Das Wunder von Berlin?

Tagungsbericht Das Wunder von Berlin? Eine WM-Nachlese Expertentagung Maritim Hotel Berlin, 9. Mai 2007 Tatjana Vogt I. Einleitung Das schwarz-rot-...
Author: Martin Hummel
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Tagungsbericht

Das Wunder von Berlin? Eine WM-Nachlese Expertentagung Maritim Hotel Berlin, 9. Mai 2007 Tatjana Vogt

I. Einleitung Das schwarz-rot-goldene Fahnenmeer des einzigartigen Fußballsommers 2006 mündete nach Abpfiff der WM in eine anhaltende Diskussion um die Bedeutung des soeben erlebten „Wunders von Berlin“. Dabei waren sich die Kommentatoren jenseits des Lobs für die dargebotene Ausgelassenheit, Gastfreundschaft und Weltoffenheit in der Analyse und Beurteilung dieses neuen deutschen „Wir-Gefühls“ uneinig. Tagungsleiter Dr. Philipp W. Hildmann warf bei seiner Einführung die Frage auf, ob das „Wunder von Berlin“ ein vergleichbarer Wendepunkt in der Identitätsfindung des wiedervereinigten Deutschland sein könnte wie bei der Fußballweltmeisterschaft 1954 das „Wunder von Bern“ für das Nachkriegsdeutschland. War dieser „fröhliche Patriotismus“ des Jahres 2006, der unverkrampfte Umgang mit den nationalen Symbolen, Ausdruck einer nachhaltigen Veränderung im Bewusstsein der Nation oder war es das bloße Echo eines sorgfältig inszenierten Medienhypes? Dies war die Ausgangspunkt für die WM-Nachlese der Hanns-Seidel-Stiftung gut ein Jahr danach. Im Rahmen von zwei Panels galt es, die Belastbarkeit des neuen deutschen „Wir-Gefühls“ auszuloten. Ob die WM ´06 nun mehr Medienhype oder fröhlicher Patriotismus war, wurde im Rahmen des ersten Panels aus sport-, medien- und politikwissenschaftlicher Perspektive erörtert. Während das zweite Panel mit dem Arbeitstitel „Beim Sport sind wir (inter)national – Fußball als Instrument der Völkerverständigung?“ die Fragestellung nach einem deutschen Patriotismus um die internationale Dimension erweiterte.

II. Zu den Panels und Referaten Dass die Deutschen ihr WM-Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ mit unerwarteter Leichtigkeit ausfüllten, brachte Deutschland weltweit Sympathien ein. In welchem Umfang die verschiedenen Maßnahmen des Fan- und Besucherprogramms der WM die Gastfreundschaft erfahrbar gemacht haben, war Gegenstand einer Evaluierung, deren Ergebnisse Prof. Dr. Gunter A. Pilz vom Institut für Sportwissenschaft der Universität Hannover präsentierte. Der erste Teil befasste sich mit dem Bild, das die ausländischen Gäste während der WM von Deutschland gewonnen hatten. Dabei bestätigte sich empirisch, dass das „Public Viewing“ von entscheidender Bedeutung für die „freundschaftliche und friedliche Atmosphäre“ der WM war. Trotz des überaus positiven Eindrucks, den Deutschland vermittelte, bezweifelte Pilz, ob davon eine dauerhafte Veränderung von bestehenden Stereotypen ausgehen könne. Zum zweiten befasste sich Pilz in seiner Präsentation mit der Konfliktmanagementstrategie der Polizei, die ebenfalls ein voller Erfolg war. Nicht nur, dass die Polizeipräsenz positiv bewertet wurde - die „lachenden Polizisten“ wurden mit großer Mehrheit auch als „nicht provozierend“ wahrgenommen. So konnten 80 Prozent der Konflikte im Dialog mit den Betroffenen gelöst werden. Insgesamt, so das Fazit von Pilz mit Blick auf den deutschen Fußballalltag, hätte sich Deutschland während der vier WM-Wochen „eine Auszeit genommen“. Zwar habe man die Erfahrung gemacht, dass es „eine andere, positive Seite gibt“, ohne jedoch bisher die notwendigen Konsequenzen aus der WM-Erfahrung für die Bundesliga und die Fanproblematik zu ziehen. Einen ganz anderen Blick auf die WM eröffnete der Sport- und Medienwissenschaftler PD Dr. Michael Schaffrath von der Fakultät für Sportwissenschaft der TU München. Er erinnerte an die vielen Horrorszenarien, die in Zusammenhang mit dem Lizenzerwerb durch das Medienimperium Leo Kirchs im Vorfeld der WM kursierten. Hätte sich Kirch mit seiner WM-Lizenzpolitik durchsetzen können, wären nur 9 von 64 Spielen im Free-TV gezeigt worden. Angesichts dessen wäre es mehr als fraglich gewesen, ob das Sommermärchen überhaupt hätte geschrieben werden können. Beeindruckende 83 Prozent der Bevölkerung über 3 Jahre hatten schließlich statistisch mindestens ein Spiel gesehen. Das Public Viewing, welches so wichtig für die Atmosphäre war, wäre nicht möglich ge

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wesen. Für Schaffrath steht fest: „Italien wurde Weltmeister, Deutschland hat gewonnen und die Medien sind als Sieger vom Platz gegangen“. Denn mit der umfangreichen Berichterstattung gelang den Medien ein einmaliger „Agenda-Setting-Effekt“ für alle Bereiche der Kommunikation. Keiner konnte sich dem Fußball entziehen. Die Gründe hierfür sieht Schaffrath (a) im Erfolg, Auftreten und der Dramaturgie der deutschen Mannschaft, (b) in der wohl temperierten Betonung des deutschen Erfolgs, (c) im Umfang, Qualität und Art der Berichterstattung und schließlich (d) in der Befriedigung ganz unterschiedlicher Nutzungsmotive beim Zuschauer (rational, emotional, interaktiv und integrativ). Was die Nachhaltigkeit der fernsehmedialen Effekte für den Fußball betrifft zeigte sich nicht der erwartete und erhoffte Sogeffekt. Insofern sieht Schaffrath die Notwendigkeit, das Medienereignis Fußball-WM losgelöst vom Alltagsbetrieb der Bundesliga und selbst für die Spiele der deutschen Nationalmannschaft zu betrachten. Der Bonner Politikwissenschaftler PD Dr. Volker Kronenberg, der sich 2006 zum Thema Patriotismus in Deutschland habilitierte, stellte das schwarz-rot-goldene Fahnenmeer des Fußballsommers in den dazugehörigen historischen und soziokulturellen Kontext und verwehrte sich zugleich einer Deutung als „Wunder von Berlin“. Denn das von so vielen geteilte Zusammengehörigkeitsgefühl habe konkrete und benennbare Voraussetzungen und sei somit im Gegensatz zu einem Wunder erklärlich. Zum einen sei unter Rot-Grün die nach der Geschichtswende 1989 vorerst ausgebliebene Neujustierung der politischen Koordinaten der Bundesrepublik gelungen. Mit zeitlicher Verzögerung folgte in der Ära Schröder nach 1998 das „Ende der Nachkriegszeit“. Eines tumben Nationalismus völlig unverdächtig, konnte die Generation der 68er, die jahrzehntelang mit Deutschland haderte, den Begriff des Patriotismus offensiv besetzen und ihn aus der „rechten Ecke“ holen, in die er nie gehörte. Zum zweiten sei der natürliche Generationenwechsel zu nennen. Die Jugend in ihrer Unbelastetheit feierte wie selbstverständlich in „Schwarz-Rot-Gold“. Drittens befände sich die Nation in einem Prozess der Verständigung über die soziokulturellen Grundlagen ihrer res publica wie die anhaltende Leitkultur-Debatte verdeutliche. Angesichts dessen ist für Kronenberg das „Wir-Gefühl“ der WM mehr als ein Medienhype. Allerdings habe man mit Blick auf einen substanziellen Patriotismus, betont Kronenberg, zunächst eine erste Etappe genommen: „Nicht jeder Fahnenschwenker ist ein Patriot.“ Neben der emotionalen Komponente sei dem Patriotismus ein handlungsleitender Aspekt immanent. Ganz im wörtlichen Sinn von „Du bist Deutschland“ meint Patriotismus laut Kronenberg ein sozialpolitisches Verhalten mit klarer Gemeinwohlorientierung jenseits des egoistischen Eigeninteresses. Aus dem neuen „Wir-Gefühl“ heraus müsse es gelingen, die drängende Frage zu beantworten: „Wer leistet welchen Beitrag wofür?“. Kronenberg weist daraufhin, dass dieser nächste Schritt erst noch geschafft werden muss, zum einen vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und zum anderen mit Blick auf die Zukunft Europas. In feuilletonistischer Manier ging der Essayist Dr. Nobert Seitz den beiden unterschiedlichen Interpretationen des Fußballsommers nach. War der schwarz-rot-goldener Freudentaumel Ausdruck eines souveränen, selbstverständlichen Umgangs mit nationaler Symbolik, die bunte, feierliche Manifestation eines neuen Patriotismus oder „nur“ ein weiterer superlativer Mega-Event zwischen Papst-Rummel und „Schumis“ Endspurt um Formel-1-Titel Nr. 8? Seitz ließ die Frage letztlich offen. Abgerundet wurde das erste Panel durch den Kommentar von Dr. Johannes Urban, Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums. Er fragte, was die Politik aus der WMErfahrung lernen sollte und könnte. Zum einen habe die WM gezeigt, welches Zusammengehörigkeitsgefühl über die sozialen Unterschiede hinweg möglich ist. Die Politik sei aufgefordert, das neu entstandene „Wir-Gefühl“ aufzugreifen und eine Politik jenseits der technokratischen Termini wie „Hartz IV“ für die Menschen zu formulieren. Zum zweiten hätten die anfänglichen Auseinandersetzungen um die Trainingsmethoden von Jürgen Klinsmann verdeutlicht, wie sehr es sich lohnt, neue Wege zu gehen und wie bedeutungsvoll Motivation ist. Übersetze man Klinsmanns Reformkonzept für die deutsche Na

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tionalmannschaft in politisches Vokabular, sei man nach Ansicht von Urban, schnell bei Angela Merkels Motto in ihrer Regierungserklärung „Mehr Freiheit wagen“. Das zweite Panel mit dem Titel „Beim Sport sind wir (inter)national – Fußball als Instrument der Völkerverständigung?“ eröffnete der Journalist Gernot Facius mit der kritischen Feststellung, dass die WM eine konzertierte Aktion zur Imageverbesserung war. Facius zitierte die Feststellung des Hamburger Friedensforschers Hans-Georg Ehrhart, bei Fußball handele es sich um ein Antibiotikum, das bei bestimmten Symptomen zur Linderung oder Heilung sozialer Probleme beitragen kann. Dazu gehört auch, dass der Fußball global sei, aber der Fan nicht. Es habe sich gezeigt, dass die Deutschen und die ausländischen Mitbürger am schwarz-rot-goldenen Jubel teilhaben wollten. Das Public-Viewing erinnere insofern an eine moderne Form des Lagerfeuers, um das man sich in der Vorzeit sammelte, um sich zu wärmen. Das Land sei auf der Suche nach sich selbst. Es sei der Wunsch nach Zugehörigkeit, den es zu erfüllen gelte. Genau da liegt für Facius die Aufgabe der Politik. Patriotismus brauche mehr als Fahnen. Es sei durchaus angebracht, den allzu unbedarften oder kommerzialisierten Umgang mit den nationalen Symbolen kritisch zu hinterfragen. Patriotismus ist für Facius, ähnlich wie für Kronenberg, die Sorge um das Land und mit entsprechenden politische Tugenden verbunden. Mit dem zeitlichen Abstand eines Jahres zweifelt Facius an der Nachhaltigkeit und sieht die Kampagnenartigkeit des schwarz-rot-goldenen Jubels dominieren. Bereits Facius hat darauf hingewiesen, dass sich mittels Fußball historische Rivalitäten – im verregelten Wettstreit – durchspielen lassen. Der freie Journalist Medard Ritzenhofen aus Straßburg wendet diese Analogiemöglichkeit dann auch auf die beiden Nationen Deutschland und Frankreich an. In einem ironischen, historischen Rückblick betrachtete er das wiederholte Aufeinandertreffen der Grande Nation und Deutschlands auf den europäischen Schlacht- und Spielfeldern. Die Bilanz nach 20 Länderspielen fällt unentschieden aus, oder anders gewendet: Frankreich und Deutschland befänden sich spielerisch und politisch mit 10:10 auf gleicher Augenhöhe. Die Franzosen hätten kein Problem mit der schwarz-rot-goldenen Jubelstimmung, schließlich sei man – zugegebenermaßen – mit sich selbst beschäftigt. Den sportlich-historischen Vergleich seines Vorredners wollte Dr. Kazimierz Wóycicki aus Stettin nicht so im Raum stehen lassen. Für den Direktor des Instituts des Nationalen Gedenken verbietet sich eine solche Vermengung von Sport und internationaler Politik. Vor dem Hintergrund der deutsch-polnischen Geschichte lehnt er den bellizistischen Sprachgebrauch des Fußball ab. Seiner Ansicht nach ist die Thematik der Tagung, die Verknüpfung eines Ereignisses wie der WM und der Frage nach Patriotismus, „typisch deutsch“. Zwar repräsentierten die Menschen im Stadion eine Gesellschaft, entsprechend sei er auch nicht über die Weltoffenheit und Gastfreundschaft der Deutschen verwundert gewesen. Schließlich sei Deutschland eine offene Demokratie. Allerdings werde man nicht im Stadion, sondern andernorts zum Patriotismus erzogen. Für Wóycicki ist Patriotismus eine individuelle Stellungnahme zum Staat und zur Gemeinschaft. Mit der Freiheit, die jedes souveräne Individuum genieße, entstehe auch die Verpflichtung zur kritischen Auseinandersetzung mit der Staatlichkeit. Patriotismus ist deshalb in seinen Augen kein feierliches „WirGefühl“, sondern bestimmt durch ein subjektives Verhältnis zur Freiheit. Unter Rekurs auf Innenminister Schäubles WM-Fazit, die WM sei eine „Integrationsveranstaltung wie man sie schöner und wirkungsvoller nicht hätte erfinden können“, richtete Ernst Hebeker, Leiter des Berliner Büros der HSS und Moderator des zweiten Panels, an Bekir Alboga die Frage, was wäre gewesen, wenn die Türkei die Qualifikation für die WM geschafft hätte. Auch dann, erwiderte der Dialogbeauftragte der Türkisch Islamischen Union der Anstalt für Religion (Ditib), hätte die türkische Bevölkerung im Land ihre emotionale Zugehörigkeit zu Deutschland gezeigt. Dass es möglich war beide Flaggen nebeneinander zu zeigen, wurde öffentlich sichtbar. Emotionale Zugehörigkeit für die in Deutschland lebenden Türken, betonte Alboga, sei eine Frage des „Willkommenseins“.

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Die Fußball-WM sei in dieser Hinsicht sicherlich ein wertvoller Baustein für das Zusammenwachsen gewesen, aber es brauche mehr. Auch der Integrationsgipfel der Bundesregierung sei ein Weg, aber man müsse zugleich fragen, warum dieser erst jetzt, nach so vielen Jahrzehnten, stattfinde. Ähnlich sah es auch Dr. Stefan Luft vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Bremen. Er machte deutlich, dass die Event-Euphorie der WM nicht für die noch zu leistende Integrationsaufgabe ausreiche. Zuwanderer würden sich nur dann mit dem Land identifizieren, wenn dieses ihnen auch Perspektiven biete. Angesichts der fehlenden Arbeitsplätze sinke das Integrationspotential einer Gesellschaft. Stärker als Alboga betonte Luft, wie essentiell es sei, dass die Zuwanderer bereit sind, sich in die Zivilgesellschaft zu integrieren. Hier könnten die Sportvereine wertvolle Chancen bieten. III. Abendvortrag des Bundestagspräsidenten Den abschließenden Höhepunkt der eintägigen Veranstaltung bildete die Rede des Bundestagspräsidenten Dr. Norbert Lammert, in der er der Nachhaltigkeit des Fußballsommers 2006 nachging. Angesichts der Architektur der subjektiven Gefühle der Deutschen zu Deutschland sieht Lammert im fröhlichen Patriotismus der WM kein „vier Wochen Party-Phänomen“. Denn während 1990, im Jahr der deutschen Einheit, das demonstrative Bekenntnis zu Deutschland noch überwiegend Beklemmung auslöste und damals nur 22 Prozent die Anzeichen eines neuen Patriotismus mit Sympathie betrachteten, sehen nach der WM 49 Prozent der Befragten in den Fahnen das Zeichen eines angenehmen fröhlichen Patriotismus. Darüber hinaus empfanden lediglich 19 Prozent den fröhlichen Patriotismus als eine vorübergehende Mode. Dabei betont Lammert, dass nicht die WM ursächlich die Veränderung in den Einstellungen der Menschen zu Deutschland bewirkt hat, sondern die vorausgegangene Entwicklung in der Selbstbetrachtung der Deutschen erst ihr Ventil in der WM gefunden haben. Auf diese Weise hätten die Deutschen selbst auch für ein verändertes präziseres und differenziertes Deutschlandbild im Ausland gesorgt. Das Bemerkenswerte daran sei aber auch, dass es sich um den Patriotismus einer Zivilgesellschaft handele. Flagge zu zeigen sei nicht mehr Staatssache. Zugleich ginge das Bekenntnis zu den eigenen nationalen Symbolen mit Offenheit und Toleranz gegenüber anderen einher. Auch gehe es nicht darum, sich um die düsteren Epochen der deutschen Geschichte „herum zu mogeln“. Insgesamt seien die Deutschen auf dem Weg zu einem neuen anderen Wir-Gefühl. „Nicht vergangenheitsfixiert, sondern zukunftsorientiert, nicht nationalistisch verengt, sondern weltoffen tolerant.“ Schlussendlich werde die Selbstvergewisserung der Deutschen auch zur Integration Europas beitragen. Denn eine Identifikation mit Europa werde und könne nur über die jeweiligen Nationalstaaten erfolgen, erklärte der Bundestagspräsident. Tatjana Vogt

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