Das Leben meiner Schwester

Leseprobe aus: Anita Notaro Das Leben meiner Schwester Copyright © 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1 Alison Alison war glücklich...
Author: Erica Stieber
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Leseprobe aus:

Anita Notaro

Das Leben meiner Schwester

Copyright © 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

1 Alison Alison war glücklich. So glücklich, dass sie am liebsten laut gelacht hätte. Wirklich glücklich, nicht nur gespielt, wie früher als Kind in ihrer Phantasiewelt. Oder später als Teenager in der Clique, als sie unbedingt dazugehören wollte. Als sich ihre Zehen in den grobkörnigen Sand des einsamen Strandes südlich von Dublin gruben, fühlte sie sich wie eine Schlange, die ihre alte Haut abstreift. Jahre voller Sorgen schienen sich plötzlich in nichts aufzulösen, und die prickelnd scharfe Seeluft vertrieb die Ängste. Heute fing ein neues Leben an. Sie lächelte, von innen heraus. Es fühlte sich seltsam an, denn sie war fast daran gewöhnt, auf Kommando zu lächeln. Um ihre Zwillingsschwester Lily zu beruhigen, die sich vollkommen auf sie verließ. Oder um ihrem geliebten Kind Trost und Geborgenheit zu schenken. Und in den letzten Jahren hatte sie ihr verführerisches Lächeln perfektioniert, mit dem sie die Männer in ihrem Leben bedachte. Aber das war jetzt vorbei, das hatte sie jetzt nicht mehr nötig. «Mummy, guck mal, ich kann fliegen.» Ihr dreijähriger Sohn streckte die Arme aus und rannte im Kreis um sie herum. Ali bemerkte, dass er ihre Anerkennung heute gar nicht brauchte. Sie sah ihm zu, wie er, vollkommen glücklich in seiner eigenen Welt, an ihr vorbeiflatterte. All die Küsse, all das Lächeln, all die Liebe und Geborgenheit – all das, was sie ihm schenkte, machte ihn

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zu einem Prachtjungen mit ungebrochenem Selbstvertrauen. «Komm!» Alison sprang auf. «Lass uns zusammen zum Meer fliegen.» Rasch sammelte sie ihre Sachen zusammen, steckte das fast leere Portemonnaie in die Tasche und lief los, immer noch fassungslos bei der Vorstellung, dass ihr Leben eine solch glückliche Wendung genommen hatte. «Komm schon, du schaffst es», rief sie aufmunternd und hüpfte auf und ab wie ein Flugdrachen im Wind. Charlie rannte auf sie zu, und sie streckte die Arme aus. Kichernd versuchte er, an ihr vorbeizukommen, doch Alison schnappte ihn sich und wirbelte ihn im Kreis herum, bis sie beide ganz außer Atem waren. «Betrunken», verkündete er und wechselte unvermittelt zu ihrem Lieblingsspiel. «Nein, stimmt nicht!» Sie kitzelte ihren strahlenden Jungen. «Dir ist bloß schwindelig.» «Betrunken», quiekte er erneut und versuchte vergeblich, aufrecht zu stehen. Alison packte ihn, bevor er in den Sand fiel, und warf ihn in die Luft. «Ich hab dich lieb, Charlie.» «Ich hab dich lieb … hab dich zum Fressen gern …» Er schlang ihr seine dicken Ärmchen um den Hals, und sie schnupperte an ihm, wie immer direkt hinter seinem linken Ohr. «Ich tunk dich gleich in Schokolade», sprach Alison lächelnd für ihn zu Ende. Ihre Schwester Lily hatte ihm den Spruch beigebracht, und er liebte es, ihn immer wieder aufzusagen, obwohl Alison nicht sicher war, ob man im Kindergarten so glücklich darüber war. Aber das war typisch Lily, und Alison fand es wunderbar, dass die beiden wichtigsten Menschen in ihrem Leben den gleichen

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Sinn für Humor hatten. Sie hatte immer noch das kehlige Lachen ihrer Schwester im Ohr, als Charlie einmal in einem Süßwarenladen verlangt hatte, sie beide in Schokolade zu tunken. Jetzt zappelte er, weil er hinunterwollte. «Komm.» Sie sah sich nochmal um, ob sie all ihre Sachen hatte. Der Sandymount Strand war seltsam leer, nur ein einsamer Spaziergänger stapfte, die Hände in den Taschen, mit seinem Hund Richtung Leuchttürme. «Gehen wir Wellen fangen.» «Eimer, ich will meinen Eimer.» Alison lief zurück und holte den kleinen, gelben Feuerwehrhut, den sie gefunden hatten. «Hier ist dein Eimer.» Er strahlte. Sie liefen über den kühlen, goldenen Teppich. Alison liebte es, wenn Ebbe war. Dann konnte man fast bis nach Holyhead in Wales gehen – zumindest hatte ihre Mutter ihnen das früher immer erzählt. Charlie trottete neben ihr her. Sie kamen nur langsam voran, weil sie alle paar Minuten anhielten und Dinge bewundern mussten, die Alison allein niemals aufgefallen wären. «Musche.» «Ja, das ist eine Muschel. Halt sie dir mal ans Ohr, vielleicht hörst du das Meer rauschen.» «Meer.» Er wies in die Ferne. «Das Meer ist ganz weit weg.» Sie fuhr ihm durchs Haar. «Eines Tages fahre ich mit dir auf einem großen Schiff über das Meer.» «Schiff.» «Vielleicht fliegen wir auch mit einem Flugzeug. Würde dir das gefallen?»

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«Huuuiih.» Er segelte wieder um sie herum. «Weißt du was, mein Schatz, jetzt wird alles gut.» «Gut.» «Mehr als das. Perfekt.» Sie fragte sich, was Lily wohl sagen würde, wenn sie ihr erzählte, dass all ihre Sorgen nun ein Ende hatten. Alison freute sich für ihre Schwester fast noch mehr als für sich selbst. Lily hatte so viele Träume. Sie hatte Charlie an der Hand genommen, doch es dauerte nicht lange, da wollte er allein gehen. «Charlie, es wird uns bald richtig gutgehen. Mummy wird für uns sorgen.» Sie hob ihn hoch und drückte ihn fest an sich. «Au, lass mich runter.» Charlie entwand sich ihrem Griff und wollte schon wieder auf Entdeckungstour gehen. Alison zeigte ihm eine Qualle, woraufhin er schrie und davonlaufen wollte. Er legte sich die Hand vors Gesicht und lugte vorsichtig zwischen den Fingern hindurch. «Heute hat sich alles endlich zum Guten gewendet, Charlie.» Sie spürte, wie sich die Anspannung in Nacken und Schultern löste. Sie konnte es kaum erwarten, das Gesicht ihrer Schwester zu sehen, und freute sich wie ein Kind über ihre Überraschung. «Eis?», fragte der kleine Junge hoffnungsvoll. «Ja, wir fahren mit der Dartbahn nach Hause und kaufen bei Mrs. O’Neill ein Hörnchen, wie findest du das? Und danach trinken wir ausgiebig Tee. Was hättest du gern?» «Fritten.» Neuerdings war er sparsam mit Worten.

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«Okay, dann Fritten, aber ab nächster Woche essen wir nur noch Gesundes, dann gibt es Gemüse und ganz viel leckeres Fleisch und Fisch und –» «Ich möchte Schokolinsen.» «Hm, aber nur, wenn du ganz brav bist.» Er nickte übertrieben ernst. «Charlie ist ganz brav.» «Ja, das bist du, du bist der liebste Junge auf der Welt.» Alison hob ihn erneut hoch und drückte ihn an sich. Ein vages Gefühl der Unsicherheit überkam sie, weil sie sich nun keine Sorgen mehr machen musste. Weil sie ihm nicht mehr ständig etwas abschlagen und ihre Schwester in ihrer Begeisterung bremsen musste. «Runter.» Gehorsam setzte sie ihn ab und begnügte sich damit, ab und an durch seine weichen Locken zu streichen, während sie weiterspazierten. «Meer.» Das war wohl sein Wort des Tages. «Ja.» «Schaum.» «Ich glaube, für Schaum ist das Meer zu weit draußen, Schatz.» Sie jagte ihn weiter ins Watt und zappelte dabei mit Armen und Beinen wie der Oktopus in seinem aktuellen Lieblingsfilm. Die Abendsonne schien ihnen warm in den Rücken, und die leise Brise fuhr durch Charlies Locken, sodass sie ihn am Hals kitzelten. Alison kicherte mit ihm, als er sein Haar zurückstrich und versuchte, ihrer Umarmung auszuweichen. Sie ging alles noch einmal im Kopf durch. Heute war ein guter Tag gewesen – nein, heute war der beste Tag seit Jahren gewesen. Sie schmiedete wilde Pläne, während sie immer weiterwanderten, Charlie ganz in seiner kleinen,

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magischen Welt und sie in ihrer. Sie hatte hier spazieren gehen wollen, um alles schon einmal gedanklich zu sortieren, bevor sie es ihrer Schwester erzählte. Alison wusste, dass die große Neuigkeit Lily sehr aufwühlen würde, daher musste sie vorsichtig sein und sie ihr mit den richtigen Worten beibringen. «Was-ser.» Sie sah zu ihrem kleinen Jungen hinunter und vergaß kurz ihren Tagtraum. «Ja, die Flut kommt, wir kehren besser um, sonst bekommen wir nasse Füße.» Alison sah sich lachend um und stellte überrascht fest, dass sie sich auf einer kleinen, einsamen Insel befanden. Die Sonne hatte sich inzwischen verabschiedet. «Komm, Schatz.» Sie nahm seine Hand. «Mummy hat geträumt. Wir müssen hier lang. Da drüben ist eine große Sandbank.» Sie gingen los, und Alison bemerkte rasch, dass die Stelle, an der sie sich befanden, höher lag als die weitere Umgebung. «Los, Charlie, Mummy trägt dich. Wir müssen zurück zum Strand.» Er fühlte sich kühler an, als sie ihn hochhob, daher drückte sie ihn fest an sich. Er ließ den gelben Feuerwehrhelm fallen und schrie. «Eimer!» «Ist schon gut, ich hole ihn.» Sie streckte ihren Arm nach unten, doch der Helm wurde schon von der Strömung fortgezogen. «Weg», jammerte Charlie, als hätte er einen Schatz verloren. «Ist schon gut, er wartet am Strand auf uns, versprochen.» Sie hielt ihn eng an sich gepresst und schalt sich wegen ihrer Unvorsichtigkeit. Es sah aus, als wären sie meilenweit draußen. Sie watete ins Wasser. Es reichte ihr

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nur bis zu den Knöcheln, aber die Sandbänke wurden schon kleiner. Sie ging so schnell, wie es ihr langer Flatterrock zuließ, der sie beim Gehen behinderte. Außerdem musste sie ja auch Charlie tragen. «Charlie, mein Schatz, ich muss dich mal kurz absetzen und meinen Rock hoch-» «Neeeein!» Er klammerte sich an sie. Also raffte sie den Rock so gut sie konnte zusammen und ging weiter. Doch sie schienen kein Stück voranzukommen. Auf der Suche nach Hilfe suchte sie den Horizont ab, nur für alle Fälle, sah jedoch niemanden. Wie dumm von mir, dachte sie erneut, dabei bin ich doch normalerweise schon fast aberwitzig vernünftig. Sie versuchte, sich zu orientieren, doch vergeblich, denn jetzt trübte ein leichter Dunst am Horizont die Sicht, und selbst das Brummen des Berufsverkehrs an der nahe gelegenen Küstenstraße klang meilenweit entfernt. Es dauerte nicht lang, da beschlich sie Panik. Ihr war, als müsste sie beim Gehen das Wasser zurückdrängen, sodass sie immer langsamer wurden. Ihr Rock war schwer wie Blei, und im Stillen verfluchte sie sich erneut, obwohl sie versuchte, die Ruhe zu bewahren. «Ist schon gut, Schatz», sagte sie immer wieder. «Halt dich nur an Mummy fest.» «Kalt.» «Ich weiß, mein Schatz, wir sind gleich da.» Abwesend küsste sie seinen Schopf und versuchte, schneller zu gehen. «Dumme Mummy.» Sie lächelte ihm aufmunternd zu. «Wir sind zu weit hinausgegangen, aber keine Angst.» Beinahe wären sie hingefallen. Das Wasser war wieder gestiegen. Hier war es jetzt wesentlich tiefer. Irgendwie schienen sie nicht recht voranzukommen. Sie

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schloss die Augen und versuchte, alles logisch zu durchdenken. Aber es war, als herrschte in ihrem Kopf vollkommene Leere. Der Wind wurde stärker und drückte ihren bunten Rock gegen die Beine. Durch den dünnen Stoff hindurch konnte sie ihr Handy spüren. Sie holte es hervor und starrte kurz auf das Display. Es kam ihr lächerlich vor, Hilfe zu rufen, aber sie merkte, dass sie jetzt wirklich Angst hatte. Es war auch schon dunkler geworden, zumindest hatte sie den Eindruck, denn der Himmel war jetzt kupferfarben. Also wählte sie den Notruf und kam sich dabei vor wie eine komplette Idiotin. Die Frau in der Notrufzentrale war ruhig und irgendwie mütterlich. Sie stellte Alison ein paar Fragen. Alison hatte mittlerweile Mühe, Luft zu bekommen, das Reden fiel ihr plötzlich schwer. «Bleiben Sie dran, so ist es gut. Ich rufe nur kurz über Funk nach Hilfe. Keine Sorge, ich kann Sie noch hören.» Kurz darauf war sie wieder für Alison da. «Wie heißt Ihr kleiner Junge, Alison?» «Charlie.» «Und wie alt ist er?» «Drei, aber er ist klein für sein Alter, und ich habe Angst und –» «Versuchen Sie nur, dort zu bleiben, wo Sie sind. Haben Sie vielleicht irgendetwas Auffälliges, Buntes an?» «Ja, ein gelbes T-Shirt.» «Gut, das ist gut. Keine Angst, Alison, Hilfe ist schon unterwegs.» Sie sprach mit ruhiger Stimme, nannte Alison ständig beim Namen und fragte sie, um sie abzulenken, nach

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ihrer Telefonnummer zu Hause und ob dort jetzt jemand zu erreichen sei. Alison antwortete ihr, sagte dann aber besorgt: «Meine Schwester Lily ist da, aber bitte rufen Sie sie nicht an, sie bekäme Angst, und ich möchte nicht –» «Ist schon gut, keine Sorge, ich werde nicht anrufen. Ich wollte nur –» «Ich versuche ja, schnell zu gehen, ehrlich, und es tut mir auch wirklich leid, dass ich Ihnen solche Mühe mache. Nur habe ich den Eindruck, dass ich einfach nicht vorwärtskomme, und Charlie ist so schwer und –» Jetzt ging ihr die Luft aus. «Keine Sorge, Sie machen uns keine Mühe. Könnten Sie ihn sich nicht auf die Schultern setzen? Dann wäre es vielleicht einfacher.» «Ich versuch’s, aber dazu muss ich – warten Sie … bleiben Sie mal kurz dran.» Alison umklammerte das Telefon und hievte ihren Sohn hoch. «Halt dich einfach an Mummy fest, Schatz, so ist es brav.» Aber Charlie schrie, trat ihr ins Gesicht und riss an ihren Haaren. Da glitt ihr das Handy aus der Hand und versank im Wasser. «Hilfe!», schrie Alison und hoffte, die Frau könnte sie noch hören. Das Wasser stieg immer weiter, aber mit dem Kind auf den Schultern konnte Alison jetzt ein bisschen schneller gehen. Mächtige Wolkengebirge verwandelten den Spätsommer in Dezember, machten den Tag zur Nacht. Sie kam voran, zumindest schien es ihr so, doch nur wie in Zeitlupe, und die Landschaft um sie herum wurde immer undeutlicher. Ihre Schultern schmerzten von der Last. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich

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das Geräusch hörte. Es klang wie ein Motorboot. Mittlerweile war Alison schon außer sich vor Angst. «Hierher!» Sie winkte und zappelte heftig, weil sie nicht wusste, aus welcher Richtung das Motorengebrumm kam. Charlie war inzwischen fast schon hysterisch. Das Wasser reichte ihr jetzt bis zur Taille, und es wurde immer schwieriger, aufrecht stehen zu bleiben. «Ist schon gut, Schatz … guck mal, Charlie, da ist das große Schiff und bringt uns nach Hause.» Doch noch während sie sprach, merkte sie, dass das Geräusch von oben kam. Es hatte angefangen zu regnen, aber Alisons Augen waren schon feucht, bevor sie aufblickte. «Hilfe!» Ein anderes Wort schien ihr nicht mehr einzufallen, und vor lauter Rufen war sie schon heiser. Das Dröhnen der Motoren war jetzt ohrenbetäubend, und Charlie geriet in Panik. Da entdeckte Alison plötzlich einen Mann an einem Seil, der wie eine Gestalt aus einem Actionfilm gefährlich über ihren Köpfen baumelte. Vor lauter Erleichterung wurde ihr fast schwindlig. Gleich wäre Charlie in Sicherheit, weg vom Wasser, und Lily bräuchte sich keine Sorgen zu machen. Alison würde sich um sie kümmern, wie immer. «Gott sei Dank», rief sie. «Nehmen Sie ihn zuerst, bitte! Ihn zuerst!» Sie versuchte, ihre kostbare Last in die Höhe zu halten. Der Mann war fast genau über ihnen. Aber Alison schaffte es nicht, sie konnte ihre Arme nicht höher strecken. Das kalte Wasser schnürte schon ihre Brust ein. Charlie schrie und trat um sich, und sie bekam Wasser in den Mund. «Halten Sie den Jungen fest, dann hole ich Sie beide», meinte sie gehört zu haben, doch jetzt plötzlich war auch sie wieder ein hysterisches Kind.

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«Neeeein!» Sie zwang sich, noch einmal die Arme in die Höhe zu recken, und umklammerte Charlie dabei fest. Ihre Hände waren taub, ihre Finger spürte sie schon längst nicht mehr. «Bitte, nehmen Sie ihn zuerst, bitte, ich kann ihn nicht länger halten.» Sie sah ihn flehentlich an. «Bitte, ich komm schon klar, es darf nur meinem Kind nichts passieren.» «Halten Sie durch, ich bin sofort wieder da.» Der Wind trug seine Worte davon. Er sagte noch etwas, und Alison versuchte, durch den Tränenschleier vor ihren Augen, durch den nadelfeinen Regen und das Motorengedröhn von seinen Lippen zu lesen. Er stürzte auf sie herab und hatte einen Augenblick später Charlie fest gepackt. Sie beobachtete, wie er ihr geliebtes Kind in einer Vorrichtung an seiner Taille einhakte. «Keine Angst, Alison, ich habe ihn. Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Können Sie stehen?» «Ich glaube ja. Mein Rock ist …» Sie schwankte und fühlte sich schwach vor Anstrengung und Erleichterung, dass ihr kleiner Junge endlich in Sicherheit war. «Ziehen Sie ihn aus», schrie er, woraufhin sie versuchte, ihn mit den Beinen abzustreifen. «Seien Sie vorsichtig, bitte», flehte sie erneut. «Meine Schwester wird …» Ihr versagte die Stimme. «Sie sind beide gleich in Sicherheit, bleiben Sie ganz ruhig, versuchen Sie, nicht in Panik zu geraten. Ehe Sie sich’s versehen, bin ich wieder da.» Sein Lächeln war beruhigend, wirkte aber, als käme es aus weiter Ferne, und Alison sah zu, wie ihr Kind immer kleiner wurde, wie seine Arme und Beine sich ruckartig bewegten wie bei einer batteriebetriebenen Plastikpuppe. Ihre eigenen Arme schienen nicht mehr in ihre normale Position zu-

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rückzuwollen, so als wären sie ausgekugelt. Die Strömung war jetzt stärker geworden. «Bitte, Gott, lass mein Baby nicht sterben, lass meine Schwester wissen, dass ich sie liebe», betete Alison mit erstickter Stimme, als das eisige Wasser sie in die Tiefe zog.

2 William und Beth Welpengebell riss William Hammond aus dem Schlaf. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er merkte, dass dies nur der Weckruf seines Handys war. Noch im Halbdämmer spürte er die plötzliche Anspannung und sprang auf. Gähnend ließ er das Handy aufschnappen, um das Gekläff abzustellen, und blickte auf das Foto zweier hinreißender Jack-Russell-Terrier, die Nickytücher um den Hals trugen. Mit einem schiefen Lächeln widerstand er dem Impuls, die Schlummertaste zu betätigen. «Tee.» Das war keine Frage. Seine Frau Beth war morgens immer ziemlich schlecht gelaunt. Sie betrat das Zimmer und sah nicht aus, als wäre sie schon wirklich wach. Heute türmte sich ihr dunkles Haar in einem Knoten auf dem Kopf, und sie trug einen flauschigen Pyjama in Pink und alberne Hausschuhe mit Smileys – ein Weihnachtsgeschenk von den Kindern. «Aufreizende Frisur», zog er sie auf. «Nicht wahr?» Sie zwinkerte ihm zu. «Schade, dass du gleich wegmusst.» Sein morgendlicher Tee im Bett gehörte zur Alltagsroutine. William musste an diesem Tag operieren, und wie üblich war Beth eine Viertelstunde früher als er aufgestanden. Es gefiel William, dass sie immer noch so viel Aufhebens um ihn machte. Das bedeutete, sie erkannte die Last der Verantwortung an, die er an solchen Tagen,

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wenn es wirklich um Leben und Tod ging, auf seinen Schultern trug. Wortlos nahm er die Porzellantasse und reichte Beth dafür sein Handy. «Sieh mal, der neueste Anschlag der Verschwörerbande, die wir als unsere Kinder bezeichnen.» «Was ist es diesmal?» «Noch mehr Welpen. Sie geben einfach nicht auf.» «Nun, vielleicht sollten wir doch –» Sie hielt inne, noch bevor sie den Ausdruck auf seinem Gesicht sah. «Okay, okay, verschieben wir das, reg dich nicht auf.» Sie küsste ihn auf die Stirn. «Ich kümmere mich mal ums Frühstück.» «Danke.» Er nippte an dem heißen Tee und warf dann erneut einen Blick auf die Uhr. «Ich spring wohl besser direkt unter die Dusche, sonst bin ich noch spät dran.» Mit der Tasse in der Hand verließ er noch vor ihr das Schlafzimmer. Um nicht in Versuchung zu kommen, wieder ins Bett zurückzuschlüpfen, riss Beth unverzüglich die schweren Vorhänge zurück und zog die Jalousien hoch. Es war schon fast hell. Rasch schüttelte sie die Kissen auf und schlug die Decke zurück, dann öffnete sie das Oberlicht des großen Erkerfensters, um das Zimmer zu lüften. Auf Wills Bettseite stand bereits ein Fenster offen. Er legte Wert auf frische Luft, und ihr war es gleich, obwohl sie sich manchmal, vor allem im Winter, nach dem ganz eigenen warmen menschlichen Geruch sehnte, der immer in ihrem Zimmer geherrscht hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war. In der Küche gluckerte der Porridge auf dem Herd. Beth gefiel alles an diesem Raum – die Wärme, das Durcheinander und die Vision von frischgebackenem Brot, die sie jedes Mal hatte, wenn sie auf den Ofen blickte. Was

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sie daran erinnerte, dass sie seit Urzeiten nicht mehr gebacken hatte. Sie beschloss, noch in dieser Woche einen Backtag einzulegen: Brot mit Olivenöl und Rosmarin und Madeirakuchen mit Kokosglasur, den Harry so mochte. Ach, und sie hatte Lust, heute eine schöne RindfleischNieren-Pastete für William zum Abendessen zu machen, obwohl er immer auf sein Gewicht achtete. Sie würde ihn einfach anlügen und behaupten, die Pastete sei ohne Fett. Beth blickte sich um, schnippte ein eingebildetes Staubkörnchen weg und lächelte in sich hinein. Hier fühlte sie sich geborgen. «Hi, Mum», unterbrach sie eine schläfrige Stimme in ihrer frühmorgendlichen Träumerei. «Hallo, Schatz, was machst du denn schon hier? Es ist doch noch mitten in der Nacht!» «Warum bist du dann schon auf?» Harry Hammond versuchte, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben. «Daddy muss heute operieren. Du weißt doch, dass ich ihm vor einer Operation immer das Frühstück mache.» Beth beugte sich zu ihrem Sohn hinunter und blickte ihn prüfend an. «Warum gehst du nicht nochmal ins Bett? Du hast noch mindestens zwei Stunden Zeit.» «Ich bin nicht mehr müde.» «Tja dann, möchtest du Saft?» Sie reichte ihm ein Glas frisch ausgepressten Orangensaft. «Geh ein bisschen fernsehen, bis Daddy sich sortiert hat. Läuft jetzt nicht das Frühprogramm – das mit den Kriegern?» «Weiß nich’.» Harry zuckte die Achseln. «Ich hab Hunger.» «Dann geh doch mal nachsehen, und sobald Daddy weg ist, bring ich dir Toast und Kakao, ausnahmsweise.» William billigte nicht, dass sie die Kinder ständig ver-

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wöhnte. «Meinst du, dein Hunger kann noch fünf Minuten warten?», scherzte sie. «Ja, danke, Mum.» Er war ein unkompliziertes Kind. Fernsehen am frühen Morgen war etwas ganz Besonderes und ohne seine große Schwester Winnie, die immer die Fernbedienung okkupierte, das reinste Paradies. «Morgen, Harry, was ist denn mit dir los?» William erschien in der Küche, rückte sich die Krawatte zurecht und hängte das Jackett seines dunkelgrauen Anzugs über die Lehne seines Stuhls. Er wirkte frisch und attraktiv und würde eindeutig Blicke auf sich ziehen. «Nichts», murmelte der Junge und trollte sich, mit den Gedanken schon in seiner Actionman-Welt. Beth stellte ein frisches Glas Orangensaft vor ihren Mann und brachte die Teekanne zum Tisch. «Eigentlich wollte ich lieber Kaffee, wenn welcher da ist.» «Okay.» Seine Frau reichte ihm den Kaffee, den sie für sich gekocht hatte. «Wie kommt denn das? Du trinkst doch sonst nie Kaffee zum Frühstück?» «Ich weiß. Aber heute bin ich müde. Hab irgendwie keine Energie.» «Aber du siehst ausgeruht aus, so als könntest du es mit der ganzen Welt aufnehmen.» Um seine Fähigkeit, einfach aufzustehen und sofort loszulegen, hatte sie ihn immer beneidet. Sie hingegen hatte schon ihr ganzes Leben morgens zu kämpfen gehabt, genau wie Harry, was William mit großem Unmut sah. «Hast du denn gut geschlafen?», fragte sie ihren Mann. «Doch, eigentlich schon. Ich bin auch sofort eingeschlafen. Aber du weißt ja, wie es ist, vor einer großen Operation kann ich mich nie richtig entspannen.»

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