DER BEGRIFF FORTSCHRITT IN UNTERSCHIEDLICHEN KULTUREN

DER BEGRIFF FORTSCHRITT   IN UNTERSCHIEDLICHEN KULTUREN      www.fortschritt-weltweit.de Die Krise der Vernunft in der Geschichte der moslemischen...
Author: Stefan Tiedeman
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DER BEGRIFF FORTSCHRITT   IN UNTERSCHIEDLICHEN KULTUREN 

 

 

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Die Krise der Vernunft in der Geschichte der moslemischen Philosophie Dr. Hamid Lechhab Feldkirch Die „Krise der Vernunft“ ist eines der Hauptthemen, das die Geschichte der moslemischen Philosophie charakterisiert. Aber es ist auch ein Thema, das von moslemischen Philosophen immer nur marginal behandelt wurde. Dieses Zur-Seite-Schieben dessen, was ja im Grunde Philosophie als solche ausmacht, hat mehrere Gründe: Einer davon kann darin gesehen werden, dass sich der Großteil der Philosophen nur mit den Manifestationen dieses Themas befasst hat, und weniger mit dem Thema als solches. Die Konsequenzen dieses intellektuellen Verhaltens wirken sich zweifach aus: Erstens: eine Vertiefung der Krise der Vernunft in der Geschichte der moslemischen Philosophie und eine plötzliche Marginalisierung des Philosophen als denkendem Mitmenschen, der Bürger ist und die Aufgabe hat, über die Krise der Gemeinschaft nachzudenken. Zweitens hat die Krise der Vernunft der moslemischen Philosophie unheilvolle Auswirkungen auf die gesamten geistigen Aktivitäten in der moslemischen Welt gehabt. Sie behinderte unter anderem die kritische Reflexion in der Philosophie selbst, in den Rechts, -Sozial und Politikwissenschaften. Die Krise der Vernunft ist also ein „fait établi“ in der Geschichte der moslemischen Philosophie. Es ist eine chronische Krise, die gleich nach dem Tod des Propheten begann und sich bis zum heutigen Tag fortschreitend entwickelte. Aus methodischen Gründen schlage ich vor, die Spuren dieser Krise in der Geschichte der moslemischen Philosophie in drei Etappen zu verfolgen, wobei ich der dritten Etappe aus später noch zu erläuternden Gründen die größte Bedeutung beimessen werde. Diese drei Etappen sind wie folgt: 1.) Die Krise der Vernunft bei den moslemischen MOUTAKALIMIN. Das entspricht den ersten drei Jahrhunderten der moslemischen Geschichte (6. Jahrhundert n.Chr.). 2.) Die Krise der Vernunft bei den Pionieren der moslemischen Philosophie bis zum Untergang des Ottomanischen Reiches. 3.) Die Krise der Vernunft bei den modernen und zeitgenössischen moslemischen Philosophen. Es versteht sich von selbst, dass ich mich nicht bei historischen Details aufhalten werde - aus dem einfachen Grund, da ich glaube, dass die Kenntnisse meiner LeserInnen, was die moslemische Geschichte betrifft, wohl eingeschränkt sind. Aber ich hoffe, mich darin zu täuschen. Noch eine letzte methodische Präzision, bevor ich zum Thema komme. Zwei Details wären zu beachten: warum habe ich „moslemische Philosophie“ gesagt, und nicht „arabische Philosophie“, wie man zu sagen gewöhnt ist? Und warum habe ich eine Definition des Begriffes „Vernunft“ vermieden?

Erstellt am 16.06.2008

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Was die erste Frage betrifft, so scheint mir die traditionelle Benennung „arabische Philosophie“ aus mindestens einem Grund unverschämt: Es ist eine regionale Benennung, die, bewusst oder unbewusst, Nichtaraber vom Philosophieren unter der moslemischen Kuppel ausschließt. Wenn auch der Islam arabisch geboren wurde, so sind doch die Araber, seit sich der Islam bei anderen Ethnien, Völkern und Nationen ausgebreitet hat, eine Minderheit geworden. Die moslemische Philosophie von der ich spreche, ist jene, der jeder Philosoph angehört, der in einer moslemischen Familie geboren wurde - sei es in China, Indien, der Türkei, in Malaysien, Europa, Amerika oder Afrika - und nicht nur die Philosophen, die in einer arabischen Familie zur Welt kamen: Heutzutage bezieht sich der Begriff „arabisch“ in der geläufigen, wie auch in offiziellen Verwendungen, auf ein genau bestimmtes ethnisches, nationales und politisches Konzept, mit dem weder der religiöse Begriff „Islam“, noch die Grenzen seines Universums in Einklang zu bringen sind. Die arabischen oder arabisierten Völker sind nur noch eine Minderheit in der Gesamtheit der islamischen Welt 1 . Ein ähnliches Phänomen lässt sich auch in der europäischen Philosophie nicht finden. Descartes, Spinoza und Hegel zum Beispiel haben Abhandlungen in lateinischer Sprache geschrieben, sie sind deswegen aber nicht Lateiner oder Römer. Noch eine Frage drängt sich auf. Was heißt moslemische Philosophie? Es ist zu schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, die philosophische Reflexion im Islam mit dem westlichen Terminus „Philosophie“ zu übersetzen; Sogar die Bezeichnung FALSAFA und FAYLASOUF, aus dem Griechischen entnommen, decken sich nicht genau mit den Begriffen Philosophie und Philosoph. Wie man weiß, geht die Unterscheidung zwischen Philosophie und Theologie im Westen auf die mittelalterliche Scholastik zurück. Diese Trennung der Bereiche hat sich in der moslemischen Philosophie noch nicht durchgesetzt, da sich die Religion immer und überall aufdrängt. In Ermangelung eines klar determinierten metaphysischen Bereiches, begnügten sich die moslemischen Philosophen damit, die griechische Terminologie manchmal fast buchstäblich zu übernehmen. So finden wir zum Beispiel den Begriff HIKMA, der dem Begriff SOPHIA entspricht; der Begriff HIKMA ILAHIYA ist das wörtliche Equivalent zu Theosophia. Metaphysik heißt im allgemeinen ILAHIYAT, die DIVINALIA. Ich erlaube mir nun, die zweite Frage zu wiederholen. Warum habe ich vermieden, den Begriff „Vernunft“, wie er in der moslemischen Philosophie verwendet wird, zu definieren? Es ist eine sehr heikle Aufgabe, eine Definition dessen zu geben, was die „Vernunft“ in der moslemischen Philosophiegeschichte ist. Für die Pioniere ist sie am ehesten das, was man von den griechischen Philosophen gelernt hat, insbesondere von Platon und Aristoteles. Für die modernen Philosophen ist es das Erbe von Descartes und von der gesamten europäischen Philosophie der Aufklärung. Für die zeitgenössischen Philosophen hat „Vernunft“ mehrere Bedeutungen. Ich möchte nun im Folgenden, nach diesen methodischen Erklärungen, die drei Etappen der moslemischen Philosophie, in denen wir auf das Problem der Krise der Vernunft stoßen, erläutern. I: Die Krise der Vernunft bei den moslemischen Moutakalimin (entspricht den ersten drei Jahrhunderten der Geschichte des Islam) Das Phänomen Islam, das vor über 14 Jahrhunderten in Arabien auftauchte, trägt seit Beginn den Konflikt zwischen Glauben und Vernunft mit sich. Dieser Konflikt manifestierte sich in verschiedenen Formen und berührte alle Lebensbereiche der Moslems. Der Kern dieses ständigen Konflikts ist im Islam selbst begründet. Der Islam ist eine Religion, die auf die Vernunft als Denk1

1. Henri Corbin, „Histoire de la philosophie Islamique“, Gallimard, Paris, 1968, p.6.

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werkzeug besteht. Gleichzeitig warnt sie jedoch vor der Verwendung der Vernunft, die, wenn sie in zu extremem Maß angewendet wird, zu Widersprüchen zwischen ihr selbst und der Religion führt. Das läßt uns nun behaupten, daß die Vernunft keinen klaren Status innerhalb des Islam besitzt. Dieser unklare Status bestand während der ersten zwei Jahrhunderte des Islam; das heißt bis zu dem Zeitpunkt, als die traditionalistische Strömung an Einfluß gewann und ihre Auslegung eines Islams, der die Vernunft negiert oder sogar bekämpft, durchsetzte. Der Kampf um die politische Vorherrschaft ließ zahlreiche sich rivalisierende Geistesströmungen hervortreten, die die theoretische und ideologische Basis vielzähliger Khalifate nach dem Tod des Propheten bildeten. Dieser Konflikt manifestierte sich besonders in der Rechtsphilosophie und zeigt sich in den 4 wichtigsten Doktrinen der moslemischen Rechtslehre: 1. Al hanafia: wurde von Abu Hanifa (699 - 767) gegründet und verlieh dem moslemischen Recht die nötige Kohäsion zur Herausbildung eines Korpus. Er rief zu einem Vernunfturteil auf, nicht als Ersatz für die Offenbarung, sondern um die geoffenbarten Beweise zu unterstreichen. Seine Methode nennt sich RAY (intellektuelle Schau, Meinung) und zögert nicht, individuelle Meinungen, die auf Spekulation und rationeller Analyse beruhen, einzuführen. 2.Al Malikiya: Wurde von Malik Ibn Anas (gestorben 795) einem Verteidiger der Tradition, gegründet. Seine Methode beschränkt sich auf die Suche nach Präzedenzfällen bei den Urteilssprüchen und Taten des Propheten und seiner Gefolgsleute. Wurden direkte Quellen knapp, so bezog er sich auf Idjmaa (zu deutsch: allgemeine Tendenzen der Rechtsgelehrten). Al-Malikiya ist weniger spekulativ und weniger rationalistisch als Hanafia. 3. Achafiya: wurde von Achafii (767-819) gegründet. Er lehnte sich gegen die Verallgemeinerung der spekulativen Methode und erhob sich gegen die übertriebene Verwendung der Analogie und individueller Meinungen. Er rief auf zu einer treuen Verwendung der geoffenbarten Texte. In streng juridischem Sinne beschäftigte er sich mit den 4 Quellen moslemischen Rechts: dem Koran, der Sunna (Taten und Reden des Propheten und seiner Gefährten), der Kiyas (Analogien) und der Idjamaa 2 . 4. Al hanabaliya: wurde von Ibn Hanbal gegründet und zeichnet sich durch seine Nähe zu Malikiy und seine strengen Anlehnung an den Koran und die Sunna aus. Diese Schule ist berühmt für ihre Attacke gegen die Philosophie und ihren eifrigen Aufruf zur Rückkehr zur reinen, ursprünglichen Religion. Er ließ keine außer der eigenen Interpretation zu. Die kurze Darstellung der verschiedenen moslemischen Rechtslehren zeigt uns, daß die Krise der Vernunft in erster Linie eine Krise der Interpretation ist. Die Interpretation ist in dem Maße selbst ideologisch, als sie dazu bestimmt ist, die Anliegen einer Gruppe gegenüber denen einer anderen zu verteidigen. Um ihre wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu bewahren, haben verschiedene politischen Regime der damaligen Zeit traditionalistische Interpretationen unterstützt und sie gegenüber der Verwendung der Vernunft bevorzugt. Es gibt jedoch einen ganz bestimmten Bereich, wo der Konflikt und die Konkurrenz zwischen Glauben und Vernunft offen zu Tage tritt. Es ist das Gebiet der KALAM (die Diskutierer), eine Denkströmung, die der Philosophie vorausging und bedeutet: rationelle Diskussion oder diskursives Überlegen zwischen zwei Gesprächspartnern. Die Geburt dieser Disziplin ist eng mit dem Islam verbunden. Sie führte eine neues Verständnis von Gott, dem Menschen und der Welt ein. So waren alle Schulen der Moutakalimin - seien es nun die Traditionalisten, die Chiiten, die Kawarij, die Moutasilisten oder die Acharisten - mit mindestens 5 neuartigen metaphysischen Fragestellungen konfrontiert: Die Einheit Gottes (der Tawhid), die göttliche Gerechtigkeit (Al-Adl), die

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Marie Bernard Baladi: „L`Idjmaa: critères de validité Juridique“, in Normes et valeurs dans L`Islam Contemprain, Jacques Berque et autres, Paris, Payot 1966, pp68 – 79.

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Versprechung des Jenseits (Al-Waad wa Al-Waid), das Problem des Gläubigen und des Ungläubigen und schlußendlich der moralische Imperativ (Al-Amrou bi Al Maarouf). Dieses Essai erlaubt es mir nicht, die verschiedenen Auffassungen in den verschiedenen Schulen zu erläutern. Ich werde mich auf die Gegenüberstellung von Glaube und Vernunft bei den Moutakalimin, die nur die Vernunft und das rationale anerkennen, und auf die Literalisten, die davon nichts hören wollen, beschränken. Die Mutasilistische These anerkennt die menschliche Vernunft als absolute Instanz im Bereich der vergänglichen Objekte, wie auch auf spiritueller Ebene. Sie sehen die Religion als soziale und ethische Notwendigkeit für die Masse, da nicht jedermann fähig ist, sich vom Lichte des Wahren und Guten leiten zu lassen. Hat das bewußte Individuum jedoch seine Reife erlangt, warum, so fragen sie, erfüllt es noch religiöse Pflichten, während es ja im Stande sein müßte, durch persönliche Erfahrung zur Wahrheit zu gelangen und auch danach zu handeln. Die Mutasilisten lehnen den religiösen Glauben ab, weil das bewußte Individuum ihn nicht mehr nötig hat. Im Gegensatz dazu, lehnen die Literalisten die Vernunft ab, unter dem Vorwand, in religiösen Angelegenheiten, wo nur der Glaube gefordert ist, sei die Vernunft in keinster Weise nützlich. Dieser Kampf zwischen Glauben und Vernunft führt zur Niederlage der Vernunft nach zwei Jahrhunderten eisernem Widerstand: „Der Orient, im Gegensatz zum Okzident, entwickelte sich vom freien Denken zum rigiden Dogma.“ 3 . II. Die Krise der Vernunft in der Philosophie der moslemischen Scholastik (3. - 12. Jh. bzw. 9. - 12. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung) Das Verschwinden der Moutasilisten setzte dem Streit zwischen Orthodoxen und Vertretern des freien Denkens jedoch noch kein Ende. Die scholastische Schule, beginnend mit Al-Kindi, setzte die intellektuelle Tradition der Moutasiliten fort. Im Gegensatz dazu war die Philosophie von Ghazali und von Schohrastani während Jahrhunderten wie ein fester Fels, an dem sich der Enthusiasmus der Vernunft brach. Gegen Ende des 3. Jahrhunderts (6. christliches Jahrhundert) beeinflußte ein neuer Faktor die Betrachtungen in der moslemischen Philosophie: es war das griechische Phänomen: „Die Philosophen waren für die Moslems die Repräsentanten und Fortführer der griechischen Philosophie, die als einzige und einzig wahre angesehen wurde, genauso wahr wie die Offenbarung selbst.“ 4 . Das Problem, das sich gestellt hat, war ein Problem zwischen Religion und Metaphysik. Die Übersetzungen vom Griechischen ins Arabische haben in rasantem Tempo zugenommen und die moslemische Philosophie mit den Werken Platons und insbesondere Aristoteles überflutet. Die Literalisten sahen sich vor eine neue Aufgabe gestellt: die Entwicklung der Naturwissenschaften, der Physik, der Mathematik, der Medizin usw. Sie mußten also dort gegen die Vernunft kämpfen, wo sie sie antrafen. A priori nahmen sie eine völlige Übereinstimmung zwischen der griechischen Philosophie und dem islamischen Dogma an. Es durfte keinen Widerspruch zwischen Glauben und Wissenschaft geben. Das Ziel, das sie sich seitdem setzten, war es, die schon bestehende Harmonie zwischen der griechischen Tradition und der Orthodoxie hervorzuheben. Diese Aufgabe erwies sich jedoch als schwierig. Die griechische Philosophie ist weit entfernt davon, diese Einheit zu repräsentieren, die die Orthodoxen Philosophen darin sehen wollten, eine Anhäufung divergenter und widersprüchlicher Ideen. Man müßte einen gemeinsamen Nenner finden. Die moslemische Scholastik richtet ihre Anstrengungen also dahingehend, die zwei herausragensten Persönlichkeiten der griechischen Philosophie, Platon und Aristoteles, zu versöhnen und ihre Theorien der islamischen Theologie anzupassen. Es ließen sich zahlreiche bekannte Philosophen dieser Epoche nennen. Ich möchte mich heute aber lediglich auch zwei widersprüchliche Beispiele beschränken: Ibn Sinaa (Avicenne) ein Verfechter der Vernunft, und Al-Gazali, ein Vertreter der Orthodoxie. 3 4

Haidar Bammate, „Visages de l`Islam“, Payot Lausanne 1958, p. 149. Haidar Bammate, op. cit., p. 153.

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Ibn Sinaa (geboren 370/980) stammt von der Linie von Alkindi 5 und Alfarabi 6 ab. Avcienne spielte eine hervorragende Rolle in der allgemeinen Geschichte der Wissenschaft und in der Philosophie. Er entwarf und etablierte ein System der Wissenschaft, das mehrere Jahrhunderte überlebte. Als Hauptorganisator der moslemischen Scholastik verlieh er dieser Philosophie ihre ganze Fülle und ihren methodischen Ausdruck. Obwohl er eigentlich Physiker war, interessierte er sich sehr für die Metaphysik in der aristotelischen Version. Seine Vorstellung über die Entstehung der Lebewesen und der Kausalität weisen deutliche Zeichen von Plotin auf. Neben alledem war er aber auch Mystiker: „Ein grenzenloser Glaube an die kraft der Vernunft war die dominante Eigenschaft des Wesens von Ibn-Sinaa. Seine Mystik konnte davon nicht unbetroffen bleiben 7 . Man könnte sie als zutiefst intellektuelle Mystik bezeichnen. Deswegen konnten auch die Bemühungen von Ibn Sinaa, sein System an die moslemische Theologie anzupassen, und seine Versuche, die Synthese der Wahrheit zu finden, nur fehlschlagen. Und genau deswegen wurde er in den Augen der Moslems in Verruf gebracht 8 . Dort wo Avicienne die Orthodoxen regelrecht aus dem Schlaf reißt, das ist seine metaphysische Konzeption der Erschaffung der Welt und seine Erkenntnistheorie. Das Universum von Avicienne beinhaltet keine Zufälligkeiten des Möglichen, So lange die Möglichkeit die Kraft ist, kann sie nicht existieren. Wenn etwas Mögliches im Sein aktualisiert ist, so bedeutet es, daß seine Existenz durch eine Ursache notwendig geworden ist. Von nun an kann es nicht nicht sein. Folglich ist die Ursache durch sich selbst wieder notwendig. Als Ergebnis dieses Raisonnements wird die orthodoxe Schöpfungsidee auch als Notwendigkeit gesehen. Es kann sich nicht nur um eine göttliche Notwendigkeit handeln. Die Schöpfung besteht im göttlichen Denkakt, der sich selbst denkt. Diese Kenntnis, die das göttliche Wesen ewig von sich selbst hat, ist nichts anderes als die erste Emanation, die erste Nous, oder die erste Einsicht. Dieser erste, einzigartige Effekt der schöpferischen Energie, die identisch ist mit dem göttlichen Denken, stellt den Übergang vom Einen zum Vielen dar, mit dem Prinzip: Aus dem Einen kann nur Eins hervorgehen. Wir finden bei Avicenne zehn hierarchische geordnete Einsichten, wobei die eine aus der anderen hervorgeht, von der ersten bis zur zehnten, der selbst keine Kraft mehr bleibt, eine weitere zu schaffen. Es gilt festzuhalten, dass diese kausale Reihe in völligem Widerspruch zur Schöpfung steht, so wie sie der Islam auffasst. Und gerade eben diese Überlegungen brachten Avicenne einen Hagel von Kritiken der orthodoxen Philosophen und Scherereien mit der politischen Macht. Zusammenfassend lässt sich sagen, die Auffassung über Vernunft, so wie die moslemischen Philosophen dieser Periode sie verstanden und angewendet haben, weist vier Merkmale auf: 1. Die verstärkte Verwendung der demonstrativen Argumentation um die Essenz der Vernunft und deren Auswirkungen freizulegen: das bedeutet auch die Anerkennung der qualitativen Überlegenheit der rationellen Erkenntnis gegenüber der Sinneserkenntnis. 2. Das Bestehen auf die kausale Relation als notwendige Relation der Natur und ihren Manifestationen. 3. Die menschliche Existenz wird auf die statische, kosmische Organisation aufgebaut, die eine Emanation aus der ewigen Vernunft ist. Das bedeutet, dass nichts aus dem ex nihilo kommt. Man kann sich rational nicht vorstellen, dass die Welt zufällig entstand, es muss etwas geben - die ewige Vernunft genannt - aus dem die Welt entstand. 4. Die Versöhnung zwischen der philosophischen Vernunft und der Offenbarung des Koran: Das ist ein Charakteristikum, das aufgrund des Misstrauens der Philosophen gegenüber den herrschenden Regimen vertreten wurde:

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Vater der islamischen Philosophie. Durch zwei Werke bekannt geworden: „Rissala fi Al-Akl“ (Diskurs über die Vernunft) und „Araa ahl AlMadina Al-Fadila (Die Meinungen der Bewohner der exemplarischen Stadt). Er versuchte Platon und Aristoteles zu verhöhnen. 7 Haidar Bammat, op. cit. p. 157. 8 Es ist nicht bedeutungslos zu erwähnen, daß Dante Ibn Sinaa, wie Averos, einen Ehrenplatz in dem Teil der Hölle reserviert hat, in dem er die größten Genies der Antike untergebracht hat. 6

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Sie interessieren sich kaum für die Probleme der praktischen Vernunft, insbesondere die der Politik und der Ethik, denn sie wussten, dass zwei Mächte den Status quo beibehalten wollten: Die Macht der Scharia (die Religion) und die Macht der Herrschenden, der Khalifaten und Sultane.“ 9 . In einer solchen Atmosphäre war es ein Leichtes für die Gegner der Vernunft, die sehr zerbrechliche Position der moslemischen Philosophen, die selbst ein Opfer ihrer Treue zur Vernunft waren, anzugreifen. Al-Gazali kann als orthodoxes Phantom betrachtet werden, das, wo es nur ging, die rationale moslemische Philosophie angriff, insbesondere Avicenne. Abu Hamid Al Gazali: (geboren 450/1059): Das Leben dieses Philosophen scheint etwas befremdend. Er ist in einem mystischen Milieu aufgewachsen und genoss eine literarische Bildung. Sein Werk ist destruktiv und zugleich konstruktiv. Gazali zeigt sich einerseits als kritischer Philosoph, andererseits als Reformator. Er kämpfte gegen die Philosophie seiner Zeit, die er intellektuell als ohnmächtig anklagt. Er warf der Philosophie nicht vor, der Religion Schaden zuzufügen, sondern er glaubte, sie schade sich selbst, denn sie kenne die Kriterien der wahren Erkenntnis nicht. Gleichzeitig führte er seine Angriffe gegen die Theologen, die er wegen spiritueller Machtlosigkeit anklagt. Die Theologen schaden nicht der Wissenschaft, sondern der Religion, denn ihre empirische, objektive Interpretation der Religion entstelle und erniedrige den Glauben: Die von der Vernunft geweihten Wahrheiten sind nicht die einzigen: denn, so sagt Ghazali, es gibt Wahrheiten zu denen wir mit unserer Erkenntnisfähigkeit unmöglich gelangen können. In der Annahme, dass über der Vernunft eine Sphäre der göttlichen Manifestation existiert, liegt nichts Unvernünftiges. Kennen wir auch deren Gesetzmäßigkeiten und Rechte nicht, so genügt es doch anzunehmen, dass sie dennoch existiert.“ 10 . Die Religion war für die Philosophen nichts mehr als eine abstrakte Kontemplation über die kosmische Ordnung und für die Moutakalimin eine rein dialektische Argumentation, die sich auf eine ausgetrocknete dogmatische Tradition stützt. So wie Sokrates die Philosophie vom Himmel, wo sie nichts zu suchen hat, auf die Erde brachte, so führt Ghazali mit all seiner Kraft die Religion ins Gewissen der damaligen moslemischen Philosophen: Die negative Einstellung Ghazalis gegenüber den Philosophen erreichte eine Vehemenz, die uns bei einer solch großen Persönlichkeit erstaunt. Zweifellos kommen in den polemischen Aspekten seines Werkes, seine inneren Zweifel zu Dialektik als Mittel seiner Polemik 11 . Ghazali widmet zwei seiner Werke dem Angriff auf die Philosophie: „Die Intentionen der Philosophen“ (Mohassid Al-Falasifa) und „Selbstzerstörung der Philosophen“ /Tahafout Al Falassifa). Er konzentrierte seine Anstrengungen um den Philosophen zu beweisen, daß die philosophischen Beweisführung nichts beweist. Er greift ihre Lehre der Ewigkeit der Welt an, und lehnt ihre Argumente für die Existenz unveränderbarer geistiger Substanzen, die einem geistigen Wesen erlauben, sich selbst und die eigene Erkenntnisfähigkeit zu erkennen, ab. Die Kritik von Al-Ghazali entfaltet sich voll, wo es darum geht, das von Avicenne aufgestellte kausale System anzugreifen. Für Ghazali spiegeln alle natürlichen Prozesse die durch den göttlichen Willen festgelegte Ordnung wieder, der diese aber jederzeit wieder umstoßen kann. Er kann auch nicht die These der Philosophen anerkennen, die sich an ein Jenseits anlehnt und die körperliche Auferstehung vertritt. Wenn es eine Auferstehung gäbe, dann könne es nur die der Seele betreffen. Da ich mich gezwungen sehe, mich aus zeitlichen Gründen zu beschränken, möchte ich noch festhalten, dass die Verfolgung der Vernunft in dieser Epoche der moslemischen Geschichte, die Türen für die Mystiker, die in Kontemplationen Zuflucht gefunden haben. weit offen stehen: „Das fünfte Jahrhundert ist durch eine Wende in der intellektuellen Geschichte des Islam gekennzeichnet. Die Etablierung des orthodoxen Glaubens um das Jahr 500 (1106 n.Chr.) hat das

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Dr. Nassif Nassar, „Des caractéristiques de la rationalité philosophique Arabe“, in: la rationalité Arabe et le projet de civilisation, publikations du conseil national de la culture Arabe, Rabat-Maroc, 1988, p.81. 10 Ghazali, Revivication des sciences religieuses. 11 Henri Corbin, po. cit. p. 255. Erstellt am 16.06.2008

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Schicksal unabhängiger Recherchen für immer besiegelt. Ohne Aschari und Ghazali wären die Araber eine Nation der Galilei, Kepler und Newtons geworden 12 . Im Lager der Philosophen und ihren geistigen Nachfahren, den Rationalisten aller Tendenzen, wurde Ghazali nie verziehen, dass er die Vernunft entthront hat. Die Exilzeit der Vernunft dauerte lange an. Die Ottomanen haben alles nur noch komplizierter gemacht. Die Moderne und die zeitgenössische Philosophie sahen sie wieder aus dem Exil zurückkehren. Aber ist diese wiederkehrende Vernunft dieselbe, für die sich Generationen von Philosophen geopfert haben? Nichts ist mehr sicher - und das möchten wir im letzten Punkt erläutern. III. Die Krise der Vernunft bei den modernen und zeitgenössischen moslemischen Philosophen (12.Jh. bzw. 18. christl. Jh. bis heute) Die europäische Kolonisationsbestrebung, die die moslemischen Länder ab dem 16. Jh. betroffen hatte, war für alle moslemischen Denker und Philosophen eine unangenehme und ambivalente Überraschung. Es war für sie aber auch eine Herausforderung, da die intellektuelle Strömung, die die Kolonisation begleitet hat, eine neue Denkart mit sich brachte. Die moslemische Vernunft wurde in der Tat durch die verschiedenen europäischen philosophischen Strömungen, denn diese Herausforderung sprengt die Welt der moslemischen Philosophie und provozierte Reaktionen, die von Akzeptanz bis Ablehnung reichten.

Die Krise der Vernunft in der modernen moslemischen Philosophie Die französische Expedition nach Ägypten und die progressive Ausweitung der Kolonisationsbewegung in der moslemischen Welt machten den Moslems bewusst, in rückständigen Ländern zu leben. Man stellte sich die Frage über den Wert und die Leistungsfähigkeit des Islams, der Geschichte und der Natur. Es wurde also notwendig, die Größe des Islams wieder zu etablieren. Die Kolonialzeit ließ die Frustration und Entfremdung wieder aufleben. Dem Islam wurde eine marginale, individuelle Bedeutung beigemessen. Er wurde aber nicht negiert. sondern Studienobjekt und einer der Trümpfe im Kolonialspiel. Die Unsicherheit im Handeln und die Fragen zur Wirksamkeit des Islams charakterisieren eine zerrüttete Periode für die moslemische Intelligenz, in der Debatte zwischen dem Alten (Kadim) und dem Neuen (Hadit): Der ausländische Druck, die politischen Dominierung und die maschinistischen Zivilisation verstärken sich und führen zur Konfrontation zwischen den Methoden der europäischen Ideologie und den Traditionen des Islams 13 . Das wichtigste Kennzeichen aller moslemischer Denkströmungen ist es, dass sie die europäische Herausforderung mit dem Islam als Instrument stoppen wollen. Mazzini sagt, dass die großen Reformen immer das Resultat großer religiöser Bewegungen waren. Die Geschichte der Erneuerung der moslemischen Gesellschaft scheint diesen Gedanken des berühmten italienischen Patrioten zu bestätigen. Die Erneuerungsbewegung begann mit der Bewegung der WAHABITEN, gegründet von Mohamed Ibn Al-Wahab 14 , im heutigen Saudi Arabien, als eine Antwort auf die Überladung der Religion mit störendem Aberglauben, kindischer Mystik und Heiligenkulten, die nur noch im weitesten Sinne etwas zu tun haben mit dem nüchternen Monotheismus von Mohammed. Mohammed Ibn Abd Al-Wahab war ein mächtiger Keim, der alle Reformbewegungen nach ihm beseelte 15 . 12

M.E. Sachau, La Chronologie d`Al-Biruni. Jacques Berques u. andere, Normes et valeurs dans l`Islam contemporain, Payot, Paris, 1966, p. 8. 14 Man nannte ihn den moslemischen Calvin. 15 Die Neo-Mutasisisten, die modernen Liberalen des Islam, die für ihr revolutionäres Temerament bekannt sind, wurden von den Wahabiten beeinflusst. 13

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Der Wahabismus, der aus einer Revolte gegen Missbrauch und Aberglaube geboren wurde, erweist sich als extrem einfacher, puritanischer Reformversuch. Er verurteilt jeglichen, nach dem 3. hegirianischen Jahrhundert eingebrachten Beitrag (9. christl. Jh.). Er lehnt die Schriften und Interpretationen aller großen, mittelalterlichen Doktoren des Islams ab, und anerkennt nur die Autorität der 4 sunnitischen Rechtsschulen. Die Einfachheit der islamischen Lehre, auf ihren monotheistischen Kern gebracht, wird bei den Wahabiten durch einen extrem rigiden moralischen Code ersetzt. Man warf dieser Bewegung starke Engstirnigkeit und extremen Fanatismus vor, der sogar gewisse orthodoxe Moslems erschreckte: „Diese Kritik scheint nicht begründet zu sein, schreibt Lothrop Stoddard. Die erste Phase jeder Religionsreform ist die komplette Ablehnung des primitiven Kultes. Selbst die protestantische Reform begann in dieser Art und Weise.“ 16 . Der Wahabismus brachte einige andere Denkströmungen hervor. Die berühmteste ist die Bewegung der „Snoussia“, von Ibn Ali As-Noussi in Algerien begründet und in fast ganz Nordafrika verbreitet, besonders in Libyen 17 . Die pro-islamische Idee, die die politische Grundidee des Wahabismus und der Snoussia ist, sollte dem neuen Zeitgeist angepasst und von jeder moslemischen intellektuellen Elite ernsthaft durchdacht werden. Dies bedeutet, dass die Kolonisation die moslemische Philosophie aus dem Kreis der reinen Meditation gestoßen hat in Richtung politischen und sozialen Handelns. Eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten der moslemischen Philosophie im 19. Jahrhundert ist Jamal Eddine Al-Afghani (1839-1897). Gelehrter, Philosoph und Schriftsteller, war er dauernd in Intellektuellem Austausch mit den bedeutendsten europäischen Eliten. Er zeigte sich als moderner Denker, der für alle Geistesströmungen seines Jahrhunderts offen war. Er bemühte sich zu beweisen, dass der Islam keineswegs ein toter Körper ist, sondern dass er, wenn er vom doktrinfremden Ballast des Aberglaubens befreit ist, modernen Anforderungen und technischen Innovationen der westlichen Zivilisation gerecht werden kann. Auf sozialer und politischer Ebene zeigt er, dass die islamische Lehre im Kern liberal und demokratisch ist, und dem Volk das Mitbestimmungsrecht an der Staatsverwaltung und die Kontrolle der Regierung zuspricht. Dennoch ist die Position von Al-Afghani gegenüber der Vernunft zwiespältig. Die kanonische Reformbewegung, die er verteidigt hat, konnte nur einen Teil ihrer Ziele erreichen: die Religion zu reinigen und das alte Erbe aufleben zu lassen. Der letzte Teil des Weges, den er noch gehen wollte, wäre gewesen, die allgemeinen Grundlagen einer intellektuellen Renaissance zu legen, um das religiöse Denken selbst wieder aufzubauen und mit wissenschaftlichen Theorien transformieren zu können: „Die religiöse Reform weckte auf, aber die wissenschaftliche Renaissance kann aufbauen; deshalb ist die religiöse Reform auf Emotionen aufgebaut, während die wissenschaftliche Reform auf die Vernunft baut.“ 18 . Bei Afghani überschreitet die Vernunft nicht die Schwelle der Religion. Sie war eine rhetorische diskursive Vernunft, die alles, was nicht im Widerspruch zur Religion war, annehmen konnte und alles, was ihr schadet, zurückwies. Von der europäischen Ratio akzeptierte sie jene der Reformatoren, der Rationalisten und die wissenschaftlich-technische Vernunft und lehnte entschieden die Theorien Darwins, der Nihilisten, Sozialisten und Kommunisten ab, da sie sich seiner Meinung nach gegen die Religion richten. Er bevorzugte Platon vor Aristoteles.

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Lothrop Stoddard, Le nouveau monde de l`Islam, Paris, 1923. Le Général Graziani, Cirena Pacificata, Rom. 18 Dr. Hassan Hanafi, „Fi Fikruna Al-Muassir“ (Unser zeitgenössisches Denken) Dar Attanwir, BayroutLibanon, 1981, p. 103. 17

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Zusammenfassend gesagt, weckte und motivierte Afghani seine zeitgenössischen Intellektuellen; dennoch wandelte er seine Denkweise nicht in eine rationale Theorie um. Deswegen hat sein Einfluss die Generation seiner Schüler nicht überlebt. Die moderne Zeit hat die Krise der Vernunft in der modernen Philosophie noch verschärft indem sie den traditionellen Gegensatz zwischen Glaube und Vernunft wiederbelebte. Bereits als die Vernunft im europäischen Denken tiefe Furchen gezogen hat, waren die moslemischen Intellektuellen noch nicht bereit, dieses neue Produkt, das in den modernen europäischen und amerikanischen Universitäten produziert wurde, zu verwenden. Es handelt sich meiner persönlichen Meinung nach um einen Minderwertigkeitskomplex an dem alle Generationen der Moderne in der moslemischen Welt leiden. Ein Intellektueller Komplex, da sie sich überholt glaubten. Ein technischer Komplex, da sie sich neue technischen Errungenschaften gegenüber sahen. Und schlussendlich ein Komplex, abhängig zu sein (Sklave zu sein) nachdem sie jahrhundertelang Herr ihrer selbst waren. Eine letzte Bemerkung noch: die von den modernen moslemischen Philosophen geerbte Vernunft war genau jene, die die Orthodoxen entwickelt haben. Man trifft, durch die ganzen Jahrhunderte, bei allen orthodoxen Philosophen auf den Appell, zu den Quellen der Vernunft zurückzukehren. Nur hat jeder von ihnen seine speziellen Gründe für diese Rückkehr. Dennoch ist der gemeinsame Hauptgrund dafür die Opposition zur Verwendung der Vernunft. Die europäische Kolonisation vertiefte tatsächlich die Krise der Vernunft in der moslemischen Philosophie. Nicht nur indem sie ihre eigene Vernunft lehrte, sondern indem sie versuchte, die Vernunft in ihrer moslemischen Version zu ersticken 19 . Die Krise der Vernunft bei den zeitgenössischen moslemischen Philosophen. Die zeitgenössische Epoche ist die komplizierteste für den moslemischen Philosophen. Die Suche nach der Verwirklichung einer rationalistischen moslemischen Tradition war erfolgreich. Der direkte Kontakt mit der europäischen Intelligenz und der direkte Zugang zu den Quellen der westlichen Philosophie für die moslemische Elite 20 hat das Gefühl der Hoffnungslosigkeit nur noch verstärkt. Zwei existentielle Schocks haben das moslemische Denken und sein Vertrauen in die Vernunft als Denkinstrument bis in die 50er Jahre beeinträchtigt: die allgegenwärtigen Kriege und die Manifestationen der europäischen Krise der Vernunft selbst. Zwei andere Tatsachen haben das moslemische Denken völlig aus der Bahn geworfen: die Katastrophe von Tschernobyl 21 und der Zusammenbruch des Ostens 22 , der für viele moslemische Philosophen die rationalistische Antithese zu einem dogmatischen und rigiden Islam darstellte. Alle europäischen Denkrichtungen haben sich in der moslemischen Welt verbreitet nachdem die Zeit der Komplexe überstanden war und insbesondere nach der Unabhängigkeit und der Stellungnahme einiger europäischer Intellektueller gegen die Kolonisation. Die Vernunft wurde universell und die Forschungen, sei es nun in den Geisteswissenschaften oder Naturwissenschaften, basierten auf rationalen und wissenschaftlichen Methoden, die in Europa entdeckt und entwickelt wurden. Die zeitgenössische moslemische Philosophie macht sich zum Ziel, das zu realisieren, was in der ganzen Geschichte der moslemischen Philosophie nicht gelungen ist: die Vernunft als Größe der Reflexion und der Urteilskraft zu etablieren; und das im Gegensatz zur religiösen Reflexion die durch etablierte politische Regime von neuem gefährdet wird. „Die Epoche des Erdöls hat die Krise der Vernunft nur noch verschärft (...). Unter die negativen Auswirkungen dieser Zeit ist das Wiedererwachen traditionalistischer Strömungen zu rechnen, die zum Teil von den etablierten politischen Systemen gefördert wurden.“ 23 . 19

Es handelt sich vor allem um engstirnige Orientalisten, die im Islam selbst eine Gefahr für den Fortschritt sahen. 20 Fast die gesamte moslemische intellektuelle Elite ist auf den europäischen Universitäten ausgebildet worden. 21 Die Kathastrophe war eine eindringliche Warnung vor dem blinden Vertrauen in den Fortschritt der Technik. 22 Viele Staatsideologien in den moselmischen Ländern waren von der marxistischen Theorie beeinflußt. 23 besonders die klare Position von J.P. Sartre. Erstellt am 16.06.2008

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Die 68 iger Bewegung ermutigte viele moslemische Denker, Position gegen das politische System ihres Landes zu beziehen. Sartre und die Studentenproteste haben zum Träumen Anlass gegeben und auch zum Engagement vor Ort. Die marxistische Doktrin und der rationalistische Materialismus haben sich in den 60 er Jahren in Ägypten und fast im ganzen Orient durchgesetzt. Der moslemische Westen verhielt sich eher vorsichtig und kennzeichnet sich durch die Aufnahme des cartesianischen Rationalismus. Europäische Philosophen haben und hatten Freundschaften und Austausch mit den moslemischen Philosophen. Dieser direkte Kontakt scheint eine philosophische Revolution bei den Moslems einzuleiten, die Übersetzungen europäischer und amerikanischer Werke wurde aktiviert. Fachzeitschriften unterstützten den Ideenaustausch zwischen Philosophen. Dennoch gibt es etwas, das den zeitgenössischen moslemischen Philosophen stört: Die Krise der Vernunft machte sich überall bemerkbar; das angebotene philosophische Erbe reichte nicht alleine aus, um die Grundmauern einer rationalen moslemischen Tradition aufzubauen. Auch die europäische Ratio reicht nicht aus, da das Forschungsgebiet und der Bereich der Anwendung völlig unterschiedlich sind. Aber von dieser Krise der Vernunft hat noch nie jemand gesprochen. Das ist das Tabuthema in der modernen moslemischen Philosophie, die es zu umgehen versucht unter dem Vorwand, dass es dringendere metaphysische Probleme gäbe. Doch ab den 70 er Jahren machte sich die Krise der Vernunft immer mehr bemerkbar. Der Appell, die Vernunft zu verwenden, kam wieder bei den moslemischen Philosophen auf; vor allem, nachdem religiöse Bewegungen auf politischem und sozialem Terrain wieder aufgetaucht sind. Die Philosophen waren die ersten, die sich der Bedrohung durch das Religiöse, das sich zuerst gegen sie selbst richtete, bewusst geworden sind. Aber die politischen Regime wollten ja diese Konfrontation zwischen dem Glauben und der Vernunft, weil die Intellektuellen für sie eine Gefahr darstellten, da sie mit ihren sogenannten „importierten“ Ideen von Demokratie und Freiheit das etablierte System stören würden: „Die arabische Politik unterhielt noch eine enge Beziehung zum Bereich des religiösen, sie hat ihre Selbständigkeit noch nicht erreicht. Um die arabische Politik verstehen zu können, ist es wichtig, zuerst ihre Beziehung zur Religion zu entschleiern.“ 24 . Zur Zeit tragen die staatlichen Regime und die religiösen Bewegungen diesen Kampf aus: „Die Moslems haben abgenommen als die Vernunft begann, ihr Amt niederzulegen.“ 25 . Endlich hat der Philosoph nun seinen Freiraum zum Arbeiten gefunden. Wir erleben eine echte Renaissance, da die Qualität und die Quantität der philosophischen Produktion erstaunlich ist, vor allem in Marokko, wo die intellektuelle Elite mit dem Regime Frieden geschlossen hat, machtbesetzte Schlüsselstellen einnahm und Regierungsvorschläge machen konnte. „Der politische Bereich als solcher existiert nicht, da es eine direkte organische Verbindung gibt zwischen der Religion und dem Prinzen einerseits und der Politik andererseits. Im Westen erschien der politische Bereich unabhängig mit Thomas von Aquin, als er die Macht Gottes und die des Königs trennte. Die Legitimation der Macht des Königs kommt nicht von Gott, sondern vom Volk. So wird man sich der Existenz des Volkes bewusst und in diesem Fall ist ein politischer Bereich möglich.“ 26 . Die Kritik der moslemischen Vernunft ist eines der aktuellen Themen, dem sich die Philosophen vermehrt zuwenden: „Dieses Buch behandelt ein Thema, das man schon vor einem Jahrhundert hätte behandeln müssen. Die Kritik der Vernunft ist ein wichtiger und wesentlicher Teil in jeder Renaissancebewegung. (...). Ist es möglich, eine Renaissance einzuleiten, ohne eine wiedergeborene Vernunft? Eine Vernunft, die ihre Werkzeuge, Konzepte, Auffassungen und Visionen noch nicht erneuert hat?“ 27 . Das sind die Fragen, die wir heute brauchen können, denn wie es M. Novak gesagt hat: 24

Dr. A. Adelmouiti: „Crise de la raison ou crise des pouvroirs en place“ in: La Raison Arabe et le projet de civilisation; op. p. 160. 25 La raison arabe et le projet de civilisation. Op. cité. p. 8. 26 M.A. Eljabri, Critique de la raison arabe. Casablanca, 1991, p. 347. 27 M.A. Aljabri: „La raison Arabe et la politique“, in La raison Arabe et le projet de civilisation, op. coté. p. 142. Erstellt am 16.06.2008

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„Die Philosophie schreitet nur voran, wenn die neue Generation neue Fragen stellt.“ 28 . Das trifft auch für die Mehrzahl der heutigen moslemischen Philosophen zu, die nicht mehr Amen sagen, wenn der Imam gesprochen hat. Sie neigen eher dazu zu fragen: und was nun? „Wenn man bemerkt, dass es gesellschaftliche Bereiche gibt, die beginnen sich von der Bevormundung des Heiligen und von allem was statisch und endgültig ist zu lösen, dann wird die Rationalität zur Vernunft und zur sozialen Bewegung.“ 29 . Das intellektuelle moslemische Terrain am Ende unseres Jahrhunderts ist sehr bewegt. Die Wahrheiten sind nicht mehr endgültig und die Veränderungen, die jede Periode des Übergangs kennzeichnen, führen zweifellos zum Bruch mit alten Kategorien. Was darüber hinaus das Ganze noch komplizierter macht ist die Geschwindigkeit in der sich Ideen dank der modernen Kommunikationsmittel austauschen. Die Ideen beeinflussen mehr als in irgendeiner anderen moslemischen Epoche ganz direkt das soziale Leben. Das erklärt auch zum Teil die Explosion der klassischen Gesellschaft; eine Explosion, die einige moslemische Länder in den K.O.-Status brachte.

Schlussfolgerungen Ist es Zeit, dass die moslemische Vernunft sich von der dogmatischen Orthodoxie Genugtuung verschafft? Wird diese permanente Dualität zwischen Glauben und Vernunft, die die Geschichte der moslemischen Philosophie kennzeichnet, zu Ende gehen? Wer wird die intellektuelle Szene am Vorabend des 21. Jahrhunderts beherrschen - der Imam oder der Philosoph? Alle Anzeichen lassen darauf schließen, dass die Auseinandersetzung zwischen den beiden ihren Höhepunkt erreicht hat. Die Philosophen scheinen nicht nachzulassen. „Die Wunder haben ihre Rolle gespielt in dem sie die Leute zur Gottgläubigkeit aufriefen, wenn Gott indirekt in die Natur eingriff in der Thora und im Evangelium. Das Wunder ist nicht die Problematik unserer Zeit, sondern jener vergangenen Epochen. Das letzte Wunder war das Kommen Jesu, seine Kreuzigung und Auferstehung.“ 30 . Im Juli 1988 organisierte das Centre national de la Culture Arabe (2) ein Symposium zur arabischen Rationalität. Viele moslemische Fachleute kamen zusammen, um gemeinsam zu arbeiten und ihre Ablehnung gegenüber der von den Islamisten getroffenen Wahl zu bezeugen. „Die Epoche des Sozialreformators ist zu Ende gegangen. Der Mann der Religion ist wiedergekommen: Der Scheich, der Herr, der Imam, der Prediger, der Orientierer; aber er ist nicht mehr Reformator. Er ist mit dem Slogan der Einführung der Religion und einer moslemischen Regierung (...). Der Schriftsteller muss Zensuren hinnehmen und der Denker denkt unter dem Druck der Regime und der politischen Parteien. Die Forschung konzentriert sich auf sekundäre Bereiche, auf die Vernunft und die idealistische und materialistische Rationalität, auf den Islam und andere Ideologien; aber nicht direkt auf die Religion und die Legalität der Macht. So bleibt das Problem der Macht und der Freiheit ein theoretisches (...). Man verweilt ewig bei der Frage, welche Vernunft man nun will, und man glaubt gezwungen zu sein, zwischen verschiedenen zu wählen.“ 31 . Aber auch die Islamisten machen keine Konzessionen. Ihre Kraft beruht auf der Tatsache, dass die Mehrheit der moslemischen Völker Analphabeten sind und einen sehr einfachen Glauben haben, der die religiöse Doktrin blind annimmt. Die wirtschaftliche und soziale Krise, die zur Zeit keinem islamischen Land erspart bleibt, erleichtert den Islamisten, die aus dem Islam eine Ideologie gemacht haben, ihre Aufgabe. 28

M.A. Aljabri, Critique de la raison Arabe, op. cité. p 5. Michael Novak, La philosophie réinventée, essai pour une nouvelle génération, trad. Marc André Béra, ed. Gaignault, 1976, p. 29. 30 1. Dr. Hassan Hanafi, Dans notre pensée contemporaine, Dar Atanwir, Bayrout-Libanon, 1981, p. 80. 31 Eine Nicht-Regierungs-Organisation, von arabischen Denkern gegründet; konzentriert sich auf geisteswissenschaftliche Forschung, insbesondere der Philosophie; neben verschiedenen Konferenzen, die sie jährlich organisieren, geben sie auch die Zeitschrift „Al-Wahda“ heraus. 29

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Der Horizont des Konfliktes zwischen der Vernunft und dem Glauben ist in der moslemischen Philosophie noch nicht allzu klar. Aber wie dem auch sei, der zeitgenössische Philosoph hat keine andere Wahl als seine Attacken noch zu verstärken, und seine Position auf dem Schlachtfeld zu verstärken, solange sich noch kein Sieg abzeichnet.

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