Das Geheimnis der transzendenten Zahlen

Eine etwas andere Einführung in die Mathematik

Bearbeitet von Fridtjof Toenniessen

1. Auflage 2009. Taschenbuch. xiii, 434 S. Paperback ISBN 978 3 8274 2274 3 Format (B x L): 15,5 x 23,5 cm

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1 Vorgeschichte

Herzlich willkommen auf einer Entdeckungsreise durch die Mathematik. Ganz zu Beginn möchte ich Ihnen ein wenig vom Wesen dieser faszinierenden Wissenschaft erzählen. Es soll Sie einstimmen auf das, was uns später in den Tiefen des Zahlenreichs erwartet. Versetzen Sie sich einmal zurück in die Zeit um 600 v. Chr. – in das antike Griechenland, die Wiege der europäischen Kultur. Das geistige Leben war damals bestimmt von den Vorsokratikern. Es war die Blütezeit der Naturphilosophie, welche letztlich den Weg zu den modernen Naturwissenschaften bereitet hat. Zwei große Denker aus dieser Periode begründeten damals die Mathematik in ihrer heutigen Form, in der sie ohne Zweifel zu den größten geistigen Schätzen der Menschheit zählt. Es waren Thales von Milet und Pythagoras von Samos, die Ihnen wahrscheinlich aus den mittleren Schulklassen bekannt sind. Natürlich hat es Mathematik schon viel früher gegeben, die ersten Spuren reichen zurück bis zu den alten Ägyptern und Babyloniern. Warum beginnen wir bei den Griechen? Was haben sie anders gemacht als ihre Vorgänger?

Die Anfänge der Mathematik als Wissenschaft Die Antwort ist einfach: Sie waren die ersten, von denen historisch nachgewiesen ist, dass sie nicht nur ein rein praktisches oder wirtschaftliches Interesse an der Mathematik hatten, sondern ein wissenschaftliches. Es ging ihnen darum, nicht nur Dinge des alltäglichen Lebens zu berechnen, sondern durch strenge logische Folgerungen allgemein gültige Gesetze herzuleiten. Sie führten dazu erstmals die Methodik des Beweisens ein, um Erkenntnisse von universaler Bedeutung zu gewinnen und sie auf sicheren Boden zu stellen. Den Wert dieser Art von Mathematik hat schon der große Denker Immanuel Kant zum Ausdruck gebracht, wonach „in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist“ ([Kant]). Die Mathematik besitzt damit zweifellos auch Aspekte der Erkenntnistheorie und hat einen direkten Bezug zur Philosophie. Das Spannungsfeld, welches sich daraus aufbaut, gab es damals wie heute. Der Legende nach gab Euklid einmal einem Schüler eine Münze in die Hand, der allzu oft nach dem späteren finanziellen Nutzen seiner Theorien fragte. Euklid bat ihn, seinen Vorlesungen künftig fernzubleiben und verabschiedete ihn mit dem Hinweis, hier habe er etwas Geld für das Gelernte. Auch heute nutzen viele Praktiker die Mathematik meist nur als technisches Vehikel, um konkrete Aufgaben in Beruf und Alltag zu lösen. Ihnen gegenüber stehen die Mathematiker, denen an der Entdeckung universaler Wahrheiten dieser Welt gelegen ist. Sie sind vom natürlichen Drang der Menschen nach mehr Erkenntnis angetrieben, von der Neugier, Geheimnisse zu lüften. Sie

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betreiben Mathematik als eine Kunst, „wobei die Schönheit in den Symmetrien, Mustern und tief verwundenen Beziehungen liegt, die den Betrachter verzaubern“ ([Ribenboim]). Dabei wird Mathematik keinesfalls zum Selbstzweck. Sie ist in diesem Sinne eine echte Grundlagenwissenschaft. Oft finden sich – freilich erst Jahrzehnte oder Jahrhunderte später – praktische Anwendungen, die Wissenschaft und Technik revolutionieren. Wir werden auf unserer Reise zum Beispiel die Infinitesimalrechnung kennen lernen. Anfangs von vielen verschmäht, ist sie heute – gut 300 Jahre später – aus den Naturwissenschaften und Ingenieurdisziplinen nicht mehr wegzudenken. Oder halten Sie sich das duale Zahlensystem von Leibniz vor Augen, das die Grundlage für den Bau moderner Computer bildete, die Zahlentheorie mit ihren vielfältigen Anwendungen bei der Verschlüsselung von elektronischen Daten oder die höhere Analysis für die Datenkompression. Ohne sie gäbe es weder MP3Player, Smartphones, moderne Medizintechnik oder Filme in DVD-Qualität, ganz zu schweigen von Multimedia im Internet. In diesem Buch wollen wir auf den Spuren der alten Griechen wandeln, sind also auf der Suche nach allgemein gültigen Gesetzmäßigkeiten und werden diese ganz im Stil eines richtigen Mathematikers auch lückenlos beweisen. Wir folgen dabei keinem Lehrplan, sondern erkunden das Terrain mit der fragenden und forschenden Neugier, welche die Wissenschaftler auszeichnet. Ich hoffe, Sie erleben an der ein oder anderen Stelle auch das erhabene Gefühl, einen wichtigen Satz bewiesen zu haben und ihn fortan zu Ihrem geistigen Eigentum zählen zu können.

Geometrische Konstruktionen in der Antike Zurück zu Thales und Pythagoras. Neben dem Rechnen mit Zahlen haben sie auch geometrische Fragen untersucht. Dabei sind die Gerade und der Kreis die zwei wichtigsten Elemente. Als Beweismittel waren bestimmte Konstruktionen mit Zirkel und Lineal zugelassen. Aus der Kombination von Geraden und Kreisen entdeckte Thales einen Zusammenhang, der in der Schule als der Thaleskreis besprochen wird. Versuchen Sie einmal, ein Dreieck zu bilden aus zwei diametral gegenüberliegenden Punkten eines Kreises sowie einem weiteren Punkt auf der Kreislinie. Hier ein paar Versuche:

Geometrische Konstruktionen in der Antike

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Thales stellte fest, dass diese Dreiecke alle rechtwinklig waren: Der Winkel, welcher dem Kreisdurchmesser gegenüber liegt, beträgt stets 90◦ . Einen Moment bitte, geht das so einfach? Genügt es, ein paar Beispiele zu zeichnen und den Winkel zu messen, um so etwas ganz allgemein behaupten zu dürfen? Nein, es genügt nicht. Denn Zeichnungen beweisen nichts, wenn es darin um exakte Zusammenhänge geht. Das hat auch Thales erkannt und somit einen der ersten mathematischen Sätze streng bewiesen. Wie hat er das getan? Er hat auf Basis des gesunden Menschenverstandes eine Argumentation gefunden, deren Eleganz sich bis heute niemand entziehen kann. Er studierte die Dreiecke schon längere Zeit und entdeckte dabei zwei bemerkenswerte Gesetzmäßigkeiten. Betrachten wir zunächst ein gleichschenkliges Dreieck ABC wie in der nebenstehenden Abbildung. Das ist ein Dreieck, in dem die beiden Seiten AC und BC (man nennt sie auch Schenkel) gleichlang sind. Wir schreiben dafür kurz AC = BC. Die Beobachtung von Thales war, dass in diesem Fall die beiden Basiswinkel α1 und α2 gleich sein müssen.

C

α1

α2

A

B

Hilfssatz Die Basiswinkel eines gleichschenkligen Dreiecks stimmen überein. „Das ist doch intuitiv völlig klar!“, werden Sie vielleicht denken. Doch Vorsicht, können wir das wirklich mit Sicherheit behaupten? Es sind schließlich nur die beiden Schenkel gleichlang, wie können wir dabei auf die Winkel schließen, ohne uns in vage Behauptungen zu verstricken? Thales wollte es genau wissen. Er fällte mithilfe eines Zirkels und eines Lineals das Lot vom Punkt C auf die Basis AB des Dreiecks und fand den Punkt L. Die Strecke LC definiert dann nichts anderes als die Höhe des Dreiecks.

C

α1 A

α2 L

B

Es sind jetzt die beiden Dreiecke ALC und LBC zu vergleichen. Thales ging ans Werk wie ein Kriminalkommissar bei einem kniffligen Fall. Er entdeckte drei wichtige Gemeinsamkeiten: 1. Beide Dreiecke haben die Seite LC gemeinsam. 2. Sie haben auch die Seite AC gemeinsam, da AC = BC. 3. Sie haben den rechten Winkel 90◦ beim Punkt L gemeinsam. Damit konnte Thales nun exakt nachweisen, dass die beiden Dreiecke ALC und LBC übereinstimmen, also kongruent sind. Wie hat er das getan? Nun ja, er benutzte wieder Zirkel und Lineal. Er begann mit dem Punkt L und konstruierte zunächst zwei Halbgeraden nach oben und nach links, welche den Winkel 90◦ einschlossen.

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1 Vorgeschichte C

L

L

C

A

C

L

A

L

Die Höhe LC trug er mit dem Zirkel nach oben ab und bestimmte damit den Punkt C des Dreiecks ALC. Nun nahm er die Schenkellänge AC in den Zirkel und schlug damit einen Kreis um den Punkt C nach links. Der Schnittpunkt mit der horizontalen Halbgeraden muss dabei der gesuchte Punkt A des Dreiecks ALC sein. Dieses Dreieck lässt sich also auf eindeutige Weise aus den oben beschriebenen Gemeinsamkeiten konstruieren. Nun liegt es klar vor uns. Selbstverständlich können wir die gleiche Konstruktion auch nach rechts ausführen, quasi am Lot LC gespiegelt. Wir erhalten dann das Dreieck LBC, welches folglich kongruent zu ALC ist. Der Winkel α2 ist also das Spiegelbild von α1 und damit gleichgroß.  Nach dem diese Erkenntnis gesichert war, betrachtete Thales die Summe der drei Winkel eines beliebigen Dreiecks. Durch ein einfaches Experiment fand er heraus, dass diese Summe stets 180◦ beträgt. Hilfssatz Die Summe der Winkel in einem Dreieck beträgt immer 180◦ . Warum ist das so? Stellen Sie sich vor, auf einem weiten Feld zu stehen, auf dem ein großes Dreieck aufgemalt ist. Sie stehen in der Mitte einer Seite und umrunden das Dreieck entgegen dem Uhrzeigersinn.

β β γ

γ Start α Blick richt ung

α

Sie blicken anfangs in Laufrichtung. An jeder Ecke drehen Sie sich im Uhrzeigersinn um genau den Winkel an dieser Ecke. Nach der ersten Ecke gehen Sie also

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ein Stück rückwärts. Nach der zweiten Ecke geht es mit Blick voraus und nach der dritten Ecke wieder rückwärts. Wenn Sie wieder am Ausgangspunkt ankommen, hat sich die Blickrichtung um genau 180◦ gedreht. Also gilt α + β + γ = 180◦ .  Mit diesen beiden Hilfssätzen gelang Thales schließlich der Beweis seines berühmten Satzes. Satz von Thales Konstruiert man ein Dreieck aus den beiden Endpunkten des Durchmessers eines Halbkreises (Thaleskreis) und einem weiteren Punkt dieses Halbkreises, so erhält man immer ein rechtwinkliges Dreieck. In eleganter Kurzform kann man auch sagen: Alle Winkel am Halbkreisbogen sind rechte Winkel. Wie hat Thales den Beweis geführt? Er hat die beiden vorigen Resultate auf geniale Weise kombiniert. C α

β

α A

β

M

B

ABC ist das Dreieck innerhalb des Kreises, dessen Durchmesser wir mit AB annehmen. M ist der Mittelpunkt des Kreises. Die Dreiecke AM C und M BC sind gleichschenklig mit zugehörigen Basiswinkeln α und β. Für die Winkelsumme des Dreiecks ABC gilt α + β + (α + β) = 2α + 2β = 180◦ . Teilt man die Gleichung durch 2, so erhält man α + β = 90◦ , was zu zeigen war.



Das war einer der ersten bekannten Sätze der Mathematik. Thales konnte nach seinem Beweis mit Fug und Recht dessen Richtigkeit behaupten, auch für die Fälle, in denen der Punkt auf dem Halbkreisbogen so nahe bei einem der Basispunkte A oder B liegt, dass jegliches Messen des Winkels aus Gründen der Genauigkeit unmöglich wird. So beeindruckend die ersten mathematischen Beweise auch waren, ein wissenschaftliches Leben konnten sie natürlich nicht füllen. Dafür waren sie zu einfach. Thales war wie viele seiner Kollegen Universalgelehrter. Neben der Mathematik beschäftigte er sich auch mit Naturphilosophie, Politik, Astronomie und der

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Entwicklung technischer Geräte. Das ist ein großer Unterschied zu heute. Die Mathematik ist so umfangreich und komplex geworden, dass sich ein Forscher oft nur noch in wenigen Teilgebieten der Mathematik wirklich gut auskennt. Ähnlich wie bei Thales verhielt es sich auch bei Pythagoras. Er war Mathematiker, Philosoph und Theologe. In der Schule wird sein berühmter Satz behandelt, der die Seitenlängen eines rechtwinkligen Dreiecks zueinander in Relation setzt. Dazu wird die längste Seite eines solchen Dreiecks als dessen Hypotenuse bezeichnet, die Seiten, welche den rechten Winkel einschließen, sind die Katheten. C

a

b Katheten

A

Hypotenuse c

B

Die Entdeckung von Pythagoras lautet nun: Satz von Pythagoras In einem rechtwinkligen Dreieck ist das Quadrat der Länge der Hypotenuse gleich der Summe der Quadrate der Längen der beiden Katheten. Mit den Bezeichnungen von oben gilt also a2 + b2 = c2 .

Dieser Satz ist insofern bemerkenswert, als er eine geometrische Figur mit einer algebraischen Gleichung in Verbindung bringt. Er wies damit den Weg in die Zukunft der Mathematik, wir werden diesem fundamentalen Ergebnis später auf unserer Reise noch begegnen. Sehen wir uns kurz eine Anwendung dieses Satzes an, die unter den Mathematikern der damaligen Zeit für große Aufregung gesorgt hat. Für die Länge d der Diagonale eines Quadrats mit Seitenlänge 1 gilt demnach d2 = 12 + 12 = 2. d Welchen Wert hat d? Die Zahl, welche√mit sich selbst mul1 tipliziert 2 ergibt, bezeichnen wir mit 2. Mit dieser Zahl, welche nicht als Verhältnis zweier natürlicher Zahlen n : m darstellbar ist – wir werden auch das in Kürze beweisen 1 – hatten die Griechen zunächst Schwierigkeiten. Die Zahl entzog sich ihrem damaligen Begriff von Vernunft, also der ratio, und wird daher als irrational bezeichnet (mehr dazu später). Diese Entdeckung wird übrigens Hippasos von Metapont zugeschrieben, einem Mitglied der von Pythagoras gegründeten Schule der Pythagoräer.

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Wie beweist man nun den Satz von Pythagoras? Die Frage stellt sich nach der Länge der Hypotenuse, wenn wir die Längen der Katheten kennen. Die Aufgabe ist auf den ersten Blick nicht einfach. Ähnlich wie beim Satz von Thales war auch hier ein Gedankenblitz nötig, eine geniale Idee. Wir fällen zunächst das Lot vom Punkt C auf die Strecke AB, der Auftreffpunkt sei mit L bezeichnet. C γ1 b

γ2

γ

a

β

α A

p

L

q

B

Das Lot teilt die Hypotenuse in zwei Teile der Längen p und q. Doch nicht nur das, die Winkel aller drei nun erkennbaren Dreiecke stimmen überein! Damit sind sich die Dreiecke ABC, ALC und LBC ähnlich. Sie sind nur in unterschiedlicher Lage und Vergrößerung zu sehen. Warum ist das so? Wieder hilft uns die Erkenntnis über die Winkelsumme im Dreieck. Demnach ist α + β = 180◦ − γ = 90◦ . Für den Winkel γ1 des Dreiecks ALC beim Punkt C gilt daher γ1 = 180◦ − 90◦ − α = 90◦ − (90◦ − β) = β . Beim Dreieck LBC können Sie auf die gleiche Weise vorgehen und erhalten γ2 = α. Also sind die Dreiecke allesamt ähnlich und es befinden sich die entsprechenden Seiten im gleichen Längenverhältnis. Schon liegt die Lösung vor uns. Es gilt b : p = c : b und entsprechend a : q = c : a . Damit ist b2 = c · p, a2 = c · q und wegen q + p = c ergibt sich schließlich a2 + b2 = c · q + c · p = c · (q + p) = c2 .



So einfach kann es sein, wenn man den richtigen Weg gefunden hat. Die Suche nach den guten Ideen, die wie geistige Lichtschalter einen dunklen Raum plötzlich taghell machen und alles klar in Erscheinung treten lassen, macht seit Jahrtausenden den eigentlichen Reiz der mathematischen Forschung aus. Etwa zweihundert Jahre später kombinierte Euklid die bemerkenswerten Sätze von Thales und Pythagoras zur Lösung einer kniffligeren Aufgabe. Hier zeigt sich die ganze Leuchtkraft der antiken Geometrie. Es ging darum, zu einem gegebenen Rechteck ein flächengleiches Quadrat zu konstruieren – ein Problem, welches unter dem Namen Quadratur des Rechtecks bekannt ist.

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Euklid entdeckte auf der Suche nach der Lösung einen weiteren Zusammenhang im rechtwinkligen Dreieck, der sich aus den bisherigen Überlegungen sofort ergibt. Es handelt sich um den sogenannten Höhensatz. Höhensatz (Euklid) Fällt man wie in obigem Bild in einem rechtwinkligen Dreieck vom Punkt C das Lot auf die Hypotenuse AB, so wird diese im Punkt L in zwei Teile der Längen p und q geteilt. Die Länge des Lotes bildet die Höhe h des Dreiecks. Es gilt dann h2 = p · q .

Der Beweis ist einfach, da sowohl ALC als auch LBC rechtwinklige Dreiecke sind. Mit dem Satz von Pythagoras ergibt sich h2 = b2 − p2 und h2 = a2 − q 2 . Die Addition der beiden Gleichungen zeigt 2 h2 = a2 + b2 − p2 − q 2 = c2 − p2 − q 2 = (p + q)2 − p2 − q 2 = 2 pq . Es folgt h2 = p · q.



Damit gelingt die Quadratur eines Rechtecks. Seine Seitenlängen seien mit c und q bezeichnet.

q A

c

B

h

q A

c

B

q

D

A

c

MB

h q

D

h

Wie im Bild klappen wir die Seite der Länge q nach rechts auf die Halbgerade der Strecke AB und erhalten den Punkt D. Wir verlängern dann die Seite der Länge q zu einem Lot über B. Nun bestimmen wir mit zwei gleichgroßen Kreisen um A und D den Mittelpunkt M der Strecke AD und schlagen um diesen den Thaleskreis. Dessen Schnittpunkt mit dem Lot über B definiert einen Punkt C, mit dem ADC zu einem rechtwinkligen Dreieck wird. Nach dem Höhensatz gilt h2 = c · q, das gesuchte Quadrat ist also jenes über der Höhe LC.  Nun kommt es in der Mathematik aber auch vor, dass Fragen auftauchen, die so schwer sind, dass sie lange Zeit nicht gelöst werden können. So auch bei den alten Griechen. Etwa 100 Jahre nach Pythagoras wirkte in Athen ein weiterer Vorsokratiker, der aus Kleinasien stammende Anaxagoras. Er war einer der ersten, der sich eine geometrische Frage der besonderen Art stellte:

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Ist es möglich, durch eine ausgetüftelte Konstruktion mit Zirkel und Lineal zu einem vorgegebenen Kreis ein Quadrat zu bilden, welches den gleichen Flächeninhalt wie der Kreis besitzt? Die Aufgabe ist jener von gerade eben sehr ähnlich, entpuppte sich aber als eines der größten mathematischen Rätsel aller Zeiten. Sie ging als die Frage nach der Quadratur des Kreises in die Geschichte ein und zieht sich wie ein roter Faden durch die mathematische Expedition, welche wir in diesem Buch unternehmen.

M

So wie in nebenstehendem Bild hatte sich Anaxagoras wohl das Ergebnis vorgestellt. Eine Lösung fand er nicht. Genau wie viele seiner Kollegen. Einer von ihnen war Hippokrates (das ist übrigens nicht der berühmte Arzt, der den hippokratischen Eid einführte). Er entdeckte bei seiner Suche immerhin eine schöne Anwendung des Satzes von Pythagoras. Geometrisch besagt dieser nämlich, dass die Summe der Flächen der Quadrate über den Katheten gleich der Fläche des Quadrats über der Hypotenuse ist, wie das Bild zeigt: Fc = Fa + Fb .

Fb Fa

Fc

Man kann den Satz verallgemeinern, denn er gilt aus Gründen der Ähnlichkeit auch für andere Figuren, zum Beispiel Halbkreise. Auch hier gilt die gleiche Summenformel. Zeichnet man also Halbkreise statt Quadrate über den Dreiecksseiten, so ist die Fläche des großen Halbkreises gleich der Summe der Flächen der beiden kleineren Halbkreise: Kc = Ka + Kb . Klappt man dann den großen Halbkreis nach oben, so entstehen die bekannten Möndchen des Hippokrates.

C Kb

Ka

A

B

Γ2 Γ1

Kc

Sie können sich leicht überlegen, dass deren Fläche zusammen gleich der Fläche des Dreiecks ist: Wenn Sie die beiden Kreissegmente Γ1 und Γ2 aus dem großen Halbkreis und aus beiden kleinen Halbkreisen entfernen, bleiben eben das Dreieck und die Möndchen übrig. Ist doch alles ganz einfach, oder? Nun ja, wieder sollten wir kurz verweilen. Ist diese Überlegung wirklich einwandfrei? Oder haben wir vielleicht etwas vorausgesetzt, das nicht so selbstverständlich ist? In der Tat, woher wissen wir, dass der umgeklappte große Halbkreis genau

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durch den Punkt C des Dreiecks verläuft? Eine echte Spitzfindigkeit! Hierzu ist es nötig, die Umkehrung des Satzes von Thales zu beweisen: Umkehrung des Satzes von Thales Bei einem im Punkt C rechtwinkligen Dreieck ABC liegt der Punkt C immer auf dem Thaleskreis um die Hypotenuse AB. Beachten Sie bitte, dass dies nicht der originäre Satz von Thales ist. Dieser garantiert nur einen rechten Winkel, wenn C auf dem Kreis liegt. Hier fragen wir nach der Umkehrung. Und diese Umkehrung ist – wer hätte es gedacht – eine Folge des Satzes von Pythagoras. Denn nehmen wir an, es gäbe einen solchen Ausreißer, also ein rechtwinkliges Dreieck, dessen Punkt C außerhalb des besagten Kreises liegt. Der Punkt C  sei dann der Schnittpunkt der Strecke AC mit dem Kreis. Das Dreieck ABC  ist nach Thales rechtwinklig, also erfüllt es auch den Satz von Pythagoras: c2 = a + b . 2

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C C b

a a

b

A

M

c

B

Die entsprechende Gleichung kann aber für das Dreieck ABC nicht gelten, da sowohl a > a als auch b > b ist. Die Gleichung müsste aber bestehen, denn wir haben ABC als rechtwinklig angenommen. Das ist ein Widerspruch und wir müssen unsere Annahme verwerfen. ABC ist also nicht rechtwinklig. Ganz genauso können Sie den Fall behandeln, in dem der Punkt C innerhalb des Kreises liegt. Fassen wir zusammen: Wenn immer der Punkt C nicht auf der Kreislinie liegt, dann ist das Dreieck ABC auch nicht rechtwinklig. Das ist die gewünschte Umkehrung des Satzes von Thales.  Hippokrates gelang es also, durch Kreislinien begrenzte Flächen zu konstruieren, welche geradlinig begrenzten Flächen gleich sind. Das war natürlich Wasser auf den Mühlen all derer, die nach einer Konstruktion für die Quadratur des Kreises suchten. Hippokrates und seine Zeitgenossen entdeckten noch weitere geometrische Fragestellungen, die sie nicht beantworten konnten. Eine davon war die Aufgabe, einen Würfel mit Zirkel und Lineal im Volumen zu verdoppeln. Eine andere richtete sich nach einem Verfahren, mit dem beliebige Winkel in drei gleich große Teilwinkel zerlegt werden. Diese Probleme, allen voran die große Frage nach der Quadratur des Kreises, werden auf unserer Entdeckungsreise die Richtung vorgeben. Sie bilden den roten Faden, an dem wir uns entlang bewegen, um dem Geheimnis transzendenter Zahlen näher zu kommen. Viel Vergnügen auf den Spuren der großen Mathematiker, schauen wir ihnen bei der Arbeit über die Schulter.

http://www.springer.com/978-3-8274-2274-3