Der Herr sieht das Herz an

ST. ANNA-GEMEINDE ZÜRICH Der Herr sieht das Herz an Predigt von Pfarrer Prof. Dr. J. Jürgen Seidel gehalten am 19. April 2015 Schriftlesung: 1. Samu...
Author: Hanna Sternberg
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ST. ANNA-GEMEINDE ZÜRICH

Der Herr sieht das Herz an Predigt von Pfarrer Prof. Dr. J. Jürgen Seidel gehalten am 19. April 2015

Schriftlesung: 1. Samuel 16,1-7; 10-13a; Matthäus 6,5-8 Predigttext: 1. Samuel 16,7 „Der Herr sprach zu Samuel: Wie lange trägst du Leid um Saul, den ich verworfen habe, dass er nicht mehr König sei über Israel? Fülle dein Horn mit Öl und geh hin: Ich will dich senden zu dem Bethlehemiter Isai; denn unter seinen Söhnen hab ich mir einen zum König ersehen. Samuel tat, wie ihm der Herr gesagt hatte, und kam nach Bethlehem. Da entsetzten sich die Ältesten der Stadt und gingen ihm entgegen und sprachen: Bedeutet dein Kommen Heil? Er sprach: Ja, es bedeutet Heil! Ich bin gekommen, dem Herrn zu opfern; heiligt euch und kommt mit mir zum Opfer. Und er heiligte den Isai und seine Söhne und lud sie zum Opfer. Als sie nun kamen, sah er den Eliab an und dachte: Fürwahr, da steht vor dem Herrn sein Gesalbter. Aber der Herr sprach zu Samuel: Sieh nicht an sein Aussehen und seinen hohen Wuchs; ich habe ihn verworfen. Denn nicht sieht der Herr auf das, worauf ein Mensch sieht. Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an. So liess Isai seine sieben Söhne an Samuel vorübergehen; aber Samuel sprach zu Isai: Der Herr hat keinen von ihnen erwählt. Und Samuel sprach zu Isai: Sind das die Knaben alle? Er aber sprach: Es ist noch übrig David, der jüngste; siehe, er hütet die Schafe. Da sprach Samuel zu Isai: Sende hin und lass ihn holen. Da sandte er hin und liess ihn holen. Und er war bräunlich, mit schönen Augen und von guter Gestalt. Und der Herr sprach: Auf, salbe ihn, denn der ist‘s. Da nahm Samuel ein Ölhorn und salbte David mitten unter seinen Brüdern.“

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Liebe Gemeinde „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist. Der Herr aber sieht das Herz an.“ So steht es in der verlesenen Geschichte über die Salbung des jungen David zum König Israels. In den letzten drei Wochen hat dieser Satz eine ungeahnte und ungeheure, um nicht zu sagen erschreckende Brisanz erhalten. Wir waren wohl alle betroffen von dem Absturz des deutschen Flugzeuges in den französischen Alpen vor drei Wochen. Aber dann verbreitete sich so langsam eine Nachricht, die alles menschliche Denkvermögen übersteigt. Kein technisches Versagen, kein Naturereignis hat den Absturz verursacht. Es war mutmasslich der Co-Pilot, der die Maschine willentlich gegen den Felsen steuerte. So etwas tief, tief Sinnloses und Zerstörerisches in diesem grossen Ausmass hat die Luftfahrtgeschichte bisher noch nie erlebt. Als am vergangenen Freitag im Kölner Dom die Trauerfeier für die verstorbenen Opfer jener Katastrophe stattfand, brannten 150 Kerzen. Eine von diesen brannte auch für den Co-Piloten. Daran entzündete sich Kritik, auch aus der Schweiz. Die Erinnerungen an jenen Amoklauf im Zuger Kantonsratssaal vor einigen Jahren sind wieder hochgekommen, wo in der dortigen Kirche für diesen Mörder keine Kerze gebrannt hat – gegen den Willen des damaligen Bischofs Koch. Die erboste Frage in Köln lautete: Wie kann man für einen vermeintlichen Mörder eine Kerze zum Gedenken anzünden? Im Hinterkopf war damit bereits das Urteil über diesen Mann gesprochen. Dieser Mensch hat nun wirklich keine brennende Kerze zum Gedenken in einer Kirche verdient, hiess es. Hat er wohl auch nicht, würden wir nach menschlichem Ermessen sagen. Da vermischen sich unter Umständen Zorn und Anklagen, bestenfalls enttäuschtes und hilfloses Schweigen miteinander.

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Wenn im Dom nur 149 Kerzen gebrannt hätten, wäre das nicht richtiger, angemessener? Dann hätten wir diesen einen Mann symbolisch total abgeschrieben. Dann hätten wir Menschen im Grund das letzte Urteil gesprochen über ihn, das über den Tod hinaus reichen soll. Dann hätten wir auf gewisse Weise dem ewigen Gott vorgeschrieben, dass auch er unser Urteil über diesen Mann zu treffen habe. Indem auch für diesen Mann eine Kerze brannte, wurde er in die Gebete vor Gott einbezogen, in die Klagen, in die Anfragen, in die Zornesgedanken. Ein deutscher Moraltheologe hat erklärt, dass die Kerzen brannten „auch für Menschen, von denen wir glauben, dass sie die Barmherzigkeit Gottes besonders nötig haben.“ Indem im Kölner Dom eine Kerze entzündet wurde auch für diesen Mann, ist etwas über menschliches Verstehen hinaus getan worden und die Heiligkeit Gottes auch im Urteilen gewahrt worden. Mit dieser brennenden Kerze auch für den Mann wurde das Urteil Gottes menschlicherseits nicht vorweggenommen. Wir Menschen schaffen es zuweilen nicht, an Gottes „überbietende Gerechtigkeit“ zu glauben. Aber wir können nur mit Worten des bekannten Danke-Liedes, das uns sonst so leicht über die Lippen geht, bezeugen: „Danke, dein Heil kennt keine Schranken, danke, ich halt mich fest daran.“ Das, was wir dann so leicht dahinsingen, wird in einer solchen extremen Situation zur Herausforderung. Es könnte sein, dass Sie heute Nachmittag noch an diesem Thema herumzukauen haben, weil wohl nicht alle mit dem von mir Gesagten sofort einverstanden sein werden. Wir spüren jedenfalls, wie aktuell und herausfordernd dieser Satz wird: Der Herr sieht das Herz an. Das letzte Urteil über einen Menschen müssen wir ihm überlassen, der in die tiefsten Tiefen

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des menschlichen Gemütes und Herzens hineinschaut. Er wird sein Recht sprechen. Das muss uns genug sein, so belastend das zuweilen sein mag. Und die vermutliche Tat ist ja so tief belastend und in nichts zu verstehen. Der Herr aber sieht das Herz an. Nun zu David. Was sieht er bei dem Knaben David? David wird gerne geschildert als einer, der auf den Feldern die Tiere hütet, der gegen Löwen und Wölfe kämpft und der auf einem Felsvorsprung sitzt, die Harfe in der Hand hält und Psalmen singt, so zum Beispiel: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln (Psalm 23). Karl Gerok (1815-1890), ein Dichter des 19. Jahrhunderts, hat auf die Frage: Sind das die Knaben alle? gedichtet (1854): Da holt man David von der Herde, Von Bethlehems Triften kommt er bald, Ein Jüngling, züchtig von Gebärde, Von Augen schön, gut von Gestalt. Auf, dieser ist‘s, den ich erwähle! So rief des Geistes Stimme klar In Samuels Prophetenseele; Da salbt’ er ihm sein lockig Haar. (In: Palmblätter, Stuttgart, o. J.) Gerok hat in romantischer Manier den Hirtenknaben David verklärt und die Salbung zum König unter anderem mit seinem schönen Aussehen und seinen sogenannten züchtigen Gebärden begründet. Doch der Psalmsänger David ist gleichzeitig derjenige, der später als Anführer einer Horde wilder junger Männer das Land verunsichert hat. David ist auch jener Mann, der wegen einer schönen Frau zum Mörder geworden ist. Es kann also nicht an den natürlichen Voraussetzungen liegen, dass er zum König über Israel erwählt wurde. Ich meine, David ist eine Symbolgestalt dafür,

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dass Gott gerade solche Menschen gebraucht, die dafür ungeeignet zu sein scheinen. Es heisst: Er ist der jüngste der Söhne von Isai, der nicht einmal vom Feld gerufen wurde, als der Prophet Samuel ins Haus kam. Er war viel zu jung, viel zu klein, viel zu unbedeutend und zu unreif dafür. Ausgerechnet ihn hat Gott erwählt! Von König Saul wurde gesagt, er war einen Kopf grösser als alle anderen Männer in Israel. In der Familie des Isai aber durfte Samuel keinen der grösseren und älteren Brüder von David zum König salben, sondern den jüngsten und unerfahrensten und wohl auch kleinsten Sohn in der Familie. David war in gewisser Weise ein Gegensatz zu Saul. Er hatte keine äusseren Vorzüge, die ihm einen Listenplatz unter den Kandidaten für das Königsamt sicherten. Seine „schönen Augen“ und seine „gute Gestalt“ allein waren keine echte Voraussetzung dafür. Gott achtet nicht auf hohen Verstand und feinfühliges Verhalten, nicht auf äussere Schönheit. Er gebraucht einen Menschen, den er umpolen kann zum Segen für das Volk, zum Segen für andere. Unsere Jugendlichen machen sich einen Spass darauf, in Selfies das eigene Profil hervorzuheben, mit einem Bekannten zusammen, vielleicht sogar mit einem Model oder einem Politiker zusammen sich mit dem Handy zu fotografieren und damit zu zeigen: „Schaut, wer ich bin.“ Wir sehen gern, was vor Augen ist, was im Handy von uns zu sehen ist. Aber ich denke, im Herzen der Jugendlichen sind manche Zweifel und Ängste, die das Handy nicht zeigt, die der Herr aber sieht. Dazu gehören auch besonders schmerzhafte Erfahrungen. Und dazu gehören ja auch Dinge, Verhaltensweisen, deren wir uns zuweilen schämen würden, wenn sie bekannt würden.

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Wenn Gott einen Menschen ansieht, schaut er nicht zuerst auf das Äussere und beurteilt ihn danach, sondern er sieht auf das Herz. Nicht einfach, dass er sieht, sondern er will, dass sich da im Menschen etwas ändert. Gottes Blick auf uns ist zu vergleichen mit der Sonne. Wenn wir jetzt in den nächsten Monaten wieder an Sonnenblumenfeldern vorbeigehen, dann können wir den Sonnenstand am Feld ablesen. Wenn die Sonne die Blumen mit ihren Strahlen berührt, richten sich deren grosse gelbe Blüten nach den Strahlen aus. Die Blumen werden von der Sonne angestrahlt, entfalten sich und verändern ihre Richtung je nach Sonnenstand; früh im Osten, mittags im Zenit und abends richten sie sich nach Westen aus. So sieht auch Gott uns an. Wir können uns auf ihn ausrichten und unser Leben nach seinem Willen gestalten. Er sieht auch ins Herz hinein. Er lässt sich nicht vom Äusseren abhalten. Deswegen war es auch möglich, dass der letzte und jüngste Sohn der Familie Isai zum König gesalbt wurde. David wurde ein bedeutender König, der die hebräischen Stämme einte in einem Staat. Die Erwählung Davids zum König war eine Weichenstellung für die Zukunft Israels. Dieser Jugendliche, dieser Unreife, dieser Haudegen und Mörder – er sollte Israel in die Zukunft führen, weil Gott ihn leitete und umpolte und fähig machte für das Königsamt! Der Herr sieht das Herz an. Das gilt auch für uns. Und es gilt denen, die unter uns auf den letzten Plätzen in der Gesellschaft sitzen. Bleiben sie immer die Letzten, werden sie jedes Mal auf die Trostplätze verwiesen? Was ist mit denen, die sich vielleicht nicht einmal „von Augen schön“ und nicht „gut von Gestalt“ wähnen? Was ist mit denen, die vielleicht einmal in der Jugend schön und im Leben erfolgreich waren und in späteren Jahren ihre verschiedensten Grenzen entdecken müssen. Das sind beileibe nicht

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nur die Hautfalten! Körperliche, geistige Grenzen im Alter können bitter sein. Diese Geschichte von David will gerade den Menschen Mut zum Leben machen, die an sich und in sich keine äusseren Voraussetzungen für einen grossartigen Erfolg entdecken. Gerade ihnen wird gesagt, Gott kann und will auch in deinem Leben Segenskräfte fliessen lassen. Ein anderes Paradebeispiel dafür ist der Apostel Paulus. Sein Äusseres soll gar nicht erhebend gewesen sein. Sein Leben war alles andere als erleuchtet. In der Realität war er religiös fanatisch, bis er vom hohen Ross geworfen wurde und schliesslich nach einer längeren Phase des Schweigens bekannte: „In mir wohnt nichts Gutes. Ich möchte wohl das Gute tun, aber ich bringe es nicht fertig. Im Gegenteil, das Böse, das mir zuwider ist, das tue ich“ (Römer 7, 18f.). In seiner Verzweiflung rief er: „Wer kann mir helfen in meinem Elend?“ Aber zu der Zeit hatte er schon Hilfe gefunden. Er antwortete nämlich sich selbst: „Ich danke Gott durch Jesus Christus. Er hat mich vor mir selbst gerettet.“ Wir könnten auch sagen: Er hat mein Herz neu gepolt. So, dass ich nicht mehr auf mich und auf meine Schatten und mein Äusseres achten muss, sondern auf das, was er mir schenkt: seine Gnade, seine Zuwendung! Ich bleibe zwar ein Sünder, aber ich bin gleichzeitig ein neuer, von Gott geliebter Mensch. Mein Herz hat er besetzt. Ich kann dafür nur dankbar sein. Denn Gott hat mich durch Jesus in seine Gemeinschaft geholt. Nun habe ich ein Zuhause. „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist. Der Herr aber sieht das Herz an.“ Wir wissen nicht, was Gott im Herzen des Co-Piloten sieht. Wir müssen auch diesen jungen Mann Gott und seinem Urteil überlassen. Welche Lehren aus dem Flugzeugabsturz zu ziehen sind, müssen die Techniker und Psychologen erkunden. Für

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uns gilt nach wie vor: Einander mit den Augen Gottes anzuschauen und uns zu Herzlichkeit und Liebe durchzuringen. Vielleicht kann sogar manches Unglück, manches unüberlegte, panikartige Handeln unter uns dadurch verhindert werden. Denn jeder Mensch sehnt sich ja in seinem Innersten nach ein bisschen Frieden und Glück und Freude. Was zuweilen verschüttet worden ist durch unglückliche Umstände, kann auch wieder dann und wann zum Leuchten gebracht werden. Das ist eine gewaltige Herausforderung für uns Christen, aber dazu ist uns bekanntlich auch das Leben geschenkt. Wer, wenn nicht wir Christen, sollten auf unserem Angesicht etwas von Gottes Herzlichkeit und Liebesschein abstrahlen lassen. Amen.

ST. ANNA-GEMEINDE ZÜRICH St. Anna-Kapelle, St. Annagasse 11, 8001 Zürich Gottesdienste: Sonntag 10.00 Uhr, Bibelstunden: Mittwoch 15.00 Uhr Sekretariat St. Anna, Grundstrasse 11c, 8934 Knonau, Telefon 044 776 83 75