Der Zusammenhang von Lesen und (Recht-)Schreiben

Europäische Hochschulschriften 2016 Der Zusammenhang von Lesen und (Recht-)Schreiben Empirische Überprüfung der Transferleistung zwischen der rezept...
Author: Viktor Lang
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Europäische Hochschulschriften 2016

Der Zusammenhang von Lesen und (Recht-)Schreiben

Empirische Überprüfung der Transferleistung zwischen der rezeptiven und der produktiven Fertigkeit

Bearbeitet von Katja Siekmann

1. Auflage 2011. Taschenbuch. 221 S. Paperback ISBN 978 3 631 61837 0 Format (B x L): 14 x 21 cm Gewicht: 300 g

Weitere Fachgebiete > Literatur, Sprache > Angewandte Sprachwissenschaft > Spracherwerb, Sprachentwicklung

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Es ist schwer, Gedankenbahnen zu beschreiben, wo schon viele Fahrgleise sind – ob deine eigenen oder andere -, und nicht in eines der ausgefahrenen Gleise zu kommen. Es ist schwer, nur wenig von einem alten Gedankengleise abzuweichen. (Ludwig Wittgenstein)

1 Einleitung Die Beherrschung der Schriftsprache und besonders der rechtschreiblichen Konventionen ist für die positive Entwicklung aller Schülerinnen und Schüler1 von besonderer Relevanz. Erschreckend schlechte Leistungen deutscher Schüler im nationalen und internationalen Vergleich erfordern grundlegende Umstrukturierungen in der Art der Stoffvermittlung und vor allem in der Ausbildung der Lehrkräfte. Rechtschreiben wurde lange nur als Folgefertigkeit des Lesens angesehen. Terminologisch wurde sogar unterschieden zwischen ‚Lesen lernen’ und ‚Schreiben lernen’. In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde ein Zusammenhang zwischen dem kindlichen Spracherwerb und dem Erwerb schriftlicher Fertigkeiten erkannt (seit dem Paradigmenwechsel steht hierfür der Terminus ‚Schriftspracherwerb’). Die Trennung der schriftbezogenen Fertigkeiten wurde durch idealtypische Entwicklungsmodellierungen aufgehoben, die von einer engen Verknüpfung bzw. einer wechselseitigen Entwicklungsdynamik ausgehen. Diese Modellierungen gelten bis heute als normativ, erscheinen jedoch aufgrund der empirisch (meist) schlechten Fundierung als fraglich. Zahlreiche Forscher entwickelten adäquate Entwicklungsmodelle des Rechtschreibens, die Aufschluss über den Lernweg mittels verschiedener Strategien und Zugriffsweisen geben und somit für die Einschätzung von Lernerleistungen als pädagogisch-didaktische Orientierungshilfe dienen. In aktuellen Vergleichsstudien wird die Rechtschreibkompetenz meist nur ‚ergänzend’ neben der Lesekompetenz untersucht. PISA erfasst seit 2000 über mehrere Erhebungsrunden „nur“ die mangelhafte Lesekompetenz deutscher Schüler, bei IGLU wird mit der Ergänzungsstudie IGLU-E zumindest auf die Rechtschreibkompetenz eingegangen (vgl. Kap. 7). Angesichts der inäqualen Gewichtung der Empirie scheint auch heute noch unterschwellig die Grundidee von der ‚Folgefertigkeit’ (Recht-) Schreiben zu bestehen.

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Zugunsten der Lesbarkeit wird die männliche Form auch als Synonym für die weibliche Form verwendet.

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Erfahrene Lehrer, die nach didaktischen Lösungsansätzen für rechtschreibschwache Schüler gefragt werden, empfehlen meist ‚einfach mehr zu lesen’. Diese Empfehlung beruht auf der Vorstellung einer engen Verknüpfung der Fertigkeiten. Empirisch ungeklärt ist, ob die implizite Theorie "Wer viel liest, verbessert seine Rechtschreibkompetenz" in der Praxis aufgeht. Der Zusammenhang zwischen der produktiven und der rezeptiven Fertigkeit wird aus kognitionswissenschaftlicher aber auch aus didaktischer Sicht vereinzelt hinterfragt. Seit Anfang der 80er Jahre zeigen Untersuchungen (auch aus der Legasthenieforschung), dass es unterschiedliche Probleme beim Lesen und Rechtschreiben gibt (vgl. dazu neueste Erkenntnisse von Beck/Thomé/Thomé 2009). In der DESI-Studie (vgl. Kap. 7) weist der Zusammenhang von Lesefähigkeit und Rechtschreiben die geringste Korrelation auf (im Gegensatz zu Korrelationen beider Fertigkeiten mit anderen Teilgebiete der Textproduktion; vgl. DESI-Konsortium 2008; Willenberg 2007). „Der Transfer-Effekt“ (Thomé 2008: 59) zwischen Lesen und (Recht-) Schreiben wird offensichtlich (immer noch) überschätzt. Aus fachdidaktischer Sicht wird von der ‚Transfer-Vorstellung’ trotzdem nur zögernd Abstand genommen.

Um einen Einblick zu erlangen, wie es Schriftsprachlernern ergeht, wird im folgenden Beispiel exemplarisch eine Lernsituation geschaffen: Anteeksi, puhutteko te saksaa? Wer der finnischen Sprache nicht mächtig ist, liest diesen Satz synthetisierend, ähnlich wie der Schriftsprachlerner, der bezüglich der richtigen Lautzuordnung unsicher ist und nach dem Sinn des Satzes (übersetzt: Entschuldigung, sprechen Sie deutsch?) sucht. Bestünde eine enge Verknüpfung von Lesen und Rechtschreiben, müsste die Abspeicherung der orthographischen Struktur automatisch erfolgen. Doch auch vermehrtes (nun auch bewusstes) Lesen führt nicht (oder nur kurzfristig) zur Speicherung der orthographisch korrekten Schreibung. Besteht kein (oder nur ein geringer) Zusammenhang von Lesen und Schreiben, kann weder von einer Folgefertigkeit die Rede sein, noch von einem wechselseitigen Bedingungsgefüge. Didaktisch müsste deshalb jeder Bereich gezielt behandelt werden, indem Lesekompetenz durch vermehrtes Lesen und Rechtschreibkompetenz durch gezieltes Rechtschreibtraining gefördert werden müsste.

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In der vorliegenden Arbeit soll der ‚Transfer-Effekt’ zwischen Lesen und (Recht-) Schreiben empirisch überprüft werden, um ein Bewusstsein für die spezifischen Anforderungen des Rechtschreiblernens zu schaffen. Mittels verschiedener Testformate soll die Speicherung orthographischer Merkmale (vor dem Hintergrund kognitiver Forschungsergebnisse) sowohl auf Wort-, Satz- und Textebene bei Schriftsprachlernern (Grund- und Gesamtschüler) als auch bei vergleichsweise erfahrenen Anwendern der Schriftsprache (Lehramtsstudenten) analysiert werden. Die empirischexpermimentelle Arbeit ist interdisziplinär und umfasst nicht nur die theoretischen Überlegungen beider fachdidaktischen Bereiche (Sprach- und Literaturdidaktik) sondern auch Ausschnitte aus der Kognitionswissenschaft. Die Ergebnisse sollen als Anstoß für die weitere interdisziplinäre Erforschung der Fertigkeiten verstanden werden.

Die Arbeit gliedert sich in einen theoretischen und einen empirischen Teil. Im theoretischen Teil wird zunächst ein Überblick über den Lerngegenstand und den bisherigen Forschungsverlauf zu beiden Fertigkeiten gegeben. An den Merkmalen der deutschen Sprache (vgl. Kap. 2) lässt sich erkennen, dass Lese- und Schreibprozesse unterschiedliche Schwierigkeiten mit sich bringen. Beim Schreiben erschweren die ‚Orthographeme’ neben den Prinzipien der deutschen Rechtschreibung die korrekte Schreibung, außerdem ist die Auswahl der Graphemverbindungen für ein gehörtes Phonem größer als die Auswahl der Phoneme für ein Graphem beim Lesevorgang. Die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Lesen und (Recht)Schreibenlernen werden in Kapitel 3 konturiert und schon bewusst getrennt voneinander dargestellt. Ein gezielter Ausschnitt der Kognitionsforschung (vgl. Kap. 4) beschreibt weitere am Lernprozess beteiligte Faktoren wie den Aufmerksamkeitsfokus und das Gedächtnis. Hierzu kann (ähnlich wie im fachwissenschaftlichen Teil) nur auf Aspekte eingegangen werden, die für die Analyse im empirischen Teil von Bedeutung sind. Des Weiteren geht es im theoretischen Teil um die Verständigung über Modellvorstellungen, die (im Idealfall) als Schlussfolgerungen aus verschiedenen empirischen Untersuchungen oder (wie zu oft) aus theoretischen Überlegungen entstanden sind. Während Prozessmodelle (vgl. Kap. 5) das Nacheinander und Ineinandergreifen von speziellen, insbesondere am Leseverstehen direkt oder indirekt beteiligter Teilprozesse zu modellieren versuchen, beschreiben Entwicklungsmodelle (vgl. Kap. 6) vor allem die Entwicklung der Wortbearbeitung von nicht schriftsprachlicher zu orthographischer Merkmalsheranziehung (vgl. Marx 2000). Kritisch betrachtet wird vor 19

allem das Sechs-Stufen-Modell von Uta Frith (1986), das von einer wechselseitigen Entwicklung der Fertigkeiten ausgeht und bis heute als normativ gilt. Die bisherige Kritik an der Wechselwirkung der Fertigkeiten und die Ergebnisse der Studien IGLU-E und DESI, die aus deutschdidaktischer Sicht zwar wahrgenommen, aber bisher nicht zur weiteren Erforschung der Transferleistung ermutigten, werden in Kapitel 7 zusammengefasst.

Im Anschluss an die Aufarbeitung der bisherigen wissenschaftlichen kenntnisse werden im empirischen Teil zunächst die Hypothesen und gewählte Untersuchungsdesign erläutert (vgl. Kap. 8). Die Testformate terscheiden zwischen unbewusstem und bewusstem Lesen im Hinblick die erbrachte Rechtschreibleistung.

Erdas unauf

Zunächst wird das unbewusste Lesen auf Text- und Satzebene betrachtet (vgl. Kap. 9 und 10). Aufgrund der Ergebnisse wird anschließend das bewusste Lesen auf Text-, Satz,- und Wortebene (vgl. Kapitel 11-14) überprüft. Auch das orthographische Leistungsvermögen in Bezug auf lautes vs. leises Lesen wird in einem Test genauer eruiert (vgl. Kap. 11), da sich der alltägliche Lesevorgang und vor allem auch der didaktische Mythos (mehr lesen = besser rechtschreiben) auf das leise Lesen beziehen. Zusammenfassungen der jeweiligen Testergebnisse erfolgen direkt am Ende jeder Testeinheit. In Kapitel 15 werden die Ergebnisse schließlich generell in Bezug auf einen ‚Tertium Comparationis’ zwischen den Fertigkeiten diskutiert. 2

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Rückgriff auf den finnischen Beispielsatz: An welche orthographischen Merkmale erinnern Sie sich noch?

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