ist. Oftmals sind das in den Schulbüchern ja geradezu Comics, die erst einmal entschlüsselt werden müssen, bevor man sie verstehen kann. Und wie viele Situationen gibt es, in denen man Dinge viel besser durch ein Modell erfährt. Ich hatte neulich eine Schülerin, da kam das Thema Gelenke dran, und ich habe der blinden Schülerin eben entsprechende Modelle aus Holz mitgebracht. Da wäre es ja quasi ein Drama, wenn nicht auch einmal die sehenden Schüler von ihren Buchzeichnungen wegkämen und dieses Modell erfahren dürften. Und dieses Profitieren voneinander ist da geradezu enorm. Ganz klar! Wir machen ja auch immer Fortbildungen mit den Grundschullehrern und nach der letzten Fortbildung wurde gesagt, Originalton: „Nach der Erfahrung von heute muss ich sagen, Frau Ziehmann, dass ich wahrscheinlich 60 bis 70% der Schulbuchseiten rauswerfen muss und mich lieber auf ein paar Medien beschränke, die richtig gut sind.“ Also in der Grundschule kann man noch auf solch intensiven Ebenen arbeiten. Das hört dann aber irgendwann auf. Irgendwann geht es nur noch darum: wie kann man möglichst effektiv die verlangten Materialien vermitteln und reduzieren? Die Schulbuchseiten eben wieder zu reduzieren auf diese wesentlichen Inhalte und gemeinsam abzusprechen, was wirklich wichtig ist und wirklich übertragen werden soll. Man schafft es nämlich wirklich nicht, jeden Inhalt darzustellen. Das wäre viel zu umfangreich mit allen Fächern. Die Assistenzkraft hat da wirklich viel zu tun und da treffen wir dann eben didaktische Vorabsprachen mit den Kollegen, bei denen die Assistenzkraft auch dabei ist und deren Job ist es wiederum, das Abgesprochene entsprechend für die blinde Schülerin, den blinden Schüler umzusetzen, zu adaptieren. Im Laufe der Schulzeit wird dann auch die Anwesenheit der Assistenzkraft reduziert, damit kein übermäßiger sozialer Bezug auf den Helfer stattfindet, der ja auch bei einer Integration nicht erwünscht ist. Gerade im technischen Bereich haben wir Effekte dadurch, dass sich alle Beteiligten der Integration mit der aktuellen Technik befassen müssen, die sehr weitreichend sind. Mir fällt jetzt z.B. eine Schule ein, wo sämtliche Lehrkräfte eine ECDL-Prüfung12 absolvieren, dadurch auf den technischen Stand gebracht werden und selbstverständlich auch persönlich davon profitieren. Also, da sind die Verknüpfungen mittlerweile vielfältig. 12
European Computer Driving Licence
130
Insgesamt denke ich, hast du momentan gute Chancen, dich in dieser Gesellschaft zu integrieren und deinen Platz zu finden. Mit den Möglichkeiten, die heute aktuell gegeben sind, kannst du, wenn du das möchtest, eine Menge Perspektiven aufbauen und dich selbst sehr weit verwirklichen. Auch als Blinder oder Sehbehinderter.
131
Dirk Hattenhauer und Elke Meinhardt-Nanz sind Integrationslehrer an der Nikolauspflege Stuttgart und betreuen blinde und sehbehinderte Schüler im Regierungsbezirk.
Hattenhauer: Ich habe die Fragen, die sie mir ja auch schon im Voraus per Mail zugeschickt haben, jetzt vor mir liegen und würde sie gerne in einer etwas anderen Reihenfolge beantworten, weil ich mich dann vom logischen Aufbau her wohler fühle. Ich hoffe, das stört sie nicht allzu sehr. Prinzipiell
ist
es
natürlich
schwierig,
generell
die
Frage
nach
den
Unterrichtseffekten zu stellen. Wir können natürlich gerne sagen, wie wir´s gerne hätten, sozusagen den Optimalfall schildern. Ob das in der Praxis auch so umgesetzt wird, das ist eine ganz andere Frage. Ich denke, ganz wichtig ist der Punkt, den Sie auch bereits in der Einführung angesprochen haben: Die beschreibende Sprache. Ganz konkret: mir passiert es immer wieder, dass ich von Kollegen angesprochen werde, die einen Film im Unterricht zeigen wollen, dass dann die Frage kommt: „Was machen wir denn da?“ „Soll ich dem sehgeschädigten Schüler da im Voraus noch eine schriftliche Beschreibung geben oder was ist zu tun?“ Und da liegt die Lösung viel näher. Es wird ja meistens ohnehin im Nachhinein noch einmal wiederholt. Kein Film bleibt an sich völlig unkommentiert, weil er ja einen Zweck verfolgt. Sämtliche Schüler sollen ja auf den Stand kommen, noch einmal zu verinnerlichen: „Was haben wir da eigentlich gesehen?“ Und bereits da kommen die verschiedensten Eindrücke zusammen. Der Eine hat das gesehen, der Andere hat jenes gesehen. An diesem Punkt genau kann der Sehgeschädigte auch seine Informationen herausziehen. Er bekommt ja akustisch alles mit - und hundertmal besser als die normalsichtigen Schüler. Und die anderen Kerninformationen, die über das Optische vermittelt wurden, erhält er quasi über die Augen seiner Mitschüler auf verbalem Weg. D.h. selbst wenn man’s optimal gestalten will, braucht der Schüler auch nichts anderes, als das, was für die anderen Schüler auch wichtig ist. Was hingegen sinnvoll ist, ist dann noch mal eine Schwerpunktsetzung hin zu einer tiefer gehenden Reflexion der normalsichtigen Mitschüler hin zu einer noch genaueren Beschreibung und zwar zu so einer Beschreibung, dass der Sehgeschädigte damit auch etwas anfangen kann, das kann man trainieren, 132
aber die Technik, die Grundmethode, weicht ja dadurch kaum von derjenigen ab, die ich im Optimalfall in so einer Unterrichtssituation ohnehin benutzen sollte.
Meinhardt-Nanz: Wobei man natürlich ergänzend sagen kann, dass wir ja die Assistenzkraft mit im Unterricht haben, das ist jetzt relativ neu, das war zu Ihren Zeiten vermutlich noch rigider gehandhabt, nicht wahr? Aber Sie haben es trotzdem geschafft, und es wird mit dieser Assistenzkraft auch unterschiedlich gehandhabt. Also, ich habe zur Zeit einen Schüler, der nicht in jeder Stunde eine Assistenz hat, denn wir haben gemerkt, dass er dadurch sehr bequem wurde und hat sich sehr auf die Assistenzkraft verlassen, wurde auch sozial sehr isoliert dadurch und da war kürzlich jetzt ein Gespräch in der Schule, bei dem man sich dann einig wurde, die Assistenzkraft so weit wie möglich aus dem Unterricht herauszuziehen und nur noch in den Fächern, in denen die Unterstützung unumgänglich ist, die Hilfskraft im Unterricht einzusetzen. Zu diesen Fächern gehört sicherlich Mathe, und im Prinzip alle anderen Fächer auch, die stark grafisch orientiert sind. Hingegen, in den sprachlichen Fächern, da ist er mittlerweile dann alleine und muss selbständig zu Recht kommen und das hat ihm
insgesamt
auch
wirklich
einen
großen
Schwung
hin
zu
mehr
Selbständigkeit gegeben. Jetzt redet er auch viel mehr über seine Bedürfnisse, was er früher gar nicht getan hat, weil das die Assistenzkraft abgefedert hat. Wobei wir prinzipiell es natürlich schon empfehlen, dass die Assistenzkraft in jeder Stunde dabei sein können sollte, das hängt auch davon ab, wie weit der Schüler in der Schule ist.
Hattenhauer: Das hängt auch natürlich mit davon ab, was der Schüler möchte. Es gibt durchaus auch Schüler, die deutlich sagen: „Nee, die Assistenzkraft soll mal schön die Materialien übertragen und im Hintergrund arbeiten, aber ich will nicht diese Abschirmung, ich will nicht „gepuffert“ werden oder das da evtl. etwas gefiltert wird, sondern, ich möchte ja schon am Unterricht teilnehmen und zwar direkt, mit allen Ecken und Kanten.“
133
Eben, es kann dann doch relativ schnell passieren, dass der soziale Fokus sich auf die Assistenzkraft anstatt auf den Schüler richtet, oder umgekehrt, dass die Lehrer vielleicht wirklich zur Assistenzkraft hingehen und fragen: „Wie machen wir´s denn jetzt mit dem oder der?“ anstatt eben die Schülerin oder den Schüler selbst zu fragen, wo ihre oder seine Bedürfnisse liegen. Das ist immer die ganz große Gratwanderung, die die Assistenzen eben immer hinkriegen müssen, einerseits eben zu assistieren und andererseits eben nicht das abzufangen, was normaler Unterrichtsalltag ist, was der Schüler auch selbst handhaben kann und das ist eigentlich eine sehr hohe Anforderung. Wir versuchen auch in stofflicher Hinsicht natürlich so nah wie möglich am regulären Unterricht dran zu bleiben. Aber Sie können sich ja sicher vorstellen, und das haben Sie wahrscheinlich ja auch während ihrer Arbeit schon gemerkt, dass besonders das grafische Arbeiten Grenzen hat, wo in Teilen evtl. auch einmal zieldifferent unterrichtet werden muss, z.B. in Bildender Kunst. Aber Maßgabe ist immer, all das auch zu machen, was die sehenden Mitschüler tun und das gelingt in den allermeisten Fällen auch sehr gut, obwohl es natürlich eine enorme mentale Leistung seitens des sehgeschädigten Schülers erfordert. Natürlich muss man sagen, dass das zielgleiche Unterrichten immer die höchste Priorität hat, sonst wäre eine Integration ja auch weitaus schwieriger, und dass insofern, beispielsweise in Fächern wie Physik oder Chemie, die ja durchaus auch eine starke grafische Komponente haben, als dass die Assistenzkraft und der Schüler eben auch mal etwas nacharbeiten müssen, um dieses Ziel zu erreichen.
Meinhardt-Nanz: Ja, mein Kollege hat es gerade eben schon angesprochen, es gibt natürlich Bereiche, in denen macht es dann letztlich auch irgendwann keinen Sinn mehr, zielgleich zu unterrichten. Wenn ich beispielsweise an den Sportunterricht denke, an ein wildes Fußballspiel oder Gruppenballspiele allgemein, da muss dann eben deutlich geschaut werden. Entweder es haben alle die Augenbinde, oder man spielt gemeinsam Spiele, die für Blinde auch geeignet sind, z.B. Torball, oder Blindenfußball, wie es zur Zeit gerade durch die Presse geht, aber ansonsten hier auch mal lieber sagen: „Wenn das nicht geht, dann eben auch mal ein Alternativprogramm.“ Gerne auch mit der Assistenz: Tandem fahren, Joggen… 134
Hattenhauer: Wir haben auch einen Schüler, der hierfür in das nahe gelegene Fitnessstudio ausweicht, aber eigentlich ist das dann ja etwas am Sinn der Integration vorbei. Das ist eben die Notfallmaßnahme, wenn sonst nichts anderes geht, aber das soll nicht die Regel sein.
Meinhardt-Nanz: Ja, eben nur für diese Unterrichtseinheiten. Wenn später z.B. die Einheit Geräteturnen kommt, dann ist der Schüler selbstverständlich wieder dabei. Und auch hier wieder mit der Assistenz aber nicht unbedingt nur, um jetzt dem blinden Schüler Dinge zu erklären, das sollen ja die anderen Mitschüler in der Hauptsache machen, sondern auch eher als Sicherheit für die Kollegen, vor allem auch für Kollegen, die vielleicht etwas ängstlicher sind in irgendeiner Form und sagen: „Oje, was kann da denn alles passieren…“. Dass man in so eine Unterrichtssituation einfach etwas Beruhigung reinbringt und das Ganze auf ein gutes Fundament stellt, das ist ebenfalls oft ganz wichtig.
Hattenhauer: Aber da sind wir an einem Punkt, wo es auch enorm auf den Schüler ankommt. Das war ja auch eine ihrer Fragen gewesen, was sich am Unterricht direkt ändert. Ich habe jetzt zwar noch nicht so viel Erfahrung, aber meiner Meinung nach hängt das generell immens vom Schüler und seiner Persönlichkeit ab. Wenn ich einen Schüler habe, der in der Regel nachfragt, wenn er etwas nicht verstanden hat, der versucht, teilzuhaben, dann ändert sich mit Sicherheit was an der Kommunikation. Es ist dann in der Regel so, dass von den Mitschülern ganz automatisch die Anmerkung kommt: „Oh, das sollte man vielleicht noch mal erklären.“ Oder: „Hast du das jetzt mitgekriegt?“ Wenn sich der Schüler aber zu wenig einbringt, oder so einbringt, dass es für die anderen sozial nicht zu akzeptieren ist, dann ist es, wie mit jedem anderen Mitschüler auch: wenn der mir komisch vorkommt, dann hab ich vielleicht nicht wirklich Lust auf den. Ich denke, das ist ein großes Thema, was die Kommunikation unter den Schülern angeht.
135
Meinhardt-Nanz: Ich denke, dann ist das auch noch mal zeitlich unterschiedlich. In der Grundschule wäre jetzt das Thema Vorpubertät, bei Kindern, so in der dritten Klasse, das da schon mal eine Isolation passieren kann, das haben wir in der Beratung auch schon mal erlebt, dass einfach die Spiele zwischen den Schülern anders werden. Aber auch am Gymnasium, das wären dann die Jahrgangsstufen 7 bis 9, da klaffen dann eben auch mal die Interessen auseinander oder die Zugänge zu Interessen. Da kann es je nach Persönlichkeit des integrierten Schülers auch Schwierigkeiten geben. Und da muss dann eben mit dem Schüler zusammen überlegt werden: „Woran liegt´s und was können wir machen?“ Oftmals hilft es auch, dass wir die Klasse vielleicht noch mal mit der Augenbinde konfrontieren, um einfach die Klasse wieder auf die spezielle Situation des Schülers zu sensibilisieren. In dem Kontext kann man manche Dinge auch noch mal ganz gezielt üben, die manche Schüler einfach brauchen, sehende Begleitung beispielsweise. Das kann dann schon sehr helfen. Ich erinnere mich, dass ich einmal z.B. in einer siebten Klasse so eine Sensibilisierung gemacht habe, da war es dann sowieso extrem schwierig, weil sich die Mädchen und die Jungs nicht vermischen wollten, also auch Scheu irgendwo. Und da haben wir dann sehende Begleitung geübt, es war nicht möglich, dass ein Mädchen mit einem Jungen zusammen den Weg ins Klassenzimmer geht, da gab’s richtig Stress! Danach haben wir dann noch mal ein Frühstück mit der ganzen Klasse unter der Augenbinde gemacht und haben ein paar nette Fotos von den Schülern geschossen, was alles an Überschwemmungen und Missgeschicken passiert war. Also, mit so etwas erreicht man schon ein gewisses Hineinfühlen der Klasse, und dann geschieht auch in der Regel eine Verbesserung der Situation. Mit so etwas kann man den Klassenkameraden auch einfach mal wieder ins Gedächtnis rufen, dass sie manche Dinge jetzt einfach braucht, dass das aber im Prinzip nichts besonders anderes ist. Oder auch, was auch oft vorkommt, zu denken, dass sie nur Vorteile hätte, das sind ja auch solche Aspekte, dass die Mitschüler hergehen und sagen: „Ja, die bekommt ja dauernd Hilfe von ihrer Assistenz! Wenn ich dauernd jemanden neben mir hätte, hätte ich auch bessere Leistungen.“ Solche Dinge können im Sozialverhalten eben auch auftreten.
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Hattenhauer: Ich denke, wichtig ist einfach, dass es jetzt nicht so ist, dass die Mitschüler ständig daran denken, was die Sehschädigung bedeutet oder welche Bedingungen der Schüler jetzt hat, sondern, das alles verschleift sich auch sehr stark. Und auch das wiederum abhängig vom integrierten Schüler. Wenn sich der Schüler jetzt gut mit einbringt, einfach präsent ist, dann haben’s die Mitschüler auch eher drin: „Ach, stimmt, da war ja was…“ Wenn sich der Schüler jetzt eher zurückzieht, dann ist es häufig eher nötig, dass man noch mal eine Einheit zur Sensibilisierung macht. Das ist aber wirklich extrem stark davon abhängig, wie sich der Schüler eben im Klassenverband präsentiert. Ich würde mich jetzt aber scheuen, so weit zu gehen und zu sagen, dass der integrierte Schüler jetzt immer alles einfordern müsste. Es ist ja auch ein Miteinander und ich kann vom blinden Schüler eigentlich nicht erwarten, dass praktisch er immer derjenige ist, der, wenn man so will, ständig mit der „roten Lampe“ herumläuft, und sagt: „Hey, hallo ich brauche dies und jenes“. Das ist ja auch ein enormer Stress, dem ich mich da aussetze. Sondern es ist eher so, dass, wenn intakte Klassenstrukturen da sind, dann funktioniert dieses Miteinander ziemlich reibungslos. Wenn die Klassenstrukturen durch Pubertät oder Ähnliches gestört sind, dann krieselt’s auch in dieser Hinsicht. Wichtig ist eben, dass, wenn der Schüler etwas einfordert, dass er es dann sozial adäquat einfordert und eben auch nicht die ganze Zeit, sondern nur, wenn er es wirklich braucht, sonst haben die Mitschüler schnell das Gefühl, dass sie die ganze Zeit auf ihn aufpassen müssen und da kann es dann zu massiven Problemen kommen.
Meinhardt-Nanz: Ein weiterer wichtiger Aspekt, finde ich, ist dann auch dieser, dass wir regelmäßig beraten, weil es eben auch von Lehrerseite her Kollegen gibt, die die
Integrationsmaßnahmen
im
Unterricht
intensiver
unterstützen,
sich
reinknien, bis in die Abendstunden Modelle bauen. Gerade für Erdkunde z.B., da betreue ich gerade einen Schüler in der sechsten Klasse, der hat einen wunderbaren Lehrer, der ihm schon Pappmaché Modelle, beispielsweise für das Thema Vulkanismus gebaut hat. So tolle Modelle haben wir hier an der Integrationsstelle nicht einmal dafür. Wir hätten vielleicht gerade mal eine Karte 137
oder so. Also man trifft manchmal ein unglaubliches Engagement bei den Kollegen an. Ja, und andererseits wiederum trifft man aber auch Kollegen an, die es dann auch einfach vergessen, dass die Assistenzkraft die Arbeitsblätter früher bekommen muss, um sie zu übertragen, also zu digitalisieren, dass es dem integrierten Schüler im Unterricht zur Verfügung steht, wo dann die Aussage kommt: „Oh stimmt, hätte ich ja machen sollen, aber ich bin erst heut morgen dazu gekommen, den Unterricht vorzubereiten.“ Und da, bin ich der Meinung, ist es nicht Aufgabe des Schülers, ständig zu sagen: „Ich brauch aber dies, ich brauch aber das…“. Da ist es wieder unsere Aufgabe, das einfach zu klären, dass das funktioniert. Ein anderes Beispiel, wo man sieht, dass hier auch einfach althergebrachte Strukturen ein Stück weit aufgebrochen werden müssen, ist auch das Folgende: Ich hatte einen Schüler in der Oberstufe, der sehbehindert war, also Texte in Großdruck benötigte, und bei ihm hat es einfach nicht funktioniert, dass er einen Großdruck kriegt. Und auch nur einen Code für den Kopierer für die Assistenzkraft zu bekommen war ein echter Kampf. Oder auch die Sache mit dem Umweltpapier. Wie oft wir den Kollegen sagen: „Bitte verwendet doch für den blinden Schüler kein Umweltpapier, weil weißes Papier einfach eine viel bessere Scannvorlage ermöglicht.“ Und weil es eben in der Schule nur Umweltschutzpapier gibt, klappt das dann in vielen Fällen eben auch nicht. Es wird einfach nicht daran gedacht und das sind dann solche Abläufe, die sehr schwer zu durchbrechen sein können. Diese Stolpersteine werden auch weiterhin existieren. Aber das kann eben nicht Aufgabe des Schülers sein, ständig sein Beschulungsrecht einzufordern, denn er ist Schüler dieser Schule, er will seinen Abschluss machen, er will nur gleichwertige Arbeitsbedingungen, mit denen er am Unterricht teilnehmen kann.
Hattenhauer: Das hängt dann unter anderem auch davon ab, wie lange die Abstände zwischen
unseren
Besuchen
sind.
Also,
wenn
wir
jetzt
größere
Beratungsabstände haben müssen, dann haben wir’s schon erlebt, dass geradezu, wenn man ins Lehrerzimmer reinkommt, das Entsetzen auf den Gesichtern der Kollegen zu sehen ist und einem der Blick entgegenschlägt: „Ah stimmt, ich hab ihn neulich vergessen, aber ich mach’s nie wieder.“ Man tritt da manchmal wirklich als so eine Art Racheengel auf und akzediert das eben 138
wieder bei den Lehrern, auch ohne dass man was gesagt hat. Ich denke, je länger der Beratungsabstand war, desto selbständiger muss der Schüler von sich aus sein Recht einfordern, dann springt’s wieder auf ein gutes Niveau, wenn die Beratungslehrer gerade da gewesen waren. Also, die große Masse scheint mir doch recht stark zum Teil im „Schema F“ verhaftet zu sein.
Meinhardt-Nanz: Es gibt da, wie überall, eben solche und solche, aber insgesamt kann man, finde ich, schon sagen, dass die Schulleitungen sehr bemüht sind. Das sieht man auch oft, dass eben, bedingt durch diese wertvolle Vorlaufzeit, die wir vor der Integration haben, dass die von der Schulleitung auch genutzt wird eben entsprechende Kollegen einzuteilen, die gegenüber der Integration auch sehr offen sind. Also, wenn man die Schulleitung überzeugt hat, und die kennt ja auch die Eigenschaften der Kollegen, dann gibt es schon ein recht hohes Maß an Flexibilität und Wohlwollen und ein guter Schulleiter würde dann einfach auch Kollegen raussuchen, die auch zuarbeiten und im Team arbeiten, mit uns als Integrationsstelle und der Assistenzkraft zusammen. Wir sind in der Vorbereitung eben auch immer bemüht, die ideale Form darzustellen, wobei es natürlich auch klar ist: das Ideale gibt es nirgends auf der Welt, das wäre schön, wir wünschen es uns immer, aber es ist unsere Aufgabe, dieses Ideal auch immer wieder hochzuhalten und in Krisensituationen zu intervenieren und herauszufinden, wo es klemmt. Dazu muss man das ganze Netz der Zuständigkeiten und Aufgabenverteilungen beleuchten und das ist viel leichter in der Grundschulintegration, weil es da einfach weniger Fachlehrer sind, oft der Klassenlehrer die ganze Zeit in der Klasse unterrichtet. Und an weiterführenden Schulen ist die Situation eben in dieser Hinsicht oftmals schwierig. Es sind dort große Klassen, der Klassenteiler wird zwar etwas herabgesetzt, aber ich hatte jetzt quasi nie den Fall, dass es weniger als 25 Mitschüler für den Sehgeschädigten waren. Und mit diesen verschärften Rahmenbedingungen noch die Fachkollegen unter einen Hut zu bringen, kann manchmal schwierig sein.
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Hattenhauer: In der Grundschule kann es natürlich auch daran liegen: Grundschule sind vier Jahre, und wenn wirklich zu Beginn der Integration die Frage in den Raum geworfen wurde: „Wer hat denn Lust, also wirklich Lust, sich in dieses Wagnis zu begeben?“ Dann kann diese Begeisterung eben über diese vier Jahre recht gut gehalten werden, eben weil es sehr wenig Fachlehrer sind. Das Ganze kann natürlich auch in weiterführenden Schulen funktionieren, wenn es eben Kollegen dort gibt, die diese Begeisterung ausstrahlen und dies auch weitertransportieren können an die Kollegen. Aber in höheren Klassen ist das Austauschpotential der Lehrer immer höher und da muss man sich schon fragen, wie diese Begeisterung weiter getragen werden kann. Wir brauchen ein Stück weit eben diese Lust bei den Lehrern, sich auszuprobieren, vielleicht auch einmal zu experimentieren und nicht sagen: „Muss ich in den Unterricht mit dem Schüler?“ Da muss ich immer so viel beachten.“ Sondern es muss die Einstellung herrschen: „Ach ja, jetzt habe ich wieder den sehgeschädigten Schüler, jetzt können wir wieder mal schauen, wie wir in diesem oder jenem Punkt weiterkommen und auf einen Nenner gelangen.“ Das bedeutet natürlich eine hohe Anforderung und Einsatzbereitschaft von den Kollegen, die da verlangt wird.
Meinhardt-Nanz: Dafür bekommen wir immer, wenn die Integrationsmaßnahme vorbei ist, von den Kollegen die Rückmeldung. Ich denke da jetzt an eine Grundschulintegration, nach der die Lehrerin gesagt hatte: „Ich wollte das wirklich machen, aber es war phasenweise auch relativ anstrengend, aber ich würde es jederzeit gern wieder einmal machen, denn es war bereichernd für mich, es war bereichernd für die Klasse, und es hat innerhalb der Klasse sehr viele positive Entwicklungen eingeleitet.“ Um nochmals auf Ihre Frage zurückzukommen, die sie mir auch schon per Email geschickt haben: Sie fragen da ja auch nach der Berechtigung von Blindenschulen, wenn der sonderpädagogische Förderbedarf auch an normalen Schulen umgesetzt werden kann. Ich denke, das knüpft direkt an die Voraussetzungen an, die Schüler bei einer Integration haben sollten. Wir sprechen in der Realität zwar von optimalen Rahmenbedingungen, bekommen sie aber in aller Regel nur reduziert. Und diese Reduktion muss der Schüler 140
abfangen und da spielt der Hintergrund des Schülers auch eine sehr wichtige Rolle. Gibt es eine Familie, die dies stützen kann, oder einen Sozialträger, der dann eintritt, wenn die Familie eben dazu nicht adäquat in der Lage ist, z.B. durch mehr Nachmittagsunterstützung oder Ähnliches. In diesem Zusammenhang gibt es natürlich dann auch Kinder, die es unter diesen Rahmenbedingungen einfach nicht schaffen können und in Klassen mit 33 Schülern einfach nicht genügend lernen würden für ihr Leben. Deshalb ist es sicher gut, wenn man immer noch die Möglichkeit hat, auf eine Sonderschule zu gehen. Gerade weil wir ja auch während der Schulzeit auch einige Wechsel haben. Einige gehen geradlinig durch, andere haben Wechsel hin zum einen oder anderen System. Klar haben wir in Baden-Württemberg ein sehr parallel ausgebautes Schulsystem mit Sonderschule und Regelschule. Aber selbst in SchleswigHolstein, wo es keine Sonderschule für Sehgeschädigte gibt, haben wir die Situation, dass Rahmenabkommen mit Hamburg existieren, dass, im Fall eines Scheiterns bei einer Integration, der Schüler als interner oder externer Schüler nach Hamburg auf die Blindenschule gehen kann. Oder sie versuchen natürlich noch mal eine andere Integration, z.B. an einer Förderschule etc. Nur da stellt sich dann die Frage, ob der Schüler überhaupt noch adäquat gefördert werden kann oder, ob die Sehschädigung der Grund für sein Scheitern ist und er eigentlich mehr lernen könnte. Anders ist die Sache natürlich im Ausland, z.B. in Italien. Gut, da gibt es keine Sonderschulen mehr. Aber wir hatten eine blinde Schülerin hier in der Integration und wir waren froh, dass sie ihre Ausstattung dorthin mitnehmen durfte. Es gibt dort zwar keine Sonderschulen mehr, aber es gibt dort auch nicht dieses Unterstützungssystem und dann wird es natürlich auch schwierig. Also ich denke, die Schüler sind so unterschiedlich, da muss man einfach gucken und für manche ist einfach die Sonderbeschulung besser und von dem her ist es glaube ich okay, wenn dieses Parallelsystem existiert. Es gibt einfach Alternativen für eine extrem heterogene Zielgruppe an die Hand.
Hattenhauer: Also, in Baden-Württemberg habe ich nach wie vor den Eindruck, dass die Schüler, die sich für die Integration entscheiden, definitiv mehr in der Schule 141
leisten müssen, als ihre Klassenkameraden, weil eben die Bedingungen nicht optimal
geschaffen
werden
können
und
je
nach
dem,
wie
die
Rahmenbedingungen sind, ist es eben mehr an Zusatzleistung oder weniger an Zusatzleistung, die vom Schüler kommen muss. Das Schulsystem ist letztlich so gefügt, wie es ist, wir müssen mit dem arbeiten, was uns zur Verfügung steht, wir ändern erstmal daran nichts. Und aus diesem Grund ist die Integration etwas für die leistungsfähigen Schüler, will ich mal sagen. Je mehr Förderbedarf der Schüler hat und je schwächer er ist, desto schwieriger gestaltet sich die Integration, weil einfach der Förderbedarf so hoch wird, dass er von der integrierenden Schule einfach nicht mehr abgedeckt werden kann und dafür die Ressourcen nicht existieren.
Meinhardt-Nanz: In Punkto Förderbedarf hat das Schulamt auch noch ein Wörtchen mitzureden, da ja die Entwicklung des Kindes im Vordergrund steht. Da sind dann auch schon Entscheidungen gefallen, die gegen die der Eltern standen. Von dem her ist die Integration auch weiterhin nicht immer machbar und auch nicht uneingeschränkt frei möglich. Selbst im Schulgesetz sind immer noch wachsweiche Formulierungen enthalten, die dem Schulamt immer das Türchen für eine Sonderbeschulung offen halten. Man könnte dann natürlich den Rechtsweg gehen, aber dann stellt sich für uns die Frage: „Sind dann noch die positiven Voraussetzungen gegeben, diese Freiwilligkeit und Motivation bei den Lehrern hervorzurufen, wenn, mal den schlimmsten Fall angenommen, die Eltern sich die Zusage zur Integrationsbeschulung erkämpfen und die aufnehmende Schule sozusagen gezwungen wird, den Schüler zu beschulen. Das geht, glaube ich, vorbei an dem, was wir wollen. Unser Wunsch ist wirklich, Überzeugungsarbeit zu leisten und deshalb fangen wir auch so früh an, um auch ein entsprechendes Vorfeld abzuprüfen und zu schaffen.
Hattenhauer: Motivationsträger muss in erster Linie wirklich immer der Schüler sein. Auf ihn kommt, trotz aller Hilfestellungen, das Gros an Mehrbelastung zu. Das kann aber auch motivierend wirken. Ich weiß also von einem Schüler, der einfach gesagt hat: „Ich will das jetzt wissen. Ich weiß, wie es ist, an einer Sonderschule 142
zu sein und jetzt will ich wissen, wie es ist, an einer normalen Schule zu sein und mich den Herausforderungen stellen.“ Also, es wird ganz oft als positive Herausforderung begriffen.
Meinhardt-Nanz: „Und ich werde später in der sehenden Welt studieren und möchte das vor dem Studium schon kennen lernen.“
Hattenhauer: Ja, dieses „Sich messen wollen“ spielt eine große Rolle und auch die strategische Überlegung, was später auf den Schüler zukommt und dafür schon bei Zeiten etwas gemacht werden möchte. Sozusagen, um den „Schock“ abzudämpfen. Aber das sind doch, insgesamt gesehen, nicht viele Entscheidungen, die auf diese Weise getroffen werden, meistens beginnt die Karriere der Integration ja schon in der Grundschule, wo dann einfach klar ist, dass dieser Weg auch weiterverfolgt wird. Ich habe auch immer den Eindruck, dass es auch eine wesentliche Rolle bei den Eltern spielt, die Frage: „Wo ist mein Kind denn nun? Ist es weit weg, im Internat, oder vor Ort an der normalen Schule?“
Meinhardt-Nanz: Das wollte ich jetzt auch noch erwähnen, es wird seitens der Eltern immer sehr genau geschaut, ob die Rahmenbedingungen für eine integrative Beschulung vor Ort irgendwie zu ermöglichen sind. Also es werden alle Alternativen geprüft, um das Internat zu vermeiden. Wenn beides prinzipiell erreichbar ist, hatten wir auch schon den Fall, dass innerhalb der Familie unterschiedliche Meinungen hinsichtlich der Schulfrage geherrscht haben, da wird’s dann sehr heikel.
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Hattenhauer: Dass die wohnortnahe Beschulung attraktiv ist, sehen wir auch an der integrativen, wohnortnahen Ausbildung, die es mittlerweile auch gibt und da ist es natürlich auch so, dass man in seinem Umfeld verhaftet ist, und dass man versucht, erstmal dieses Umfeld beizubehalten, „denn dann muss ich mich nicht an so viele neue Sachen gewöhnen.“ Das ist gesund und normal. Und deshalb wird das, schätze ich, jetzt ein Bereich werden, der immer größer werden wird, weil es eben für das Sozialleben viel günstigere Auswirkungen hat. Wir merken jetzt schon die ersten Effekte, dass eben mittlerweile auch die technischen Bedingungen für eine Integrationsmaßnahme viel besser geworden sind. Wir verzeichnen steigende Zahlen bei den Integrationen und vor allem bei den integrativen Berufsausbildungen.
Meinhardt-Nanz: Die ersten Effekte gibt es ja auch schon, die auf der verbesserten Betreuung der Schüler basieren. Also, mittlerweile tue ich mich persönlich auch leichter zu sagen: „Wir probieren es.“ Wobei man eine Integration nicht als Experiment handhaben sollte, denn sonst würde man mit der Zeit und dem Sozialgefüge von Kindern spielen, aber wir sind soweit, dass wir mit der Förderung, die wir momentan haben und die wir weiterhin natürlich verbessern, sagen können: „Wenn es sich die Eltern so sehr wünschen, und der Schüler ist bereit dazu und das Oberschulamt stimmt auch noch zu, dann probieren wir es doch einfach und schauen mal.“ Vor einigen Jahren noch hätte ich in dieser Situation mit einem etwas „wackeligen Kandidaten“ eher gesagt: „Lieber nicht.“ Also die Hemmschwelle, wenn Sie so wollen, ist niedriger geworden, obwohl, und das will ich auch noch mal ganz klar sagen, immer noch sehr genau hingeschaut wird, ob das Ganze Sinn machen kann. Aber sicher ist, dass der Wechsel von der allgemeinen Schule hin zur Förderschule, vor allem für die Eltern, sehr viel schwieriger ist als umgekehrt.
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Hattenhauer: Also, was man definitiv sagen kann, ist, dass sich den Kollegen von der Grundund Hauptschule schon der Eindruck vermittelt, dass die Anzahl der Förderschüler zugenommen hat, gegenüber den normal begabten, lediglich blinden oder sehbehinderten Grundschülern. Und das wird, denke ich, schon dem Effekt zugeschrieben, dass die Schüler, die leistungsfähiger sind, eher in die Integration gehen. Aber das ist ein ganz subjektiver Eindruck, den ich auch gar nicht belegen kann.
Meinhardt-Nanz: Die andere Situation ist natürlich die Änderung in der Sozialgesetzgebung, dass die wohnortnahe Beschulung vor der stationären Beschulung steht. Das ist jetzt im Sozialgesetzbuch so festgeschrieben. Insofern werden die Sozialämter jetzt immer erstmal alles vor Ort anschauen, Rahmenbedingungen anschauen, bevor ein Schüler, evtl. über Landkreisgrenzen hinweg, auf eine Schule kommt. Das war nicht immer so, da hat ein gewaltiges Umdenken eingesetzt.
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12 Anhang 2: Abbildungen der gängigsten mechanischen und elektronischen Lese- und Schreibhilfsmittel bei Sehschädigung Foto 1: Elektronisch-mechanische Brailleschrift-Schreibmaschine
Quelle: Eigene Aufnahme Foto 2: Gängige Arbeitsplatzausstattung mit Notebook und 40-stelligem BrailleDisplay
Quelle: Eigene Aufnahme 146
Foto 3: Gängiges 40-stelliges Brailledisplay zum Anschluss an einen fest installierten Rechner
Quelle: Eigene Aufnahme
Foto 4: Vier mobile elektronische Lupen für starke Textvergrößerungen
Quelle: Eigene Aufnahme 147
Foto 5: Diverse Lupenbrillen und Fernrohr-Lupenbrillen nach Galilei und Kepler
Quelle: eigene Aufnahme
Foto 6: Diverse Monokulare in verschiedenen Größen
Quelle: Eigene Aufnahme 148
Foto 7: Diverse Hellfeldvisolettlupen in verschiedenen Größen
Quelle: Eigene Aufnahme
Foto 8: Diverse Handlupen mit Beleuchtung in verschiedenen Größen
Quelle: Eigene Aufnahme 149