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Wissenschaftstheorie, -begriff der Rhetorik A. Grundlagen der Rhetorik als Wissenschaft. – I. Entstehungsbedingungen. – 1. Polis und Kommunikation. – 2. Kommunikation und Fachwissenschaft. – II. Rhetorikdefinitionen. – III. Konjunkturen des Faches Rhetorik. – B. Geschichtliche Aspekte: I. Begründung der Rhetorik als Fachwissenschaft in der Antike. – II. Stationen der Rezeptionsgeschichte: 1. Mittelalterliche Artes-Rhetoriken. – 2. Humanismus und Rhetorik-Renaissance. – 3. Das rhetorische Bildungsprogramm des 17. und 18. Jh. – 4. Rhetorik im 19. Jh. – III. Moderne Rhetorikwissenschaft. – 1. Das Fach Rhetorik und seine Renaissance. – 2. Rhetorik als Wissenschaft im Ensemble der Fächer. – 3. Rhetorik, Kontingenz und Argumentation.

A. Grundlagen der Rhetorik als Wissenschaft. I. Entstehungsbedingungen. 1. Polis und Kommunikation. Die Entstehung der Rhetorik ist nicht nur durch die empirische Beobachtung des Sprachgebrauchs in der griechischen Polis und das Erfahrungswissen der sizilianischen Gerichtsrede im 5. Jh. v. Chr. geprägt, sondern ebenso durch die argumentationsleitende Instanz der reputablen oder allgemein anerkannten (außerrhetorischen)

öffentlichen

Meinungen

und

tradierten

Überzeugungen

(éndoxa).1 Diese können «as a way of reaching the truth» (als Weg, sich der Wahrheit anzunähern) aufgefaßt werden, dessen Ziel es ist, «to provide a perspicous and ordered explanation of natural and social phenomena» (eine klare und geordnete Erklärung natürlicher und sozialer Erscheinungen zu liefern).2 Éndoxa dienen der Konfliktminimierung und Komplexitätsreduktion in oppositiven öffentlichen Diskursen bzw. zur Absicherung von Handlungsanleitungen in problematischen Situationen.

Als

gemeinsam

oder

zumindest

mehrheitlich

geteilte

nichtwissenschaftliche Meinungen können éndoxa eine potentielle Datenbasis für die Konstruktion nicht anfechtbarer Wissenssysteme sein und damit zur Stabilität

1 E.V. Haskins: Endoxa, Epistemological Optimism, and Aristotle's Rhetorical Project, in: PaR 37,1 (2004) 5. –

2 ebd. –

2

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der sozialen Interaktionen und Institutionen beitragen.3 Hintergrund dieser Annahme ist ein epistemologischer aristotelischer Optimismus, der dem Menschen die Fähigkeit zur genauen Wahrnehmung der Welt sowie zur klaren sprachlichen Darstellung und rhetorischen Vermittlung des Wahrgenommenen zuschreibt.4 Die Kenntnisse über den rhetorischen Kommunikationsprozeß in der Polis systematisiert und methodisiert Aristoteles als Fachwissen in seinem bis heute erkenntnisleitenden Lehrbuch ‹Téchnē rhētorikḗ›. Er formuliert darin eine Theorie des

Meinungswissens,

der

wahrscheinlichen

Schlüsse,

der

glaubhaften

Argumentation und ihrer gefühlsgerichteten Intensivierung und «somit zugleich eine Wissenschaftstheorie der Rhetorik»5 bzw. eine pragmatische Philosophie der Redekunst. Dies bringt das Erkenntnisinteresse der Rhetorik in Zusammenhang mit den Disziplinen der Ethik und Politik, wobei die Rhetorik mit diesen beiden eine staatswissenschaftliche Trias der Antike bildet. Eine zweite Trias konstituiert die Rhetorik

mit

den

Denksystemen

der

Topik

und

Dialektik,

womit

die

Voraussetzungen für methodisch-inventorisches Vorgehen und vernünftiges Argumentieren benannt sind. Die interdisziplinäre Funktion und Ubiquität der Rhetorik als Unterrichtsfach, Wissenschaft und Aufgabenfeld sind jedoch kritisch zu kontrollieren und vom genuin nicht-rhetorischen Wissensbestand derjenigen Einzelfächer abzugrenzen, in deren Diskursen und Argumentationen sie als nicht substituierbares Wissen zur Geltung kommt. Unbezweifelbar ist also die Verwiesenheit des Redners in Wissenschaft und Gesellschaft, in einzelfachlicher Kommunikation und in der Öffentlichkeit

auf

die

Fachkenntnisse

der

Rhetorik,

wenn

diese

Kommunikationsprozesse vernünftig, intersubjektiv überprüfbar und problemlösend sein sollen. Die Rhetorik ist schon deshalb in der Antike Teil des Bildungskanons für

diejenigen,

die

sprachkompetent,

gemeinwohlbezogen

und

verantwortungsbewußt an der Gestaltung der Polis teilnehmen wollen. Die Rückführung der Polisstabilität auf einen rhetorikwissenschaftlichen Vernunft- und Diskursbegriff läßt sich mit der wissenschaftstheoretischen Reflexion von K. Hübner in Übereinstimmung bringen und damit begründen: Hübner geht davon aus,

3 vgl. ebd. 7. – 4 vgl. ebd. 17. – 5 G. Ueding: Klass. Rhet. (1995) 31. –

3

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daß auch das Individuelle und Besondere der historischen Wissenschaften (wie die Rhetorik) ein Allgemeines implizieren und formulieren, und zwar kein naturgesetzliches Allgemeines, sondern eines, dessen Geltung veränderbar und geschichtlich begrenzt ist, aber dennoch erklärt und kommuniziert werden kann.6 Schon zum Handlungsraum der griechischen Poleis gehört ein variierendes Allgemeines, das von allgemein gültigen Regeln der sozialen Interaktion gesteuert wird, die ebenso wenig chaotisch sind wie naturgesetzliche Abläufe. Diese stabilen Regeln werden in der Jurisprudenz, im Ritus und in politischen Zusammenhängen unmittelbar wirksam und führen u.a. zur Bildung orientierender Idealtypen (wie Freiheit, Demokratie oder Gerechtigkeit). Als soziales Allgemeines produzieren sie Traditionen

und

Narrationen,

deren

Erklärungspotentiale

als

doxastische

Ausgangspunkte für Argumentationen fungieren können und damit als rhetorische materia und inventorische Leitgrößen – eine Erkenntnis, die in der jeweiligen historischen Ausprägung bis in die Moderne gültig ist.7

2. Kommunikation und Fachwissenschaft. Als

interdisziplinäre,

theoretisch-systematische

und

didaktisch-praktische

Kommunikationswissenschaft tradiert die Rhetorik in ihrer Fachgeschichte einen gewichtigen Anteil des abendländischen Kultur- und Bildungsgutes, sie formuliert die Prinzipien des sprachlich-sozialen Handelns, beschreibt und lehrt die Eigenschaften und Funktionen von Texten und bestimmt die Voraussetzungen des angemessenen und wirkungsvollen Ausdrucks in Rede und Schrift.8 Der wesentlich pragmatische Charakter dieser fachlichen Leistungen muß berücksichtigt werden, wenn nach der Begründung der Rhetorik als Disziplin und nach ihrem interdisziplinären Standort gefragt werden soll. Die theoretisch-präskriptiven,

6 vgl. K. Hübner: Kritik der wiss. Vernunft (31986)305. – 7 vgl. ebd. 312 ff. – 8 vgl. G. Kalivoda: Rhetorica antiqua – Rhetorica nova, in: Euphorion 93/1 (1999) 127–133; P. Schmitter: Zur Vorgesch. der Kommunikationstheorie, in: Sprachwiss. 6 (1981) 186–199; N. Jackob: Macht und Verantwortung der Kommunikation bei Cicero, in: Medien & Kommunikationswiss. 54/2 (2006) 237–257. –

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analytischen, terminologischen und methodologischen Anteile der Redelehre gehören zu dieser Fragestellung. Damit sind wissenschaftsgeschichtliche und erkenntnistheoretische Implikationen des Faches Rhetorik aufgerufen, die unter folgenden Gesichtspunkten zu reflektieren sind: Anthropologisches und empirisches Fundament

der

Rhetorik

(Sprache

und

Lebenswelt),

Schulbildungen

(Wissenschaftsgeschichte), Modelle und Konzeptionen der Rhetorik (Theorie und Methode), Philosophie und Rhetorik-Kritik (Erkenntnistheorie, Wahrheitsfrage), Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik (Weltbild und Interpretation), Rhetorik und Ethik (Sprache und Handeln), Rhetorik und sprachliche Kommunikation (Rhetorische Situation). Dies läßt sich spezifizieren nach den wesentlichen Voraussetzungen und Merkmalen von Wissenschaftlichkeit überhaupt: 1) Forschungsbereich: Öffentliche, gesellschaftliche Kommunikation 2) Forschungsgegenstand: Persuasive Rede 3) Methoden: Verfahren der Redeproduktion und -analyse, Beobachtung des Kommunikationsprozesses 4)

Theoriebildung:

Erkenntnisinteresse

Anthropologische

und

Grundlagen,

gesellschaftliche

fachliche

Funktion

der

Inhalte, Redelehre

(Kommunikationstheorie) 5)

Terminologie:

Kategorien

der

inventorischen,

dispositorischen

und

elocutionellen Dimension der Rede; Termini der Beweismittel, Redegattungen, Redeteile, Redewirkung, Präsentation 6)

Forschungsrichtungen

und

Schulbildungen:

Orator-Rhetorik,

Argumentationsrhetorik, Ornatus-Rhetorik; dekonstruktivistische, anthropologische, literarische,

philosophische,

strukturalistische

oder

semiotische

Rhetorikauffassungen9

9 vgl. z. B. J. Knape: Allg. Rhet. (2000); ders.: Was ist Rhetorik? (2000); J. Dubois et al.: Allg. Rhet. (1974); J. Kopperschmidt: Rhet. Anthropol. (2000); R. Barthes: Die alte Rhet., in: Das semiologische Abenteuer (1988) 15–101; P.L. Oesterreich: Fundamentalrhet. (1990); ders.: Die Philos. der Rhetorik (2003); H. Blumenberg: Anthropolog. Annäherung an die Aktualität der Rhet., in: ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben (1981); P. de Man: Allegorien des Lesens (1988). –

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7) Interdisziplinäre Relevanz: Rhetorik als Werkzeug oder Mittel für alle Wissenschaften, in denen inhaltlich argumentiert und öffentlich kommuniziert wird oder deren Begründungsmuster nicht durch ausschließlich mathematische bzw. formallogische Operationen determiniert sind (wobei dieser Punkt insbesondere für den rhetorischen Wissenschaftsbegriff bedeutsam ist). Bei der Frage nach generellen Kriterien für Wissenschaftlichkeit gilt es zu bedenken, daß Begriffe nicht immer und überall gleich verwendet werden (z.B. Termini wie Wissenschaft, ars, téchnē, epistḗmē, scientia, science und deren intensionale und extensionale Bedeutung) und daß es enge (szientifisch-logischer Wissenschaftsbegriff) und weite Auffassungen gibt, die von einem alle Wissenschaften umfassenden Begriff von Wissenschaftlichkeit ausgehen, dem auch das Fach Rhetorik und andere historische Wissenschaften zuzurechnen wären. Nach A. Diemer begründen Meßdaten und Gesetzmäßigkeiten allein noch keinen Wissenschaftscharakter und mit rein naturwissenschaftlichen Postulaten kann nicht zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft unterschieden werden. Ebenso wenig kann

eine

Wissenschaft

allein

(z.B.

Physik)

über

das

Kriterium

der

Wissenschaftlichkeit entscheiden. Vielmehr gilt, daß der gesamte Prozeß der Apperzeption von Gegenständen (Sinnesdaten) über Vorverstandenes und alltäglich Grundgelegtes bis zur Beschreibung, Messung und theoretischen Erfassung sprachlich konstituiert und diskursiv begleitet ist, d.h. durch eine Interaktion zwischen Wissenschaftlern untereinander sowie zwischen Wissenschaftlern und Laien. Die Sprachlichkeit dieses wissenschaftlichen Denkens ist zugleich Bedingung seiner wissenschaftlichen Ausrucksform, im Einzelfach und in der Gesellschaft. Die Einheitlichkeit des Wissenschaftsbegriffs und seine fachlichen Manifestationen (allgemeingültig-gesetzlich, vergleichend, historisch) basiert also auf sozialen, anthropologischen und theoretisch-propositionalen Phänomenen: So ist z.B. ‹Ökonomie›

ein

fachwissenschaftlicher

Gegenstand

und

ein

alltägliche

Praxiserfahrung.10 Dabei zeigt sich das Ökonomische nicht nur als Schul- und Lehrbuchwissen, sondern auch als Gegenstand einer fachlichen und politischen Kontroverse, die zweifellos nur mit den Mitteln der rhetorischen Argumentation ausgetragen werden kann.

10 vgl. dazu A. Diemer: Zur Grundlegung eines allg. Wissenschaftsbegriffs, in: Zs. für Allg. Wissenschaftstheorie I/2 (1970) 209–212, 214–216, 221. –

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II. Rhetorik-Definitionen. Der definitorische Zugriff auf Gegenstand, Methode und Ziele der Rhetorik dient der Selbstvergewisserung des Faches, der Festlegung des Forschungsfeldes und der Lokalisierung dieser Disziplin im Ensemble anderer Fächer und Denksysteme. Definitorische loci classici der Bedeutung des Begriffs ‹Rhetorik› finden sich in den antiken Traktaten von Isokrates, Aristoteles, Cicero oder Quintilian, die bis in die Moderne

fachliche

Orientierungsgrößen

sind

und

auch

von

anderen

Geisteswissenschaften modifiziert rezipiert wurden. In seiner ‹Rhetorik› definiert Aristoteles dieses Fach als «Gegenstück zur Dialektik», wobei es Aufgabe der rhetorischen Wissenschaft ist, die rednerischen «Überzeugungsmittel» zu erforschen und diese zum «Bestandteil einer Theorie» zu machen.11 «Die Rhetorik sei also als Fähigkeit definiert, das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen. Keine andere Wissenschaft hat diese Aufgabe, denn von diesen lehrt und stellt überzeugend jede nur die ihr zugrunde liegende Materie dar [...].»12 Bei Aristoteles, Isokrates und Cicero lassen sich jedoch auch polisbezogene definitorische Merkmale der Rhetorik nachweisen. Neben die Dialektik tritt die Politik als rhetorikaffines Fach. Basis dieser Auffassung bildet die Verwiesenheit der Polis auf die Sprachlichkeit der Bürger: zṓon politikón und zṓon lógon échon als unhintergehbare Vorraussetzungen für Staatlichkeit und Rede. Denn nur der Mensch verfügt über den λός, lógos (Wort, Rede, Sprache), um damit «das Nützliche und das Schädliche und so denn auch das Gerechte und das Ungerechte anzuzeigen. Denn das ist den Menschen […] eigen, daß sie Sinn haben für Gut und Böse, für Gerecht und Ungerecht und was dem ähnlich ist. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Ideen aber begründet die Familie und den Staat.»13 In seiner ‹Rhetorik› ergänzt Aristoteles dieses Fundierungsverhältnis indem er feststellt, «daß die Rhetorik

11 Arist. Rhet., übers. von G. Krapinger (1999) 1354a 1–15, 1355a 11. – 12 ebd. 1355b 25–30. – 13 Arist. Pol., übers. von E. Rolfes (41990) 1253a. –

7 gewissermaßen ein Schößling der Dialektik und der Beschäftigung mit Ethik ist» und deshalb «die Bezeichnung ‹Staatskunst› verdient.»14 Wie Aristoteles bringt auch vor ihm Isokrates Sprache, Rhetorik und Gemeinwesen mit nahezu gleichen Formulierungen in einen konstitutiven Zusammenhang, wobei er noch das Merkmal des Dialogischen hervorhebt: «Doch weil wir von Natur aus die Gabe besitzen, einander überzeugen [ί, peíthein] zu können, haben wir uns zusammengetan, Poleis gegründet, uns Gesetze gegeben», denn dazu «hat uns unsere Fähigkeit zu sprechen geholfen. Die Sprache nämlich ist es, die Richtlinien gegeben hat für das Gerechte und Ungerechte, für das was ehrbar und was schändlich ist. Ohne diese Richtlinien könnten wir nicht miteinander leben. […] Mit Hilfe der Sprache diskutieren wir miteinander, worüber wir im Zweifel sind, und erforschen, was wir noch nicht kennen. Denn bei unseren eigenen Überlegungen bedienen wir uns der gleichen Argumente, mit denen wir im Gespräch die anderen zu überzeugen suchen.»15 In der Reihe dieser poliszentrierten Rhetorikdefinitionen gehört auch die ciceronische Bestimmung der Rhetorik als scientia civilis, als Staatswissenschaft: «Es gibt ein bestimmtes staatliches System, das aus vielen bedeutenden Abteilungen besteht. Ein bedeutender und umfangreicher Teil davon ist die kunstvolle Beredsamkeit, die man Rhetorik nennt. Denn ich bin nicht der Meinung derer, die glauben, die politische Wissenschaft brauche die Beredsamkeit nicht; und ganz im Widerspruch stehe ich zu denen, die glauben, sie stütze sich ganz und gar auf die Kraft und Kunst des Rhetors. Deshalb will ich die rednerische Fähigkeit in diese Gattung einordnen, dadurch daß ich sie einen Teil der politischen Wissenschaft nenne. Aufgabe aber dieser Fähigkeit scheint es zu sein, geeignet zu sprechen, um zu überzeugen; das Ziel ist die Überredung durch den rednerischen Vortrag.»16 An die beiden hier genannten Linien der Rhetorikdefinition, der anthropologischpolitischen (Ethik) und der argumentationstheoretisch-oratorischen (Dialektik), knüpft Quintilian in seiner ‹Institutio Oratoria› an. Das 2. Buch dieses Werkes (v.a. die Kapitel 13–21) ist der zentrale Ort, an dem er die Rhetorik als Wissenschaft

14 Arist. Rhet. 135ba 25–30. – 15 Isokrates, Antidosis, in: Sämtl. Werke, übers. von Chr. Ley-Hutton, Bd. 1 (1993) 253–257. –

16 Cic. Inv. I,6. –

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8 unter Rekurs auf wesentliche fachliche Merkmale kennzeichnet. Dazu gehören der Begriff der Rhetorik (definitio), ihr Wesen und Ziel (finis), ihre Nützlichkeit (utile), ihr Stoff (materia) sowie ihre Lehrbarkeit (disciplina, praecepta). Die Darstellung der Rhetorik als Tugend (virtus) und Wissenschaft (ars, scientia) runden diesen Passus seines Lehrbuches ab. Begründung und Entfaltung dieser quintilianischen Kriterien können auch gelesen werden als komplexe Antwort auf die vorausgehende platonisch-philosophisch induzierte Kritik an der Rhetorik als Kunst des schönen Scheins und der affektbetonten Manipulation. Für Quintilian ist Rhetorik am besten zu erfassen, wenn man vom Zusammenhang zwischen Kunst (ars, Lehrfach), Künstler (artifex, kompetenter Redner) und Kunstwerk (opus, durch planvolle Handlung hervorgebrachte Rede) ausgeht.17 Vor dem Hintergrund dieser fachlichen Trias bezeichnet er die Rhetorik in einer knappen Definition als «bene dicendi scientia», als Wissenschaft von der wohlkomponierten Rede.18 Eine politisch-pragmatische Qualität kommt der Rhetorik nach Quintilian deshalb zu, «weil ihre Verwendung vor allem im Handeln sich abspielt und hierin am häufigsten zur Geltung kommt» und weil sie daher auch «als Kunst der praktischen Betätigung oder der politischen Lenkung bezeichnet werden»19 kann. Argumentationstheoretisch oder anthropologisch fundierte Konzepte der Rhetorik finden sich auch in modernen definitorischen Zugängen zu diesem Fach: So sind für J. Kopperschmidt Ratio und Regelhaftigkeit Leitkriterien für die Verständigung unter den Bedingungen eines jeweiligen Geltungsanspruchs: «Die Sprache ist das Medium der argumentativen Verständigung, die Vernunft ihr Ziel. Eine Rhetorik, die dieser Vernunft in Sprache Geltung verschaffen will, versteht sich als eine Grammatik des vernünftigen Redens.» Deren «konstitutive Regeln» gilt es zu ermitteln.20 H. Blumenberg, der die anthropologische Auffassung reformuliert, situiert Rhetorik im Spannungsfeld zwischen Evidenzmangel und Handlungszwang, in dem das Mängelwesen Mensch Orientierung und Handlungsanleitung benötigt: Vor dem Hintergrund sozialer Ungewißheiten und der «Unbestimmtheit des Wesens

17 vgl. Quint. II, 14, 5. – 18 ebd. II, 15, 38. – 19 ebd. II, 18, 5. – 20 J. Kopperschmidt: Allg. Rhet. (1973) 9; vgl. 17ff. –

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Mensch» ist Rhetorik «die angestrengte Herstellung derjenigen Übereinstimmungen, die anstelle des “substantiellen” Fundus an Regulationen treten müssen, damit Handeln

möglich

wird.

[…]

Evidenzmangel

und

Handlungszwang

sind

Vorraussetzungen der rhetorischen Situation.»21 Wie die komplexe quintilianische Begriffsbestimmung ist das dritte hier angeführte Beispiel angelegt, die Definition von W. Jens. In Anknüpfung an antike Vorgaben hebt er die Aspekte Eloquenz, Ethik, Wirkung und den Zusammenhang von Theorie und Praxis hervor: «Die Rhetorik – als ars bene dicendi abgehoben von der Grammatik, der recte dicendi scientia – ist nach antiker Definition die Kunst des guten Redens (und Schreibens) im Sinne einer von Moralität zeugenden, ästhetisch anspruchsvollen, situationsbezogenen und auf Wirkung bedachten Äußerung, die allgemeines Interesse beanspruchen kann. Sie umfaßt sowohl die Theorie (ars rhetorica, Redekunst) als auch die Praxis (ars oratoria, Eloquenz, Beredsamkeit) und hat damit zugleich den Charakter von Kunstlehre und von Kunstübung.»22 Dieser Rückgriff auf die rhetorikgeschichtliche Tradition sei hier ergänzt durch einen Verweis auf die ebenfalls von der Antike bis zur Moderne wirksame Rhetorikkritik und -ablehnung, fußend auf der platonischen Abwertung des Faches, die fortgeführt wird von Philosophen und Logikern wie R. Descartes, A. Arnauld, P. Nicole (Port Royal) und F. Bacon im 16. und 17. Jh. oder I. Kant im 18. Jh.23, wobei logisch-formale, wahrheitstheoretische und ethische Argumente gegen die Rhetorik aufgeboten werden. Platon bringt dies in einen ironisch-pejorativen Vergleich, gerichtet gegen die Sophisten, im ‹Gorgias› zum Ausdruck: «Rhetorik ist keine Kunst (téchnē), sondern eine Übung (empeiría) in der Bewirkung von gewisser Lust und Wohlgefallen. Insofern sei sie der Fertigkeit eines Koches vergleichbar.»24 Für Platon ist Rhetorik nur in Gestalt einer philosophisch-

21 Blumenberg [9] 108,117. – 22 W. Jens: Art. ‹Rhet.›, in: Reallex. der dt. Literaturgesch., Bd.3 (21958) 432. – 23 vgl. dazu: R. Descartes: Oeuvres, hg. von Ch. Adam, P. Tannery, Bd. 9 (Paris ND 1964) 2,2; A. Arnauld, P. Nicole: L'art de penser, hg. von B. von FreytagLöringhoff, Bd. 1 (1965) 1,7; F. Bacon: Novum organum, in: The Works of F. Bacon, hg. von J. Spedding et al., Bd. 1 (ND 1963) 19,158; I. Kant, KU, § 53, Anm.1, B 218. –

24 vgl. Plat. Gorg. 462b-d. –

10

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dialektischen Wahrheitssuche und Seelenführung (psychagōgía) vorstellbar25 und ihre sophistische Ausdrucksform lediglich alltägliche, nichtwissenschaftliche Praxis, schöner Schein und Verführung des Publikums. Die Gegenüberstellung von Rhetorik und Philosophie, téchnē und epistḗmē wird in rhetorikkritischen

Traktaten

ergänzt

durch

die

Opposition

zwischen

wissenschaftlicher Wahrheit und rhetorischer Wahrscheinlichkeit, d.h. zwischen beweisbarer Erkenntnis und fragwürdigem Meinungswissen.

III. Konjunkturen des Faches Rhetorik. Begriffe

wie Fortschritt,

Innovation oder Novum können heuristische

Interpretationskategorien in der Geschichtsschreibung von Fachwissenschaften sein und auf kontinuierlichen Erkenntniszuwachs, auf methodische und theoretische Neuorientierungen, Verdrängungsprozesse

revolutionäre oder

modifizierte

Brüche,

Paradigmenwechsel,

Wiederaufnahmen

vorgängiger

Wissensbestände verweisen. «Für die Rhetorik bedeutet dies die Rekonstruktion einer komplizierten Fach- und Rezeptionsgeschichte, deren Konjunktur mit den Begriffen Erfindung, Veränderung, Verfall, Verdrängung und Renaissance knapp markiert werden kann.»26 Dabei lassen sich in aller Kürze die folgenden grundlegenden Abschnitte der Fachgeschichte skizzieren: 1. Antike Entwicklungsphase und klassische Rhetorik, wie sie in den Schriften von Aristoteles, Cicero oder Quintilian dokumentiert ist und durch praktische Beispiele der Beredsamkeit (z.B. Isokrates) illustriert wird. Für die Rhetorik als

25 vgl. zur platonischen Rhetorikkonzeption Plat. Phaidr. 259e, 263eff., 265eff., 270e, 272d-e. –

26 Kalivoda [8] 127; zur Fachgeschichtsschreibung: H. Schanze: Probleme einer Gesch. der Rhet., in:LiLi 43/44 (1981) 13ff.; M. Nickl: Kommentar zur interdisziplinären Rhetorikforschung, in: Germanistik in Erlangen, hg. von D. Peschl (1983) 451 ff.; P. Schmitter: Fortschritt, in: Theorie und Methode der Geschichtsschreibung der Linguistik (= Gesch. der Sprachwiss., Bd. 1) (1987) 93ff.; C.J. Classen, H.-J. Müllenbrock (Hg.): Die Macht des Wortes. Aspekte gegenwärtiger Rhetorikforschung (1992). –

11 scientia oder disciplina ist dieser praktische Bezug konstitutiv (έ, téchnē; ars).27 2. Mittelalterliche Rezeption und Anpassung des klassischen Systems an die Bedürfnisse der Homiletik, Poetik, Brief- und Notariatskunst, worüber die Texte von Augustinus (‹De doctrina christiana›), Johannes von Garlandia (‹Poetria›) oder Alberich von Montecassino (‹De dictamine›) ebenso Auskunft geben wie die spezifischen Figurensammlungen des Onulf von Speyer (‹Rhetorici colores›) oder des Geoffroi de Vinsauf (‹De coloribus rhetoricis›).28 3. Humanistische Wiederentdeckung des klassischen Systems im Rahmen einer sprachlich – rhetorisch geprägten Kultur der Latinitas und eloquentia, der studia humanitatis und der philologischen Tradierung griechischer und lateinischer Texte insbesondere in den rhetorischen Schriften von L. Valla, Erasmus von Rotterdam, Melanchthon und G.J. Vossius sowie Formen der praktischen reformatorischen Beredsamkeit (Luther).29 4. Poetisierung der Rhetorik in der Dichtkunst des Barock und Formen der jesuitischen, höfischen und konversationellen Beredsamkeit sowie konfessionell geprägte Schulrhetorik und Publikation deutschsprachiger Rhetoriken z.B. von J.M. Meyfart, Chr. Weise oder B. Kindermann; Reformulierung der Rhetorik nach den Leitkategorien Geschichte, Topik und Kritik durch G.Vico als humanistisch geprägte

27 Klassische Rhetorik: Volkmann; Martin; W. Eisenhut: Einf. in die antike Rhet. und ihre Gesch. (41990); O. Baumhauer: die Sophistische Rhet. (1968); Lausberg Hb.; Fuhrmann Rhet. –

28 Rhetorik im MA: Murphy RM, 111, 244 ff.; Arbusow; J. Koch: Artes Liberales (1959); E. Faral: Les Arts Poétiques Du XIIe Et Du XIIIe Siècle (Genf/Paris 1982); D.L. Wagner (Ed.): The Seven Liberal Arts in the Middle Ages (Bloomington, Ind. 1986). –

29 Humanismus und Rhetorik: Plett; H.-B. Gerl: Rhet. als Philos. (1974); E. Grassi: Umanesimo e retorica (Modena 1988); A. Noe et al.: Art. ‹Humanismus›, in: HWRh 4 (1998) Sp. 1ff.; P.O. Kristeller: Stud. zur Gesch. der Rhet. und zum Begriff des Menschen in der Renaissance (1981). –

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Verteidigung des Faches gegen die cartesianische Logifizierung von Denken und Sprechen.30 «5. Rhetoriken in der Zeit der Aufklärung mit dem Ziel der vernunftmäßigen Redekunst und der Verbindung von Rhetorik und Philosophie sowie im Sinne des Rednerideals und der bürgerlichen Erziehung (Thomasius, Knigge). Beispielhaft hierzu sei auf die Werke von B. Lamy, J.Chr. Gottsched, J.A. Fabricius, F.A. Hallbauer oder J.G. Lindner verwiesen.31 6. Bruch in der Wissenschaftsgeschichte im 19. Jh. und Entstehen fachlicher Konkurrenzen, Klage über den Verfall der öffentlichen Beredsamkeit sowie allgemeine argumentationsorientierte Rhetoriken wie die von R. Whately und fachspezifische Beredsamkeitslehren wie die von H. Orthloff und K.S. Zachariä (Gerichtsrede),

O.

Ramler

(Briefkunst)

oder

O.L.B.

Wolff

(Homiletik);

Rekonstruktion der antiken Rhetorik und Beredsamkeit durch F. Nietzsche unter dem Diktum von der prinzipiellen rhetorisch-metaphorischen Geprägtheit der Sprache.32

30 Barockrhetorik: Barner; Dyck; J. Knape et al.: Art. ‹Barock›, in: HWRh 1 (1992) Sp. 1286ff.; G. Vico: Principj di una Scienza nuova (Neapel 1725); K.O. Apel: Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico (31980) 318ff.; D. Ph. Verene: Vicos Wiss. der Imagination (1987); D.L. Marshall: Vico and the Transformation of Rhetoric in Early Modern Europe (Cambridge 2010). –

31 Aufklärung und Beredsamkeit: U. Stötzer: Dt. Redekunst im 17. u. 18. Jh. (1962); R. Klassen: Logik und Rhet. der frühen dt. Aufklärung (1974); G. Ueding: Art. ‹Aufklärung›, in: HWRh, Bd.1 (1992) Sp. 1188 ff.; T. Bezzola: Die Rhet. bei Kant, Fichte und Hegel (1993); Gottsched Redek.; Fabricius; Hallbauer Orat.; Lamy; J.G. Lindner: Anweisung zur guten Schreibart überhaupt und zur Beredsamkeit insonderheit (1755). –

32 Rhetorik im 19. Jh.: J. M. L. Linn: Stud. zur dt. Rhet. und Stilistik im 19. Jh. (1964); J. Goth: Nietzsche und die Rhet. (1970); J. Kopperschmidt, H. Schanze (Hg.): Nietzsche oder «Die Sprache ist Rhet.» (1994); M. Fuhrmann: Rhet. und öffentliche Rede (1983); G. Kalivoda: Rhet. Argumentation. Unters. zum Sprachgebrauch des 1. Vereinigten Landtags in Berlin 1847 (1986); H. Hohmann: Art. ‹Gerichtsrede›, in: HWRh 4 (1998) Sp. 810ff.; G. Kalivoda: Homiletik und

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7. Sprechwissenschaftliche Aneignung der Rhetorik im 20. Jh. (E. Drach, H. Geißner) und einzelfachlich orientierte Rhetorikforschung z.B. in Philosophie, Anthropologie, Literaturwissenschaft oder Semiotik sowie Argumentations-, Persuasions- und Kommunikationsanalyse oder Forschung auf rhetorischen Teilgebieten wie der Figurenlehre, der poetischen, homiletischen und gerichtlichen Beredsamkeit auch im Sinne der Innovation und des rhetorical turn.»33 Diese rhetorikgeschichtliche Linienführung wäre unvollständig, würde sie nicht durch Ereignisse und Aspekte der Diskontinuität, Infragestellung, Fragmentierung oder Kritik ergänzt. Dazu gehören 1. Aspekte der Dekadenz oder des Verfalls der rhetorischen Praxis, wie sie z.B. diagnostiziert wurden für den Schwulst antiker asianischer Beredsamkeit, die Deklamations- und Lobrhetorik der römischen Kaiserzeit, die barocke Hof- und Gelegenheitsrede oder die öffentliche Rede in Deutschland im 19. Jh.34 2. Aspekte der Kritik, wie sie von Sextus Empiricus, I. Newton, J. Locke oder G.W. Leibniz im Rahmen der philosophischen Wahrheitsfrage und der logischen Überzeugungstechniken formuliert wurden.35

Topik im 19.Jh., in: Th. Schirren, G. Ueding (Hg.): Topik und Rhet. (2000) 355– 365. –

33 s. Kalivoda [8]; Rhetorikforschung im 20.Jh.: N. Maccoby: Die neue wiss. Rhet., in: Grundlagen der Kommunikationsforschung, hg. von W. Schramm (51973); H. Schanze (Hg.): Rhet. (1974); H.F. Plett: Rhet. (1977); G. Ueding (Hg.): Rhet. zwischen den Wiss. (1991); Ueding/Steinbrink (42005) 159ff.; vgl. dazu auch die Reihe ‹Rhetorikforschungen›, hg. von G. Ueding (1991ff.) und das Periodikum ‹Rhetorik-Jahrbuch›, hg. von G. Ueding et al. (1980ff.); O. Kramer: Art. ‹Rhetorikforschung›, in: HWRh 8 (2007) Sp. 137ff. –

34 vgl. dazu: A. Müller: Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland (1816, ND Stuttgart 1983); M. Fuhrmann: Rhet. und öffentliche Rede (1983); W. Jens: Von dt. Rede (1983) 24ff., 79 ff.; J. Adamietz: Art. ‹Asianismus›, in: HWRh 1(1992) Sp.1122ff. –

35 Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos, engl. übers. von R.G. Bury (Cambridge, Mass. 1953); J. Locke: Essay Concerning Human Understanding (1690), in: Clarendon Edition of Locke's Work, h. v. P.H. Nidditch (Oxford 1975ff.);

I.

Newton:

Philosophia

naturalis

principia

mathematica;

Die

14 3. Aspekte der Konkurrenz, die beispielsweise in der Antike zwischen Rhetorik und Philosophie (Interpretation des gesellschaftlichen Lebens) auftraten, im Mittelalter zwischen Rhetorik und Grammatik (Figurenlehre, Poetik) oder zwischen den sprachlichen Artes um den Rang im Trivium sowie in der Neuzeit zwischen Rhetorik, Ästhetik, Literatur- und Sprachwissenschaft.36 4. Aspekte der Abspaltung und Selektion, wie die tendenzielle Aussparung der klassischen argumentatio in den Artes-Rhetoriken des Mittelalters, die Trennung zwischen Topik, inventio, dispositio einerseits (Dialektik) und elocutio, memoria und actio andererseits (Rhetorik) wie bei P. Ramus und O. Talon, die Thematisierung der persuasiven bzw. argumentativen Systemanteile in der New Rhetoric oder Nouvelle rhtorique und deren spezifische Veränderung, die Reduktion der Rhetorik auf elocutio bzw. Figurenlehre wie bei G. Genette, H.F. Plett und J. Dubois et al. oder die Übernahme rhetorischen Wissens in Literaturwissenschaft, Textlinguistik und linguistische Pragmatik.37

B. Geschichtliche Aspekte: I. Begründung der Rhetorik als Wissenschaft in der Antike. Um das Spezifikum oder Proprium eines fachlich ausgearbeiteten Konzeptes der Rhetorik erfassen zu können, sind die bisher genannten wissenschaftlichen Rahmenbedingungen und die in der griechischen Antike vorherrschenden Auffassungen von Wissenschaft (lógos, epistḗmē, téchnē) zu berücksichtigen. Von letzteren sei in dieser Darstellung ausgegangen.

mathematischen Prinzipien der Physik, übers. v. V. Schüller (1999, Orig. Amsterdam 1714); H.W. Arndt: Der Zusammenhang von Ars Iudicandi und Ars Inveniendi in der Logik von Leibniz, in: Studia Leibnitiana III (1971) 205–213; J.W. Leibniz: Schr. zur Logik und zur Grundlegung von Mathematik und Naturwiss.=Philos. Schr., Bd 4 (1992) 131–151, 203–213; Bezzola [31]. –

36 vgl. Koch [28] – 37 vgl. Kalivoda [8]; P. Ramus: Dialectica Institutiones (Paris 1543); O. Talon: Rhetorica (Audomari Talaei rhetorica, Paris 1576); G. Genette: Figures 1–3 (Paris 1966–1972); Dubois [9]; Th.M. Conley: Rhetoric in the European Tradition (Chicago/London 21994.); de Man [9]. –

23.01.18

15

23.01.18

Wissenschaftsgeschichtlich kann als gesichert gelten, daß mit der vorsokratischen (Natur-) Philosophie eine schrittweise Abwendung vom Mythos der Welterklärung (religiöse Deutung) und eine Hinwendung zum Logos (Wissenschaft, Empirie)38 erfolgt, die den Menschen, sein Sinnes- und Denkvermögen, seine Sprachlichkeit und Soziabilität ins Zentrum philosophischer und pädagogischer Reflexion rückt. Deutlich wird dies in der sophistischen Philosophie und Rhetorik (Relativismus, homo mensura-Satz), in der Ideenlehre der Platonischen Akademie und im pragmatisch, logisch und naturgeschichtlich orientierten Denken des Aristotelischen Peripatos. In diesem geistigen Umfeld entwickelt sich die Rhetorik zu einer Kunst, die

eine

anthropologische

Fundierung,

eine

fachliche

Kontur,

einen

gesellschaftlichen Auftrag und eine interdisziplinäre Rolle erhält. Den antiken Rhetorikbegriff bestimmen vor allem der sophistische Relativismus, die platonische Ideenlehre

und

Dialektik

sowie

die

aristotelische

Pragmatik

und

Wissenschaftsauffassung.39

38 vgl. M. Kraus: Art. ‹Logos›, in: HWRh, Bd. 5 (2001) 624–653. – 39 vgl. dazu und im folgenden G. Kalivoda: Rhet. als Wiss., in: Rhetorik, Bd. 26 (2007) 102–111; G.H. Wikramanayake: Das Verhältnis von Philos. und Rhet. bei Platon und Aristoteles (Diss. Göttingen 1965); E. de Strycker: Platons Ansichten zu einer philos. Rhet., in: FS H. Gundert: Studia platonica, hg. von K. Döring (Amsterdam 1974) 93–106; E. Stiglmayr: Der Wissenschaftsbegriff in der attischen Philos. (Wien 1976); H. Schanze, J. Kopperschmidt (Hg.): Rhet. und Philos. (1989); K. Ries: Isokrates und Platon im Ringen um Philosophia (Diss. München 1959); I.A. Richards: The Philosphy of Rhetoric (New York 1965); Baumhauer [27]; Th. Buchheim: Die Sophistik als Avantgarde des normalen Lebens (1986); D.G. Douglas (Hg.): Philosophers on Rhetoric (Skokie, Ill. 1973); G. Bien: Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philos. bei Platon und Aristoteles, in: Philos. Jb. 76 (1968/69) 264 ff.; Th. Ebert: Meinung und Wissen in der Philos. Platons (1974); M. Emsbach: Sophistik als Aufklärung. Unters. zu Wissenschaftsbegriff und Geschichtsauffassung bei Protagoras (1980); H. Gomperz: Sophistik und Rhet. (ND 1964); K. Kahnert et al.: Art. ‹Platonismus›, in: HWRh, Bd. 6 (2003) Sp. 1268 ff.; S. Peetz: Kann Rhet. Philos. sein?, in: R. Enskat (Hg.): Erfahrung und Urteilskraft (2000) 55–70; Chr. Rapp: Rhet. und

16 Diese

unterschiedlichen

Konzeptualisierungen

23.01.18 erzeugen

Konflikte

und

Konkurrenzen: So wird das sophistische Modell von Platon radikal verworfen und als Sozialtechnologie ohne Ethik und Wahrheitsanspruch abgewertet. In dieser Konfliktlage ist wohl Isokrates der intellektuellste und bedeutsamste Gegner von Platon, und zwar in einer Zeit, in der die Begriffe epistḗmē, téchnē und philosophía noch nicht klar konturiert und semantisch eindeutig festgelegt sind: Diese semantische Vagheit und begriffliche Indifferenz rührt von den verschiedenen Ausdrücken her, mit denen das Wissen in der vorplatonischen Philosophie bezeichnet wird: sophía, gnṓmē, sýnesis, historίa, máthēma oder epistḗmē.40 Hierbei ist zunächst von epístamai auszugehen, dessen Semantik ganz auf die praktische Tätigkeit und die Sphäre des Könnens verweist. Je mehr aber die intellektuelle Kraft als das Entscheidende im Wort epίstamai empfunden wurde, desto mehr näherte sich seine Bedeutung dem Konzept Wissen. Ebenso ist epistḗmē zunächst eine Kenntnis, die eine Tätigkeit ermöglicht. Dann verweist epistḗmē auf die Kenntnis eines Sachverhaltes, sie kann Kriegskunst, Geschick oder Überlegung bedeuten und wird dabei mit tέchnē gleichgesetzt. Schließlich wird der Bedeutungsanteil téchnē abgetrennt und epistḗmē meint nun – wie früher sophía – die theoretische Seite des praktischen Könnens bzw. das ganze Wissen. Damit wird epistḗmē die Schau, die Theorie bzw. die Wissenschaft, die das Praktische überwindet, das den téchnai zugewiesen bleibt.41 Vor dem Hintergrund dieses semantischen Feldes war der Begriff ‹Philosophie› auch für die Rhetorik reklamierbar, insofern letztere das Streben nach höherer Geisteskultur meinte und

Philos. in Aristoteles' Rhet., in: Rhetorik 18 (1999); Th. Zinsmaier, Th. Schirren (Hg.): Die Sophisten (Einl.) (2003). –

40 vgl. B. Snell: Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philos. (1924). –

41 vgl. K. von Fritz: Grundprobleme der Gesch. der antiken Wiss. (1971); F.-P. Hager: Art. ‹Episteme›, in: HWPh, Bd. 2 (1994) Sp. 1301 ff.; J. Kube: Techne und Arete (1969); Chr. Rapp: Art. ‹Episteme›, in: HWRh, Bd. 2 (1994) 1301ff.; H. Wilms: Techne und Paideia bei Xenophanes und Isokrates (1995); F. Heinimann: Eine vorplatonische Theorie der έ, in: Museum Helveticum 18 (1961) 105– 130; G. Kalivoda, Th. Zinsmaier: Art. ‹Rhetorik, A.I. Etymologie›, in: HWRh, Bd. 7 (2005) Sp.1423–1429. –

17

23.01.18

nicht nur als Bezeichnung für eine der vielen sophistischen téchnai fungierte. Für Isokrates gilt eine wissenschaftlich, pädagogisch und ethisch fundierte Redelehre zudem als die angemessene Antwort auf die politischen Probleme und Fragen der attischen Polis im 4. Jh. v. Chr., denen nicht in einer realitätsfernen platonischen Ideenschau, sondern praktisch – d.h. im Sinne einer Staatswissenschaft – zu begegnen war. Damit ist die Konkurrenz zwischen Isokrates und Platon, zwischen Rhetorik und Philosophie eröffnet – eine Konkurrenz um die Definition des Wissens und die Bestimmung eines nützlichen Bildungsideals. Platon postuliert eine philosophisch-dialektische Rhetorik, die als Seelenführung (psychagōgía) auf das universell Wahre ausgerichtet ist. Dies ist eine kontemplative Wissenschaft, die sich in ihrer Abwendung von aίsthēsis (Sinneswahrnehmung) und empeiría (Erfahrung) als idealistische epistḗmē auf die Erkenntnis der reinen Ideen richtet. Die sinnliche Wahrnehmung des Werdens und Vergehens der körperlichen Welt wird als zur dóxa gehörend aus der reinen Wissenschaft ausgeschieden – womit letztere für die Praxis der Polis bedeutungslos wird.42 Gegen diese Ideenschau (auch i.S. einer intellektualistisch-elitären Auffassung der Ethik) setzt die aristotelische Kritik einen Wissenschaftsbegriff, der vom menschlichen Handeln (práxis) ausgeht und damit die Re-Mythologisierung in der platonischen Wissenschaftsauffassung zurückweist. Bei Aristoteles erfolgt eine Rückbindung

der

Erkenntnis

an

die

sinnliche

Wahrnehmung.

Deren

Verallgemeinerung im Rahmen von Fragen nach Prinzipien und Ursachen qualifiziert die Erkenntnisform. Gegen die auf einen abstrakten Wahrheitsbegriff und auf ein theoretisches Gutes (agathón) gerichtete dialektisch fundierte platonische Meta-Techne führt Aristoteles mit dem Begriff der praktischen Philosophie eine neue Techne-Auffassung ein, die unterstellt, daß es für das Zusammenleben in der Polis nützlicher und vernünftiger ist (phrónēsis), im Bereich

42 vgl. S. Ijsseling: Rhet. und Philos. (1988); G. Campbell: Philosophy of Rhetoric (1776), hg. von L.F. Bitzer (Carbondale 1963); R. Capurro: Techne und Ethik, in: Concordia 20 (1991) 2 ff.; R.A. Cherwitz: Rhetoric and Philosophy (Hillsdale, N.J. 1990); E. Grassi: Rhetoric and Philosophy, in: Philosophy and Rhetoric 9/2 (1976) 200–216; ders.: Rhetoric as Philosophy (University Park 1980); W.M. Grimaldi: Studies in the Philosophy of Aristotle's Rhetoric (1972); A. Hellwig: Unters. zur Theorie der Rhet. bei Platon und Aristoteles (1973). –

18

23.01.18

des Veränderlichen nach Methoden des sensus communis zu verfahren, als eine Wesensschau des Absoluten zu betreiben. Insofern unterscheidet er auch zwischen abstrakt definierter logischer Wahrheit und praktisch interessierter rhetorischer Wahrscheinlichkeit, wobei er die Rhetorik als pragmatische téchnē rekonstruiert. Dies impliziert eine Abwendung von der zeitlos-abstrakten Ideenwelt und eine Hinwendung zur zeitlichen menschlichen Handlung und Lebenswelt.43 Neben der philosophischen Oppositionsbildung zwischen Logik und Rhetorik, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit prägt ein weiteres klassisches Oppositionspaar die Auffassung von Wissenschaft und Erkenntnis, von Philosophie und Rhetorik: Es ist das Paar epistḗmē/scientia und téchnē/ars – eine auch von Platon diskutierte Gegenüberstellung von eigentlicher Wissenschaft und praktischer Kunst/Fertigkeit. Die Gegenüberstellung von Erkenntnis und Meinung, von epistemischem Wissen und doxastischem Vermuten ergänzt diese Trennungen, die auf die Rhetorik als Wissenschaft und auf ihren spezifischen Wissenschaftsbegriff Einfluß nehmen: Bei Platon als unwissenschaftlich und nicht wahrheitsfähig abgelehnt, kann die doxastische Einsicht nach Aristoteles (und in der Moderne nach Gadamer) als die mit dem lógos einhergehende, d.h. vernünftige Meinung (dóxa) gelten, die insofern Anteil am Wesen des Wissens hat.44 Solche Kennzeichnungen und Oppositionsbildungen begleiten die Fach- und Wissenschaftsgeschichte, die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie sowie die Rolle der Rhetorik im Verbund der Fächer bzw. ihren Wissenschaftsbegriff bis heute. Dies gilt insbesondere auch für die Positionen des Aristoteles, der den abendländischen Wissenschaftsbegriff von der Antike bis zur Gegenwart am nachhaltigsten geprägt hat. Ausgehend von der Gliederung/Typologisierung der Seele in der ‹Ethica Nicomachea› (Buch 6) unterscheidet er zwischen den Tugenden des Charakters (ethische T.) und Tugenden des Verstandes (dianoetische T.). Letztere, als rationales

43 vgl. K. Bartels: Der Begriff der Techne bei Aristoteles, in: H. Flashar, K. Gaiser (Hg.): Synusia (1965) 257ff.; J. Geyser: Die Erkenntnistheorie des Aristoteles (1917, ND 1980); Lausberg Hb. §§ 1ff. und 32ff.; R. Löbl: -Techne (19979; E. Tugendhat:   . Eine Unters. zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe (1958) Kap. IV. –

44 vgl. J. Sprute: Der Begriff Doxa in der platonischen Philos. (1962). –

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Element der Seele, werden anschließend nach ihrer Bezogenheit bzw. ihrem Erkenntnisgegenstand weiter subklassifiziert: 1. Betrachtung von unveränderlichen Formen des Seienden (spekulativ), die nicht auf das Handeln, sondern auf das Urteil «wahr» oder «falsch» zielt (Notwendigkeiten, Tatsachen). 2. Betrachtung des veränderlichen Seins (abwägend-reflektierend), die als überlegendes Denken auf das Hervorbringen und Handeln gerichtet ist und auf die Erfassung des Richtigen zielt (Entscheidung).45 Diese Unterscheidung kann vor dem Hintergrund der antiken Philosophie bis Platon gelesen werden, denn sie buchstabiert den Diskurs über den Sinn des Seins, so wie er im platonischen ‹Theaitetos› aufscheint: als Widerstreit zwischen dem Fließenden (Lehre der rhéontes, Lebenswelt) und dem Beständigen (Lehre der stasiṓtai, Ideen). Das zugrunde liegende philosophische Problem ist die Spannung zwischen Leben (zōḗ: Bewegung, Verschiedenheit) und Geist (noữs: Beständigkeit, Identität). Nach Aristoteles ist nicht nur das Identische, sondern auch das Wandelbare, die Lebensform wissenschaftlich einzuholen und der Erkenntnis zuzuführen.

Er

thematisiert

dabei

Erkenntnisvorgänge,

die

durch

ihre

Verwandtschaft mit dem Erkenntnisgegenstand bestimmt sind und deren Exaktheitsgrad von der Beschaffenheit des jeweiligen Gegenstandes abhängt. Eine solche Trennung von Erkenntnisformen läßt sich unschwer als Unterscheidung zwischen epistḗmē/axíōma und téchnē/dóxa reformulieren, wobei die Unschärfe in dieser Trennung für die Rhetorik Konsequenzen hat: Sie erscheint zum einen als Wissenschaft (epistḗmē), zum anderen als Fertigkeit (téchnē), denn sie besitzt epistemische (theōría: Formen, Strukturen, Eigenschaften und Funktionen der Rede) und technische Anteile (práxis: Hervorbringen der Rede und Beeinflussung des Handelns). Sie verfügt zudem über eine Rückbindung an die individuellen und gesellschaftlichen Erfahrungen (empeiría), die sich noch ohne theoretisches Wissen über Formen, Stoffe und Ursachen herausbilden. Eine plausible Rekonstruktion dieser aristotelischen Wissenschaftsauffassung formuliert W. Kullmann46

anhand der Terme

Erfahrung, Technik und

45 vgl. Arist. EN, B. VI; M. Schramm: Die Prinzipien der Aristotelischen Topik (2004) 24–31. –

20 Grundwissenschaft: Dabei ist empeiría als Erfahrung und 1. Ebene der Wissensformen aufzufassen. Sie betrifft das Daß des Einzelnen. Die 2. Ebene, die téchnē, beschäftigt sich mit dem Weil des Allgemeinen und Veränderlichen, während die epistḗmē als 3. Ebene das Weil des Allgemeinen und Unveränderlichen thematisiert. In diesem Erkenntnisrahmen gilt, daß die Erinnerung (mnḗmē) als Wiederholungsform des Denkens die Erfahrung sichert und die téchnē als Erkenntnisleistung sowohl an der Erfahrung mit dem Einzelfall partizipiert als auch auf generelle, unveränderliche Seinsaspekte (quaestiones finitae/infinitae; théseis, hypothéseis) ausgreifen kann. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den phainmena erfolgt auf Ebene 1 (Empirie). Die Hinwendung zum Allgemeinen als epagōgḗ (Induktion) und syllogismós (Deduktion) entspricht den Ebenen 2 und 3 (Technik, Grundwissenschaft). Neben der Trennung zwischen epistemischen und doxastischen Erkenntnisformen ist auch folgende Unterscheidung bei der Frage nach Wissenschaftlichkeit in Anschlag zu bringen: die antike Einteilung des Wissens in theoretisches (Metaphysik, Mathematik, Physik), praktisches (Ethik, Politik, Rhetorik) und poietisches (hervorbringende Künste) Wissen. Der aristotelische Wissenschaftsbegriff liefert dazu eine weitere Spezifizierung, indem er die Qualitäten 1. des praktischen Könnens (téchnē, práxis, poéēsis, Hervorbringen), 2. des wissenschaftlichen Erkennens (epistḗmē, Wissen durch Schließen = apόdeixis, basierend auf Prinzipien, Prämissen = archaí), 3. der sittlichen Einsicht (phrónēsis, Handlung), 4. der philosophischen Weisheit (sophía) und 5. der intuitiven Vernunft (ữs, Prinzipien) als erkenntnisleitend hervorhebt. Aristoteles thematisiert hier fünf Modi des lógos, das Seiende anzusprechen und zu reflektieren. «Handelt es sich um das, was immer ist, um die unveränderliche Struktur des Kosmos, um die Prinzipien von Sein und Wissen, dann geht es um die Realisierung von Geist (ữs), Wissenschaft (ẻή) und Weisheit (ί). Richtet man sich dagegen auf das, was ein Anderssein zuläßt […] vor allem den Bereich des Sittlichen und Politischen, so handelt es sich um die Realisierung von Kunst (ẻ) und Klugheit (ός).» Für Aristoteles sind damit zwei Prototypen des vorbildlichen Menschseins

46 vgl. W. Kullmann: Aristoteles und die moderne Wiss. (1998) 449ff.; ders.: Zur wiss. Methode des Aristoteles, in: Flashar, Gaiser (Hg.) [43] 247ff. –

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21

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verbunden: «die kontemplativ-theoretische ίςός) und die politische Existenz (ίςός)».47 Im

Hinblick

auf

die

Rhetorik

ergeben

sich

dabei

bereichs-

und

wissenschaftstypologisch übergreifende Konsequenzen, die wiederum spezifischen Einfluß auf ihren Wissenschaftsbegriff nehmen, denn die Rhetorik hat Anteil am poietisch-generativen Aspekt (Herbvorbringen eines Werks, Opus, Rede), am praktisch-teleologischen Aspekt (als Redner agieren, Handlungen anleiten, Ziele ansteuern) und am theoretisch-anthropologischen Aspekt (Betrachten, Reflektieren, Urteilen; zṓon politikόn, zṓon lόgon échon). Dies setzt den Polisbürger als rhḗtōr und kritḗs. Dieser ist in praxi auf die Kraft des tradierten sensus communis bzw. der dóxa angewiesen, wenn es um die Stabilität des Gemeinwesens geht. Neben solchen Unterscheidungen führt Aristoteles auch bis dato gültige und in die Rhetorik integrierte Orientierungsbegriffe für erkenntnisorientiertes Handeln ein, zu denen materia (hὔlē), genus (génos), inductio (epagōgḗ), demonstratio (apódeixis), propositio (prótasis) oder conclusio (sympérasma) gehören. Seinen Wissenschaftsbegriff entwickelt Aristoteles am Anfang der ‹Analytica posteriora›, und zwar am Beispiel der Mathematik, der Handwerkskünste, der Schlußformen und der Redekunst.48 In jedem Falle ist der Ausgangspunkt der Erkenntnisfindung

ein

bekanntes,

anerkanntes,

unumstrittenes

Wissen

(Beobachtung, Faktum, Erfahrung, anerkannte Meinung, Axiom), auf das man induktiv oder deduktiv zurückgreifen kann. Auch hier zeigt sich die o.a. Überlagerung epistemischer und doxastischer Verfahren, die bei Platon noch scharf unterschieden werden. Bei Aristoteles ist dóxa ein urteilendes Erkennen, das wahr oder falsch sein kann (rhetorisch-dialektisch), und epistḗmē ein notwendig wahres urteilendes Erkennen (logisch-analytisch). Beide Denkformen haben den Urteilsakt gemeinsam: Man ist vom Inhalt der dóxa ebenso überzeugt wie von der epistḗmē, denn für beide gelten die gleichen Präsuppositionen (z.B. Widerspruchsfreiheit, Gültigkeit oder Ungültigkeit). Dabei kann dóxa als empirisches Urteil gelten, das auf empirisches Wissen zielt (Erkenntnisweise der Erfahrung), und epistḗmē als theoretisches Urteil, das auf Theoriewissen zielt (definitions- und beweisbasierte

47O. Höffe: Grundaussagen über den Menschen bei Aristoteles, in: Zs. für Philos. Forschung, Bd. 30 (1976) 238, 241. –

48 Aristoteles, Analytica posteriora, 71b10–15, übers. von E. Rolfes (ND 1990). –

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apriorische Erkenntnisweise). Solche unterschiedlichen Erkenntnisakte über die Dinge und das Sein lassen sich auch in den Naturwissenschaften finden, wo die Falsifikation von Urteilen als doxastisches Signal gelten kann. Die Notwendigkeit der Begründung von Urteilen gilt für die epistḗmē sensu strictu ebenso wie für die téchnē, für den logischen wie für den rhetorischen Schluß. Es handelt sich dabei jeweils um die Angabe von Gründen (archai) und – in der epistḗmē apodeiktikḗ – um eine Kombination definitorischer (horismós) und konklusivischer (sympérasma) Operationen. In der zugrunde liegenden philosophischen Methode zeigt sich dies 1. als Klärung des Sprachgebrauchs (Begriffsbedeutung) und 2. als Aufgliederung des Beweisverfahrens

nach

Evidenz

(phainómena),

Induktion

(epagōgḗ

und

wissenschaftlichem Schluß (syllogismós). Im aristotelischen Wissenschaftsbegriff stehen Rhetorik, Dialektik und praktische Philosophie (Ethik, Politik) in einem verwandtschaftlichen Verhältnis: Sie verfügen über eine gemeinsame Rationalität, die aus der Struktur des menschlichen Geistes resultiert (Begründen, Urteilen, Definieren, Unterscheiden, Behaupten etc.), haben jedoch als rationale Aneignung von Welt unterschiedliche Anwendungsbereiche (Mathematik, Naturwissenschaft, Kunst,

Polis-Alltag,

Handlungen,

ethische

Normen

etc.).

Dabei

sind

Logik/Dialektik/Topik und Rhetorik49 unmittelbar miteinander verbunden, weil ihnen die Qualität der Interdisziplinarität eignet. Sie sind zugleich Fachwissenschaft und Werkzeug oder Hilfsmittel für andere Wissenschaften. Avant la lettre gilt dies insonderheit für den Wissenschaftsbegriff der Rhetorik: Sie ist gesetzt als integraler Bestandteil eines überfachlichen Funktions- und Sinnsystems, als Modell einer kategorial-topischen Problemdifferenzierung mit interdisziplinärer Leitfunktion und interdisziplinärem

Leistungsanspruch

sowie

als

Bildungskonzept

und

Erkenntnisschulung auf einer überfachlichen Wissensbasis.50 Fokussiert auf die sog. Geisteswissenschaften (humaniora, humanities) bedeutet dies, daß die Rhetorik zur ältesten Tradition der Geisteswissenschaften gehört, den Wissenschaftsbegriff

49 Arist. Rhet., übers. von G. Krapinger (1999) I,1–2; I,4,4–7; E. Eggs: Art. ‹Logik› in: HWRh, Bd. 5 (2001) 414–614; O. Primavesi: Die aristotelische Topik (1996); G. Kalivoda: Typologie der Topik, in: G. Kreuzbauer, N. Gratzl, E. Hiebl (Hg.): Persuasion und Wiss. (Wien 2007) 129–142. –

50vgl. Ueding [33]; J. Kopperschmidt: Art. ‹Interdisziplinarität›, in: HWRh, Bd. 4 (1998) 461–470. –

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der Geisteswissenschaften am nachhaltigsten prägt und die verschiedenen Aspekte der geisteswissenschaftlichen Tätigkeit am deutlichsten konturiert (historisch, hermeneutisch, textual, diskursiv).

II. Stationen der Rezeptionsgeschichte. Die Rolle und Bedeutung antiker rhetorischer Wissenschaftlichkeit in der europäischen Kultur– und Bildungsgeschichte soll hier anhand von fachlich und wissenschaftstheoretisch wichtigen Exempeln gekennzeichnet werden. Dies betrifft zunächst die schon angesprochene Fragmentierung und Funktionalisierung der Rhetorik im Mittelalter, dann die Wiederentdeckung und Rehabilitierung des Faches in Humanismus und Barock, die Verteidigung von Rhetorik und Topik gegen die szientifisch-rationalistische Diskreditierung rhetorischer Begründungsformen durch G.Vico im 17./18. Jh. und schließlich den Zerfall des Faches Rhetorik am Beginn des 19. Jh. und die partielle Übernahme rhetorischen Wissens in andere, neu entstandene Fächer. Mit einem Blick auf die erneute Renaissance der Rhetorik (pragmatical/rhetorical turn) im 20. Jh. und auf die Zukunft dieser Wissenschaft sei dieser historische Zugang abgeschlossen.

1. Mittelalterliche Artes-Rhetorik. Das mit dem Werk von Quintilian fachwissenschaftlich ausgearbeitete und philosophisch-anthropologisch fundierte Denksystem der Rhetorik erscheint in den Texten des Mittelalters als selektiv tradiertes antikes Bildungsgut auf der Ebene von Enzyklopädien,

Schulbüchern,

trivialen

Propädeutika,

zusammenfassenden

Kurzrhetoriken oder didaktisch angelegten Kompilationen. Rhetorik dient nun lediglich den Zwecken wichtiger Lehr- und Kommunikationsformen: den artes liberales und einzelnen Künsten (ars poetriae, ars praedicandi, ars dictaminis, ars arengandi). Die konstitutive Verbindung zwischen Rhetorik, Topik und Dialektik wird aufgehoben.51 Die Rhetorik konkurriert auf der Ebene der artes sermocinales

51 vgl. Anm. 3 (Konjunkturen des Faches); Curtius (111993); Baldwin; Rhet. Lat. Min.; Bothius; Mart. Cap.; Isid. Etym.; Cassiod. Inst.; Beda; Joh. v. Sal.; Alcuin.; P. Piper (Hg.): Die Schr. Notkers und seiner Schule, Bd. 1 – 3 (1982/83). –

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(trivium) mit der Grammatik um zentrale Anteile der Textanalyse. Sie wird im wissenschaftlichen Diskurs von scholastischer Logik und Disputatorik dominiert und von den Hauptwissenschaften Theologie, Philosophie und Jurisprudenz als Schulfach

ebenso

abgewertet

und

verdrängt

wie

von

den

beginnenden

Naturwissenschaften mit ihren auf Beobachtung, Erfahrung und Experiment begründeten Gewißheiten.52

2. Humanismus und Rhetorik-Renaissance. Die mittelalterliche Marginalisierung der Rhetorik als Wissenschaft und Lehrfach wird durch die Wiederentdeckung der antiken Rhetorik in der Zeit der Renaissance aufgehoben: Humanistische Gelehrte erkennen erneut den Wert der theoretisch ausgearbeiteten

Redelehre,

ihre

bildungsgeschichtliche

Bedeutung,

kommunikationswissenschaftliche Kraft und gesellschaftliche Relevanz. Sie ersetzen die scholastischen Formalismen und Disputationstechniken durch die Rehabilitation der Verbindung zwischen folgerichtig-überzeugendem und elegantwirkungsvollen Sprechen – in Anknüpfung an Ciceros studia humanitatis und als Verbindung klassischer Latinitas, eloquentia und sapientia auch im Sinne eines philosophisch

fundierten

Wissens.

Der

Erkenntnisfortschritt

des

naturwissenschaftlich-fachlichen Denkens wird dabei keinesfalls ausgeblendet: Der Humanismus

strebt

die

Schaffung

eines

rhetorisch-philologischen

Wissenschaftsmodells der Textanalyse und der Kennzeichnung sozialer Lebens- und Kommunikationsformen an – aus der Sicht des philosophisch, sprachlich und rhetorisch gebildeten Gelehrten, in der Beschäftigung mit den Künsten und vor dem Hintergrund eines europäischen Diskurses über die angemessene, ethisch fundierte Lebensgestaltung. Trotz der Trennung zwischen den historisch-philosophischen und naturkundlich-mathematischen wissenschaftlichen Kulturen, bleibt die Rhetorik als Kommunikationswissen in beiden Kulturen virulent, sei es in den innerfachlichen Diskursen, sei es in der Veröffentlichung der fachlichen Erkenntnisse. Rhetorik wird als ein seit der Antike ausgearbeitetes Wissenssystem von den europäischen Humanistenkreisen rezipiert und als Bildungsmacht umfassend gepflegt, sowohl im

52 vgl. z.B. Albertus Magnus, De mineralibus 1, II, tr.2.C.1 (ed. Paris t.5,30a); B.D. Haage: Art. ‹Fachprosa›, in: HWRh 3 (1996) 200 – 202. –

25 profan-philosophischen wie im kirchlich-theologischen Bereich. Allerdings sind die rhetorischen Wissensbestände im religiösen Raum deutlich stärker an den praecepta, an spezifischen topischen Mustern und exegetischen Bedürfnissen ausgerichtet und weniger an der Rhetorik als theoretisch und praktisch fundiertes Lehrgebäude und Grundlage der urbanitas.53 Der Bildungskonsens der Gebildeten und der gesellschaftlichen Eliten zeigt sich in der Konzeption des Menschenbildes, in der historisch-textkritischen Vorgehensweise sowie in der rhetorischen Grundlegung der Kommunikationsformen und des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dies wird in den Texten von F. Petrarca, C. Salutati oder L. Valla exemplarisch entfaltet.54 Damit entsteht in der Renaissance ein neuer homo politicus in der Gestalt des gebildeten und sprachgewandten homo rhetoricus und zwar sowohl in der bürgerlichen Stadt als auch am fürstlichen Hof.55 Die Idee der humanistischen Erziehung, der Kanon der vorbildlichen Werke und die Würde des Menschen, die

53 vgl. dazu H. Buck: Der ital. Humanismus, in: N. Hammerstein (Hg.): Hb. der dt. Bildungsgesch., Bd. 1, 15. – 16. Jh. (1996) 1–55. –

54 zur Wissenschaftsgesch. der Renaissance-Rhet. s. E. Grassi: Gesch. und Dokumente der abendländischen Päd., Bd.2 (1966); C.J. Classen: Antike Rhet. im Zeitalter des Humanismus (2003); G. Strack, J. Knödler (Hg.): Rhet. in MA und Renaissance (2010); M. Fumaroli: L’ge de l’loquence (Genf 1980); H. Cancik: Europa-Antike-Humanismus (2010); F. Petrarca: De viris illustribus, hg. von G. Martellotti (Florenz 2008) Praefatio A, § 2–5; P. Geyer (Hg.): Petrarca und die Renaissance (2009); T. de Robertis: C. Salutati e l’Invenzione dell’ Umanesimo (Florenz 2008); H. Langkabel (Hg.): Die Staatsbriefe Coluccio Salutatis (1981); P. Mack: Renaissance Argument. Valla and Agricola in the Tradition of Rhetoric and Dialectic (Leiden 1993); F.M. Zini: Sprache und Argumentation in Lorenzo Valla, in: S. Ebbersmeyer (Hg.): Sol et homo (2008) 63–77; L. Nauta: In Defence of Common Sense: Lorenzo Valla’s Humanist Critique of Scholastic Philosophy (Cambridge, MA 2009); G.M. Cappelli: L’humanesimo italiano da Petrarca a Valla (Rom 2010). –

55 zur Idee des umfassend gebildeten Hofmannes vgl. B. Castiglione: Il libro del Cortegiano (Venedig 1528), dt. Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance, übers. von A. Wesselski (1999); P. Burke: Die Gesch. des Hofmann (1996). –

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klassische dignitas, repräsentieren die drei Säulen, auf denen das hier apostrophierte Bildungsprogramm beruht.56

3. Das rhetorische Bildungsprogramm im 17. und 18. Jh. Trotz

der

scharfen

Kritik,

mit

der

Cartesianismus

und

theoretische

Aufklärungsphilosophie dem Fach Rhetorik gegenübertreten, und trotz des Versuchs, die ratiobezogenen Anteile des klassischen rhetorischen Lehrgebäudes (inventio, dispositio, argumentatio) zu usurpieren und die Rhetorik damit auf eine ornatus-orientierte Scheinkunst zu reduzieren57, entsteht in Anknüpfung an die Antike und deren humanistische Rezeption eine durchaus produktive Phase rhetorikwissenschaftlicher Reflexion, die sich dem staatsmännisch erfahrenen und praktisch rechtskundigen Bürger als tlos zuwendet (auch im Sinne des antiken Begriffs , pragmatiks, pragmaticus). Die gemeinsam geteilte Erfahrung, die öffentliche Rede, die Verfahren der Meinungsbildung und die bürgerliche Gestaltung des Gemeinwesens gehen dabei Hand in Hand mit popularphilosophischen, muttersprachlichen und politischen Bildungsinhalten. Ein Emanzipationsprogramm

ist

im

Rahmen

dieses

fachlichen

Wirkungszusammenhanges intendiert.58 Der politische Impetus wird dabei z.B. in den rhetorischen Traktaten von Chr. Weise oder F. A. Hallbauer deutlich. Weises Bildungsidee zielt auf den sorgfältig agierenden Hofmeister, der seine Untergebenen zur Wohlredenheit erzieht. Diese sollen dabei lernen, auf welches Fundament eine Schulrede zu gründen ist, wie man Komplimentierreden ausarbeitet, was der Begriff der bürgerlichen Rede bedeutet

56 G. Pico della Mirandola: De dignitate hominis. Über die Würde des Menschen (Orig. Bologna 1496), übers. von N. Baumgarten (1990); G. Wolf: Menschenbild und Bildungsideal in der italienischen Renaissance: Unters. zu Ficino, Pico della Mirandola und Castiglione (Diss. Köln 2009). –

57 vgl. dazu Ramus und Talon [37].  58 s. dazu C. Zelle: Popularphilos. im 18. Jh. (1990); G. Ueding: Rhet. und Popularphilos., in: ders.: Aufklärung über Rhet. (1992) 47–58; Chr. Böhr: Philos. für die Welt: die Popularphilos. der dt. Spätaufklärung (2003). –

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und mit welchen Kasualreden – besonders bei Hofe – zu rechnen ist.59 Damit steht Weise noch an der Schnittstelle zwischen Hofliteratur und bürgerlichem Erziehungstext, die bei Hallbauer schon zugunsten einer staatsbürgerlichen Rhetoriktheorie überschritten ist. Er knüpft dezidiert an die griechische und römische Lehre an, benennt utile und tlos der Rhetorik und rückt sie als Staatsberedsamkeit in den Mittelpunkt des bürgerlichen Bildungsauftrages: «Rom so wol als Griechenland hat den Nutzen der Beredsamkeit im Staats- und brgerlichen Geschften bey viel und mannigfaltigen Gelegenheiten zur Gnge erkant. Vermittelst derselben haben sie oft die wanckende Freyheit untersttzet, und dem Verfall der gemeinen Wohlfahrth vorgebeuget. Sie dmpften durch selbige die gefhrlichsten Emprungen, sie besnftigten den schwierigen Pbel, sie zogen Rath und Volck von schdlichen Rathschlgen und Meinungen ab, sie lenckten selbige zu klugen und vorteilhaften Unternehmungen.»60 Hallbauer legt den Schwerpunkt seiner Auffassung von der vita activa in der Polisgemeinschaft auf die aufklärerische

Leistung,

auf

die

bürgerlichen

Tugenden,

das

Wissenschaftsprogramm, die Sprachmächtigkeit (v.a. auf die argumentatio bzw. Beweisführung) sowie auf die politische Erfahrung des Redners.61 J. A. Fabricius konzipiert das rhetorische Wissen ebenfalls aus der Sicht der antiken Tugendlehre, der aktuellen Bildungsziele, der Verbindung von eloquentia und sapientia, ratio und argumentatio sowie inventio und dispositio. Seine Rhetorik liest sich als vernunftfundierte, gelehrte und galante Beredsamkeit und im Sinne einer ausgearbeiteten Fachwissenschaft. An die Denkweise der praktischen Philosophie anknüpfend richtet sich sein Interesse auf öffentliche Reden, den täglichen Umgang sowie auf unterschiedliche Redegegenstände, die nach dem Leitkategorien Findung, Expreßion und Ordnung zu behandeln seien. Ausführliche historische und zeitgenössische Exempel begleiten die theoretisch-systematischen Darlegungen. Der umfassende Zugang zum Gegenstand wird deutlich, wenn Fabricius über Wesen, Endzweck, Nutzen, das polyhistorische Wissen des Redners, die Klugheit und die Geschichte der Rhetorik handelt und dabei auch prekäre Fragen

59 Weise 1, Titel, 1 ff. – 60 Hallbauer Polit. Bered., Vorrede, 2. – 61 ebd. 38 ff., 66 ff. –

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nicht ausblendet, wie die nach dem möglichen Mißbrauch der Redekunst oder nach dem Unterschied zwischen «Oratorie» und «Logick».62 Neben dem politisch oder philosophisch geprägten Zugang zur Rhetorik und ihrer Fundierung

tritt

in

der

Aufklärung

ein

grammatisch-literarisch

bzw.

muttersprachlich interessiertes Konzept. Hier kann zunächst wiederum Hallbauer genannt werden, der im 1. Teil seiner ‹Teutschen Oratorie› die Grund=Sätze der deutschen Sprache im Hinblick auf die Sprachgeschichte und die Grammatik expliziert, ehe er im 2. Teil die Grund=Sätze der deutschen Oratorie nach der klassischen rhetorischen Lehre darstellt: Grammatik, Literatur und Rhetorik als systematisch aufsteigendes Lehrangebot.63 Daß das begriffliche Paar Rhetorik und Muttersprache schon Tradition besitzt, dies sei hier ergänzend angemerkt, zeigen u.a. die entsprechenden Traktate von Dante, Boccaccio oder Salutati.64 Die Bedeutung von Rhetorik und Grammatik für die Ausarbeitung und Regulierung der deutschen Hochsprache (Sprachrichtigkeit, Sprachreinheit und Verständlichkeit) heben auch Gottsched und Thomasius hervor. Das bürgerliche Emanzipationsstreben ist für beide wesentlich von einer allgemeingültigen Muttersprache

für

die

private

Konversation,

literarische

Produktion

und

wissenschaftliche Rede abhängig. Thomasius, der als erster Vorlesungen in deutscher Sprache hält, argumentiert in dieser Hinsicht mit dem Anspruch einer aufgeklärten Vernunftlehre und für das Gelingen eines wissenschaftlichen Diskurses, während Gottsched das Trivium von Rhetorik, Grammatik und Dichtkunst aufbietet, wenn es sich um die Bildung des Bürgers und die deutsche Sprache handelt.65 In seiner ‹Redekunst› knüpft Gottsched explizit an die Wissenschaft «der alten Griechen und Rmer» an, um diese dann im 2. Teil seines

62 Fabricius, Titel; 1–30. – 63 Hallbauer Orat., 1 ff., 200 ff. – 64 Dante Alighieri: Über das Dichten in der Muttersprache, übers. von F. Dornseiff, J. Balogh (ND 1966), ital.: De vulgari eloquentia (ca. 1303); G. Boccaccio: Die Verteidigung der Poesie, zit. E. Garin: Gesch. und Dokument der abendländischen Päd., Bd. 2 (1966) 119; C. Salutati: Br. an Poggio Bracciollini, zit. Garin 140. –

65 Chr. Thomasius: Ausübung der Vernunfft-Lehre (Halle 21699); ders.: Kurtzer Entwurf der politischen Klugheit (1770, ND 1971); Gottsched Redek.; Gottsched Dichtk.; ders.: Grundlegung einer dt. Sprachkunst (1748). –

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Werkes auf antike und neuzeitliche Redetexte anzuwenden. In Zeiten der Aufklärung können die Werke von Thomasius und Gottsched als wohlfundierte rhetorikaffine Gegenbeispiele zu den rhetorikkritischen Traktaten der logozentrisch und szientifisch orientierten Logik und Philosophie der Aufklärung gelten und zugleich als Beispiele für eine lebendige Tradition des rhetorischen Wissens und seiner Applikation auf zeitgegebene kommunikative Bedürfnisse. Rhetorik und vernünftige Argumentation im Raum des Wahrscheinlichen lassen sich getrennt nicht denken – dies hat allerdings die theoretisch-logische Philosophie nicht, die rhetorisch-praktische Philosophie in der Zeit der Aufklärung jedoch sehr wohl begriffen.66 Aus ethisch-anthropologischer Sicht reformuliert A. Knigge den Anspruch auf ein auch kommunikationstheoretisch gesichertes bürgerliches Erziehungs- und Bildungsprogramm.

Sein

Werk läßt

sich als Interaktionssoziologie

bzw.

Sozialpsychologie avant la lettre auffassen, wobei sich Knigges Blick auf Umgangsformen, Anstand und Höflichkeit richtet. Dies ergänzt er durch eine ausdifferenzierte Charakteriologie. Zweifellos steht Knigge in der rhetorisch bedeutsamen

Tradition

der

Tugendlehren,

Fürstenspiegel,

der

Hof-

und

Anstandsliteratur sowie der Klugheitslehren und Gesprächsbücher – in einer demokratisch-republikanisch gesinnten Ausarbeitung der jeweiligen ethischen Prinzipien und kommunikativen Regeln. Gerade darin ist der Autor der rhetorischen Tradition verpflichtet, d.h. der Rhetorik als Wissenschaft der Republik.67 Einen besonderen Akzent in der Wissenschaftsgeschichte der Rhetorik setzt im 17. und 18. Jh. der Geschichtsphilosoph, Rechtsgelehrte und neapolitanische

66 vgl. auch M. Rudersdorf (Hg.): Johann Christoph Gottsched in seiner Zeit (2007); M. Kahlo: Dt. als Rechtssprache (2009); M. Beetz (Hg.): Thomasius im lit. Feld (2003); K.-G. Lutterbeck: Staat und Ges. bei Christian Thomasius und Christian Wolff (2002). –

67 vgl. A. Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen (1788, ND hg. von M. Rüppel, 2010); G. Ueding: Rhet. Konstellationen im Umgang mit Menschen, in: J. Kopperschmidt (Hg.) Rhet., Bd. 2 (1991) 261–282; B. Staudte: Freiherr von Knigge und seine Bedeutung heute (2008) 36 ff.; H. Postma: «Sei, was du bist, immer und ganz»: Über den Aufklärungs-Schriftsteller Adolph Freyherr Knigge (2009). –

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Rhetorikprofessor Giambattista Vico (1668 – 1744) mit seinem durch historisches, topisches und methodologisches Denken geprägten Werk. In seiner Zeit kaum rezipiert tritt seine defensio der Rhetorikwissenschaft im 20. Jh. immer deutlicher hervor, eine Verteidigung, die gegen den zu seiner Zeit erkenntnistheoretisch dominierenden empirisch-rationalistischen Wissenschaftsbegriff und die logischgrammatische Engführung der Sprachtheorie gerichtet ist. Der damit kritisierte Cartesianismus reduziert nicht nur die rhetorische Kompetenz, sondern auch die Möglichkeiten der Welterfahrung und die ganzheitliche Erfassung der Menschheitsund Gesellschaftsgeschichte. Folgerichtig fragt Vico, wem man glauben soll: dem «Arnoldone, qui negat, an ciceroni, qui se a topica potissimum eloquentem factum affirmat et profitur» (Arnoldus [Arnauld], der [die Topik] negiert, oder Cicero, der versichert, er sei vor allem durch die Topik zum Redner geworden).68 Allerdings lehnt Vico die Notwendigkeit zu folgerichtigem Denken nicht ab, setzt aber Logik und Kritik nicht als erstes Prinzip, sondern ordnet sie in seinem Denksystem in eine theoretisch-lehrhaften Trias ein: Den methodischen Ausgangspunkt bildet die Topik als rhetorische ratio inveniendi (gegen Leibnizens Logifizierung der ars inveniendi als logica inventionis gerichtet). Dann folgt die Kritik als die der Topik nachgeordnete Fähigkeit zur Prüfung von inventorisch gewonnenen Aussagen (im Sinne der iudicatio). Die dritte Rolle übernimmt die Rhetorik als Lehre von der Überzeugung

mit

topisch

aufgefundenen

Argumenten

im

Raum

des

Wahrscheinlichen, d.h. des geschichtlich und damit veränderbar Gegebenen. Vico gilt

Apel

als

«Vollstrecker

der

Tradition

des

römisch-italienischen

Sprachhumanismus», der nicht nur historisch-soziologisches Denken vorwegnimmt, sondern zugleich die Grundlegung der hermeneutischen Geisteswissenschaften ausformuliert.69 Mit Bevilacqua kann man die ‹Scienza nuova› von Vico als eine kreativ-ingeniöse, rhetorische Logik des Hervorbringens der sozialen Welt, als

68 G. Vico: De nostri temporis studiorum ratione, lat-dt. von W.F. Otto (1984) 32 f. (Orig. Neapel 1708). –

69 Apel [30] 103, 338 ff.; vgl. St. Woidich: Vico und die Hermeneutik (2007); A.P. Zeoli: Vicos Geschichtsbegriff im hermeneutischen Kontext (2003); H.F. Jennes: Ingenium und Topik im Werk des jungen Giambattista Vico (2003). –

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rhetorische Epistemologie und «Science of human nature» bezeichnen.70 Auf die Bedeutung von Topik und ingenium in Vicos Wissenschaft weist auch D. L. Marshall hin, wobei er Vico eine Innovation der rhetorischen Tradition zuschreibt. Die ‹Scienza Nuova› zeigt sich auch als eine neue Wissenschaft von der Rhetorik, die

nicht

nur

eine

Sammlung

von

praecepta

bietet,

sondern

sowohl

Kommunikations-, Geschichts- und Sozialwissenschaft als auch Forschungs- und Denkmethode ist. Dies gilt bis in die Moderne.71 Fachwissen und Urteilskompetenz sind bei Vico dabei mitgedacht: «Eloquence without knowledge is hollow and empty; but knowledge without eloquence is mute and powerless, incapable of effect in men's lives.» (Eloquenz ohne Wissen ist wertlos und leer, aber Wissen ohne Eloquenz ist sprach- und kraftlos, unfähig dazu, im menschlichen Leben wirksam zu werden).72 Den auch bei Vico bedeutsamen Zusammenhang von Topik, Rhetorik und Politik, der sich nicht more geometrico oder axiomatisch konstituieren läßt, hebt z.B. E. Grassi hervor: Er konstatiert bei Vico eine filosofia topica, die er gegen die cartesianische filosofia critica stellt, welche im Hinblick auf das menschliche Sprechen und Handeln in der Gesellschaft, in situ et actu, nur in einer erkenntnistheoretischen Aporie münden kann. Daß konkrete rhetorische Situativität und Subjektivität durchaus einer diskursiven Prüfung unterzogen werden können, ist im Vicoschen Konzept der Kritik enthalten. Diese ist im Falle des Wahrscheinlichen Ausdruck der ratio, der Klugheit und Einsicht (, phrnsis), die in der plausiblen Argumentation und im sensus communis der Polis gründen.73

4. Rhetorik im 19. Jh. Mit einer Reihe von Begriffen läßt sich die prekäre fachliche Lage der Rhetorik im 19. Jh. in ihrer unterschiedlichen Ausformung kennzeichnen – dazu gehören:

70 V.M. Bevilacqua: Vico, «Process» and the Nature of Rhetorical Investigation, in: PaR 7/3 (1974) 167.; vgl. dazu Verene [30]. –

71 vgl. Marshall [30] 86, 120, 193, 196. – 72 M. Mooney: Vico in the Tradition of Rhetoric (Princeton 1985) 10; G. Vico: Institutiones oratoriae, 1711, hg. von G. Crif (Neapel 1989). –

73 vgl. E. Grassi: G.B. Vico und das Problem des Beginns des modernen Denkens, in: Kopperschmidt [67] 111, 114, 124. –

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Verfall der Beredsamkeit und der öffentlichen Rede, Niedergang als Schul- und Bildungsfach, Funktionalisierung

kryptowissenschaftliches rhetorischen

Wissens

Weiterleben, für

technizistische

einzelfachliche

Interessen

(Gerichtsrede, Homiletik) oder selektive Übernahme dieses Wissens durch Stilistik, Ästhetik und Literaturwissenschaft. Gelesen werden kann dies als «Bruch in der Wissenschaftsgeschichte»: «Die Rhetorik als kohärentes Bildungssystem hat sich aufgelöst in die modernen Spezialdisziplinen der Wissenschaften vom Menschen und der Gesellschaft […]».74 Als Auslöser werden außerdem Phänomene genannt wie die Wendung des Geniekultes gegen das rhetorische Regelwerk, das Fehlen öffentlicher demokratischer Foren, Zensur und Eskapismus als Flucht in eine biedermeierliche Kultur der Innerlichkeit.75 Eine Widersprüchlichkeit oder Gegenläufigkeit in der Rolle und Funktion der Rhetorik zeigt sich jedoch in der Tatsache, daß die Theorie aus dem Ensemble der Schul- und Universitätsfächer verdrängt wird, «während die rhetorische Praxis total wurde und sämtliche Lebensbereiche zu durchdringen begann […]»76. Belege für die politisch-praktische Beredsamkeit liefern die Reden und Flugschriften der revolutionären Bewegungen, die Debatten in den Ständeparlamenten, in der Paulskirche, im Reichstag und in den Parteiversammlungen. Die damit verbundenen Namen großer Redner und Schriftsteller (E. M. Arndt, J. J. Görres, J. G. Fichte, G. Büchner, L. Uhland, R. Blum, F. Lassalle, A. Bebel, W. Liebknecht oder O. von Bismarck) gehören ebenso zur politischen wie zur literarischen und rhetorischen Geschichte. Es sind sprachliche Zeugnisse einer pathetisch-kämpferischen Haltung und einer politischen Botschaft in einer gesellschaftlichen Umbruchszeit, die vor allem auf die Handlungsanleitung und Mobilisierung der Bürger setzte.77

74 Ueding/Steinbrink (42005) 137; M. Fuhrmann: Rhet. und öffentliche Rede (1983). –

75 zum Niedergang der politischen Rede im 19. Jh. vgl. A. Müller: Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland (Wien 1812, ND 1976); W. Jens: Von dt. Rede (31983) 25; Kalivoda (1986) [32] 288–291. –

76 Ueding/Steinbrink (42005) 137. – 77 vgl. dazu: H. Grünert: Sprache und Politik (1974); Kalivoda (1986) [32]; ders.: Parlamentarischer Diskurs und politisches Begehren, in: R. Wimmer (Hg.): Das 19. Jh. (1991) 374–399; J. Herrgen: Die Sprache der Mainzer Republik (2000). –

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Neben solchen Beredsamkeitszeugnissen gibt es eine fachwissenschaftliche Praecepta-Literatur, die jedoch nicht den Anspruch einer ausgearbeiteten und theoretisch fundierten Rhetorik erheben kann. Es sind praktisch orientierte Handreichungen und Anleitungen für Prediger und Gerichtsredner und nur in dieser Hinsicht rezeptionsgeschichtliche Belege für das Fach Rhetorik. Dazu gehören die ‹Anleitung zur Gerichtlichen Beredsamkeit› (1810) von K. S. Zachariä, die ‹Gerichtliche Redekunst› (1887) von H. F. Ortloff oder das ‹Lehr- und Handbuch der gerichtlichen Beredsamkeit› (1850) von O. L. B. Wolff. Dem entsprechen im Hinblick auf die Homiletik das ebenfalls von Wolff verfaßte ‹Handbuch der geistlichen Beredsamkeit› (1849), F. Theremins ‹Die Beredsamkeit eine Tugend› (1814), die ‹Theorie der geistlichen Beredsamkeit› (1877) von J. Jungmann oder H. Herings ‹Die Lehre von der Predigt› (1905).78 Daß es neben dieser rhetorischen Anleitungsliteratur auch Belege für die topische Tradition gibt, zeigen Werke wie ‹Die Topik im Dienste der Predigt› (1874) von F. L. Steinmeyer oder Chr. A. L. Köstners ‹Topik, oder Erfindungswissenschaft aufs Neue erläutert› (1816).79 Das Beispiel einer Integration der Rhetorik in einen Fächerverband liefern W. Wackernagels Vorlesungen zur Poetik, Rhetorik und Stilistik. Dabei zieht er eine Grenze zwischen den Fächern (die gleichwohl jeweils überschritten wird): Die Poetik bespricht er als Theorie der gebundenen Rede (Poesie), die Rhetorik als Theorie der Prosa (alle Formen schriftlicher und mündlicher Texte) und Stilistik entwickelt er aus dem Fundus der antiken Dreistillehre – eine Kompilation von Systembestandteilen der klassischen Theorie.80 Einen sowohl rhetorikgeschichtlichen als auch sprachphilosophischen Sonderfall der 2. Hälfte des 19. Jh. stellt F. Nietzsches Rezeption und Rekonstruktion der klassisch-antiken Redelehre dar, die er in seinen Baseler Vorlesungen (1874–78) mit theoretisch-systematischem

Fachinteresse

einerseits,

mit

einem

Abriß

zur

‹Geschichte der griechischen Beredsamkeit› und anhand von praktischen Beispielen

78 vgl. G. Kalivoda: Hermann Herings homiletische Lehre, in: J. Knape et al. (Hg.): Und es trieb die Rede mich an, FS G. Ueding (2008) 301–312. –

79 Kalivoda (2000) [32] 355–365. – 80 W. Wackernagel: Poetik, Rhet., Stilistik. Akad. Vorles. (1873, ND 2003); vgl. J. Schmid: Rhet. und Stilistik in der Literaturwiss., in: U. Fix et al. (Hg.): Rhet. und Stilistik. Ein internat. Hb., Bd. 2 (2009) 1888. –

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aus dieser Zeit andererseits darstellt.81 Nietzsches Postulat vom seinshaftsubjektiven Vorrang des Willens (Instinkt, Trieb, Kraft) vor dem abwägendobjektivierenden Intellekt führt ihn zu einer machtbetonten Auffassung von Sprache und zu einer Hervorhebung rhetorischer Wirkmächtigkeit verbunden mit einem großen

Stil

und

einer

ausgeprägten

Motivation

zum

metaphorischen

Zeichengebrauch. Damit nähert er sich der antiken Vorstellung von der Sprachgewalt (, deints; vehementia). Die prinzipielle Geprägtheit des Menschen durch die rhetorisch-figürliche Verfaßtheit der Sprache läßt eine sachrationale, wissenschaftlich-formale Sprechweise bzw. eine objektive Aneignung von Welt illusorisch erscheinen. In einer für ihn bezeichnenden Kompromißlosigkeit bringt Nietzsche seine Auffassung zum Ausdruck: Sprache ist das Resultat von rhetorischen Künsten, die nicht belehren, sondern erregen (überwältigen) wollen. Andererseits gilt ihm die Rhetorik als «Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel, am hellen Lichte des Verstandes. Es gibt gar keine unrhetorische “Natürlichkeit” der Sprache […]»82. Sprache ist für Nietzsche Rhetorik und dies gilt ihm als unhintergehbares kommunikations- und erkenntnistheoretisches Prinzip. Mit dieser quasidefinitorischen Festlegung entfernt sich Nietzsche deutlich von den argumentationstheoretischen Implikationen der antiken Lehre: denn diskursiv vermittelt werden kann nur eine , dxa und keine , epistm. Die sprachliche Ausdrucksform einer jeweils behaupteten Wahrheit ist dabei nichts anderes

als

ein

«bewegliches

Heer

von

Metaphern,

Metonymien,

Anthropomorphismen [...], die nach langem Gebrauch einem Volke [...] verbindlich dünken»83. In seiner anthropologisch-fundamentalistischen Aneignung der Rhetorik knüpft Nietzsche systematisch an Aristoteles und die zeitgenössischen Philologen und Rhetorikkenner F. Blass (1843–1907), L. Spengel (1803–1880) und R. Volkmann (1832–1892) an. Seine Sprachauffassung ist durch die Lektüre von G. Gerbers (1820–1901) linguistischer Arbeit an der Kritik und Bildlichkeit der

81 F. Nietzsche: Werke, Krit. Gesamtausg., hg. von G. Colli, M. Montinari, II. Abtl., 4. Bd (1995) 363–611. –

82 ebd. 425. – 83 ders.: Nachgelassene Schr. 1870–73, Krit. Studienausg., hg. von G. Colli, M. Montinari, Bd. 1 (1980) 880f. –

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Sprache geprägt84. Mit Nietzsches Schriften entsteht eine erneute

und

wissenschaftskritische Verbindung zwischen Philosophie und Rhetorik, Moral und Ästhetik im Sinne der Gegenüberstellung eines referenziell-terminologischen und eines

rhetorisch-bildlichen

Sprachbegriffs.

Beide

sind

nicht

miteinander

vermittelbar85. Am Ende des 19. Jh. eröffnet Nietzsche damit einen Zugang zur philosophischen Grundfrage des Zusammenhanges zwischen Mensch, Sprache und Rhetorik, der mit dem cartesianischen Denken und den metaphysischen Traditionen der abendländischen Philosophie endgültig bricht – eine bleibende Provokation. Er tut dies auch in einem von «Scherz, List und Rache» (so das Vorspiel zur ‹Fröhlichen Wissenschaft›) getragenen Angriff auf die von ihm als spießbürgerlich und philisterhaft verurteilte zeitgenössische Wissenschaft. Gerade in den Aphorismen der gaya scienza zeigen sich Nietzsches eigener Stil und seine rhetorischen Verfahren auf eine plastische Art und Weise, wobei hier insbesondere auf das 1. Buch dieses Textes hingewiesen sei, in der er seine Position zur Erkenntnisfrage, zur Wissenschaftstheorie und zur Kunst mit dem Problem des psychologisch und rhetorisch zu erfassenden Willens zur Macht in Zusammenhang bringt86 und damit das selbstbewußte Subjekt und die große Rhetorik zum philosophischen Programm erhebt. Eine innovative, wissenschaftsphilosophisch-systematische Auffassung von Rhetorik findet sich bei Ch. S. Peirce (1839–1914). K. Popper und K. O. Apel halten ihn für den bedeutendsten amerikanischen Philosophen, dessen Einfluß bis heute

84 vgl. F. Blass: Die attische Beredsamkeit, Bde. 1–4 (1868–80); Volkmann; G. Gerber: Die Sprache als Kunst (1871); L. Spengel (Hg.):Rhetores Graeci, Bde. 1– 3 (1853–56). –

85 zu Nietzsche s. J. Kopperschmidt (Hg.): Nietzsche oder die Sprache ist Rhet. (1994); M. Thalken: Ein bewegliches Heer von Metaphern (1999); R. Heinen: «Zum Spiel auf der Grenze des Ästhetischen und Moralischen», in: Nietzscheforschung, Bd.9 (2002) 303–323; G. Posselt: Nietzsche–Sprache, Rhet., Gewalt, in: H. Kuch, St. K. Herrmann (Hg.): Philos. sprachlicher Gewalt (2010) 95–119. –

86 F. Nietzsche: Fröhliche Wiss., in: Colli, Montinari [81] V. Abtl., 2. Bd. (Nachgelassene Frg. 1881–82) 21–335. –

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ungebrochen ist87. Das Fundament seiner Auffassung bildet ein pragmatisch, semiotisch und methodologisch konzipiertes Denksystem, in dessen Rahmen Peirce den Begriff und die Funktion der Rhetorik bestimmt. Descartes und Locke trennten Rhetorik und

Methodologie,

Peirce bringt beide

in einen konstitutiven

Zusammenhang: Die Auswahl wissenschaftlicher Gegenstände, das rationale Vorgehen in der Forschung und die Gewinnung neuen Wissens sind für ihn ein komplementärer Prozeß «being governed [...] by a semiotic methodology inseparable from a radically revised understanding of rhetoric» (der von einer semiotischen Methodologie determiniert wird, die von einem grundlegend revidierten Verständnis von Rhetorik nicht getrennt werden kann)88. Damit entsteht eine Konzeption der Rhetorik als «theory of the method of discovery» (Theorie der Methode forschenden Entdeckens) und als Einsicht in die Kraft der Symbole89. In der Entwicklung seiner Rhetorik-Konzeption unterteilt Peirce zunächst in: 1. klassische Rhetorik, 2. Rhetorik der schönen Künste, der Rede und der Sprache, 3. Rhetorik der Wissenschaft und 4. Rhetorik und Semiotik. In Punkt 3 behandelt er die Kommunikation über wissenschaftliche Entdeckungen und die Anwendung der Wissenschaft auf spezielle Ziele, d.h. die Konstitution wissenschaftlicher Diskurse (mit den Schlußformen von Induktion, Deduktion und Abduktion). Dann ordnet er die Rhetorik in ein semiotisches System ein, dessen Nähe zum klassischen Trivium unschwer zu erkennen ist: 1.

Formale Grammatik (formale Bedingungen von Symbolen = Stechiologie)

2.

Kritische Logik (Wahrheitsbedingungen von Symbolen = Kritik)

3.

Formale Rhetorik (formale Bedingungen der Kraft von Symbolen = Methodeutik)

87 vgl. K. Popper: Objective Knowledge (Oxford 1979) 212; K. O. Apel (Hg.): Schr. zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Bd.1 (1967) 19. –

88 R. Kevelson: C. S. Peirce’s Speculative Rhetoric, in PaR 17/1 (1984) 16 (Übers. Red.). –

89 Ch. Hartshorne, P. Weiss (Hg.): Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Bde. I-IV (Cambridge, Mass. 1931–1958) CP 2.108; vgl J. E. Brown: The “Speculative Rhetoric” of Charles Sanders Peirce, in: PaR 14/1 (1981) 7; R. Müller: Die dynamische Logik des Erkennens von Charles S. Peirce (1999). –

37 In diesem Zusammenhang ist Rhetorik für Peirce die Lehre von der Übermittlung von Bedeutungen durch Zeichen von Geist zu Geist, d.h. eine Lehre von der Kraft des Appellierens an den forschenden Verstand. Am Übergang vom 19. zum 20. Jh. ist dies eine Lehre von bedeutsamer philosophischer und sprachtheoretischer Konsequenz: die Grundlegung des pragmatical turn, der schließlich auch den rhetorical turn induziert.90

III. Rhetorikwissenschaft im 20. und 21. Jh. 1. Das Fach Rhetorik und seine Renaissance. Wenn für das im 20. Jh. neu entstehende philosophische Interesse an der Sprache der Begriff ‹linguistic turn› die Arbeiten der sprachanalytischen Philosophie anzeigt91 und der Begriff ‹pragmatic turn› die Hinwendung zum Sprachgebrauch indiziert92, dann verweist der Begriff ‹rhetorical turn› auf eine Renaissance der klassischen Redelehre93. Damit ist ein wissenschaftlicher Prozeß benannt, der bei einer logisch konzipierten Sprachtheorie beginnt und zu einer gebrauchsorientierten Untersuchung der Sprache führt. Letztere motiviert die erneute Anknüpfung an das theoretische Wissen und die methodische Leistung des Faches Rhetorik – wenn man Sprachgebrauch in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Sprechsituationen angemessen beschreiben will. Im Zentrum steht dabei die Frage nach der aktuellen

90 Peirce [89] CP 1.444; 1.559; 2.93; 3.454; vgl. dazu: R. Podlewski: Rhet. als pragmatisches System (1982); V. M. Colapietro: C. S. Peirce’s Rhetorical Turn, in: Transactions of the Charles Sanders Peirce Society 43/1 (2007) 16–52. –

91 R.M. Rorty: The Linguistic Turn (Chicago 1967); J. Sinnreich (Hg.): Zur Philos. der idealen Sprache (1972); M. Dummet: Frege. Philosohpy of Language (London 1973); L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, in: Werkausg., Bd. 1,2 (21995). –

92 D. Böhler et al. (Hg.): Die pragmatische Wende (1986); W. Egginton, M. Sandbothe (Hg.): The Pragmatic Turn in Philosophy (New York 2004); L. Wittgenstein: Philos. Unters., hg. v. J. Schulte (2001). –

93 H.W. Simons (Hg.): The Rhetorical Turn (Chicago 1990); J.A. Campbell: The Rhetorical Turn in Science Studies, in: The Quarterly Journal of Speech 82/1 (1996) 74–91. –

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38

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Bedeutung der Rhetorik im Allgemeinen und den Bedingungen und Eigenschaften von Argumentation im Besonderen.94 Mit der modernen Renaissance und Bedeutung der Rhetorik sind drei Probleme verbunden: 1. die Frage der fachlichen Selbstvergewisserung, 2. die Rolle der Rhetorik im Ensemble der an ihrem Wissen partizipierenden Fächer und 3. die Ausdifferenzierung des rhetorischen Wissens in eine kaum noch überschaubare innere Untergliederung zum einen und eine Übernahme von Fragmenten dieses Wissens in das Arbeitsfeld anderer Fächer zum anderen. Erkennbar wird diese Problemlage an der Notwendigkeit, den Bestand des klassischen rhetorischen Systems zu pflegen, zu entwickeln und sichern, was auch die Anpassung von Theorie und Methode an die je aktuellen kommunikativen und gattungsbezogenen Erfordernisse impliziert. G. Ueding faßt diese disziplinäre Aufgabe folgendermaßen zusammen: Von der Rhetorik «ist (wie von der mit ihr seit der Antike konkurrierenden Philosophie) nur sinnvoll im systematischen Zusammenhang zu denken und zu reden. […] Erst Systembindung nämlich sichert den wissenschaftlichen und disziplinären Charakter der Rhetorik dauerhaft und bereichert

im

Gegenzuge

wiederum

die

Einzelrezeptionen,

weil

der

Rezeptionsprozeß dann nicht einseitig als bloße Resteverwertung, sondern dialogisch als gegenseitiges Befruchten stattfindet. Modellhaft leitend kann für die R. dabei durchaus ihre Begründungsgeschichte bleiben, insofern sie auch exemplarisch die Entwicklung von der Beobachtung praktischer Redefertigkeit zur Kunst und schließlich zur Wissenschaft genommen hat – eine Entwicklung […] zum hochdifferenzierten System, das vorbildlich für die Systematisierung der anderen Wissenschaften wurde. Dieses System integriert theoretisches, praktisches und poietisches Wissen, es umfaßt die Fragen nach der Verfassung und den Regeln menschlicher Kommunikation in natürlichen und künstlichen Zeichen, Theorie und Praxis der Argumentation, Informationswesen (Information, Dokumentation, Medien), die anthropologischen Verhältnisse, soziale, politische, rechtliche und ökonomische Verkehrsformen, Herstellung und Untersuchung kultureller und künstlerischer Produkte und schließlich, anknüpfend an anthropologische Konzepte,

94 vgl. dazu G. Ueding: Art. ‹Rhet., II. Aktuelle Bedeutung›, in HWRh, Bd.7 (2005) 1429–1439. –

39

23.01.18

die rhetorisch immer schon vermittelten Zielinhalte der Bewertung (Ethik in den Geistes- und Naturwissenschaften) und Ausbildung.»95 Wie notwendig die Sicherstellung fachsystematischer Qualität ist, zeigt schon die moderne rhetorische Gegenstandskonstitution, auf deren Komplexität Begriffe wie Wissenschafts-

und

Medienrhetorik,

Film-.

Fernseh-

und

Photorhetorik,

Bildrhetorik, Internet-Rhetorik oder Rhetorische Rechtstheorie, Rhetorische Anthropologie,

Fundamentalrhetorik,

Feministische

Rhetorik,

Rhetorische

Argumentation und New Rhetorik hinweisen. Sie buchstabieren nicht nur eine sich entfaltende Binnendifferenzierung, sondern zeigen auch die überfachliche Ubiquität der Rhetorik, die es streng und systematisch zu kontrollieren gilt. Diese Ubiquität, die Wichtigkeit und Nützlichkeit der Rhetorik, läßt sich auch in modernen Auffassungen

und

Definitionen

der

Rhetorik

nachweisen:

So

verbindet

Kopperschmidt die Rhetorik mit einer spezifischen Form der Fragehaltung in allen Disziplinen, Dockhorn begreift sie als Fach mit eigener Erkenntnistheorie und eigener Anthropologie, Gomperz nennt sie eine Philosophie, Heidegger faßt sie als erste systematische Hermeneutik des alltäglichen Miteinanders auf, Gabriel nennt sie die einzige Logik der Lebenswelt, die Wissen sowohl vermittelt als auch konstituiert und Gadamer begreift Rhetorik universal als aller fachlichen Spezialisierung vorausliegendes Medium der Verständigung mit einer spezifischen Weltauslegung.96

2. Rhetorik als Wissenschaft im Ensemble der Fächer. Neben

der

innerfachlichen

Entfaltung

moderner

Rhetorik

ist

ihre

epistemologische Funktion und ihr argumentationstheoretisches Wissen für die

95 ebd. 1430f.; vgl. M. Fuhrmann: Das systematische Lehrb. Ein Beitr. zur Gesch. der Wiss. in der Antike (1960). –

96 vgl. C.J. Classen (Hg.): Die Macht des Wortes. Aspekte gegenwärtiger Rhetorikforschung (1992); Kopperschmidt [50]; Dockhorn: Macht und Wirkung der Rhet. (1968); Gomperz [39]; M. Heidegger: Grundbegriffe der aristotelischen Philos., in: ders., Gesamtausg., II. Abtl., Vorles. 1919–1944, Bd. 18 (2002); G. Gabriel: Logik und Rhet. der Erkenntnis (1997); H.-G. Gadamer: Rhet., Hermeneutik, Ideologiekritik, in: ders.: Gesamm. Werke, Bd. 2 (1986) 232–291. –

40

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geistes- und naturwissenschaftlichen Fächer in Betracht zu ziehen. Rhetorische Argumentation und topische Problembearbeitung schaffen die Voraussetzung dafür, daß Wissenschaft gesellschaftlich relevant wird (Aneignung, Durchdringung, Vermittlung

wissenschaftlicher

Erkenntnis)

und

über

Wissenschaftlichkeit

gesellschaftlich diskutiert werden kann (Diskurs über wissenschaftliche Konzepte, Zwecke, Ziele; Rhetorizität wissenschaftlicher und wissenschaftstheoretischer Definitionskämpfe; Diskurs in der Gemeinschaft der Wissenschaftler/scientific community über ein gültiges Paradigma; rhetorische Argumentation zu Theorie, Erkenntnisinteresse, Methode und Forschungsgegenstand).97 Im Hinblick auf den wissenschaftlichen Diskurs ist jedoch ein Wettstreit in Rechnung zu stellen, der sich zwischen analytischer Philosophie, sprachlichem Logozentrismus und naturwissenschaftlichem Dogmatismus einerseits und einem epistemologischen Subjektivismus

Relativismus, andererseits

Pragmatismus

ergibt.

Daraus

und resultiert

philosophischem zugleich

eine

erkenntnistheoretische Aporie im Hinblick auf die Frage: Wie soll wissenschaftlich geforscht, debattiert und geurteilt werden – und zwar in allen Fächern. Dies ist ein Problem, dem die Erkenntnis zugrunde liegt, daß auch empirische Daten der Deutung

unterliegen,

daß

wissenschaftliche

Hypothesen

theorie-

oder

schulgebunden sind und daß wissenschaftliche Annahmen und Ergebnisse verifiziert oder falsifiziert werden können.98 Diese

Krise

des

modernen

Wissenschaftsbegriffs

kann

weder

durch

kompromißloses Festhalten am logozentrischen Konzept, noch durch einen

97 vgl. Akad. der Wiss. zu Berlin (Hg.): Einheit der Wiss. (1991); L. Danneberg, J. Niederhauser (Hg.): Darstellungsformen der Wiss. im Kontrast (1998); A. Diemer: Der Wissenschaftsbegriff (1970); W. Frühwald et al.: Geisteswiss. heute (1991); G. Funke, E. Scheibe: Wiss. und Wissenschaftsbegriff (1983); P. Janich: Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik (1974); S. Kjrup: Humanities. Geisteswiss. Sciences humaines (2001); J.S. Nelson et al. (Hg.): The Rhetoric of Human Sciences (Madison, Wisc. 1987); P. Ptassek: Rhet. Rationalität (1993). –

98 vgl. K. Popper: Realismus und das Ziel der Wissenschaft, übers. v. H.-J. Niemann (2002); ders.: Logik der Forschung ( 101994); ders.: Conjectures and Refutations (London 51974); Th.S. Kuhn: Die Struktur wiss. Revolutionen (21977). –

41

23.01.18

radikalen epistemologischen Relativismus gelöst werden.99 Die Suche nach einer angemessenen Sprachform für wissenschaftliche Diskurse außerhalb rigiden naturwissenschaftlichen Denkens und formalisierter Ableitungen führt zu einer vernünftigen Argumentation nach Maßgabe der klassischen Rhetorik. Sie hat auch den Diskurs der scientific community zu regeln, wenn es sich nicht um formale Systeme oder kausale Gesetzmäßigkeiten handelt. Insofern steht auch im wissenschaftlichen Raum nur eine gemeinsame Plausibilitätsprüfung, d.h. ein von Wahrscheinlichkeiten ausgehendes Begründungsverfahren als einzig rationale Redehandlung zur Verfügung.100 Insbesondere die US-amerikanische Forschung wendet sich diesem sprachlich-epistemologischen Problem aus rhetorischer Sicht zu: Ausgehend vom Begriff des rhetorical turn prüft z.B. H.W. Simons die Behauptung, daß seriöse Forschung nur rhetorikfrei funktionieren kann und daß ihre Thesen nur durch harte Fakten und kalte Logik gestützt werden können. Dabei kommen er und Beiträger zu einer ‹Rhetoric of Inquiry as an Intellectual Movement›101 zu dem Ergebnis,

daß

die

Methoden

der

rhetorischen

inventio

auch

die

naturwissenschaftliche Invention anleiten, daß die Rhetorik praktisches Urteilen ermöglicht und Zugänge zu metatheoretischen Reflexionen eröffnet. Zur Begründung dieser Feststellung werden biologische und psychoanalytische Diskurse untersucht sowie Erkenntnisse der Entscheidungstheorie, des taxonomisch-topischen Denkens oder der Konversationsanalyse mit herangezogen.102 Das rhetorische Paradigma variiert R.L. Scott aus beweistheoretischer Perspektive, indem er – die platonische Epistemologie zurückweisend – eine Unterscheidung vornimmt zwischen analytischen Argumenten (formal, zeitlos,

99 s. P. Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen (21979); ders.: Wider den Methodenzwang (1976). –

100 s. J. Kopperschmidt: Argumentation (1980); ders.: Das Prinzip vernünftiger Rede (1978). –

101 vgl. Simons [93]; ders. (Hg.): Rhetoric in The Human Sciences (London 1989); Ch. Sills, G.H. Jensen (Hg.): The Philosophy of Discourse. The Rhetorical Turn in Twentieth-Century Thought., 2 Vol. (Portsmouth, NH 1992); vgl. auch F. Fröhlich: Rhet. und Wiss., in: – Rhetorica 26/4 (2008) 439–453; F. Fröhlich: Rhet. und Wiss., in: Rhetorica 26/4 (2008) 439–453. –

102 Simons [93]. –

42

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theoretisch, dogmatisch), die eine axiomatische Gewißheit begründen, und substantiellen Argumenten (erfahrungsbasiert, zeitbedingt, interaktionsbestimmt, konkret, kontingent), die pragmatisch-soziale Gewißheit erzeugen.103 Als drittes Beispiel sei hier D.P. Gaonkar angeführt, der ebenfalls eine rhetoric of inquiry postuliert und hervorhebt, daß seit des rhetorical turn nicht mehr kritisch von einer Rhetorik als Supplement, als Wissenschaft ohne Gegenstand gesprochen werden kann. Ihre Leistung und Funktion zeigt sich vielmehr darin, daß jede Forschungsstrategie und -kommunikation unvermeidlich ein rhetorical component besitzt. In dieser Hinsicht reformuliert auch Gaonkar die aristotelische Kontingenztheorie und wendet sich damit wie Scott gegen einen platonischen Fundamentalismus und eine Abwertung der Rhetorik als «nomadic, amoral, rootless, insubstantial» (nomadisierend, unmoralisch, wurzel- und gegenstandslos)104. Die nahezu sentenzartige These Gaonkars «an other word for anti-fundmentalism is rhetoric» (ein anderes Wort für Antifundamentalismus ist Rhetorik) hebt diese Wissenschaft

als

«discoursive

medium

of

deliberating

and

choosing»

(Diskursmedium der Beratung und wählenden Entscheidung) ins Bewußtsein. Für Gaonkar ist Rhetorik «a generalized social epistemology [...] which domesticates and stabilizes the contingent» (eine generell gültige soziale Epistemologie [...] die das Kontingente domestiziert und stabilisiert). Das Prädikat der Generalisierung verweist schließlich auch darauf, daß die «scene of rhetoric» ein Konzept darstellt, das deutlich über die deliberative Rationalität hinausreicht: Es ist die Benennung der conditio humana im Allgemeinen und des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Besonderen.105

103 R.L. Scott: On Viewing Rhetoric as Epistemic, in: Central States Speech Journal, Feb. 1967, 9ff. –

104 D.P. Gaonkar: Rhetoric and Its Double, in: Simons [93] 352. – 105 ders.: Introduction: Contingency and Probability, in: W. Jost, W. Olmsted (Hg.): Rhetoric and Rhetorical Criticism (Oxford 22006) 5, 8, 10, 17; vgl. auch D. Roochnik: Is Rhetoric an Art?, in: Rhetorica 12/2 (1994) 127–154; T. Reinhardt: Rhetoric and Knowledge, in: J. Worthington (Hg.): A Companion to Greek Rhetoric (Oxford 2007) 365–377; R. Wardy: Philosophy of Rhetoric – Rhetoric of Philosophy, in: E. Gunderson (Hg.): The Cambridge Companion to Ancient Rhetoric (Cambridge 2009) 43–58. –

43 3. Rhetorik, Kontingenz und Argumentation. a. Die modernen argumentationstheoretisch fundierten Einflüsse auf den Wissenschaftsbegriff der Rhetorik sind insbesondere mit den Namen Ch. Perelmann, St. Toulmin und J. Habermas verbunden. Deren Konzepte sind philosophisch motiviert und zielen auf eine Theorie und Typologie der Argumente (Perelmann), auf eine Modellbildung des Argumentierens (Toulmin) bzw. auf den Diskurs in einer idealen Sprechsituation (Habermas). Perelman, dessen Werk mit dem Begriff ‹Nouvelle rhtorique› tradiert wird, geht von einer aristotelischen Auffassung von Rhetorik aus und formuliert einen universalistisch orientierten Zugang zur begründenden Rede: Urteilsinstanz für die Beweisführung ist nicht die formallogisch stringente Ableitung, sondern das universelle Auditorium (auditoire universel). Postuliert wird damit keine faktische, sondern eine idealiter gedachte Instanz, die als normative Bezugsgröße für die Gültigkeit von Argumenten fungiert (der aristotelischen Gemeinschaft der Weisen und Anerkanntesten vergleichbar). Sie wird in jeder konkreten Argumentation als Leitidee zugrunde gelegt. In agonalen oder kompetitiven Argumentationen oder bei umstrittenen Behauptungen treten substantielle und nicht formale Beweisformen auf, die Perelman in drei Klassen einteilt: 1. Quasilogische Argumente (Topoi, Kategorien), 2. Argumente, die auf der Struktur der Wirklichkeit beruhen (Ursache – Folge – Relationen) und 3. Argumente, die die Struktur der Wirklichkeit begründen (z.B. Induktionen, Modelle, Analogien).106 Wenn für das gesellschaftliche Zusammenleben notwendige Entscheidungen argumentativ getroffen werden müssen, dann stehen für Perelman Rhetorik, Ethik und Rechtsphilosophie auf theoretischer Ebene in einem konstitutiven Zusammenhang: Fragen der Werte, der Gerechtigkeit und der Handlungsanleitung sind für ihn nur im vernünftigen Diskurs, also nur rhetorisch verhandelbar. Auch Habermas übersetzt das vernünftige Argumentieren in den ethischen Diskurs über die Grundlagen des Zusammenlebens und Handels, im Raum des Politischen ebenso wie im Raum des Rechts. Zur Sicherung kommunikativer

106 vgl. Ch. Perelman, L. Olbrechts-Tyteca: Trait de l’argumentation (Brüssel 1983), dt.: Die neue Rhet., übers. von F. R. Varwig, Bde. 1,2 (2004); Ch. Perelman: Logik und Argumentation (1979); J. Kopperschmidt (Hg.): Die neue Rhet. Stud. zu Cham Perelman (2006). –

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44

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Rationalität in argumentativen Entscheidungsprozessen müssen nach seiner Theorie die Prinzipien der Idealen Sprechsituation erfüllt sein: Formulierung von Geltungsansprüchen im Rahmen sprachpragmatisch typologisierter Äußerungsakte, Behandlung

von

Geltungsansprüchen

in

einem

herrschaftsfreien

Diskurs

(Chancengleichheit) und konsensuelle Entscheidungsfindung über die Geltung. Wie Perelman arbeitet auch Habermas mit Universalisierungen (Universalpragmatik, universelle

Diskursregeln),

die

in

einer

jeweiligen

Diskurssituation

als

Urteilskriterium kontrafaktisch unterstellt werden.107 Das habermassche Konzept der Geltungsansprüche ist wiederum Ausgangspunkt für J. Kopperschmidts Theorie der rhetorischen Argumentation, deren Ratio, Struktur und Ablauf er auch anhand von Beispielen analysiert. Wesentlich sind für ihn Prinzipien vernünftiger Rede. Dazu gehört die Kraft des besseren Argumentes, in welchem der lgos des Menschen praktisch und handlungsanleitend wirksam wird. Nur so lassen sich die kommunikativen Existenzbedingungen einer freien Gesellschaft sichern. Für Kopperschmidt ist die Rhetorik die Wissenschaft von der Argumentation, d.h. ein Rationalitätsparadigma, das in der Antike wurzelt und für die Jurisprudenz, für Praktische Philosophie wie für Politische Rede bedeutsam ist. Rhetorik kann damit nach wie vor als Staatswissenschaft und als überfachliche Theorie der kommunikativen Kompetenz aufgefaßt werden.108 Ebenfalls aus der Sicht eines Philosophen bietet St. Toulmin ein Modell der Argumentation an, das zweifellos als rhetorical logic bezeichnet werden kann. Wie die vorausgehend genannten Theoretiker strebt er ein Verfahren rationalen und methodischen Denkens und Argumentierens bei nicht-formalen Gegenständen an. Damit zeigt sich praktische Philosophie auch als philosophische Verteidigung der Rhetorik. Insofern haben Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsrhetorik eine

107 J. Habermas, N. Luhmann: Theorie der Ges. oder Sozialtechnologie (1971, 101990) 101–141; J. Habermas: Wahrheitstheorien, in: H. Fahrenbach (Hg.): Wirklichkeit und Reflexion (1973) 211–265; ders. Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1/2 (1981); J. P. Brune: Moral und Recht: Zur Diskurstheorie des Rechts und der Demokratie von Jürgen Habermas (2010). –

108 J. Kopperschmidt: Sprache und Vernunft, 2. Bde. (1979/80); ders.: Methode der Argumentationsanalyse (1989); ders.: Argumentationstheorie zur Einf. (2005). –

45

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gemeinsame Schnittmenge, wenn es sich um das inventorisch-methodische und argumentativ-kommunikative Procedere im jeweiligen Fach, aber auch im öffentlichen Diskurs handelt. Substantielle bzw. materielle Argumentationen rekonstruiert Toulmin mit einem Schema, das an die klassische Syllogistik anschließt. Er erweitert den strengen, allgemeingültigen Syllogismus um modifizierende, erfahrungsbezogene und die jeweils

konkrete

Beweisführung

betreffende

Elemente:

Eine

These

mit

Geltungsanspruch wird durch begründende Schritte vom Argument (Daten) über eine stütz- und modifizierbare Schlußregel (Operator) bis zu einer ebenfalls modifizierbaren Schlußfolgerung (Konklusion) plausibel gemacht. Modifikatoren für die einzelnen Schritte können Modaladverbien (vermutlich, wahrscheinlich, sicher), Ausnahmebedingungen (wenn nicht… ) oder ein Rückgriff auf Gesetze, Normen,

Regeln,

allgemein

Anerkanntes

oder

Prinzipien

sein

(Einschränkungsoperatoren). Diese variieren zwar die Kraft von Argumenten, machen sie jedoch tauglich für eine vernünftige, konkrete, einzelfallbezogene und handlungsrelevante Lösung von Problemen.109 b. Daß sich Menschen in gegebenen Situationen unterschiedlich verhalten können, daß über Probleme unterschiedlich entschieden werden kann, daß Wahrscheinlichkeiten und Vermutungen Handlungsweisen beeinflussen, daß es Zuwachs

und

Veränderung

in

gesellschaftlichen

und

wissenschaftlichen

Wissensbeständen gibt, daß tradierte Gültigkeiten ihre Relevanz verlieren, daß es wissenschaftliche

und

politische

Revolutionen

gibt,

Erkenntnis

und

Handlungssicherheit nur vorläufig zu haben sind, ist Ursache der Permanenz rhetorischer Argumentation. Für Dinge, die Veränderungsprozessen unterliegen, gibt es nur in autoritären Gesellschaften, abgeschotteten Fachzirkeln und religiösen Kreisen dogmatische Lösungen. Dies bedeutet Negation der deliberativen Politik, der bürgerlichen Freiheit und Öffentlichkeit sowie die Suspendierung kodifizierter Menschenrechte und der Demokratie als staatlicher Verfaßtheit.

109 St. Toulmin: The Uses of Argument (Cambridge 1958); ders.: Die Verleumdung der Rhet., in: Neue Hefte für Philos. 26 (1986) 55–68; ders.: Science and the Many Faces of Rhetoric, in: H. Krips et al. (Hg.): Science, Reason, and Rhetoric (Pittsburgh 1995); W. Keith, D. Beard: Toulmin’s Rhetorical Logic, in: PaR 41/1 (2008) 22–50. –

46

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Diese soziale Grundbestimmtheit menschlicher Existenz und ihre Spiegelung in den rhetorisch ausformulierten Methoden der Lösung damit verbundener Denk- und Handlungsprobleme Herausforderungen

lenkt einer

den

epistemologischen

kontingenten

vita

Blick

activa.

Zwei

erneut

auf

die

zeitgenössische

rhetorikaffine Antworten, ebenfalls aus philosophischer Perspektive, sollen hier stellvertretend dargestellt werden: 1)

In

seinen

Reflexionen

über

die

neue

Opposition

zwischen

Neofundamenatlismus und Postfundamentalismus im politisch-philosophischen Denken stellt O. Marchart zwei Konzepte gegenüber – einerseits Versuche, die Gesetze des Zusammenlebens (des Marktes) auf eine neue dogmatische Auslegung zu begründen, anderseits die Erkenntnis, daß es keine politische Gewißheiten welcher Couleur auch immer geben kann und daß Versuche der Letztbegründung von Individuum und Sozietät allenfalls als autoritäre politische Verfügung oder religiöses Dogma

vorstellbar sind.

Allerdings redet Marchart nicht der

Fundamentlosigkeit bzw. dem absoluten Relativismus oder dem anything goes das Wort. Er verweist vielmehr darauf, daß nur partielle, auf gewisse Zeit verfügbare Lösungen für das Kontinuum und die Problematik des gesellschaftlichen Wandels geben kann – Faktum ist die «Ungewißheits-Gewißheit»110 im Zeitalter der Kontingenz und der pluralistischen Gesellschaftsentwürfe. Die jeweils oppositiv behandelten Geltungsansprüche sind solche auf Zeit – mit den Mitteln der rhetorischen Argumentation jeweils neu erzeugt und gesichert. Rhetorica continua: für Marchart entwickelt sich damit ein postfundamentalistisches Zeitalter des rhetorischen Denkens und der «contingent foundations»111. Damit ist zugleich auf eine Differenz zwischen dem Politischen (als Theorie) und der Politik (als tägliche Praxis) verwiesen. «Auch wenn sich aus dem Spiel der politischen Differenz keine positiven Schlußfolgerungen mit eindeutiger Sicherheit ableiten lassen [...], so eröffnet sich doch ein argumentatives Feld, auf dem manche [Folgerungen]

110 O. Marchart: Die politische Differenz (2010) 17. – 111 zur Kontingenz der Fundamente s. auch: J. Butler, J. W. Scott (Hg.): Feminists Theorize the Political (New York 1992) 3–21; Z. Baumann: In Search of Politics (Cambridge 1999); ders. Morality in the Age of Contigency, in: P. Heelas et al. (Hg.): Detraditionalization (Oxford 1996) 49–58. –

47

23.01.18

plausibler gemacht werden können als andere»112. Dabei gilt, daß die Politik zur Zementierung der Verhältnisse neigt, während das Politische das jeweils Bestandsbefragende und –auflösende, also das Ungewisse und Kontingente ist. Diese Erfahrung tritt insbesondere in Zeiten des Konfliktes auf, in denen das «Aufeinanderprallen sozialer Kräfte Kontingenzbewußtsein erzeugt»113. Für Marchart gehört Kontingenz zum Erfahrungsbestand des europäischen Denkens, auf dessen

Provokationen

Mystizismus,

von

mit

«Residualdiskursen»

Theologie,

Philosophie

geantwortet

und

von

der

wurde:

vom

Rhetorik.

Die

erkenntnisleitende Entscheidung zwischen diesen Diskursen fällt zugunsten der Rhetorik aus, denn Konflikte, Krisen und Kontingenz sind Gegenstände des rhetorischen

Argumentierens.

Nur

so

kann

der

Fortbestand

der

Polis

nichtfundamentalistisch und mit friedlichen Mitteln ermöglicht werden.114 Hier kann ergänzend angeführt werden, daß der Kontingenz in den Dingen und Handlungen das linguistisch-semiotische Prinzip der Vagheit entspricht. Sie eignet sowohl der Umgangssprache als auch den nichtformalen Wissenschaftssprachen und deren terminologischen Anstrengungen. Vagheit erscheint in der Kommunikation jedoch nicht als Verständigungs- und Interpretationsproblem, sondern eröffnet vielmehr einen Spielraum des Verstehens, in dem sprachliche Vernunft agieren kann. Vagheit ist kein behebbarer Mangel des Sprechens und keine Lizenz für regellosen Sprachgebrauch – sie ist der ordinary language prinzipiell inhärent.115 Diese Eigenschaft der Sprache ist allenfalls über definitorisch-eingrenzende Sprechakte, urteilende Schritte und plausible Folgerungen partiell reduzierbar, jedoch nicht final aufhebbar (Vagheitstoleranz).

112 Marchart [110] 29. – 113 ebd. 80. – 114 vgl. dazu auch Blumenberg [9]; M. Makropoulos: Modernität und Kontingenz (1997); R. Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität (1989); Th. Bonacher: Die normative Kraft der Kontingenz (2000); Th. Bedorf, K. Röttgers (Hg.): Das Politische und die Politik (2010).

115 vgl. dazu T. Williamson: Vagueness (London 1994); F. Waismann: The Principles of Linguistic Philosophy (London 1965); G. Abel: Unbestimmtheit der Interpretation, in: J. Simon (Hg.): Distanz im Verstehen (1995) 43–71; S. Dönnunghaus: Die Vagheit der Sprache (2005) 42–96, 298–339. –

48 Die diskurserhaltende

23.01.18

Auffassung von Vagheit scheint schon in der

Spätphilosophie von L. Wittgenstein im Begriff der ‹Familienähnlichkeit› von unscharfen

Wörtern

auf,

die

im

Sinne

von

Clusterbildungen

und

Ähnlichkeitsrelationen jeweilige Sprachspiele ermöglichen und stabil halten können.116 Diese Einsicht wird im sprachpragmatischen Ansatz von Peirce vorweggenommen, der Vagheit ebenfalls als nicht vollständig reduzierbar ansieht. Sie ist, bezogen auf den Sprachgebrauch, kein logisches Problem (das wäre sie nur in exakten Metasprachen), sondern ein kommunikativ und rhetorisch lösbares semiotisches Phänomen. Vagheit kann nach Peirce eine Strategie sein, um einen Interpretationsspielraum zu eröffnen, in dem sich als gültig behauptete Aussagen nicht unmittelbar als falsch erweisen und Widersprüche möglichst vermieden werden können – eine prophylaktische Maßnahme in Gespräch und Disput.117 In dieser Hinsicht kennzeichnet die Zusammenführung der Begriffe Kontingenz, Vagheit

und

Wahrscheinlichkeit

ein

vernunft-

und

realitätsbestimmtes

Orientierungssystem für rhetorische Argumentation. 2) Im Rahmen der kontingenz- und diskurstheoretischen Konzepte läßt sich eine neue Affinität zwischen praktischer Philosophie und moderner Rhetorik feststellen, die auf epistemologische Positionen beider Fächer Auswirkungen zeitigt. Wenn man annimmt, daß philosophisches und rhetorisches Denken vor der platonischen Trennung zwischen beiden Wissenschaften (die in unterschiedlicher Ausprägung bis dato andauert) die jeweils theoretische und praktische Ausdrucksform eines einheitlichen , lgos , ns) waren, dann bestünde hic et nunc die Chance, rhetorische und philosophische Zugänge zur Konstitution von Sinn, Lebensform und Handlung auf erneute und produktive Weise zu verbinden: Philosophische Sinnherstellung (materia) und rhetorische Argumentation im Diskurs über den Sinn (forma) hätten so einen gemeinsamen Ort wissenschaftlicher Reflexion. Dieser enthielte jedoch keine ideelle Wesensschau, Dogmatik, ewige Wahrheit oder kosmologische

Ordnung.

Gemeinschaft,

die

Gegenstand

historischen

wären

vielmehr

Veränderungen

und

die die

Subjekte,

die

entsprechenden

Handlungsanleitungen. Die schon bei Isokrates und Cicero ausformulierte Aufgabe

116 s. L. Wittgenstein: Philos. Unters. (1953), hg. v. J. Schulte (2001) §§ 71, 88. – 117 s. Peirce [89] CP 5.506; ders.: Issues of Pragmaticism, in: The Monist XV/4 (1905) 481–499. –

49 der rhetorisch-philosophischen Arbeit an der Bestimmung und lösungsorientierten Beratung gesellschaftlicher Probleme würde nicht nur einen zwischenfachlichen Mehrwert generieren, sondern auch den andauernden Versuch, beide Fächer als gesellschaftlich bedeutungslose sog. Diskurswissenschaften zu marginalisieren, in seiner Hilf- und Alternativlosigkeit kenntlich machen. Nach A. Hetzel kann zwischenfachliche Kooperation hier jedoch nicht bedeuten, «der Philosophie im Namen der Rhetorik den Prozeß zu machen. Eine Verteidigung der Rhetorik [...] soll nicht zu ihrem Sieg über die Philosophie beitragen»118. Angestrebt werden könnte vielmehr, das Erkenntnis- und Diskurspotential von Rhetorik und Philosophie so zusammenzuführen, daß die , logo beider Disziplinen sich zum Vorteil der Gesellschaft aktivieren lassen. In den drei aristotelischen Wissenschaften der Ethik, Politik und Rhetorik ist diese Idee schon auf paradigmatische Weise apostrophiert worden. Insofern wären Praktische Philosophie, Politische Philosophie und Sprachphilosophie adäquate Ansprechpartner für die Aufgabe der Rhetorik als Kommunikationswissenschaft im Besonderen und die rhetorisch-philosophisch Interpretation von Geschichte, Gesellschaft und Welt im Allgemeinen. Rhetorik und Philosophie müßten dazu diejenigen Leistungen der jeweiligen Gegenseite rezipieren, die sie selbst nicht erzeugen können.119 Für die Rhetorik ist dabei festzuhalten, daß ihr Sprachdenken sich dadurch auszeichnet, «daß es den pragmatic turn schon immer vollzogen hat»120. Dies ist die Rhetorik der Sprache, die es mit der Philosophie der Sprache in Verbindung zu bringen gilt.

118 A. Hetzel: Die Wirksamkeit der Rede: Zur Aktualität klassischer Rhet. für die moderne Sprachphilos. (2011) 107; zum Diskurs zwischen Rhet. und Philos. vgl. auch die Beitr. zum Periodikum ‹Rhetoric and Philosophy› (1968ff.); Chr. Norris: The Deconstructive Turn: Essays in Rhetoric and Philosophy (Abingdon 2010); S. Bernardete: The Rhetoric of Morality and Philosophy (Chicago 2009); M. Natanson et al. (Hg.): Philosophy, Rhetoric and Argumentation (Pennsylvania State University Press 1965). –

119 Hetzel [118] 12ff.; vgl. dazu auch E. Alexiou: Rhet., Philos. und Politik, in: Rhetorica 25/1 (2007) 1–14; N. Livingstone: Writing Politics: Isocrates’ Rhetoric of Philosophy, in: ebd. 15–34; C.R. Miller: The Polis as Rhetorical Community, in: Rhetorica 11/3 (1993) 211ff. –

120 Hetzel [118] 19. –

23.01.18

50 Angesichts

der

Globalisierung

von

23.01.18 technokratischen

Fehlleistungen

(Bankenkrise) und technologischen Katastrophen (Atomkraft) ist mehr denn je die ratio philosophischer Hermeneutik und rhetorischer Argumentation vonnöten, um humane Auswege aus den Gefährdungen gesellschaftlichen Zusammenlebens und den mit diesen verbundenen Sinnverlusten zu ermitteln. Von den dominierenden technologisch-quantifizierenden Beweisführungen in Wissenschaft, Politik und Ökonomie ist eine plausible und ideologiefreie Antwort nicht zu erwarten. Dies hebt auch der Historiker A. Rödder in einem Essay über ‹Zahl und Sinn› in kritischer Deutlichkeit hervor: «Statistiken, Rankings, Evaluationen: Zahlen dominieren das gesellschaftlich-politische Denken. Über der einseitigen Quantifizierung geht jedoch der Sinn für den Sinn verloren, denn Zahlen sind kein Ersatz für Urteilskraft, Erfahrung und praktische Vernunft.»121 Rödder thematisiert mit diesem Statement nichts anderes als die Basistugenden des Rhetors: iudicium (, krsis), experientia (, empeira), prudentia (, phrnesis) und setzt damit ein Zeichen gegen den Anspruch auf die Berechenbarkeit der Welt als Konsequenz

aus

Informationsverarbeitung,

Wissenschaftsgläubigkeit

und

exorbitanter digitaler Datenerfassung. Die nackte Zahl in den technizistischen Diskursen

läßt

sich

als

Überwältigungsmechanismus

in

einer

pseudowissenschaftlichen Redeweise bezeichnen, der mit den Mitteln rhetorischer Analyse aufgezeigt werden kann. Sollten «gesunder Menschenverstand und praktische

Alltagsvernunft



ohnehin

nicht

letztbegründungsfähig



als

Metadiskurse weiterhin dekonstruiert werden»122 und kontroverse deliberative Rede nicht mehr möglich sein, dann entstünde eine Sozietät ohne Rhetorik, d.h. eine politisch hilflose Gemeinschaft. Rödders Kritik ist jedoch auch ein Exempel und Beweis dafür, daß philosophischer Sinnanspruch und rhetorisches Argumentieren immer noch praktisch, wegweisend und öffentlich sein können – womit das auch in Zukunft geltende Programm der Rhetorik benannt ist: rational argumentierender Umgang mit Wahrscheinlichkeit und mangelnder Evidenz (zur Frage von unterschiedlichen Geltungsansprüchen vgl. die heuristisch gedachte Graphik 3, die auch zwei unterschiedliche Denkformen der Philosophie indiziert). Insofern kann

121 A. Rödder: Zahl und Sinn, in: Frankfurter Allg. Zeitung, 5.7.2010, Nr. 152, S. 7. –

122 ebd. –

51

23.01.18

abschließend hervorgehoben werden, «daß die Rhetorik aufgrund ihres spezifischen fachlichen Erkenntnisinteresses nicht von einem an die Geisteswissenschaften gerichteten Vorwurf betroffen ist: Vom Vorwurf, lediglich kompensatorische (Pseudo-) Wissenschaft zu sein, die dem Ausgleich von Kultur- und Sinndefiziten moderner, technologiegeprägter Gesellschaften zu dienen habe. Rhetorik ist vielmehr die einzige Gewährleistungswissenschaft für sachgerechte und sprachlich angemessene

kommunikative

Prozesse

in

allen

demokratischen

Gesellschaftsformen. Möglicherweise resultieren diese Sinndefizite auch aus der Verdrängung des Reflexionspotentials der Rhetorik und einem fehlenden adäquaten und ebenso leistungsstarken wissenschaftlichen Ersatz. Insgesamt bedeutet dies, daß Rhetorik ein genuines Medium der Reflexion ist, daß der rhetorische Diskurs eine eigenständige Form des Räsonierens ist, dessen Resultate anders nicht erreicht werden können.»123 Und dies ist der Sinn und das proprium der aristotelischen Rhetorikauffassung: in kontingenten Problemstellungen wissenschaftliche Anleitung dafür zu geben, wie das jeweils Glaubwürdige als vernünftiger Lösungsvorschlag erkannt und argumentativ vermittelt werden kann – «quid in quaque re possit esse persuasibile»124.

Anmerkungen:

Literaturhinweise: G. von Graevenitz, O.Marquard (Hg.): Kontingenz (1998). – H.J. Meyer: Rhet. in der Wiss., in: Sber. der Sächs. Akad. der Wiss. 135, H. 6 (1998) 1-19. – H. Hesse: Ordnung und Kontingenz: Handlungstheorie versus Systemfunktionalismus (1999). – B. Garsten: Saving Persuasion. A Defense of Rhetoric and Judgment (Cambridge, Mass., 2006). – M. Holzinger: Kontingenz in der Gegenwartsges.: Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie (2007) – A. Niederberger: Kontingenz und Vernunft. Grundlagen einer Theorie kommunikativen Handelns im Anschluß an Habermas und Merleau-Ponty (2007). – G. Kreuzbauer (Hg.): Persuasion und Wiss.

123 Kalivoda [39] 110. – 124 Arist. Rhet. I,2,1.

52

23.01.18

(2007). – ders. (Hg.): Rhetorische Wiss. (2008). – R. Nate: Wiss., Rhet. und Lit. (2009).

Wahrheit (veritas, alḗtheia) Wahrscheinlichkeit (verisimilitudo, eikós, pithanón) Gesetzmäßigkeit (causa,aitía) Richtigkeit (orthótēs)

Theologie

Wahrheit Offenbarung

Rhetorik Philosophie

Wahrscheinlichkeit Gesetzmäßigkeit Verifizierung Plausibilität Geltungsanspruch

Dogmatische Sätze

Prüfinstanz

Keine (Glaube)

Naturwissenschaften

Mathematik, Logik

Richtigkeit Formale Ableitung

Erfahrungswissen, Hypothese Doxa (Messung, Beobachtung)

Widerspruchsfreiheit

Zustimmung

Experiment

Axiomatik

(Mehrheit)

(Wiederholbarkeit)

(Beweis, q.e.d.)

Akzeptanz von Aussagen (Graphik Wahrheitsfrage)