Willy Herbold n Ulrich Sachsse

Das so genannte Innere Kind Vom Inneren Kind zum Selbst Mit Beiträgen von Ralf Bolle Anja-Maria Reichel Christine Unckel Katja W.

2. Auflage

Einleitung

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Wir sprechen in diesem Buch gelegentlich von Kassetten und CDs, wohl wissend, dass es sich dabei um Technologien handelt, die immer weniger zeitgemäß sind und durch Moderneres wie MP3-Player und ähnliches ersetzt werden. Wir tun dies aber bewusst, weil verschiedene Technologien unterschiedliche sinnliche Erfahrungen vermitteln und es mitunter genau darauf ankommt, damit etwas in unserem Sinn wirksam werden, positiv triggern kann. Mit anderen Worten: wer neben der imaginativen Wirkung einer Astrid-Lindgren-Geschichte auch den Geruch bedruckten Papiers braucht, um einen angenehmen inneren Zustand bei sich zu erzeugen, dem wird ein E-Book-Reader nicht weiterhelfen können. Und Musik von einer Langspielplatte klingt einfach anders als dieselbe Musik vom Kassettenrekorder, CD-Player oder gar MP3-Player.

Literatur Berne E (2001). Die Transaktions-Analyse in der Psychotherapie. Eine systematische Individualund Sozial-Psychiatrie. Paderborn: Junfermann. Chopich E, Paul M (1996). Aussöhnung mit dem inneren Kind. Freiburg: Bauer. Cilauro S, Gleisner T, Sitch R (2006). Phaic Tan. Land des krampfhaften Lächelns. München: Heyne. Finney BC (1969). Let the little child talk. Am J Psychother; 23: 230–42 (abgedruckt in: Hatcher CH, Himelstein P [eds] [1976]. The Handbook of Gestalt Therapy. New York: Jason Aronson). Freud S (1938). Abriß der Psychoanalyse. GW XVII (Schriften aus dem Nachlaß 1892–1938). Frankfurt/M.: Fischer: 63–135.

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Das Konzept »Inneres Kind« und die Analytische Psychologie nach C. G. Jung Ralf H. Bolle

1.1 Wege zum Inneren Kind Die Arbeit mit dem Inneren Kind hat in den letzten Jahrzehnten immer mehr an Popularität gewonnen. Vor allem in der traumazentrierten Psychotherapie hat sich dieses Konzept sehr fruchtbar integrieren lassen. Es erschienen aber auch immer mehr Ratgeber- und Lebenshilfe-Bücher, die die Aussöhnung mit dem Inneren Kind propagierten. Obwohl viele Veröffentlichungen, wie etwa »Das Kind in uns – wie finde ich zu mir selbst?« von John Bradshaw (1990) oder »Hand in Hand mit dem inneren Kind« von Gabriele Bunz-Schlösser (2003), sehr differenzierte Vorschläge und vor allem praxisnahe und hilfreiche Anregungen an die Hand geben, verblieben bei mir immer auch eine leichte Irritation und ein gewisses Misstrauen gegenüber der allzu raschen Bemächtigung und Nutzbarmachung des Inneren Kindes. Die Verdinglichung erschien mir zu einfach und manchmal zu sehr dem Zeitgeist entsprechend: als ob es möglich wäre, mit ein paar Briefen an das Innere Kind oder Imaginationen einen gut lebbaren Dialog mit den inneren Seiten aufzunehmen, die in Verbindung mit der kreativen Kindlichkeit und somit auch den grundlegenden Beziehungserfahrungen in Verbindung stehen. Ich hatte auch den Eindruck, dass die Bedeutung des Beziehungsraums zu wenig berücksichtigt wurde, der es erst möglich macht, verbindlich mit dem Inneren Kind in Beziehung zu treten. Vor dem Hintergrund meiner psychoanalytischen Grundhaltung konnte ich mir nur schwer vorstellen, dass so wichtige Prozesse, die sowohl den Kontakt mit sich selbst als auch den vitalsten Aspekt des Kontaktes zu anderen Menschen, ja sogar zum Leben überhaupt, beinhalten, im Rahmen von Workshops und Trainingsanleitungen auf lange Sicht hin wirkungsvoll vermittelt werden könnten. In meiner klinischen Praxis als Psychiater in der Krisenintervention und als niedergelassener Psychotherapeut fand ich es immer besonders interessant, Patienten über längere Zeiträume hinweg zu begleiten. Aus dieser Perspektive waren dann rasche Symptombesserung und Therapie-Erfolge, so wie sie im stationären Setting oftmals eindrucksvoll aufscheinen, dann doch im Rahmen der mittel- und

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langfristigen Lebensentwicklung der Patienten wieder zu relativieren. Ich glaube, dass die Impulse, die in der Krisenintervention effektiv sind, dann doch über einen längeren Prozess der Bezogenheit allmählich in die seelische Struktur der Patienten integriert werden müssen. Natürlich kann dies über konstruktive und fördernde Beziehungen zu Partnern, Freunden und Bekannten geschehen, wenn diese vorhanden sind. Oft sind die tief reichenden Irritationen in der Persönlichkeitsstruktur jedoch nur über eine therapeutische Beziehung zu wandeln. Dies trifft besonders für traumatisierte Patienten zu, aber auch für alle anderen Formen von Persönlichkeitsstörungen. Eine sorgfältig reflektierte therapeutische Beziehung, in der sowohl Empathie als auch strukturierende Interventionen ihren Platz haben, bietet den adäquaten Rahmen für eine Vernetzung der unterschiedlichen Ebenen des Erlebens: Nonverbale Handlungsdialoge und sprachliche Reflexion können vor dem Hintergrund der Beziehung verknüpft und verwoben werden. Aus meinen Erfahrungen mit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und der niederfrequenten Psychoanalyse im modifizierten Setting habe ich gelernt, wie komplex, vielfältig und vielschichtig die Etablierung eines konstruktiven inneren (und äußeren) Dialogs in der Praxis ist. Destruktive Beziehungsmuster bilden sich sowohl in der Art und Weise ab, wie äußere Beziehungen lebbar sind, als auch darin, wie der Patient zu sich und seinem Körper in Beziehung treten kann. Gerade bei den chronischen Posttraumatischen Belastungsstörungen, die im Zusammenhang mit destruktiven frühen Beziehungserfahrungen stehen, sind oft langfristige ambulante psychotherapeutische Begleitungen notwendig, um konstruktive Formen des inneren Dialogs tatsächlich in der Persönlichkeit zu integrieren. In den letzten Jahren bin ich auch immer mehr Patienten begegnet, die in früheren stationären Aufenthalten in der Therapie intensiv mit Stabilisierungsübungen, Innere-Kind-Arbeit und Skills-Training behandelt worden waren. Hinter der vordergründigen Stabilisierung, die in vielen Fällen sicher auch erst eine anschließende ambulante Psychotherapie ermöglicht hat, bleiben im Hintergrund meist viele ungelöste Fragen bestehen, die die Patienten sehr beschäftigen. Sie bleiben manchmal misstrauisch und ambivalent, wenn sie die eigenen Erfahrungen mit den Übungen reflektieren. Ich glaube, dass hinter den vordergründigen Therapie-Erfolgen unbewusst noch destruktive Muster in der Selbstwahrnehmung bestehen bleiben können, die durchaus das Leben der Patienten weiter beeinträchtigen. Diese Patienten fühlen sich durch die manchmal zu forschen und zeitweise auch technisch anmutenden stabilisierenden Interventionen nicht ernst genommen: Es geht ihnen dann in der ambulanten Therapie darum, zu erfahren, ob es eine bedeutsame Beziehungsperson aushalten kann, was noch in ihnen ist. In gewissem Sinne besteht das Bedürfnis nach neutraler bzw. wohlwollender Zeugenschaft gegenüber den inneren destruktiven Erfahrungen weiter, die erst in einer längeren ambulanten Psychotherapie nachhaltig positiv beantwortet werden kann. Die zentrale Frage scheint oft zu sein, wie denn – im Gegensatz zu früheren (auch traumatischen) Erfahrungen – eine konstruktive Beziehungsgestaltung gelebt werden kann. In der psychoanalytischen Tradition wurden rasche Symptombesserungen nach Beginn der Behandlung oft unter dem Konzept der »Übertragungsheilung« kriti-

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siert und nur zurückhaltend positiv bewertet. Der anhaltende Effekt wurde erst im weiteren Verlauf der Behandlung erreicht, wenn Abgrenzungsprozesse und Trennungssituationen hinreichend thematisiert werden konnten. Unter diesem Gesichtspunkt ist natürlich auch zu fragen, inwieweit Anpassungsprozesse der Patienten (an idealisierte kompetente Therapeuten) und unbewusste Beziehungswünsche mit dazu beitragen, dass Stabilisierungsübungen und Innere-Kind-Arbeit als Behandlungstechniken kurzfristig erfolgreich scheinen. In der Analytischen Psychologie ist der vorschnelle Bezug auf kollektive Mythen und Märchen in der Therapie manchmal lediglich banalisierend und im Sinne einer Abwehr der persönlichen Dimension der therapeutischen Arbeit zu verstehen. Daher wird auch dem Begriff »archetypisch« im psychoanalytischen Diskurs immer wieder mit Misstrauen begegnet. Wenn aber der Bezug zu den allgemein menschlichen Themen von Philosophie und Weltanschauung sowie politischen Fragen achtsam im therapeutischen Prozess eingeflochten wird, ergibt sich eine sinnvolle Vertiefung und Integration der therapeutischen Arbeit in den Lebenskontext des erwachsenen Menschen. So kann die Psychotherapie einen fließenden Übergang von pathologischen Phänomenen hin zu normalen Auseinandersetzungen des »Sich-in-der-Welt-Findens« haben. Ähnliches gilt auch für die Innere-Kind-Arbeit: Auch hier lauern, wie bei jeder therapeutischen Technik, die Gefahr der Banalisierung und die Abwehr von ängstigenden Beziehungsthemen. Auf der anderen Seite gibt es eine lange Tradition in der Psychologie und der Psychoanalyse, sich mit inneren Zuständen (»States«) der Kindheit zu befassen. Prozesse der Regression in der therapeutischen Beziehung und der Wiederbelebung von Erfahrungsmustern und frühen Beziehungsstrukturen innerhalb dieser Situation werden dazu genutzt, Veränderungs- und Wandlungsperspektiven für den Patienten zu eröffnen. Es ist das zentrale Charakteristikum aller psychodynamischen Ansätze, die Bedeutung der Kindheit und vor allem die inneren Bilder des eigenen Kindseins und die inneren Bilder der Eltern in den Mittelpunkt zu stellen. Die Grundannahme ist dabei, dass die inneren Beziehungsmuster die äußerlich realen Beziehungsmöglichkeiten wesentlich mitgestalten. Insofern war es aus psychoanalytischer Sicht immer nahe liegend, den Dialog zwischen der bewussten Einstellung der Ich-Persönlichkeit und den inneren Bildern, wie sie in Träumen, Fantasien, Imaginationen und Gestaltungen deutlich werden können, zu fördern und zu differenzieren. Auf den folgenden Seiten möchte ich zunächst einige zentrale Grundgedanken der Sicht der Analytischen Psychologie nach C. G. Jung vorstellen, die im Zusammenhang mit den modernen Konzepten vom Inneren Kind von Bedeutung sind. Vor diesem Hintergrund werde ich dann meine Überlegungen zu dem besonderen Erfahrungsraum des Inneren Kindes im Kontext eines psychoanalytischen Therapie-Ansatzes anschließen. Unter dem Begriff der »Inneren Kindheit« möchte ich einen erweiterten integrativen Ansatz im Umgang mit dem Inneren Kind vorstellen, der sich für mich in der Langzeittherapie im Sinne eines modifizierten psychoanalytischen Settings sehr bewährt hat.