Die Entwicklung der Menschheit von der Kindheitsphase zur Erwachsenenreife

Die Entwicklung der Menschheit von der Kindheitsphase zur Erwachsenenreife Georg W. Oesterdiekhoff Die Entwicklung der Menschheit von der Kindheits...
Author: Gretel Bauer
2 downloads 3 Views 1MB Size
Die Entwicklung der Menschheit von der Kindheitsphase zur Erwachsenenreife

Georg W. Oesterdiekhoff

Die Entwicklung der Menschheit von der Kindheitsphase zur Erwachsenenreife

Georg W. Oesterdiekhoff Köhnestr. 46, Gladbeck Deutschland

ISBN 978-3-531-19726-5         ISBN 978-3-531-19727-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-531-19727-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.springer-vs.de

Das Buch ist dem Andenken der Vorgänger und Wegbereiter der strukturgenetischen Soziologie gewidmet Lucien Lévy-Bruhl 10.04.1857 (Paris) – 13.03.1939 (Paris) Jean Piaget 09.08.1896 (Neuchâtel) – 16.09.1980 (Genf) Aleksandr Romanovic Lurija 03.07.1902 (Kasan) – 14.08.1977 (Moskau) Ernst Cassirer 28.07.1874 (Breslau) – 13.04.1945 (New York) Norbert Elias 22.06.1897 (Breslau) – 01.08.1990 (Amsterdam) Sir James George Frazer 01.01.1854 (Glasgow) – 07.05.1941 (Cambridge)

Vorwort

Wir glauben also, dass der Tag kommt, an dem man das kindliche Denken im Vergleich zum Denken des normalen und zivilisierten Erwachsenen auf dieselbe Ebene stellt wie das ´primitive Bewußtsein´, das Lévy-Bruhl definiert hat, wie das autistische und symbolische Denken, das Freud und seine Schüler beschrieben haben, und wie das ´krankhafte Bewußtsein´, wenn man nicht annehmen will, dass dieser Begriff, der auf Charles Blondel zurückgeht, eines Tages mit dem vorhergehenden verschmolzen wird. (Jean Piaget, Urteil und Denkprozeß des Kindes, Frankfurt am Main: Ullstein 1981, S. 250 f) In zahlreichen Untersuchungen hat Jean Piaget die Analogien zwischen den kognitiven und moralischen Konzeptionen von primitiven Gesellschaften und denen der ersten Phasen des kindlichen Denkens aufgezeigt. Die Stadien der ontogenetischen Entwicklung, darunter das mathematisch-logische Denken wie auch die elementaren Kategorien des Bewußtseins und der Moral, kann man auch in der historischen Entwicklung der Menschheit antreffen. (Laura Ibarra, Creencias, mitos y rituales en el mundo prehispánico, Guadalajara, México: Universidad de Guadalajara 2007, S. 13, übersetzt von G. O.)

Das Buch liefert eine Einführung in das Programm der strukturgenetischen Soziologie, das ich in den letzten 30 Jahren auf der Grundlage von 10 Büchern und zahlreichen Aufsätzen entwickelt habe. Das Programm basiert im Wesentlichen auf der Entwicklungspsychologie und ist als eine Theorie der Menschheits- und Kulturgeschichte ausgebaut. Das Theorieprogramm beinhaltet eine Theorie sozialen Wandels und sozialer Evolution, eine Theorie der Entwicklung von Ökonomie, Gesellschaft, Kultur, Literatur, Kunst, Wissenschaften, Religion, Recht, Moral, Sitten und Alltagspraktiken. Der Sachverhalt der anthropologischen und psychostrukturellen Entwicklung der Menschheit von einfacheren, kindnahen zu reiferen und höheren Stufen ist der grundlegendste und faszinierendste Sachverhalt der Geistes- und Sozialwissenschaften. Dieser Sachverhalt bildet den Kern meines Theorieprogramms. Man kann die Kernstrukturen der vormodernen und der modernen Gesellschaften sowie die VII

VIII

Vorwort

Basismerkmale von vormodernen und modernen Menschen nur im Lichte dieses Theorieprogramms verstehen. Man kann die Geschichte von Gesellschaft, Kultur, Religion, Moral, Sitten, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft nur auf dieser Basis deuten und begreifen. Die Geistes- und Sozialwissenschaften insbesondere zwischen 1850 und 1950 waren auf einem guten Weg, diese Zusammenhänge zu verstehen. Zwar ist diese große Tradition auch zwischen 1950 und heute nie abgebrochen worden, sondern hat eine ganze Reihe bemerkenswerter Beiträge auch in diesem Zeitabschnitt hervorgebracht, die aber keine zentrale Rolle in der Diskussion mehr gespielt haben, im Unterschied zu den ähnlich gelagerten Ansätzen der Vorkriegszeit. Die Geistesund Sozialwissenschaften der Vorkriegszeit waren in der Grundlagenforschung besser als danach. Sie hatten ein tieferes Verständnis von vormodernen und modernen Gesellschaften, von der Entwicklung von Zivilisation, Kultur, Rationalität, Wissenschaft und Fortschritt. Sie hatten einen objektiveren Blick für die Rolle der geistigen Entwicklung in geschichtlichen Verläufen und für die Entstehung der Industriemoderne. Sie hatten ein differenzierendes Verständnis von unterschiedlichen Kulturstufen und Zivilisationsstandards, von Abgründen des Aberglaubens und vom Ausmaß primitiver Sitten in vormodernen Kulturen sowie von den Voraussetzungen, die gegeben seien müssen, um anspruchsvollere und zivilisiertere Kulturstufen erklimmen zu können. Die heutigen Geistes- und Sozialwissenschaften sind gut in der Sammlung von Detailkenntnissen, aber versagen vollkommen in der Grundlagenforschung und Theoriebildung. Sie haben kein wirkliches Wissen von der Psyche, Mentalität und Denkweise primitiver Menschen, daher auch nicht über die Spezifik und die Bedingtheit der Psyche des modernen Menschen. Sie haben kein wirkliches Wissen über die Irrationalität vormoderner Gesellschaften und die Evolution der Rationalität in der Neuzeit. Daher sind die Arbeiten zur Geschichte der Wissenschaften, der Religion, der Politik, der Moral, der Sitten, der Industrie und der Familie durch eine erstaunliche Oberflächlichkeit gekennzeichnet, infolge der ideologischen Brille, durch die Kulturrelativisten soziale Fakten sehen. Oberhalb der Detailstudien herrschen oberflächliche und ideologische Generaltheorien, deren Belanglosigkeit und Realitätsferne im kritischen Betrachter Grauen erzeugen. Man kann in der Grundlagenforschung daher tatsächlich eine Regression des Niveaus feststellen, eine Regression, die zu überwinden Anliegen der strukturgenetischen Soziologie ist. Gelehrte vom Schlage eines Lucien Lévy-Bruhl, Ernst Cassirer und Jean Piaget wären entsetzt, würden sie heutige Kongresse über soziologische oder ethnologische Theorie besuchen oder läsen sie den Käse, der heute die Gemüter in Schwingungen versetzt. Die strukturgenetische Soziologie kehrt aber nicht einfach zu den klassischen Ansätzen zurück, sondern geht weit über sie hinaus. Ich verstehe die strukturge-

Vorwort

IX

netische Soziologie als Erbe und Entwickler der großen klassischen Theorieansätze wie zum Beispiel der klassischen Soziologien von Auguste Comte, Leonard Trelawny Hobhouse, Norbert Elias, Max Weber und Émile Durkheim, der klassischen britischen Anthropologie von Edward Tylor und James George Frazer, der Ethnologie von Denken und Weltbild von Lucien Lévy-Bruhl und Edward Evans-Pritchard, der Entwicklungspsychologie von Jean Piaget, James Mark Baldwin, Stanley Hall, Heinz Werner und Alexander Lurija und auch der Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer. Man kann in diesem Zusammenhang auch noch die Völkerpsychologie von Wilhelm Wundt und die Vertreter von historischen Disziplinen nennen, insoweit diese die grundlegende Rolle der Entwicklungspsychologie erkannt haben, wie z. B. Hermann Schneider, Karl Lamprecht, Peeter Tulviste, Laura Ibarra, Emma Brunner-Traut, William Stern, Charles Radding, Felix Krüger, Friedhart Klix, Donald Le Pan, Suzi Gablik, Jean Ziégler, aber auch Edward Clodd, John Lubbock, Alfred Vierkandt, Henri Frankfort, Jean Gebser und Bruno Snell. Man kann die klassischen Ansätze nur vor dem Hintergrund der besseren empirischen Grundlagen und der stärkeren theoretischen Strukturen der strukturgenetischen Soziologie richtig verstehen. Diese hilft dabei, die besten Traditionen der Geistes- und Sozialwissenschaften zu stützen, zu korrigieren, zu entwickeln und zu verbessern. Ohne strukturgenetische Soziologie kann man den Reichtum der klassischen Ansätze nicht ausschöpfen und nicht ausreichend würdigen. Viele ihrer Annahmen bleiben eigentümlich in der Luft hängen und unerledigt. Indem die strukturgenetische Soziologie über die Grenzen und Möglichkeiten der klassischen Theorien hinausgeht, bewahrt sie gleichzeitig vieles von ihrer Substanz und von ihren Intentionen. Die strukturgenetische Soziologie formuliert die Grundlagentheorie der Geistes- und Sozialwissenschaften schlechthin. Dieses Buch liefert die bisher beste Einführung in das Theorieprogramm. Es ist aus einer Vorlesung hervorgegangen, die ich unter dem Titel „Cultura y cognición. Pensamiento y visión de mundo en las sociedades premodernas“ am Historischen Institut der Fakultät für Humanwissenschaften der Universidad Nacional de Colombia in Santafé de Bogotá im November und Dezember 2010 gehalten habe. Es war mir ein großes Vergnügen, die Ergebnisse von 30 Jahren soziologischer und anthropologischer Forschung vor Studenten und Wissenschaftlern aus Kolumbien zu präsentieren und diese Themen mit Ihnen in einer frischen und anregenden Atmosphäre zu diskutieren. Mein Dank geht an die Studenten und Wissenschaftler der Universidad Nacional für ihre Disziplin und ihr Engagement. Dort ist auch Darío Campos und Vera Weiler zu danken, die die Gastprofessur eingerichtet und ferner mich zu einer Konferenz eingeladen haben. Auf dem XIII. Simposio Internacional de Procesos Civilizadores in Bogotá konnte ich am 10.11.2010 zwei Vorträge halten: „La psicologia del desarrollo como clave para la comprensión del desarrollo psicogenética

X

Vorwort

del hombre a lo largo de la historia de la cultura“ und „El programa de la sociologia genético-estructural“ (vgl. Oesterdiekhoff 2011 b). Diese in Lateinamerika regelmäßig stattfindenden Konferenzen stellen mittlerweile sicher, dass die Grundgedanken der Zivilisationstheorie und der strukturgenetischen Soziologie unter Humanwissenschaftlern aus ganz Lateinamerika Verbreitung finden. Der Fortschritt in der Grundlagenforschung wird davon abhängen, dass dieser Strom der Rezeption nicht mehr abreißen wird, sondern sich verbreitern und verstetigen wird, nicht nur in Lateinamerika, sondern weltweit.

Inhalt

1  Einleitung�������������������������������������������������������������������������������������������������������������     1 2  S  ozialer Wandel und soziale Evolution im Lichte der klassischen Soziologie�������������������������������������������������������������������������������������������������������������   29 3  E  ntwicklungspsychologie als Historische Anthropologie und Mikrosoziologie�������������������������������������������������������������������������������������������������   49 4  Die Entwicklung des logischen und abstrakten Denkens�������������������������   79 5  Zählen und Rechnen �����������������������������������������������������������������������������������������   99 6  Das mystische Weltverständnis�������������������������������������������������������������������� .  115 7  Träume als Realitäten ������������������������������������������������������������������������������������.  121 8  Animismus�������������������������������������������������������������������������������������������������������� .  129 9  Anthropomorphismus und Tierprozesse�������������������������������������������������� .  139 10  Metamorphosen und Wirklichkeitssinn�������������������������������������������������� .  151 11  Magie �������������������������������������������������������������������������������������������������������������� .  157 12  Ordale und Orakel���������������������������������������������������������������������������������������� .  169 13  Magischer Mord und Unglück als Strafe�������������������������������������������������� .  183 14  K  ulturen auf unterschiedlichen anthropologischen Entwicklungsstufen�������������������������������������������������������������������������������������� .  195 15  Religion ���������������������������������������������������������������������������������������������������������� .  215 16  Aberglaube����������������������������������������������������������������������������������������������������� .  241 17  Geschichte der Philosophie������������������������������������������������������������������������ .  251 XI

XII

Inhalt

18  Die Entstehung der Wissenschaften�����������������������������������������������������������   287 19  Kunst und Literatur���������������������������������������������������������������������������������������   329 20  Geschichte des Rechts�����������������������������������������������������������������������������������   363 21  Staat, Regierung und Politik �����������������������������������������������������������������������   391 22  Gewalt und Moral �����������������������������������������������������������������������������������������   495 23  Grundlagen des sozialen Wandels und der sozialen Evolution�����������   523 24  Soziale Evolution von der Steinzeit bis zu den Agrarzivilisationen ���   539 25  Die Entstehung der Industriegesellschaft�������������������������������������������������   549  trukturgenetische Soziologie als Grundlagentheorie der Geistes26  S und Sozialwissenschaften�����������������������������������������������������������������������������   581 Literatur �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   603 Buchpublikationen von Georg W. Oesterdiekhoff�������������������������������������������   625

Suggest Documents