Friedrich E. Löblich

oder

Das Geheimnis der Sehersteine

Inhaltsangabe: Katharina hat – seit sie an einem ungewöhnlich warmen Oktobertag von einem Blitz getroffen wurde, und den Blitzschlag überlebte – die Gabe, künftige Geschehnisse und Ereignisse zu sehen. Sie ist eine Mantikerin. Bei einer Vision, die sie am Grabe ihres Mannes hat, erkennt sie, dass sie gerufen wird, dass eine große Aufgabe vor ihr steht. Doch wem gehört die Stimme, die sie ruft und was hat ihr verstorbener Mann Harald mit der Comicautorin Marie-Charlotte Perrin zu tun? Was will dieser Marlott in seinen Artikeln ihr sagen? Und warum ist dieser Peter Schwarze mit seinem Hund Kochab an ihr interessiert? Geht es ihm nur um einen Auftrag? Welche Rolle spielt ihre beste Freundin Mira in dieser Sache? Was verbirgt sich hinter den Testversuchen und hinter den Fragen von Dr. Winterberg? Und was haben die Sammelkarten ihrer Kinder für ein Geheimnis? Kann Katharina mit Hilfe ihrer Visionen und mit ihren Fähigkeiten alles entwirren?

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Vorbemerkung: Die Organisation für parawissenschaftliche Forschungen und Untersuchungen, wie auch das Zitat aus dem Lehrbuch „Parawissenschaften“ (Prolog) und die Bezeichnung der mystischen Forschungsabteilung, die Forschungsarbeiten und Tests sowie sämtliche Dialoge und Handlungen sind vom Autor frei erfunden und fiktiv. Eventuelle Ähnlichkeiten mit Personen sind zufällig.

Man muß von dem Grundsatz ausgehen, dass Wissen und Glauben nicht dazu da sind, einander aufzuheben, sondern einander zu ergänzen. Johann Wolfgang von Goethe

... und so hielten sie Rat über das Geschehen der Welt, auf die sie blickten und beschlossen:  lasset die Menschenkinder gewähren, lenkt und leitet sie nur, wenn sie euch rufen  gebet ihnen Wissende, die sie führen, so sie es wollen  schützet die Wissenden, auf dass sie nicht missbrauchen ihre Gabe  lasset das Wissen weiter geben mit 5 mal 5 Steinen  helfet den Wissenden in der Not, auf dass sie sich finden an 5 mal 5 Orten so soll es sein für jetzt und alle Ewigkeit...

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Prolog

Auszug aus dem Lehrbuch „Parawissenschaften“ (4. überarbeitete Auflage, erschienen im OPFU-Verlag):

Meteorologische Erkenntnisse

Einflüsse

auf

9.. Kapitel parawissenschaftliche

„...viel gefährlicher als bisher vermutet, haben Blitzschläge unterschiedliche Auswirkungen. So sind nicht nur möglicher Herzstillstand und schwerste innere und äußere Verbrennungen bekannt; in einigen Studien wurden bei Blitzschlagopfern auch ungewöhnliche Spätfolgen beobachtet. Ströme von 10.000 bis 200.000 Ampere fließen bei einem Blitzschlag zwischen Wolken und dem Erdboden. Bei einer Entladung erfolgt dies immer auf dem Weg des geringsten elektrischen Widerstandes. Dabei bietet die elektrische Entladung in der Atmosphäre ein faszinierendes Schauspiel: die Blitze arbeiten sich gewöhnlich nicht auf geradem Weg durch die Luft, sie spalten sich zu sehr eindrucksvollen verästelten Gebilden. Die sogenannten Ladungskanäle der Blitze teilen sich immer an der Spitze und streben auseinander. Trifft die Entladung einen Menschen, so ist der Verlauf – wie die Tabelle a), S. 276 zeigt, nur sehr schwer vorherzusagen...Akute Folgen wie Herz- und Atemstillstand entstehen dabei, weil die extrem hohe Stromstärke die elektrische Kontrolle der lebenswichtigen Muskelkontraktionen des Herz- und Atemsystems durcheinander bringt .... Typische Verbrennungen sind ebenfalls bei den Opfern an der Ein- und Austrittsstelle des Blitzes zu erkennen, die oft noch sehr lange kosmetisch behandelt werden müssen. (Tabelle b), S. 277...Zu den bekanntesten Folgeschäden durch Blitzschlag zählen: chronische Schmerzen, Taubheitsgefühl an und um der Ein- und Austrittsstelle, ausgeprägte Wetterfühligkeit, beeinträchtigtes Erinnerungsvermögen aber auch Persönlichkeitsveränderungen. Letztere bilden Schwerpunktarbeit der analytischen Arbeit unserer Forschung.....“

Stefanie Reinhardt schlang ihre Schenkel fest um die Hüften des Mannes, der ächzend und schnaufend sich wieder und wieder in sie presste. Schweiß stand auf seiner Stirn und sein Gesicht glühte während er laut keuchte. Stefanie wandte ihren Kopf zur Seite und krallte ihre Fingernägel in seinen Rücken und in seinen Oberarm. Sie schmunzelte still vor sich hin, vergaß nicht, ab und zu ein Stöhnen von sich zu geben und wusste, dass es gleich vorbei sein würde. 3

Als er seine Hose zuknöpfte, musterte er sie verstohlen und schämte sich plötzlich. Doktor Heiko Schütte, 48 Jahre, über zwanzig Jahre verheiratet und Chefarzt der Fachabteilung mystische Verhaltensforschung der OPFU – er hatte sich für einen kurzen, schwachen Moment dieser jungen Ärztin im Praktikum hingegeben, die vom Alter her seine Tochter hätte sein können. Er war irritiert und konnte nicht begreifen, was ihm gerade passiert war, wie er sich so vergessen konnte. Stefanie wusste, was in ihm vorging und mit ihrer wohlklingenden warmen Stimme riss sie ihn aus seinen Grübeleien. „Ich habe Ihre Ausführungen der meteorologischen Einflüsse auf parawissenschaftliche Erkenntnisse gelesen und mir auch die Tabellen und Abbildungen dazu angesehen.“ Schütte hatte das Gefühl, als gieße jemand einen Eimer voll mit kaltem Wasser über ihn aus. Noch gerade eben hatte sie ihn nach allen Regeln der Kunst verführt. Er hatte mit dieser jungen Praktikantin auf seinem Schreibtisch Sex gehabt, ohne Gedanken an seine Arbeit, seine Karriere, seine Frau – fast triebgesteuert – musste er für sich erschrocken feststellen und im nächsten Moment redet sie von seinen Forschungsarbeiten! Er verstand das nicht, doch ehe er darüber weiter nachdenken konnte, klopfte es an der Tür und Angela, seine Assistentin trat ein. Schütte bekam Gänsehaut und seine Ohren glühten: Angela hätte auch wenige Minuten früher kommen können! Angela, seit vielen Jahren arbeitete sie mit ihm schon zusammen, kannte seine Frau, die Kinder – war für ihn gute Kollegin und Freundin – sie blieb in der offenen Tür stehen. Mit weiblichem Instinkt erfasste sie die Situation und warf der Praktikantin einen vielsagenden Blick zu. Stefanie musterte die Ältere mit sichtbarer Abneigung. Sie saß neben Schüttes Schreibtisch und hatte die Beine lässig übereinander geschlagen. Ihr Kittel ließ viel von ihren schön geformten schlanken Beinen sehen. Dass sie unter ihrem Kittel nichts trug, wusste nur sie selbst und Heiko Schütte; Angela vermutete es jedoch. Ein Räuspern von Schütte brach die Stille und mit kratziger Stimme fragte er: „Was gibt es?“ Seine Assistentin hatte ein bedrucktes Blatt Papier in der Hand. In ihr kämpften Gefühle von Wut und Hass auf die neue Praktikantin aber auch von Enttäuschung darüber, dass sie sich scheinbar in Heiko, der schon so lange ihr Chef und guter Freund war, getäuscht hatte. Sie ging langsam auf Schütte zu und reichte ihm stumm den Zettel. Ein dicker Kloß war in ihrem Hals und sie konnte nichts sagen. Heiko Schütte nahm den Zettel und vermied es, Angela anzusehen. „Was ist das?“, fragte er, erwartete allerdings keine Antwort. Leise, fast tonlos, sagte Angela endlich: „Ein Fax von Dr. Winterberg. Es geht um eine Blitzschlagpatientin in Paulsbergen.“ Rasch stand Stefanie auf, stellte sich ganz selbstverständlich hinter den Chefarzt und las über seine Schulter hinweg mit. Angela kochte vor Wut. Stefanies Augen leuchteten wissend auf und sie drückte ihren Körper scheinbar zufällig an Schütte. Er konnte ihre straffen Brüste spüren und ein heißes Kribbeln durchströmte ihn, während Stefanie ausrief: „Doktor Schütte, fahren Sie nach Paulsbergen? Nehmen Sie mich bitte mit!“

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Heiko Schütte starrte noch immer auf den Zettel und nickte stumm. Dann ging es wie ein Ruck durch ihn und mit seiner gewohnt klaren Stimme sagte er zu Angela: „Verbinde mich mit Winterberg.“ Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und seine Assistentin ging mit seltsamer Miene steif aus dem Büro. Eine Woche später machte die junge Ärztin im Praktikum Stefanie Reinhardt im Bungalow Nummer 3 im Rehabilitationszentrum Paulsbergen, auf einem breiten Doppelbett sitzend, Aktennotizen. Nachdem Dr. Heiko Schütte diese Notizen gelesen hatte wurden sie an das Bundesgesundheitsamt geschickt: Interne Aktenaufzeichnungen der OPFU – Organisation für parawissenschaftliche Forschungen und Untersuchungen, Fachabteilung: mystische Verhaltensforschung zur Information an das Bundesgesundheitsamt – Zuständigkeitsbereich: Forschungsarbeiten

1. Aktennotiz -

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Dr. Jürgen Winterfeld hat nach der Aufnahmeuntersuchung der Patientin Katharina Kah, die These geäußert, dass o.g. Patientin nach Unfall (Blitzeinschlag, siehe Unfallbericht, Anlage 1) über Fähigkeiten verfügt, die als Mantik (Wahrsagen, Visionen, Sehen) bezeichnet werden Testuntersuchungen werden ausgebaut und fortgesetzt Patientin wird z.Z. im Rehabilitationszentrum Paulsbergen weiter beobachtet bei Bestätigung der These – sofort Vorkehrungen für weitere Kontrolle und Tests der Patientin entsprechend Arbeitsblatt IX./84, Absatz 3 a – c treffen

2. Aktennotiz -

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346 / KK 10-04

346 / KK 10-04

umgehende Bildung Arbeitsstab und Analyse der Testergebnisse Informationen von Dr. Winterberg ergeben, Patientin gibt klare und detaillierte Angaben über zu erwartende Ereignisse und Geschehnisse bis 2000; allerdings Probleme mit Kurzzeitgedächtnis Dr. Winterberg als leitender Arzt der Abteilung Verhaltensforschung und persönlicher Betreuer im Rehabilitationszentrum Paulsbergen für Probandin berufen es ist eine Vertraute bzw. Betreuerin festzulegen (AO 16c/4d) und ins persönliche Umfeld der Probandin bringen

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3. Aktennotiz -

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346 / KK 10-04

Dr. Winterberg hat der Kommission als unmittelbare Kontaktperson für Probandin Schweiger, Mira – Dossier als Anlage 1 vorgeschlagen Schweiger verfügt über entsprechende medizinische Ausbildung, ausreichende psychologische Kenntnisse und arbeitet im Bereich Verhaltensforschung (mystische) unter Dr. Winterberg Schweiger erhält keine tieferen Details zur Forschungsarbeit an Probandin, wird Dr. Winterberg jedoch über Probandin regelmäßig Bericht erstatten Kommission wird Schweigers Arbeit kontrollieren und gegebenenfalls weiter ausbauen Dr. Winterberg äußert Vermutung, dass Probandin bereits vor Blitzeinschlag über hellseherische Kenntnisse verfügt hat; weitere Test und Studien erfolgen

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12 Jahre später

1 „...Die seltenen Gaben, die Sie von Geburt an besitzen, können verkümmern, wenn wir sie nicht durch sorgfältige Anleitung fördern und hegen würden. Die uralten Fähigkeiten, die der Gemeinschaft der Zauberer vorbehalten sind, müssen von Generation zu Generation weitergegeben werden, wenn wir sie nicht für immer verlieren wollen...“ („Harry Potter und der Orden des Phönix“, Joanne K. Rowling, Carlsen Verlag GmbH Hamburg, 2003)

Regentropfen trommelten an die Fensterscheiben und trüb und düster war dieser Tag, kurz vor Weihnachten. Obwohl es noch früh am Nachmittag war, sah es aus, als wäre es schon sehr viel später. Der Mann stand am Fenster und blickte auf die leere Straße hinaus. Hinter sich im Zimmer stand ein Mädchen und sah ihn fragend an. Die Frage, die sie ihm gestellt hatte und die wie ein Vorwurf klang, hatte er gehört, wusste jedoch nicht, was er ihr antworten sollte. Er spürte ihren bohrenden Blick auf sich gerichtet. Langsam drehte er sich zu dem Mädchen um, nahm seine Hände aus den Hosentaschen und hielt sie ihr entgegen. Aber das Mädchen reagierte nicht auf diese einladende Geste und blieb, wo es war stehen. Trotz begann sich in ihren erwartungsvollen Blick zu legen. Wie sie so vor ihm stand, erinnerte sie ihn sehr an ihre Mutter. Ihr langes Haar trug sie offen. Es reichte ihr bis weit über die Schultern. Eine Strähne fiel ihr immer wieder über das rechte Auge. Vergeblich versuchte sie wieder und wieder diese nach hinten zu streichen. Das Mädchen, ein hochgewachsener, schlaksiger Teenager, mit schon zaghaften fraulichen Rundungen, biss sich auf die Lippen und es schien, als kaue sie darauf herum. „Valentine, ich weiß es doch auch nicht“, sagte der Mann leise und ging auf das Mädchen zu. „Du weißt, dass sie sich jetzt nicht losreißen kann. Du kennst sie doch.“ „Ihr habt es aber versprochen“, kam darauf die bockige Antwort und es schien, als würde sie gleich mit dem Fuß aufstampfen. „Ich weiß. Ich weiß es doch, Schätzchen“, sagte der Mann und beugte sich zu ihr, nahm mit beiden Händen ihr Gesicht und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Als wäre etwas von ihrem Trotz und ihrem Zorn gebrochen, schlang Valentine die Arme um den Mann und Tränen liefen über ihre Wangen. Sie konnte sie jetzt nicht mehr zurück halten. Er fuhr ihr liebevoll mit der Hand über den Rücken, drückte sie an sich und versuchte zu trösten: „Sieh mal Valentine, bei diesem Wetter wäre es doch sowieso nichts geworden. Wir können doch auch morgen noch gehen.“ „Immer sagt ihr morgen“, schluchzte sie und wieder spürte er den aufsteigenden Trotz, die Enttäuschung des Mädchens und hörte auch Wut heraus. Hilflos sah er zur Tür, als würde er hoffen, dass irgendetwas ihn aus dieser Situation erlösen würde. Er streichelte weiter über den Kopf und den Rücken des Mädchens und spürte, dass sie sich langsam beruhigte. „Ich geh mal zu ihr, ja?“, sagte er und schob das Mädchen behutsam von sich weg. Ohne weiter etwas zu sagen oder noch einmal zu ihr zu sehen, lief er zur Tür, öffnete sie entschlossen und wollte aus dem Zimmer gehen. 7

„Warte“, schrie das Kind ihm nach, „geh nicht. Es macht sie traurig.“ „Uns aber auch, Valentine“, sagte er und blickte sie über die Schulter an. Dann war er aus dem Zimmer und die Tür ging leise zu. Erschrocken blickte das Mädchen auf die Tür und ein Gefühl der Scham überkam es. Sie wusste, dass sie die Mutter nicht stören sollte. Und sie fühlte sich nun, wie sie so allein im Zimmer stand, plötzlich sehr hilflos. Ein Gefühl der Angst machte sich in ihr breit, eine Angst, die sie nicht verstand, die sie nicht einordnen konnte. Oder war es Sorge? Sorge um die Mutter? Valentine wusste es nicht. Der Mann blieb stehen, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte und lehnte sich mit der Stirn an den Türrahmen. Er schloss die Augen. Dabei ballte sich seine rechte Hand zur Faust und er atmete tief durch. Langsam öffnete er seine Hand wieder und auch die Augen. Holte noch einmal tief Luft und ging dann mit festen Schritten über den kleinen Flur zur gegenüberliegenden Treppe. Stieg die mit dickem Läuferstoff bespannten Stufen, die leise knarrten, hoch in die erste Etage. Oben angekommen blieb seine Hand einen Moment lang auf dem Geländerknauf liegen. Dann überquerte er den Flur und stand vor ihrer Tür. Leise betrat er das Zimmer. Sie saß an ihrem wuchtigen altmodischen dunklen Schreibtisch, umgeben von verschiedenen Stapeln beschriebener Papiere und Zetteln in scheinbar ungeordneten Haufen und Stößen. Manches waren handgeschriebene Seiten, andere waren computergeschrieben. Außerdem lagen noch verschieden farbige Mappen auf dem Tisch. Diese waren mit Klebezettel - ebenfalls in verschiedenen bunten Farben - versehen. Dieses scheinbar wahllose Durcheinander von Unterlagen herrschte nicht nur auf dem Schreibtisch, sondern auch auf dem Fußboden. Überall lagen zwischen den Mappen und Papierstapeln größere und kleinere Fotos. Diese waren ebenfalls mit Klebezetteln versehen, auf denen Zahlen und Notizen gekritzelt waren. Der Mann erkannte ihre enge und gleichmäßige Schrift auf einigen Zetteln vor seinen Füßen. Die Frau saß aufrecht hinter dem Schreibtisch und balancierte mit zwei Fingern der rechten Hand einen Stift, vor sich ein beschriebenes Blatt, mit vielen Streichungen, Anmerkungen und Randnotizen. Die linke Hand lag auf einer blauen Mappe, die größer und praller als die anderen schien. Hinter ihr, neben dem Fenster, konnte er den dunklen Monitor ihres Computers sehen. „Liegen lassen“, rief sie und sah den Mann liebevoll an. Er hielt in seiner Bewegung, die vor sich liegenden Papiere aufzuheben, inne. Dann richtete er sich wieder auf. Ernst sah er kurz zu ihr hinüber und stieg mit bedächtigen Schritten über die zerstreut liegenden Unterlagen hinweg. Konzentriert hielt er die Augen auf den Boden vor sich gerichtet und versuchte bis neben den Schreibtisch zu gehen, wo ein großer, wuchtiger Lehnstuhl stand. Als er sich darauf niederließ knarrte das alte Stück. Er liebte diesen Stuhl. Sie beide hatten ihn vor ein paar Jahren auf einem Trödelmarkt gefunden. Liebevoll hatte er ihn in vielen Stunden auseinander gebaut und geschraubt. Entfernte die alte Farbe, die irgendwann einmal jemand über die schöne alte Holzmaserung gestrichen hatte. Mit Hilfe eines Freundes hatte er das zum Teil wurmstichige Holz erneuert und den Stuhl restauriert. Gemeinsam haben sie beide dann den Polsterstoff ausgesucht und den Sitz neu bezogen. Die steife hohe Rückenlehne lud nicht unbedingt zum bequemen Sitzen ein, aber er liebte das alte Stück. Und seit dieser in seiner neuen Pracht erstrahlte, 8

hatte er seinen festen Platz in ihrem Arbeitszimmer. Darüber, dass sie ihn als „seinen“ Stuhl in ihrem Reich bezeichnete, freute er sich und irgendwie war der Stuhl - sein Stuhl - ihr in ihrem Arbeitszimmer wichtig: denn lagen auch noch so viele Zettel, Fotos, Bilder, Mappen und Bögen Papier umher, er blieb stets frei für ihn. Als er saß, fiel sein Blick auf den Bogen Papier, der vor ihr lag. Sie hatte auf dem oberen rechten Rand eine kleine Skizze gemacht. Von seinem Platz aus konnte er jedoch nicht erkennen, was es war. Aber er wusste, dass sie manchmal, um sich zu konzentrieren, Fratzen und Strichfiguren malte; aber auch in Skizzen festhielt, was sie dann auf bunten Seiten in lustige Bildergeschichten umsetzte und mit Sprechblasen oder Texten unter den Bildern versah. Er wusste auch, dass diese Skizzen ihr sehr wichtig waren und dass diese scheinbare Unordnung, dieses Durcheinander von Fotos, Zetteln und Papieren eine ganz feste Ordnung, ein System hatte. Er verstand dieses System nicht und wollte es auch nicht verstehen. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit, wie es ihn immer beschlich, wenn er sie hier zwischen all dem sah. Nicht das dieses Gefühl etwas mit dem Raum zu tun hatte. Ganz im Gegenteil: trotz des grauen und trüben Tages, wirkte das Zimmer hell und gemütlich. Und auch der klobige Schreibtisch wirkte nicht bedrohlich auf ihn. Mehr der Gedanke an das, was sich überall hier stapelte und türmte. Was in Kartons und Regalen schon abgeheftet und abgelegt war – Tausende von Zetteln, Seiten, Notizen, unzählige Fotoaufnahmen, die Dinge dokumentierten, die ihm unheimlich waren. Er sah die Frau an. Ihre Augen waren, nun da er saß, auf gleicher Höhe. „Entschuldige bitte,“ sagte sie „ist sie sehr enttäuscht?“ „Das kannst du dir ja wohl denken“, sagte er leise und senkte seinen Blick. „Wir sind alle drei enttäuscht. Ich habe nur gelernt, es besser zu verbergen. Philipp versteht es noch nicht, aber Valentine ist bitter, bitter enttäuscht und traurig.“ Er hob seinen Blick und sah sie fest an. „Marie, es kann so nicht mehr weiter gehen.“ Er hob seine Hand und winkte ab, als sie anhob etwas zu sagen. „Lass mich bitte ausreden. Ich habe die ganze Zeit über nichts gesagt, sondern versucht, dich zu verstehen und dir zu helfen. Ich habe dir den Rücken frei gehalten und zu dir gestanden, so gut ich konnte. Aber jetzt kommen mir immer mehr Zweifel. Marie, Dich versteht keiner! Vielleicht gibt es die, auf die du so sehr wartest, nicht mehr und Du bist von ihnen nur noch als Einzige da und hier. Aber vielleicht bist Du auch nur die Einzige, die daran glaubt, eine davon zu sein? Verstehst du? Bitte überlege doch einmal: all die vielen Jahre, all Deine viele Mühe und Arbeit und nie, nie hast du die Antwort, die Nachricht bekommen, auf die du so sehr wartest, auf die du so sehr gehofft hast! Wach endlich auf Marie, es gibt keine mehr und es liegt nicht an dir, die Welt zu retten, denn allein kannst du es nicht.“ „Ich bin nicht allein“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihm. Dabei fuhr sie mit der Hand über einen kleinen Stein, der neben einem gerahmten Foto lag. „Ach, die –“, er stieß hörbar Luft aus und winkte ab, „Du hast seit fast zwei Jahren nichts mehr von ihnen gehört, Marie – fast zwei Jahre nichts!“ „Es gibt Dinge, die brauchen ihre Zeit, Serge, Dinge, die für –“ „Hör doch auf! Du lebst doch nur noch in dieser, in deiner Welt! Wach auf, hier gibt es noch eine Welt, nämlich die Kinder und mich. Wir brauchen dich, Marie! Wir wollen mit dir leben und nicht neben dir!“

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Seine Stimme war immer lauter und heftiger geworden, obwohl er sich bemühte, sie ruhig zu halten. Eine Pause des Schweigens trat ein. Sie sah ihn mit großen Augen an und ahnte, dass er das schon lange hatte sagen wollen. Serge spürte, dass seine Hände zitterten und legte sie auf seine Knie, um das Zittern abzustellen. Eigentlich wollte er jetzt gleich aufstehen und das Zimmer verlassen, doch er konnte nicht. Er wusste, dass sie nun von ihm enttäuscht war. Und er wollte ihr noch so vieles sagen, doch er konnte nicht. Mit einem müden Blick sah Serge seine Frau nur an und fühlte sich kraftlos und leer. Langsam legte sich ein verständnisvolles Lächeln auf ihr Gesicht. Bedächtig legte sie den Stift beiseite. Dann streckte sie ihre Hand über den Schreibtisch aus, ihm entgegen. Dabei musste sie sich leicht vorbeugen. Langsam und zögernd legte er seine immer noch zitternde Hand in die ihre hinein. „Ich muss es wieder und wieder versuchen, Schatz. Es gibt sie, ich weiß es. Vielleicht verstehen sie mich nicht. Vielleicht wissen sie noch nichts von mir. Vielleicht bin ich ihnen viel näher als sie ahnen, als sie wissen. Und sieh mal“, dabei nickte sie auf den großen Pappkarton, der auf dem Fußboden am Fenster stand und ebenfalls voller Zettel und Papier war. „All die Briefe, die ich bekomme, ich muss sie lesen, vielleicht ist dort schon irgendwo eine Nachricht, die richtige Nachricht dabei.“ „Marie,“ stöhnte er auf, „wie viele Briefe davon habe ich schon mit dir durchgelesen, nur um zu lesen, dass sich Menschen bei dir bedanken oder dir wegen deine Arbeit Vorwürfe machen, dich kritisieren, dich anklagen. Nein, glaub mir, du wartest vergebens und vergisst dabei die Menschen, die dir am nächsten sind.“ „Ich vergesse euch nicht, Serge“, sagte die Frau, „Du weißt doch selbst: - die Hoffnung stirbt zuletzt! Und ich glaube, nein ich weiß es: es gibt fünf mal fünf! Es gibt sie, glaube mir.“ Mit diesen Worten ließ sie seine Hand los, stand auf und steckte den Zettel, der vor ihr lag, mit energischer Bewegung in die blaue Mappe. „Gut“, sie ging um den Schreibtisch herum auf ihn zu, hielt ihm die Hand hin und sagte: „für heute höre ich auf, ich komme jetzt sowieso nicht so richtig voran, zu viel schwirrt in meinem Kopf herum. Komm lass uns gehen. Auch wenn es kein schönes Wetter ist, Du hast recht, ich habe es versprochen.“ Und vorsichtig gingen sie über die ausliegenden Zettel und Mappen zur Tür. Marie löschte das Licht und zog die Tür hinter ihnen zu. Dann drehte sie den Schlüssel im Schloss herum, zog ihn ab und steckte ihn in ihre Hosentasche. „Aber Marie“, entfuhr es dem Mann „hast du kein Vertrauen zu uns? Warum schließt du ab? Du weißt, dass wir es niemals wagen würden, dein Reich durcheinander zu bringen“, er lächelte sie an und seine Worte sollten scherzhaft klingen, und doch war ein leichter Vorwurf darin. Marie ging auf den scherzhaften Tonfall ein und antwortete: “Ich weiß das Serge, aber ich fühle mich so wohler, sicherer.“ In einem sehr ernsten Ton fuhr sie leise fort: „Es ist zu eurer, zu unserer Sicherheit, glaub mir, ich weiß es.“ Beide sahen sich schweigend an. „Aber du sagst doch immer, dass du wartest; dass es Menschen gibt, die dich verstehen, die wirklich wissen. Warum bist du dann um Sicherheit besorgt? Ich verstehe das nicht, Marie.“ „Serge, wir haben darüber oft genug gesprochen“, sagte sie ernst. „Es gibt die, auf die ich warte und es gibt die, die ich fürchte. Auf die einen warte ich und versuche sie wieder und wieder zu rufen, auf meine Art. Vor den anderen will ich mich und euch schützen und gleichzeitig warnen. Es tut mir ja selbst so Leid, dass ich nicht 10

verstanden werde, dass sie mich nicht verstehen. Könnten wir es für jetzt bitte dabei belassen? Bitte.“ Sie sah ihn an, mit diesem Blick, der ihm Angst machte. Dann drehte sie sich um, lief zur Treppe, eilte die Stufen hinunter und ging rasch in das Zimmer, wo das Mädchen auf sie wartete. Zögernd ging der Mann ihr hinterher. Er zweifelte mehr und mehr an dem, woran sie so fest glaubte, wofür sie – wie es ihm schien – die letzten Jahre nur noch gelebt und gearbeitet hatte. Er wünschte, sie würde Recht haben, aber ihn plagten immer mehr Zweifel. Und doch bewunderte er ihre Zielstrebigkeit und er wusste auch, er würde ihr immer helfen, immer zu ihr stehen. „Valentine“, rief Marie mit fröhlicher Stimme dem Mädchen zu, „komm, auch wenn es kein schönes Wetter ist – versprochen ist versprochen!“ Der Mann hörte, wie Valentine aufjauchzte und sah, als er in das Zimmer trat, wie sich das Mädchen in die Arme ihrer Mutter warf. Wieder stellte er fest, dass das Mädchen ihrer Mutter immer ähnlicher wurde. Besonders jetzt, wo sie beide vor ihm standen. Oft hatte er das Gefühl, Mutter und Tochter verstanden sich auch ohne Worte, nur durch Blicke. Dann kam er sich seltsam ausgegrenzt vor. Er wusste aber, dass Marie traurig gewesen wäre, hätte er ihr davon erzählt, denn sie wollte nie, dass er solche Gefühle hatte. Als ahnte sie, was in ihm vorging, wandte Marie ihm ihren Kopf zu, sah ihn an und lächelte. “Lasst uns Philipp holen und dann losgehen“, rief sie. Serge wusste, dass sie sich liebend gern wieder hinter ihrem Schreibtisch verkriechen würde. Er war dankbar, dass sie nun doch den versprochenen Ausflug mit den Kindern einhielt. Zu oft schon hatte sie Nachmittage, Abende und auch Nächte über ihren unzähligen Papieren verbracht. Vielleicht machte sich in ihr doch langsam die Erkenntnis breit, dass es niemanden gab, der ihre Informationen verstand. Aber als er das dachte, bezweifelte er es gleich wieder. Marie war viel zu sehr davon überzeugt. Sonst hätte sie nie die Kraft in all den Jahren gehabt. Marie-Charlotte Perrin ließ ihre Tochter aus ihrer Umarmung los und drehte sich ihrem Mann zu, ohne zu ahnen, dass genau in diesem Moment Hunderte von Kilometern von ihr entfernt, eine Frau auf einem Friedhof an einem kalten Grabstein lehnte, ein Gebinde aus Blumen und immergrünen Zweigen in den zitternden Händen hielt und vor sich mosaikgleiche Bilder sah und eine Stimme Wortfetzen rufen hörte. Es zitterten nicht nur die Hände der Frau, sondern ihr ganzer Körper schien zu beben. Die Bilder in ihrem Kopf wurden immer bunter und greller und drehten und bewegten sich wie Kreisel. Die Frau glaubte der Kopf würde ihr platzen und wieder und wieder hörte sie eine Stimme ihren Namen rufen. Das Gebinde fiel zu Boden und sie schlug beide Hände vor das heiße Gesicht. Dabei spürte sie ein Hämmern in der Narbe auf ihrer Stirn. Plötzlich verstummte die Stimme, die Bilder waren verschwunden. Langsam nahm sie die Hände von ihrem Gesicht und sah auf das Blumengebinde zu ihren Füßen. Noch immer zitternd, beugte sie sich danach und hob es auf. Mit großen Augen starrte sie auf die Inschrift des Grabsteines und flüsterte leise: „Was soll ich tun? Was willst Du mir sagen?“ Tränen liefen dieser Frau auf dem Friedhof in Paulsbergen, einer kleinen Stadt in Deutschland, über die Wangen, während Marie und Serge mit ihren Kindern Valentine und Philipp, dick eingemummelt in warme Jacken und Mäntel und mit 11

Regenschirmen ausgestattet in den ungemütlichen Nachmittag in Muzillac - einer kleinen Stadt in Frankreich - hinaustraten. Sie spürte noch immer den kalten Schweiß auf ihrer Stirn und das Hämmern und Tuckern ihrer Narbe. Sie starrte auf die Inschrift des Grabsteines und sah doch nichts. In ihrem Kopf schwirrte und summte es. Ihr Herz raste und sie glaubte keine Luft mehr zu bekommen, glaubte ersticken zu müssen! Der Druck und das Pochen der Narbe schienen ihr den Kopf sprengen zu wollen und sie drückte den Handballen fest auf die schweißverklebte Stirn. Ruhig bleiben mahnte sie sich, ruhig bleiben und atmen, ganz tief durchatmen. Endlich ließ der Schmerz nach. Sie rieb massierend über ihre Stirn. Dabei spürte sie, wie sich der Schmerz mehr und mehr in ihrer Hand auszubreiten begann. Sie nahm sie von der Stirn und sah in ihre Handfläche, in der es jetzt heftig pochte und hämmerte. Mit der linken Hand strich sie über die Handfläche der Rechten und murmelte leise vor sich hin. Langsam ließ nun auch dieser Schmerz nach. Sie versuchte ihre Gedanken und vor allem diese Bilder in ihrem Kopf zu ordnen. Wieder und wieder hörte sie die Stimme – wie von weit her – ihren Namen rufen. Und langsam fügten sich die Wortfetzen zu einem Satz zusammen: Hör den Ruf der Wächter! Es wird geschehen, wie seit Menschenzeit jeher – Böses wird den Horizont verdunkeln und das zarte Licht der Zukunft blenden und nur die vereinte Kraft der Elemente kann die Dunkelheit bannen. Die Wächter rufen dich! Die Frau schüttelte sich, als würde sie etwas von sich abschütteln wollen. Sie begriff diese Worte nicht. Was soll das bedeuten und wer rief sie? Zu wem gehörte diese Stimme, die wieder und wieder ihren Namen rief: Katharina! Gedankenversunken stand Katharina Aigner nun schon eine ganze Weile am Grabe ihres Mannes. Sie fröstelte und schlug den Mantelkragen hoch, dann sah sie noch einmal kurz auf den Grabstein und wandte sich langsam um. Zögernd ging sie die Grabreihe entlang, bog auf den Hauptweg und schritt nun schneller und energischer aus. Als sie das große schmiedeeiserne Tor langsam hinter sich ins Schloss zog, traf ihr Blick die dunklen Augen eines Mannes, der neben dem Eingang zum Friedhof stand, als würde er auf jemanden warten. Katharina glaubte, dass er ihr kurz zunickte, senkte den Blick und machte sich auf den Heimweg, ohne zu ahnen, dass sie diesem Mann schon wenige Tage später wieder begegnen würde. Wie immer, wenn Katharina Visionen hatte, versuchte sie diese oft verwirrenden Bilder zu interpretieren, zu deuten. Es gab Bilder, die sah Katharina und vergaß sie rasch wieder und es gab Bilder, wie diese, auf dem Friedhof, die ließen sie nicht los: die geisterten ihr ständig innerlich 12

vor Augen. Oft hatte sie Tage später eine Art „Fortsetzung“, die dann den grauen Nebel mehr und mehr lichtete, bis Katharina Dinge klar und deutlich erkannte, die noch in weiter Zukunft lagen. Katharina Aigner, geborene Kah, war eine Mantikerin! Sie hatte - seit sie an einem ungewöhnlich warmen Oktobertag von einem Blitz getroffen wurde – die Gabe, künftige Geschehnisse zu sehen. Katharina war in der Lage, Ereignisse und Zusammenhänge vorauszusehen, die der menschlichen Erkenntnis teilweise verschlossen bleiben. Diese Gabe der Mantik war für Katharina anfangs ein Alptraum. Im Laufe der Jahre und mit Hilfe medizinischer Betreuung, hatte sie gelernt, sich vor einigen Bildern zu verschließen, sie nicht an sich heran kommen zu lassen, sich vor ihnen zu schützen. Katharina hatte die Fähigkeit der Mantik angenommen und ihr Leben damit eingerichtet und gestaltet. Doch es gab immer wieder Momente, da konnte sie sich vor Visionen nicht verschließen. So auch dieses Mal, als sie am Grab ihres verstorbenen Mannes, von Bildern, die auf sie hereinzustürzen schienen, fast erdrückt, überwältigt wurde und die sie doch nicht verstehen, nicht deuten, nicht für sich anzunehmen vermochte. Katharina spürte, dass diese Vision anders war. Anders als fast alles was sie bisher gesehen hatte. Diese Vision betraf sie selbst! Katharina wusste, dass schon Seher und Mantiker vor ihr die Zukunft – ob räumlich oder zeitlich – vieler anderer Menschen, Ereignisse und Geschehnisse zu deuten wussten. Aber, dass das eigene Schicksal für Seher und Mantiker wie unter einem dunklen Mantel verborgen blieb. Wenn man seine eigene Zukunft sieht, ist das sicher kein besonders gutes Omen, grübelte Katharina, die am offenen Fenster stand und die klare und kalte Dezemberluft tief einatmete. Wieder massierte sie mit den Fingerspitzen die Narbe auf ihrer Stirn und versuchte den grauen Nebel der Bilder, die sie vor zwei Tagen auf dem Friedhof gesehen hatte, zu durchdringen, zu verstehen. Was will Harald ihr sagen? Will er ihr überhaupt etwas sagen? Und diese Frau? Katharina seufzte und schloss nach einigen Minuten das Fenster, drehte sich um und blickte zur Uhr. Sie musste sich langsam fertig machen, um pünktlich zu sein. Auf dem kleinen Tisch lag aufgeschlagen die Zeitschrift, in der sie bis eben noch gelesen hatte. Die letzten Zeilen des Artikels sah sie wieder und wieder vor sich. Diese Zeilen und ihre Vision stehen in irgendeinem Zusammenhang! Katharina spürte das. Sie konnte aber einfach keine Verbindung erkennen. Neben der Zeitschrift stapelten sich noch andere Illustrierte, aus denen kleine Notizzettel ragten. Daneben lag aufgeschlagen ein dickes Buch. Es war bunt illustriert und erst beim zweiten Blick sah man, dass es gar kein richtiges Buch war, sondern gebundene Zeitschriften. Entschlossen ging sie zu dem Tisch, nahm ein Blatt Papier und einen Stift und kritzelte hastig etwas darauf. Legte den Stift zur Seite und überflog noch einmal ihre Notizen. Harald war kurz vor seinem Tod „an einer großen Sache dran“, wie er es nannte. Katharina sah auf die Zeitschriften neben dem Blatt Papier, dann ging ihr Blick langsam zu dem aufgeschlagenen Zeitschriftenbuch. Sie schloss es langsam und starrte auf den fettgedruckten Titel: „LA GLOBALE – 3-jährige Gesamtausgabe“ 13

Sie schüttelte den Kopf, nahm das eben beschriebene Blatt und legte es in die aufgeschlagene Seite, bevor sie die Zeitschrift langsam schloss und auf den Stapel zu den anderen legte, neben das dicke Zeitschriftenbuch. Gedanken versunken stand sie noch einen Moment da, starrte auf den Stapel und das Buch, dann drehte sie sich rasch um. Alles, was sie jetzt bewegte, was sie dachte und fühlte, musste sie jetzt abstellen. Sie benötigte ihre ganze Konzentration auf das, was sie gleich tun musste! Mit festen Schritten ging sie durch das Zimmer. Auf dem Stuhl neben der Tür stand eine Klappbox, wie man sie zum Einkaufen benutzt. Diese war vollgepackt mit verschiedenen Gefäßen, Dosen und Schachteln. An der Seite war eine braune Ledertasche, deren Verschluss nicht zuging, weil sie voller Hefter, Karteikarten und loser beschriebener Blätter war. Katharina nahm die Klappbox mit beiden Händen, kickte mit der Fußspitze die angelehnte Tür auf und ging in den Flur. Hier stellte sie die Box ab, nahm ihre Jacke vom Garderobenhaken und lief über den Flur in das Wohnzimmer, wo zwei Jungen in Sesseln lümmelten und zum Fernseher starrten. Sie sah kurz zu dem Geflimmer auf dem Bildschirm, dann zu ihren Söhnen und rief ihnen zu: „Ich muss los, seid lieb“. „und streitet euch nicht“, kam es im Chor zurück. Sie blickten ihre Mutter an und grienten. Katharina winkte den beiden kurz zu, drehte sich um und wollte gehen. „Mutti“, sie sah zu dem Jungen, der sie angesprochen hatte und hielt im Schritt inne. Der Junge hob eine Hand und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, zog es zur Stirn hin und sah dabei seine Mutter an. Diese verstand die Geste des Jungen, nickte und ging zum Garderobenspiegel im Flur. Hier sah sie kurz ihr Spiegelbild an, und zupfte sich mit den Händen das Haar in die Stirn, um die Narbe die darauf war, zu verdecken. „Also, dann tschüs ihr Zwei!“ rief sie zur angelehnten Wohnzimmertür, nahm ihre Tasche über die Schulter, hob die Klappbox auf und ging. Als die Jungen die Korridortür ins Schloss fallen hörten, machten sie den Fernseher aus und zogen unter dem Tisch einen Karton hervor. Einer von beiden hockte sich auf den Fußboden und öffnete den Deckel. „Sei vorsichtig,“ flüsterte der andere und beugte sich zu seinem Bruder und sie starrten gebannt in den Karton. Beide Jungen glichen einander wie ein Ei dem anderen. Eine friedliche Eintracht lag zwischen ihnen, die es bei Kindern immer dann gibt, wenn sie etwas Heimliches oder Verbotenes tun. „Pack es aus“, wies der eine seinen Bruder an. „Mach du doch“, kam es zögernd und fasziniert starrte Sebastian, der Jüngere der Zwillinge, weiter in den Karton, „aber pass auf, dass du es nicht zerreißt.“ Florian, mit drei Minuten Vorsprung der Ältere von ihnen, griff mit beiden Händen in den Karton und zog ein seltsam zusammengelegtes Blatt Papier heraus. „Wow“, flüsterte Sebastian und half vorsichtig seinem Bruder den großen Bogen auseinander zu falten. „Mensch pass auf“, knurrte Florian, „lass lieber los, da ist noch gefaltet.“ Dann hatten sie es geschafft und vor ihnen lag fast Quadratmeter groß, ein ausgebreiteter Bogen Papier mit eigenartigen Symbolen und Zeichen. Auf den ersten Blick wirkten die Symbole und Zeichen wie eine Karte. Eine Karte in einem Labyrinth, um dessen Wege und Gänge sich seltsame Figuren und Abbildungen rankten. Mit großen Augen beugten sich die Jungen darüber und sahen die einzelnen Zeichen und Figuren langsam und prüfend an. 14

„Ein paar davon habe ich“, flüsterte Florian „wir sollten unsere jetzt zusammenlegen und vergleichen.“ „Alles klar“, antwortete Sebastian „ich hole meine.“ Damit stand er auf und ging nach nebenan in sein Zimmer. Aus einem Regal neben dem Bett nahm er schnell einen Papierstapel, der wie ein Kartenspiel wirkte. Damit ging er zurück ins Wohnzimmer und setzte sich seinem Bruder gegenüber auf den Fußboden. Dieser hatte aus seiner Hosentasche ebenfalls einen kleinen Stapel dieser Karten gezogen und sortierte sie jetzt auf dem großen Blatt.

Katharina eilte aus dem Haus, lief rasch mit ihrer Last über die Straße, wo auf der anderen Seite ihr Auto parkte. Mit hastigen Bewegungen öffnete sie es, lud die Klappbox vorsichtig ein, schloss die Kofferhaube und wollte schnell selbst einsteigen, als eine Frauenstimme ihr ein fröhliches: „Hallo, Katharina“, zurief. Katharina Aigner drehte sich um und sah ihre Freundin Mira Schweiger auf dem Fahrrad die Straße entlang kommen. „Hallo“, rief sie zurück, „Du, ich muss los, bin spät dran.“ „Für wen braust du denn heute einen Gifttrank?“ Wollte die Freundin im scherzhaften Ton wissen und hielt neben ihr an, stützte sich mit einem Fuß am Bordstein ab, blieb aber auf dem Rad sitzen. „Ich bin heute oben im Seniorenheim“, sagte Katharina. Sie hielt die Tür halb geöffnet und wirkte nervös und angespannt. „Ich bin echt spät dran“, versuchte sie sich zu entschuldigen, „Kommst du aus der Klinik?“ Mira arbeitete als Krankenpflegerin im großen Rehabilitationszentrum der Stadt, was kurz nur Rehazentrum genannt wurde. „Nö, habe heute und morgen frei, wegen des Umzugs“, sprudelte Mira strahlend los, „Du musst unbedingt kommen und dir die neue Wohnung ansehen.“ Katharina nickte und Mira fuhr eifrig fort: „Ich muss jetzt in der alten Wohnung fix mal nach den Malern sehen, ob sie heute fertig geworden sind. Tja und dann noch den Keller ausmisten – weißt ja, so etwas bleibt immer an mir hängen! Viktor will das alles morgen noch holen. Am Montag wird dann die Abnahme gemacht. Und mit dir, alles o.k.? Du siehst schlecht aus.“ „Es ist alles in Ordnung mit mir, bin eben nur etwas spät dran.“ Katharina winkte ihr zu und stieg ein. „Ich werde dich heute Abend mal anrufen“, rief Mira ihr zu, stieß sich mit dem Fuß von der Bordsteinkante ab und radelte weiter. Mit hastigen Bewegungen startete Katharina den Wagen, blickte in den Spiegel und fuhr in einem Bogen auf die Straße. Katharina hasste die Freitagnachmittage, wenn sie mit dem Wagen durch die Stadt fahren musste. Es schien, als wären alle mit den Autos unterwegs! Sie wurde immer nervöser, was nicht nur an ihrem Zeitdruck lag. Immer wieder huschten ihr Gedanken durch den Kopf, von denen sie sich eigentlich frei machen wollte, dabei tuckerte ihre Stirnnarbe wieder heftig und sie musste sich auf den Verkehr konzentrieren. „Schon wieder rot“, stöhnte Katharina, schaltete in den Leerlauf und ließ den Wagen ausrollen. Dabei sah sie zur Uhr und trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad. 15

Ruhig, du musst ruhig bleiben, dachte sie. Sie wusste, dass sie immer noch schrecklich aufgewühlt war, und dass sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen. Trotzdem hatte sie jetzt nicht die Zeit sich damit zu beschäftigen. Sie brauchte jetzt ihre ganze Aufmerksamkeit für ihre Arbeit in den nächsten zwei Stunden. „Was wollt ihr mir sagen?“ Sagte sie laut, fuhr langsam an und schüttelte den Kopf. „Das kann nur ein Irrtum sein, Katharina, das ist ein Irrtum! Das glaubt mir doch keiner! Ich glaube es doch selbst nicht!“, redete sie vor sich her und lenkte das Auto durch die Straßen. „Komm, fahr schon zu“, schimpfte sie laut vor sich hin. Nur langsam rollte die Blechkolonne die Serpentine hoch in Richtung Umgehungsstraße. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und schaute nervös zur Uhr. Heute bin ich nicht pünktlich, ärgerte sie sich. Katharina mochte keine Unpünktlichkeit. Endlich konnte sie von der Hauptstraße, die aus der Stadt herausführte, abbiegen und kam nun schneller voran. Links unterhalb von ihr lag die Stadt. Sie umfuhr eine kleine Hügelkette. Vor ihr lag das Rehazentrum, das die Stadt weit über Deutschland hinaus berühmt und bekannt gemacht hatte und wo ihre Freundin Mira arbeitete. Dieses Rehazentrum bildete in dem Wald, oberhalb der Stadt noch einmal eine kleine Stadt für sich. Katharina fuhr am Haupteingang vorbei und weiter am Rehazentrum entlang. Über die Mauern ragten hier und da Dächer von mehreren Gebäuden, dann schloss sich Wald an. Das Gelände und die Gebäude des Rehazentrum kannte sie gut. Hatte sie doch selbst fast zwanzig Wochen dort verbracht. Und dort hatte sich ihr Leben grundlegend geändert, auch weil sie im Zentrum ihren späteren Mann kennenlernte. Wie immer, wenn sie hier vorbei kam, dachte sie an Harald, wie er lächelnd zu ihr kam, damals, nach jenem Unfall, und sie fragte, ob er Fotos von ihr machen dürfe, für die Illustrierte, in deren Auftrag er arbeitete An die Reporterin, die mit ihm da war, konnte sie sich nur vage erinnern. Sie hatte nur Augen für Harald gehabt und er sah sie so sonderbar an, mit seinen grauen Augen. Zwei Tage später war er wieder da, angeblich wäre die Kamera kaputt gegangen und er müsse nun neue Fotos von ihr machen. Sie wussten beide, dass er ein schlechter Lügner war. Von da an besuchte er sie öfter und er war mit der Grund, dass sie nach ihrem Rehaaufenthalt in der Stadt eine kleine Wohnung für sich suchte. Ihre neue Freundin, Mira die auch ihre Pflegerin während des Rehaaufenthaltes war, half ihr dabei. Mit ihr verband sie eine tiefe Freundschaft. Sie hatte ihr in der ersten schweren Zeit nach Haralds schrecklichem Unfall, sehr viel geholfen, Mira war einfach immer da. Manchmal fragte sich Katharina, wie Mira das alles schaffte: ihre eigene Familie zu versorgen, ihre aufopferungsvolle Arbeit im Rehazentrum und für sie, Katharina und ihre Kinder immer mit da zu sein. Damals, als Harald tödlich verunglückte, hätte sie ohne die Freundin nicht gewusst, wie sie weiter leben sollte. Bald lag das Gelände des Rehazentrums hinter ihr und an der Seite erstreckte sich eine kleine Siedlung mit schmucken neuen Häusern. „Schwalbenblick“ ist diese neue Siedlung am oberen Stadtrand von Paulsbergen in einer feierlichen Zeremonie erst vor einem halben Jahr genannt worden. Und hier oben hatten nun Mira mit ihrem Lebensgefährten Viktor und den beiden Töchtern, eine neue Wohnung bezogen. Katharina bremste etwas ab und schaltete einen Gang herunter. 16

Kurz danach bog sie in eine kleine Straße und fuhr eine Auffahrt hoch, an der ein Schild darauf hinwies, das Unbefugten das Parken verboten sei. „Heute bin ich befugt,“ sagte sie laut und nickte dem Schild zu, als würde dieses sie hören. Auf einem asphaltierten Hof, der farbig markiert die Parkplätze auswies, stellte sie den Wagen ab, stieg aus und holte aus dem Kofferraum die Klappbox. Dann nahm sie ihre Tasche, schloss das Auto ab und ging, die Box vor sich her tragend über den Hof an die Hinterseite eines dreigeschossigen Hauses. Wieder stieß sie mit dem Fuß gegen die Tür, doch diese war verschlossen. „Mist“, murmelte Katharina und drehte sich um. Nun muss ich doch den Umweg zum Haupteingang machen, dachte Katharina. In diesem Moment hörte sie hinter sich wie die Tür geöffnet wurde. „Hallo, Frau Aigner“, rief eine langaufgeschossene Frau und lächelte sie freundlich an. „Hallo Frau Seiler“, grüßte Katharina, „ich dachte schon ich muss vor zum Haupteingang gehen. Es tut mir Leid, dass ich etwas spät komme, aber ich habe auch wieder jede Ampel mitgenommen!“ „Das ist doch nicht so schlimm. Schön, dass Sie da sind. Wir haben gerade erst angefangen Kaffee zu trinken.“ „Sind viele Zuhörer da“, wollte Katharina wissen und ging an Frau Seiler vorbei durch die Tür und eine Treppe hoch. „Heute sind alle da!“, antwortete Frau Seiler und Freude war in ihrer Stimme zu hören. „Wir sind auch schon ganz gespannt, was Sie uns heute erzählen und zeigen werden.“ Inzwischen waren sie am Treppenabsatz angelangt. Katharina trat zur Seite, um die Frau vorbei zu lassen, die jetzt einen engen Flur entlang voraus lief. Mehrere Türen waren zu beiden Seiten des Ganges und kleine Schilder informierten, was hinter den Türen war. Am Ende war eine breitere Tür und auf dem Schild war „Clubraum“ zu lesen. „Na, dann wollen wir mal“, sagte Frau Seiler und ließ Katharina an sich vorbei den Raum betreten. An einer langen Tafel saßen die Bewohner des Seniorenheimes, welches sie heute bereits zum vierten Male besuchte. Als sie näher trat und laut grüßte, nickten und winkten ihr einige Frauen und Männer zu und sie erkannte Gesichter wieder. In der Mitte der Tafel war ein Platz für sie freigehalten und Frau Seiler beeilte sich, ihr einen Kaffee einzugießen. „Wie immer noch ein Glas Wasser, Frau Aigner “, fragte sie freundlich. „Wie immer, danke Frau Seiler“. Katharina begann, nachdem sie ihre unhandliche Last am kleinen Nebentisch abgestellt hatte, ihre Jacke auszuziehen und sah sich um. So viele Zuhörer wie heute, hatte sie in diesem Haus bei ihren Vorträgen noch nicht gehabt. Es freute sie und sie befahl sich selbst, nicht mit den Gedanken schon wieder bei den Bildern vom Friedhof und den Zeilen der Zeitschrift zu sein. Später, dachte sie, begann ihre Unterlagen aus ihrer Mappe zu holen und sortierte sie auf den für sie vorgesehenen Platz. Um sie her waren die Senioren noch eifrig in Gespräche vertieft. Dass dies laut zuging, war Katharina gewöhnt, und so hörte sie ungewollt immer wieder Gesprächsfetzen, die eigentlich nicht für ihre Ohren bestimmt waren. „Ist die das?“ Wollte eine besonders schwerhörige Dame wissen. Katharina spähte zu ihr hinüber, während sie die Gefäße und Dosen aus ihrer Klappbox packte und vor sich auf den Tisch stellte. 17

„Ja, aber sei jetzt ruhig und quatsche nicht dauernd dazwischen“, hörte sie schräg neben sich eine andere ältere Dame. „Gib mir doch noch mal Kaffee.“ „Walter, pass auf, nachher wirste verhext.“ „Wenn die Hexe die junge Frau ist, soll es mir nur recht sein.“ Katharina überlegte, während sie weiter ihre Utensilien aufbaute, ob sie Walter einmal einen Blick zu werfen sollte, ließ es dann aber sein und schmunzelte nur leise vor sich hin. „Sind Sie soweit, Frau Aigner?“ Frau Seiler stand neben Katharina und strahlte sie an. „Ja“, sie nickte, nahm das Wasserglas und trank einen großen Schluck. „Meine Lieben“, wandte sich Frau Seiler mit lauter und klarer Stimme an die Senioren an der langen Kaffeetafel und sofort verstummten die Gespräche, „ich freue mich, heute wieder Frau Aigner bei uns zu begrüßen und ich freue mich auch, dass Sie heute so zahlreich erschienen sind.“ Frau Seiler machte eine kurze Pause und blickte die Tafel entlang. Katharina war ihre einleitenden Worte schon gewöhnt und versuchte sich auf das, was sie gleich erzählen würde, zu konzentrieren. Doch sie merkte, dass ihre Gedanken immer wieder in alle anderen Richtungen davon liefen. Und immer, wenn sie an etwas dachte, was sie gleich erläutern und erzählen würde, fiel ihr etwas anderes ein, was sie hier nicht sagen konnte, was ihr selbst noch schier unbegreiflich erschien. Was Frau Seiler noch alles den Senioren in ihrer Begrüßungsansprache sagte, wusste Katharina nicht, erst als diese ihr zunickte und sagte: „Bitte schön, Frau Aigner“, wusste Katharina, dass sie nun beginnen konnte. „Sehr geehrte Damen und Herren“, lächelte Katharina in die Runde, „ich begrüße Sie zu einer weiteren Veranstaltung meiner Vortragsreihe ‚Hexerei und Zauberpflanzen‘ und ich hoffe, dass ich Sie auch heute wieder gut unterhalte und Ihnen das eine oder andere erzähle, was sie vielleicht schon einmal gehört – aber wieder vergessen haben, oder was für Sie etwas ganz Neues ist. Und wie immer, meine Damen und Herren – Sie sitzen – ich setze mich auch.“ Damit ließ sich Katharina an der Tafel nieder und sprach gleich weiter: „Ich habe Ihnen nun schon vieles über Aberglauben, Hexen, Hexenkünste, Hexenwahn, vom Zauber und der Magie der Pflanzen, von alten Bräuchen und Sitten längst vergangener Zeiten erzählt und habe mir gedacht, ich werde Ihnen heute einiges über Geschichten, Bräuche, Orakel und Geheimnisse rund um den Dezember – über den Barbaratag, die Rauhnächte, Wintersonnenwende – erzählen und ich wünsche Ihnen dazu – gute Unterhaltung. Und Sie wissen, wenn Sie Fragen haben oder einiges ergänzen möchten, Ihnen etwas einfällt, was bei Ihnen Brauch war oder ist – ich bin immer dankbar für Anregungen und neues Wissen.“ Katharina lächelte und nahm die erste Seite ihrer vor sich liegenden Aufzeichnungen. Konzentriere Dich, mahnte sie sich, weil ihre Gedanken bei ‚neues Wissen‘ schon wieder abdrifteten. Katharina räusperte sich und begann ihren Vortrag mit fester und lauter Stimme: „Dezember – der Name unseres letzten Monats im Jahreskreislauf kommt von dem Lateinischen d e c e m für zehn. Im römischen Kalender war nämlich der Dezember der zehnte Monat. Früher hatte der Dezember noch andere Beinamen, wie Christmond oder Julmond. Mancherorts wurde er früher auch als Wolfsmond bezeichnet, weil er wie ein Wolf mit seinem furchtbaren und dunklen Rachen das so wichtige Licht verschlingt...“

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Als Katharina geendet hatte, applaudierten die Senioren. Eigentlich plauderte sie sonst gern noch mit den älteren Herrschaften, aber heute hatte sie es eilig, raffte ihre Unterlagen zusammen und stand auf. Am kleinen Nebentisch packte sie schnell alles in ihre Klappbox und suchte mit den Blicken Frau Seiler. Diese war mitten unter den Senioren und Katharina wusste, dass sie nun doch noch nicht gleich aufbrechen konnte. Trotzdem klaubte sie rasch den Rest ihrer mitgebrachten Anschauungsmaterialien zusammen und lief dann zur Kaffeetafel, wo jetzt Wein, Sekt und Bier für die Senioren bereitgestellt wurde. Eine junge Frau räumte sichtlich missmutig das Kaffeegeschirr auf ein großes Tablett. Katharina beachtete sie jedoch nicht, sondern ging zügig in die Richtung, wo Frau Seiler noch immer angeregt mit zwei Damen plauderte. Wieder schwirrten Satzfetzen, der nun munter schwatzenden Senioren, an Katharinas Ohr und gerade, wo sie nur noch wenige Schritte von Frau Seiler entfernt war, traf eine tiefe Männerstimme ihr Ohr und sie wusste, dass diese Worte für sie bestimmt waren: „Na, Du kleine kupferrote Hexe, wie wäre es mit ein paar Prophezeiungen fürs neue Jahr?“ Katharina stockte kurz, doch ging dann weiter. Sie stellte sich neben den Stuhl auf dem Frau Seiler saß und wagte nicht, mit den Blicken nach dem Sprecher dieser Worte zu suchen. Sie war sich jedoch sicher, dass sie die Stimme heute das erste Mal gehört hatte, wusste sie aber keinem der anwesenden Gesichter zuzuordnen. Ach, vielleicht war das nur ein Scherz, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, beruhigte sie sich und tippte zaghaft Frau Seiler an die Schulter. „Ich muss los,“ sagte sie leise, als diese den Kopf drehte und sich ihr zuwandte. „Ja, ja“, rief Frau Seiler eifrig und stand schnell auf, „ich komme, Frau Aigner.“ Beide Frauen lächelten kurz zu den alten Damen hin und gingen einige Schritte weiter. „Ich habe Ihnen die Rechnung fertig gemacht“, sagte Katharina und griff, da sie wieder an dem kleinen Nebentisch angelangt waren, nach ihrer braunen Mappe, entnahm einen Bogen und reichte ihn Frau Seiler. „Ich hole nur schnell meine Brille und das Geld“, entschuldigte diese sich und lief rasch aus dem Raum. Katharina blieb stehen, wippte mit den Füßen und hörte das Stimmengewirr um sich. Zögernd nahm sie ihre Jacke und zog sie umständlich an. Dabei schaute sie scheinbar zufällig die lange Tafel entlang in die Gesichter der Leute. Dann, als sie ihre Jacke langsam zuknöpfte, bemerkte sie, dass ein Mann sie mit großen dunklen Augen ernst beobachtete. Ihre Blicke trafen sich kurz. Katharina wusste sofort, dass er diese Worte zu ihr gesagt hatte und sie erkannte ihn als den Mann wieder, der vor Tagen am Eingang des Friedhofes gestanden hatte. „Bitte schön, Ihr Honorar und hier brauche ich noch eine Unterschrift von Ihnen“, zwitscherte munter Frau Seiler neben ihr. Katharina fuhr zusammen, sie hatte die Frau nicht kommen gehört, nahm den ihr angebotenen Stift und schrieb mit einer energischen Bewegung ihre Unterschrift auf die Honorarbestätigung. Dann steckte sie das Geld in ihre Jackentasche, reichte Frau Seiler die Hand zum Abschied und sagte: „Also, dann bis Februar, ich rufe vorher noch mal kurz an.“

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„Das ist lieb von Ihnen, ich denke doch, dass wieder alles so schön klappt. Und Sie machen mir noch einen Aushang fertig?“ Katharina nickte. „Es bleibt bei Lichtmess und Symbolik der Blumengrüße zum Valentinstag?“ Vergewisserte sie sich noch einmal. „Ja, darüber möchten die Senioren gern etwas hören. Und bringen Sie auch wieder etwas zum Ausprobieren mit?“ „Sicher, ich muss mir dazu aber noch einiges überlegen. Ich meine, was ich hier machen kann und wie das Wetter ist und,“ Katharina sah vor sich hin und biss sich dabei auf die Unterlippe, „ja, mal sehen, es sollte schon zunehmender Mond sein, das wäre besser, um einiges zu demonstrieren“, fügte sie zögernd hinzu. „Ich kann gleich nachsehen im Kalender“, bot Frau Seiler an. „Nein, nein, das brauchen Sie nicht“, Katharina wehrte ab. „Ich muss los“ „Gut, Frau Aigner. Nochmals vielen Dank und tschüs. Ich wünsche Ihnen auch schon ein schönes Weihnachtsfest.“ Frau Seiler schüttelte ihr herzlich die Hand. Katharina dankte, wünschte ebenfalls ein frohes Weihnachtsfest, nahm ihre Klappbox auf und wollte gehen, da fiel ihr ein: „Frau Seiler, ist die Hintertür offen oder muss ich vorn raus gehen?“ „Oh, ich habe vorhin zugeschlossen. Wissen Sie, das ist jetzt Vorschrift, immer zuzuschließen“, entschuldigte sich die Frau. „Warten Sie, ich bringe Sie hinaus.“ „Bleiben Sie hier! Ich bringe die kleine Hexe hinaus“, hörte Katharina wieder diese tiefe Männerstimme und drehte sich um. Es war der Mann, der sie vorhin angesehen hatte, der Mann vom Friedhofseingang. Katharina war überrascht, dass er - jetzt direkt neben ihr - so groß war. Seine aufrechte und athletische Figur betonte seine Größe noch mehr. Knapp zwei Meter wird er sein, dachte Katharina und musterte ihn verstohlen. Das eisgraue kurze Haar war voll und seine hohe Stirn zeigte nur leichte feine Querfalten. Um seine dunklen Augen, die sie taxierten, waren tiefe Grübchen. Sein Gesicht war schmal und gebräunt. Die gerade Nase und das leicht kantige Kinn, gaben ihm etwas Bestimmendes, Energisches. Und seine dunklen Augen blickten freundlich auf sie herab. Katharina, mit einsfünfundsiebzig als Frau nicht gerade klein, schaute ihn fest an. Trotzdem fühlte sie sich nicht wohl, unterdrückte dies aber und versuchte ein dankbares Lächeln aufzusetzen. „Immer ein Gentleman unser Herr Schwarze“, zwitscherte Frau Seiler, sichtbar froh, nun doch nicht mit hinausgehen zu müssen. Zu Katharina gewandt fuhr sie in diesem Zwitscherton fort: „Herr Schwarze wohnt erst seit kurzem bei uns und er fühlt sich hier noch nicht ganz so wohl, wie wir es uns wünschen.“ „Schon gut“, unterbrach der Mann die mitteilsame Frau Seiler, wandte sich wieder Katharina zu und sagte leise: „Na dann mal los, kleine Hexe.“ Damit schob er sie in Richtung Tür und Katharina blieb nichts weiter übrig als Frau Seiler kurz zuzunicken und schon hatte er sie zur Tür hinausbefördert. Als sie in dem langen Korridor standen, war es sehr still, ohne das Stimmengewirr der Senioren. Katharinas Absätze klapperten auf dem Dielenfußboden und sie musste sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Stumm lief er vor ihr her, die Treppe hinunter, und schloss, umständlich den Schlüssel aus der Hosentasche ziehend, die Hintertür auf. Katharina räusperte sich und brach die Stille: „Warum sagen Sie Hexe zu mir?“ Er blieb weiter mit dem Rücken zu ihr stehen und schien an der Maserung der Tür sehr interessiert zu sein. 20

„Sie sind doch eine Hexe. Ist doch nichts Schlechtes, oder?“ Er drehte sich ihr zu. „Es gibt nicht mehr viele davon, vor allem nicht mehr viele, die wirklich wissen, die Richtigen eben.“ Dabei öffnete er die Tür, hielt sie ihr auf und trat zur Seite. Katharina sah ihn verwirrt an und ging an ihm vorbei. Sie lief, ohne sich umzudrehen bis zu ihrem Auto. Sie wusste, er würde ihr nachkommen. Am Auto setzte sie die Klappbox auf dem Boden ab, drehte sich noch immer nicht um, und zog den Autoschlüssel aus ihrer Jackentasche. Dann stand er neben ihr. Sie sah, dass er fror. Ihr war wieder unbehaglich und sie hoffte, er ginge endlich. „Und woher wissen Sie, dass ich eben zu den Richtigen gehöre?“ Wollte sie von ihm wissen. „Ich habe für so etwas einen Blick, außerdem sind Sie ja auch keine Unbekannte.“ Katharina schluckte. Wo führt dieses Gespräch hin? „Was haben Sie vorhin wegen der Prophezeiungen gesagt? Das waren doch Sie, oder?“ Katharina sah den Mann jetzt herausfordernd an. „Und wenn ich für Sie keine Unbekannte bin, dann dürften Sie eigentlich wissen, dass ich keine Prophezeiungen mache.“ „Na gut, jedenfalls nicht öffentlich!“ Er sah sie belustigt an, mit ernsterer Stimme fuhr er fort: „Was ich eigentlich sagen wollte ist, dass ich Sie beinah schon vor einigen Jahren persönlich kennengelernt hätte, aber das Schicksal wollte es dann doch anders.“ Er sah sie fest an. „Was Sie machen, wie nennt man das? Schwarze oder weiße Magie? Oder soll ich sagen Hexerei?“ Katharina stöhnte auf. „Wissen Sie, wovon Sie eigentlich reden?“ Sagte sie in scharfem Ton, dabei drehte sie sich um und wollte ihre Sachen in das Auto packen. Aber vor allem wollte sie dieses Gespräch beenden. „Ich kannte ihren Mann“, sagte er scheinbar beiläufig. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und schaute interessiert an ihr vorbei die Fenster des oberen Stockwerkes des Seniorenhauses an. Auf alles war Katharina vorbereitet, aber auf diese Worte überhaupt nicht. Ihr flimmerte es vor Augen und es schien, als würde sie leicht umknicken. Doch sie fasste sich schnell wieder, schluckte den Knoten in ihrem Hals herunter und sah ihn an. „Wie, Sie kannten ihn?“ Stammelte sie. Er schmunzelte und vermied es sie anzusehen. „Harald war mal mein Schüler. Später haben wir auch einiges zusammen gemacht. Es ist schon lange her“ sagte er leise. „Ich mochte ihn. Er war ein guter Mensch“, fuhr er fort. Dann blickte er sie an, „Leider müssen die Guten immer zuerst gehen.“ Katharina sah ihn nur an und schwieg. Die Erinnerung an ihren Mann und seinen schrecklichen Unfall waren für sie noch immer ungeheuer schmerzlich. Sie wollte auch nicht mit einem Fremden darüber reden. Nach einem kurzen Augenblick räusperte sie sich. Scheinbar gefasst öffnete sie den Kofferraum und stellte die Box in das Auto. Laut schlug sie die Tür zu, ging wortlos an dem Mann vorbei zur Fahrerseite, öffnete die Tür und sah ihn an. „Also, dann danke, dass Sie mich zur Hintertür herausgelassen haben. Auf Wiedersehen.“ Damit wollte sie einsteigen. Schnell war der Mann neben ihr und legte seine Hand auf ihre, welche die Tür hielt, und flüsterte: „Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet? Schwarz oder weiß?“

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„Was soll das? Schwarz oder weiß? Gut oder böse – ist es das was Sie hören wollen? Was wissen Sie denn schon von Magie oder Hexerei, wie sie es nennen? Es gibt nicht nur Schwarz und nur Weiß!“ Katharina war wütend, „wie wäre es mit Grau? Für Sie als ehemaliger Fotograf doch nichts Besonderes – Schwarz geht über in Weiß und umgekehrt! Oder soll ich sagen: das Böse geht über ins Gute und umgekehrt?“ „Sie sagen also Grau!“ Er nickte und sah sie an. „Harald ist damals für mich eingesprungen, wussten Sie das?“ Katharina fuhr zusammen. Damals, als sie im Rehazentrum lag, damals kam diese Reporterin, wollte etwas über sie schreiben. Schließlich überlebt nicht jeden Tag jemand einen Blitzschlag hatte man ihr gesagt, und dass die Öffentlichkeit ein Recht hätte, davon zu hören. Harald machte zu dem Artikel die Fotos von ihr. Katharina sah langsam zu dem Mann, seine Hand lag noch immer auf ihrer. „Was wissen Sie schon – Schwarz oder Weiß! Denken Sie, ich habe mir das ausgesucht? Was wollen Sie eigentlich?“ Sie bebte vor Zorn. „Sie hatten das Wissen schon vorher oder soll ich sagen, die Begabung? Nach dem Blitzschlag sind Ihre Visionen dazu gekommen, aber eine Hexe waren Sie schon vorher, das können Sie nicht leugnen.“ „Woher wissen Sie von - “ Katharina sah ihn mit aufgerissenen Augen an. „Ich sagte doch, Sie sind keine Unbekannte. Ich weiß auch von ihrer Treffsicherheit bei den Prophezeiungen.“ Katharina wollte ihn unterbrechen, er hob die Hand von ihrer und legte sie auf ihren Arm. „Es ehrt Sie, dass Sie es nicht missbrauchen, ich meine Ihr Wissen, Ihre Gabe. Aber es wird Zeit, dass Sie diese anwenden.“ Er hatte die letzten Worte langsam und sehr betont gesprochen. Katharina sagte noch immer nichts, wandte den Blick von seinen Augen ab und sah auf ihren Arm, wo seine Hand noch immer lag. Sofort nahm er sie weg. In einem fast väterlichen Ton sprach er leise weiter: „Sie wissen es, ich weiß es. Wir brauchen Sie. Wir brauchen Ihr Wissen. Und wir brauchen ihre Kraft des Steines. Haben Sie Vertrauen zu mir. Ich hüte Geheimnisse und Sie sollten wissen, ich bin immer für Sie da, Sie können mich jederzeit anrufen, sich mit mir treffen, mit mir reden. Jederzeit, verstehen Sie? Denken Sie darüber nach, Sie werden bald verstehen.“ Bevor die verdutzte Katharina etwas erwidern konnte, nickte er ihr zu und ging mit großen Schritten über den Parkplatz zurück zum Haus. An der Tür drehte er sich noch einmal kurz um und verschwand dann. Sie sah ihm nach und wieder schwirrte ihr der Kopf. Was soll das? Was ist bloß los? Völlig verwirrt und durcheinander stieg sie in ihr Auto und startete. Langsam fuhr sie die Auffahrt hinunter, blinkte und bog auf die Straße ein und fuhr nach Hause.

„Ich bin wieder da“, rief Katharina in die Wohnung hinein und stellte die Klappbox im Arbeitszimmer ab. Dann zog sie die Jacke aus und hängte sie an die Garderobe, streifte im Gehen die Schuhe ab und durchquerte den Flur. Die Tür zu Florians Zimmer war nur angelehnt und ein Lichtstrahl fiel auf den Boden vor ihr. Katharina klopfte an und schob die Tür auf. Beide Jungen saßen auf Florians Bett und hatten sich in ein Buch vertieft, aus dem Florian halblaut vorlas, während Sebastian vor sich

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auf den Oberschenkeln einen Block liegen hatte und auf einem Stift herum kauend seinem Bruder mit den Augen im Buch folgte. „Ihr lernt doch nicht etwa?“ Wunderte sich Katharina und ließ sich auf dem Drehstuhl vor dem Schreibtisch nieder. „Nö“, kam es im Chor. „Und was macht ihr, falls ich fragen darf?“ „Ach, das ist nichts weiter“, sagte Sebastian und sah seinen Bruder an. Katharina stöhnte und verdrehte die Augen. Ohne weiter zu fragen oder etwas zu sagen streckte sie die Hand nach dem Buch aus und Florian gab es ihr grinsend. „Das ist nichts weiter, Mutti“ sagte er und sah sie an. „Na, wenn es nichts weiter ist, warum antwortet ihr mir nicht auf meine Frage“, wunderte sich Katharina und sah auf den Titel des Buches: „Geschichten der Dummheit“ las sie. „Na, das braucht ihr beide auch noch“, schmunzelte sie und gab das Buch Florian zurück, ohne weiter darauf zu achten. „Wie war’s bei dir“, wollte Sebastian wissen. „Gut“, sagte Katharina, „was ist denn los, dass du das wissen willst?“ „Ach Mutti, wenn wir was machen, willst du doch auch wissen, was wir machen!“ versuchte sich der Junge zu rechtfertigen. „Lass gut sein, Schatz“, winkte Katharina ab und stand auf, „ich bin heute etwas geschafft. Tut mir Leid, wenn ich Euch nerve. Ich koche einen Tee. Will noch jemand?“ „Nö“, kam es von den Jungen und beide sahen sich grinsend an, als Katharina in Richtung Küche verschwand. Sobald sie außer Hörweite war, flüsterte Florian: „Hat doch prima geklappt mit dem falschen Buchumschlag – wie ich es dir gesagt habe – sie liest nur was auf dem Umschlag steht“, triumphierend sah er Sebastian an. „Pst“, machte dieser und blickte zur angelehnten Tür. „Dass du immer so’nen Schiss hast“, zischte Florian und schrak zusammen, als in dem Moment das Telefon im Flur klingelte. „Ich gehe schon“, rief Katharina in Richtung Kinderzimmertür, nahm den Hörer ab und meldete sich. Es war Mira, die am Nachmittag schon ihren Anruf angekündigt hatte. Katharina freute sich nun, ihre Stimme zu hören. Sie wollte endlich die Möglichkeit haben, ihre wirren Gedanken zu ordnen und mit jemandem darüber sprechen. Doch sie wusste auch, dass das im Moment nicht möglich war. „Was ist los mit dir“, die Stimme der Freundin klang besorgt, „alles in Ordnung? Du warst schon heute Nachmittag so komisch.“ Katharina grinste, klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter und ging mit dem Telefon in Richtung Küche. Mira gehörte zu den Menschen, die eine feine Antenne für Sorgen und Stimmungsschwankungen anderer Menschen haben. „Ach, geht so, bin nur etwas geschafft“, beruhigte Katharina die Freundin. Sie wusste, dass Mira mit dem Umzug in die neue größere Wohnung genug eigene Sorgen hatte, als sich Katharinas ungereimtes Hirngespinst anzuhören. Nein, kein Hirngespinst, dachte sie und versuchte ihrer Stimme einen fröhlichen Klang zu geben: „Na, wie sieht es bei euch aus, alles schon an Ort und Stelle im neuen Zuhause?“ lenkte sie von sich ab. „Hör bloß auf! Es herrscht noch immer das reinste Chaos, aber langsam findet alles seinen richtigen Platz. Wenn Viktor dabei nur nicht so hektisch und stressig wäre!“

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Mira schnaubte geräuschvoll, „Du kennst ihn ja – macht aus allem eine Wissenschaft – schlimmer als ein kleines Kind“, lachte sie dabei gekünstelt. Katharina schmunzelte vor sich hin und füllte dabei den Wasserkocher. Den Hörer hatte sie zwischen Schulter und Kinn geklemmt und während sie telefonierte, schaltete sie den Wasserkocher ein. Nahm sich eine große Tasse und wählte aus dem Bord über sich eine Dose aus. Während sie diese öffnete und den angenehmen Duft der Kräuter einsog, sagte sie: „Ich kann mir vorstellen, wie penibel Viktor ist. Und dass er dabei sehr umständlich ist – zu umständlich für deine Begriffe – “, bevor sie weiter reden konnte unterbrach Mira hastig: „Ich weiß Katharina – dein Gefühl!“ Eine kurze Pause entstand und Katharina goss das siedende Wasser über die Kräuter, die sie in die Tasse hineingegeben hatte. „Warum magst du Viktor nicht?“ kam es vorwurfsvoll von Mira. „Ich habe es dir doch schon oft gesagt, es hat nichts mit Viktor zu tun. Glaub mir, es ist diese –“ „Ja, ja, es ist Deine männerfeindliche Einstellung!“ rief Mira. „Quatsch, du weißt ganz genau, dass es nicht so ist.“ „Dann erkläre es mir – was hast du gegen Viktor?“ Die Stimme der Freundin klang nun schrill und aufgebracht. Katharina verdrehte die Augen, nahm die Teetasse und setzte sich an den Tisch. „Mira, hör auf damit! Du weißt, wie ich über Viktor denke. Bitte lass uns nicht streiten, das kann ich heute nicht gebrauchen“, versuchte sie Mira zu beruhigen. „Na gut, lassen wir das jetzt“, lenkte diese ein und fuhr mit ruhigerer Stimme fort: „Wollen wir reden? Hast Du Zeit? Vielleicht willst du dir dabei gleich die neue Wohnung ansehen. Wie passt es dir morgen?“ Es wäre eine gute Gelegenheit, mit Mira zu reden, überlegte Katharina. Außerdem war sie auch auf die neue Wohnung gespannt, die sie bisher nur vom Grundrissplan und von Miras und Viktors Erzählungen kannte. „Klingt gut, es würde aber schon am Vormittag sein. Vielleicht gegen elf. Um acht muss ich bei Winterberg sein.“ „Schon wieder? Und dann zum Samstag? War die letzte Untersuchung nicht in Ordnung?“ wollte Mira wissen. „Doch, doch“, beruhigte Katharina die Freundin, „er will etwas mit mir besprechen.“ Dr. med. Jürgen Winterberg war seit zwölf Jahren Katharinas behandelnder Arzt und in diesen vielen Jahren auch ein guter Freund und Vertrauter geworden. Auch er war nach Haralds Unfalltod sehr betroffen gewesen und versuchte ihr zu helfen. Katharina hatte großes Vertrauen zu ihm und ging immer ganz pünktlich und gewissenhaft zu ihren Nachsorgeuntersuchungen. Obwohl – Katharina kaute auf ihrer Unterlippe – seine mitunter eigenartigen Fragen bei den Untersuchungen und Tests verwirrten sie immer aufs Neue. „Du musst Dich verschließen, nicht alles in dich hineinlassen“, Jürgen meinte es gut mit ihr. Sie sollte nicht immer so zweifeln. Dass er in seiner Forschungsarbeit aufging wusste sie. Sie selbst konnte ihn sehen – im Labor, am Schreibtisch, im Disput mit Kollegen. Verschließen, du musst dich verschließen! Nach der Geburt der Zwillinge fragte sie Dr. Winterberg, ob sie auch mit ihren Kindern zu ihm kommen könne. Es war nicht üblich, dass die Paulsbergner im Rehazentrum ihren Hausarzt hatten. Aber auf Grund ihres Blitzschlages, war Dr. Winterberg gern bereit, auch als Arzt für ihre Kinder da zu sein.

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Und doch war Jürgen anders geworden, er hatte sich irgendwie verändert, sinnierte Katharina als Mira ihre Gedanken unterbrach und das Gespräch beendete. „Also, gut Katharina“, sagte sie, „bis morgen.“ „Ja, Mira. Tschüs bis morgen.“ Katharina legte auf und trank langsam ihren Tee. Mira war und ist ihre beste Freundin und engste Vertraute, seit sie nach dem Blitzschlag im Rehazentrum war. Warum sagt sie so etwas: „Männerfeindliche Einstellung“ – wie kommt sie darauf? Sicher hat Viktor das gesagt. Jetzt war es Katharina, die hörbar Luft ausstieß. Dann trank sie mit kleinen Schlucken ihren Tee. Viktor! – Sie mochte ihn nicht besonders, da hatte Mira schon Recht. Aber manchmal konnte sie die Freundin nicht verstehen. Was fand Mira an ihm? Seit gut vier Jahren lebten Viktor und Mira nun zusammen. Katharina erinnerte sich, wie glücklich die Freundin ihr „von ihrer neuen Eroberung“ vorgeschwärmt hatte. Mira schwärmte in den höchsten Tönen von Viktor, dass Katharina ganz neugierig und gespannt war, die „neue Eroberung“ endlich kennen zu lernen. Als Mira sie beide dann miteinander bekannt machte, hatte sie eine Vision. Katharina stellte die Tasse auf den Tisch und starrte vor sich hin. Es war das erste Mal, dass sie der Freundin eine Vision nicht anvertraute. Doch das hätte sie der auf Wolke sieben schwebenden Mira nicht antun können. Später hatte Katharina mehrmals versucht, vorsichtige Andeutungen zu machen. Aber Mira’s Ohren waren dafür taub. So ließ Katharina es sein und zog sich etwas von Mira zurück. Es ist doch auch ganz normal, begründete sie dies ihr gegenüber: Du musst mit Viktor und den Mädchen deine Zeit verbringen, nicht mit mir. Du warst oft genug für mich da und für meine Sorgen, hast mich und die Kinder oft genug unterstützt, nach Haralds Tod. Nun genieße die Zeit mit Viktor! Viktor war Katharina gegenüber immer bemüht höflich, fröhlich und nett zu sein. Sicher – so gestand sie sich – wäre eine tiefere Freundschaft möglich, aber sie wollte nicht. Wenn sie mit Viktor sprach oder bei ihnen war, hatte sie stets das Gefühl, als würde sie von ihm belauert. Oft trafen sich die Frauen bei Katharina. Besuchte sie Mira, hoffte sie stets, dass Viktor nicht da wäre. „Du kennst ihn ja“ – hatte Mira am Telefon gesagt. Kenne ich ihn? Katharina überlegte und stand auf, räumte ihre Tasse weg und mit einem Blick auf die Küchenuhr stellte sie fest, dass es Zeit war, das Abendessen vorzubereiten.

Viktor Lenz arbeitete als Berater in dem großen neuem Bürohaus am Marktplatz. Seine Berufstätigkeit war für Katharina von Anfang an irgendwie undurchdringlich. Er erklärte ihr zwar einiges an Unterschieden von Versicherungen, Policen und Kosten, bot sich auch an, für sie einiges zu analysieren. Doch sie lehnte energisch ab. Sein Büro teilte er sich mit seinem Partner Thomas Erdmann – ein etwas gedrungener mittelgroßer Mann um die fünfzig. Zweimal war sie mit Mira kurz in diesem Büro gewesen. Auch dieser Erdmann war Katharina ausgesprochen unsympathisch. „Er ist eigentlich nur zwei bis drei Tage im Monat da“, hatte Mira ihr erklärt. Erdmann betreue vorwiegend die Kunden außerhalb von Paulsbergen und Viktor die Kunden hier in der Stadt. Als Katharina Näheres wissen wollte, zuckte die Freundin mit den Schultern. „Viktor mag es nicht, wenn ich ihn wegen seiner 25

Beratungen ständig frage. Er macht seinen Job – ich meinen.“ Mira schien damit zufrieden. Katharina konnte das nicht verstehen. Nachdem Mira, die vom Vater ihrer Kinder geschieden war, Viktor kennenlernte, beschwor sie Katharina immer wieder: „er ist der Richtige, glaub es mir, dieses Mal habe ich Glück“. Katharina wünschte der Freundin und den Mädchen Sandra und Conny Glück von ganzem Herzen, bezweifelte aber, dass Viktor dieses Glück war. Und nun waren sie nach Schwalbenblick hoch gezogen, in diese neue größere Wohnung. Na gut, ich mache mir morgen ein Bild davon, dachte Katharina und begann Besteck auf dem Tisch zu verteilen.

Katharina lag im Bett und hoffte, schnell einzuschlafen. Die ganzen letzten Tage hatte sie sich schon wie zerschlagen und völlig geschafft gefühlt. Wenn bloß erst das Wochenende vorüber wäre, fuhr es ihr durch den Kopf. Was wird passieren? Es lag etwas in der Luft, sie spürte es und konnte es doch nicht erkennen. Es war etwas sehr Großes, was sehr weit bis ins neue Jahr hinein reichen würde. Sie konnte und konnte es einfach noch nicht klar erkennen und doch spürte sie, dass es sehr nahe war. Was würde sie Winterberg morgen davon erzählen? Sollte sie überhaupt mit ihm darüber reden? Katharina stöhnte auf und drehte sich auf die andere Seite. Warum habe ich dieses Mal so eine Unruhe in mir? Weil es mit Harald zu tun hat? Weil es irgendwie um mich geht? Sie wusste es nicht. Jürgen Winterberg war neben Mira immer noch der Mensch, dem sie ihre Gedanken und Vorahnungen erzählen konnte. Stets versuchte er verständnisvoll und aufgeschlossen mit ihr gemeinsam die Bilder zu entwirren. Doch Katharina wusste auch, dass Jürgen ihre Visionen für seine Forschungen nutzte und analysierte. Wiederholt hatte sie ihn gefragt, was ihre Visionen über wirtschaftliche Entwicklungen mit seiner Arbeit zu tun haben. Aber er ist darauf nicht weiter eingegangen. Er hatte es nur damit abgetan, dass er die Fragen, die sie in den verschiedensten Testuntersuchungen bekam, nicht allein ausarbeite. Katharina versuchte mehr herauszubekommen, aber Jürgen war ihren Blicken stets geschickt ausgewichen oder hatte die Fragen einem jungen Arzt überlassen. Nur zu gut wusste er, dass sie auf viele Fragen nur die Antworten durch Blickkontakt bekam. Katharina konnte zwar auch Ereignisse und Geschehnisse sehen, die an anderen Orten stattfinden, musste aber selbst mental darauf orientiert und eingestellt sein. Einmal hatte sie Jürgen kurz mit einem Scheck in der Hand, schmunzelnd in seinem luxuriösen Haus gesehen. Seit dem vermutete sie, dass er mit ihrer Hilfe an der Börse spekuliert. Sie war darüber etwas enttäuscht, hatte dann jedoch begonnen ausweichender oder gar nicht auf bestimmte Fragen von ihm einzugehen. Später verdrängte sie ihre Enttäuschung und ihr einst sehr freundschaftliches Verhältnis kühlte merklich ab. Katharina drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Ob sie ihm auch von dem erzählen würde, was ihr heute Nachmittag so deutlich klar geworden ist - sie wusste es noch nicht. Ich werde einfach meinem Gefühl vertrauen, wenn ich Winterberg morgen treffe, beschloss Katharina. Sie wusste, dass sie sich darauf verlassen konnte, dass sie ihrem Gefühl vertrauen konnte. Es würde ihr ganz genau zeigen, mit wem sie darüber reden konnte oder nicht. 26

Diesem Mann heute im Seniorenhaus, diesem Herrn Schwarze, durchfuhr es sie plötzlich, dem konnte sie trauen. Katharina fröstelte unter der warmen Decke. Wieso soll ich diesem Mann vertrauen können, grübelte sie. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Warum sehe ich nicht alles klar und deutlich, dachte sie. Mit Mira würde ich gern darüber reden, überlegte sie weiter. Sie wusste, dass auch Mira sich immer Zeit nahm, um ihre Gedanken und Bilder mit ihr gemeinsam zu entwirren, Mira verstand sie noch mit am ehesten. Aber sie wusste auch, dass die Freundin mit dem Umzug genug um die Ohren hatte. Ihre Gedanken und Überlegungen wurden durch das Telefon gestört. Katharina sprang erschrocken auf. Dieser aufdringliche Klingelton schien das ganze Haus wecken zu wollen, oder bildete sie sich nur ein, dass es jetzt so laut und fordernd klingelte? Es war kurz vor neun Uhr abends und es war ungewöhnlich, dass sie um diese Zeit schon im Bett lag und noch dazu an einem Freitag. Aber sie wusste, um sich zu beruhigen und klarere Gedanken zu bekommen, brauchte sie jetzt Schlaf. Die Kinder waren heute auch ohne Knurren gegen acht Uhr ins Bett gegangen und als sie vorhin nach ihnen geschaut hatte, wie jeden Abend, bevor sie ins Bett ging, schliefen sie bereits. Sie lief zum Telefon, griff den Hörer und meldete sich leise, weil sie die Kinder nicht wecken wollte. „Katharina, du hast dich lange nicht gemeldet, wir machen uns Sorgen. Ist alles in Ordnung?“ Es war ihre Mutter und Katharina stöhnte leise auf. Das braucht sie heute gerade noch – dieses Gejammer und Genörgel kannte sie gut! „Entschuldige, ich hatte viel zu tun.“ „Ja, aber fünf Minuten Zeit dürften ja wohl mal drin sein, um seine Eltern anzurufen. Kind, wir machen uns Sorgen, wenn du dich so lange nicht meldest!“ „Mama, es geht mir gut, es geht den Kindern gut, entschuldige bitte“, Katharina hätte am liebsten aufgelegt, sie wusste, jetzt würde die ganze Litanei, das Gezeter ihrer Mutter auf sie niederprasseln, und wissend, dass es jetzt doch kein kurzes Telefonat werden würde, ließ sie sich neben dem Telefonschränkchen auf dem kleinen Hocker nieder. „Es ist schön, dass alles in Ordnung ist bei euch. Papa geht es nicht so gut, Du weißt ja, sein Rücken“ und bevor sich ihre Mutter über den Gesundheitszustand ihres Vaters auslassen konnte, fuhr Katharina schnell dazwischen: „Hat sich Martin gemeldet?“ Martin war ihr jüngerer Bruder und bis vor wenigen Jahren der ausgesprochene Liebling. Katharina wusste, dass sie den wunden Punkt getroffen hatte. Es kam keine Antwort. Sie hatte das Gefühl, als könnte sie das eisige Schweigen ihrer Mutter durch das Telefon spüren. „Mama, bist du noch dran“, wagte sie nach einem Moment vorsichtig zu fragen und fuhr dann fort, „also hat sich Martin nicht gemeldet.“ Wieder entstand eine kurze, wie es Katharina schien, unangenehme Pause. „Mama, ich wollte dich fragen, ob du und Papa Weihnachten nicht zu uns kommen wollt?“ Katharina tat es leid, dass sie nach Martin gefragt hatte und wollte durch die Einladung für Weihnachten wieder etwas gut machen. „Kind das ist sehr lieb von dir. Aber Papa möchte nicht verreisen. Es wäre schön, wenn du mit den Kindern zu uns kommen würdest.“ Als Martin noch der Liebling ihrer Mutter war, hätte sie über diesen Satz laut gelacht. Heute wusste Katharina, dass ihre Mutter glücklich wäre, wenn sie Weihnachten zu ihnen käme. 27

„Das klingt gut“, sagte sie und kurz entschlossen fuhr sie fort: „Sag Papa, dass wir kommen.“ „Damit machst du uns eine große Freude“, rief ihre Mutter aus. Katharina wusste, dass sich ihre Eltern über ihr Kommen sehr freuten. „Kommt Ihr Heiligabend?“ „Ja, Mama. Grüß Papa.“ „Ach, Kindchen“, die Stimme ihrer Mutter bekam einen süffisanten Ton und Katharina runzelte die Stirn, schon ahnend in welche Richtung die Unterhaltung jetzt ging, „wie geht es Doktor Winterberg?“ „Gut, denke ich, wieso?“ „Wann triffst du ihn denn?“ „Mama, ich treffe Winterberg nicht, ich muss aber morgen zu ihm, weil -“ „Ach, wie schön, dann grüße ihn doch bitte recht herzlich von uns, ja? Und sag‘ ihm bitte -“ Katharina verdrehte die Augen und musste sich beherrschen, „ Papa fand seinen letzten Artikel über diese Schmerzstudie bei den Patienten mit dem -“ „Mama“ Katharina war jetzt aufgestanden und Ärger war in ihrer Stimme. „Schon gut, schon gut“, ihre Mutter klang jetzt beleidigt, nach einer kurzen Pause, plauderte sie jedoch wieder betont munter, „Papa und ich meinen es doch nur gut, Kind. Und sieh einmal, der Doktor Winterberg ist doch ein so gut aussehender und tüchtiger Mann.“ „Mama hör jetzt bitte damit auf.“ „Wenn du magst, kannst du ihn Heiligabend mitbringen, er ist uns immer willkommen.“ „Da muss ich euch enttäuschen, Mama.“ Ehe ihre Mutter etwas erwidern konnte, beendete Katharina rasch das Gespräch, „Es ist spät, ich melde mich nächste Woche, bis dahin – grüß Papa und gute Nacht.“ Katharina legte auf und blieb neben dem Telefon stehen. Na gut würden sie Weihnachten in Rothenbach verbringen. Vielleicht schneit es ja noch. Die Kinder würden sich auf jeden Fall freuen und wenn sie ehrlich zu sich selber war, freute sie sich eigentlich auch. Wenn ihre Mutter nur nicht ständig von Winterberg anfangen würde! Sie musste an ihr Elternhaus denken, an ihren Vater, ihre Mutter, ihren Bruder Martin, die Großeltern. An die alte Katharina, für die sich, sieben Wochen vor ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag, an einen ungewöhnlich warmen Herbsttag bei einem Gewitter das ganze Leben für immer änderte: Katharina – ihren Namen hatte sie damals nicht gemocht, doch sie tröstete sich, weil sie dachte und wusste, dass es vielen Menschen so ging. Nach diesem ungewöhnlich warmen Herbsttag, nach diesem heftigen Gewitter, nach diesem Blitzschlag, den sie überlebte, liebte sie ihren Namen und auch viele andere Dinge, wurden ihr lieb und teuer und sie begann ein neues Leben zu leben. Ein Leben, das ihr so viele Dinge plötzlich zu zeigen schien, die für andere Menschen nicht einmal zu erahnen waren. Katharina wurde am 25. November geboren – einem Tag der Esche, wie die Großeltern immer sagten. Ihr Vater hatte kurz zuvor die Apotheke des Großvaters in Rothenbach, einem kleinen Urlauberort in Thüringen, übernommen und setzte damit die Familientradition in der nun vierten Generation fort.

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Ihre Mutter fühlte sich in Rothenbach im Apothekerhaus ihrer Schwiegereltern anfangs nicht richtig wohl. War nie die Apothekersfrau, die sie hätte sein müssen in diesem kleinen Ort; war nicht die Apothekersfrau, die sich die Schwiegereltern wünschten. Auf Katharina – eine Tochter, die eigentlich ein Martin werden sollte – waren ihre Eltern gar nicht so richtig vorbereitet und eingestellt. Ein Sohn war das Wunschkind! Zum Glück wurde sie am 25. November geboren – im Kalender stand dieser Tag als der Tag der Katharina von Alexandria – Märtyrerin und Schutzpatronin der Philosophen. Und so wurde sie Katharina genannt. Das Ganze wurde dann später noch mit einer großen Taufe gefeiert. Ihr Vater hielt sie auf dem Arm und war wohl doch auch mächtig stolz auf seine Tochter. Ihre Eltern beschlossen, dass sie kein Einzelkind bleiben solle. Und so kam dann nach drei Jahren endlich der erhoffte Sohn Martin auf die Welt und damit änderte sich in der Kinderzeit von Katharina alles: Sie war plötzlich die große Schwester und mit „Nun hab dich nicht so“ und „Schließlich bist du jetzt die Große“ oder „Martin ist noch so klein“, wurde sie in den nächsten Jahren ermahnt, gegängelt und erzogen. Katharina ging mit langsamen Schritten in ihr Schlafzimmer. Leise schloss sie die Tür und legte sich wieder in ihr Bett. Den erhofften Schlaf würde sie jetzt noch nicht finden, sie war in Gedanken wieder bei ihren Eltern, bei ihrer Kinderzeit, in dem großen Apothekerhaus. Als Kind war sie gern bei ihren Großeltern in der oberen Etage des Hauses. Leider lebten beide nicht mehr. Ihr Großvater war ein geduldiger und warmherziger Mann und oft hielt er zu ihr, wenn ihre Eltern wieder einmal Martin zu sehr in den Mittelpunkt zogen. Die Großmutter war eine sehr naturverbundene Frau. Sie lehrte und zeigte Katharina alles über Pflanzen und Kräuter, was sie selbst wusste. Und mit der Großmutter zusammen übte sie sich im Bräuen und Zubereiten von Salben, Suden und Tees. Aber das große und tiefe Wissen wie ihr Großvater es nannte, war ihr – so die Meinung der Großeltern, in die Wiege gelegt worden. Und die Großeltern nährten und pflegten das Wissen in ihr und später einmal sagte der Großvater bei einem abendlichen Spaziergang: „Unser Wissen und unsere Geheimnisse geben wir weiter von Generation zu Generation, an Auserwählte.“ Sie war damals nicht älter als 12 Jahre und über das geheimnisvolle Flüstern ihres Großvaters mehr verwundert und erstaunt. „Auch du wirst einmal dein Wissen weitergeben an einen Ausgewählten und merke dir: das Wissen geht stets von einem Mann auf eine Frau und von einer Frau auf einen Mann. Vergiss das nie. Und wenn die Zeit kommt, spürst du, wem du dein Wissen geben wirst.“ Sie war ganz andächtig an seiner Hand und lauschte diesen geheimnisvollen Worten, die sich für immer in ihr Gedächtnis einbrannten. Dann zog der Großvater ein dünnes Lederbändchen aus seiner Hosentasche und hing es ihr vorsichtig um den Hals. Katharina spürte etwas Schweres, seltsam Kühles und griff danach. Sie sah ihren Großvater an und blickte dann auf das, was an dem Bändchen hing: ein dunkler, grünlich schimmernde Stein! Das Lederband ging durch ein Loch in der Mitte des Steines. Das Loch war so groß, dass Katharina mühelos den Stein auf ihren Ringfinger hätte stecken können. „Das ist ein Seherstein und gehört ab jetzt dir. Sein Geheimnis wirst du bald selbst herausfinden. Ich darf es dir nicht sagen. Nur so viel: es gibt nur noch sehr wenige davon und nur sehr wenige Menschen kennen ihre Geschichte. Sie sind nicht von dieser Welt, die Sterne haben sie den Menschen einst gegeben, vor unendlich langer Zeit. Ausgewählten Menschen, mein Kind, 29

ausgewählten! Diese sollen die Kraft der Sehersteine zum Wohle aller nutzen. Das eigene Wohl und Glück muss dabei hinten anstehen. Katharina, vergiss das niemals!“ Es war dies der letzte Abend, an dem sie ihren Großvater gesehen hatte. Die Großmutter erzählte am nächsten Tag, dass er sich nach ihrem gemeinsamen Spaziergang am späten Abend sehr müde gefühlt hätte und zu Bett gegangen wäre. Am Morgen war er nicht wieder aufgewacht. Ihr Bruder Martin war Mutters ausgesprochener Liebling. Doch vor ein paar Jahren fiel Martin immer mehr damit auf, dass er sich mit Gruppierungen einließ, die nicht in das Bild seiner Eltern als Umgang für ihn passten. Es kam zu heftigen Streitereien zwischen Vater und Sohn und auch die Mutter war mit der Entwicklung Martins nicht einverstanden, versuchte jedoch immer noch zwischen Vater und Sohn zu vermitteln. Martin beteiligte sich mit großem Eifer an Protestbewegungen gegen Waffengewalt und organisierte Demos und Meetings. Sein Pharmastudium vernachlässigte er mehr und mehr. Er hatte diese Studienrichtung nie gewollt. Aber der Vater hatte für ihn entschieden: Martin sollte die Familientradition der Kahs fortsetzen. Doch gegen Ende des vierten Semesters warf er das Studium hin und begann in einem Organsiationsbüro der Protestbewegung – der „Truppe ausgeflippter Bekloppter“ wie Vater sie tobend vor Wut wegen des abgebrochenen Studiums betitelte. Martin geriet mit dieser Bewegung mehr und mehr in die Schlagzeilen der Presse. Die öffentliche Meinung zu dieser Protestbewegung war geteilt. Dann kam ans Licht, dass die Bewegung Spendengelder und Fördermittel missbraucht hatte. Der ganze Organisationsstab wurde wegen Unterschlagung und Verdunklungsgefahr verhaftet. Im Elternhaus kam es zum Eklat und der Vater wollte von seinem Sohn nichts mehr wissen. Wieder versuchte die Mutter zwischen Vater und Sohn zu vermitteln. Dieses Mal halfen Katharina und Harald ihr dabei. Harald mochte Martin und Katharina hatte sich mit dem jüngeren Bruder immer sehr gut verstanden. Harald äußerte sich ihr gegenüber, dass man der Bewegung den Missbrauch untergeschoben habe, um sie zu stoppen. Die Bewegung hatte zu sehr für Aufsehen gesorgt und die Öffentlichkeit mobilisiert. Das konnte man in einigen Kreisen nicht weiter zulassen. Martin und seine Freunde aus dem Organisationsstab waren nur die Sündenböcke. Schließlich lenkte der Vater ein und zur Verhandlung saß er brav neben der Mutter, die mit Tränen der Erleichterung, das Urteil – eine Geldstrafe – aufnahm. Martin verließ Rothenbach und ging nach Hamburg. Ein halbes Jahr später zog er in die Nähe von Köln, wo er bis jetzt als Informatiker arbeitet. Seit dieser Zeit hat sich ihre Mutter wohl wieder ihrer Tochter besonnen und versuchte mehr und mehr ein besseres Verhältnis zu ihr aufzubauen. Ganz besonders stolz waren ihre Eltern auf die Enkelsöhne und Katharina freute sich, dass beide Kinder die Großeltern nahezu vergötterten. Alles, was sie als Kind sich oft von ihren Eltern erhofft und nie bekommen hatte, schienen diese nun an den Enkelsöhnen wieder gut machen zu wollen. Katharina kuschelte sich in ihre Decke. Warum ihre Mutter in letzter Zeit bloß immer wieder von Winterberg redete? Katharina störte das sehr. „Papa und ich meinen es doch nur gut, Kind“ und „er ist doch ein so gut aussehender und tüchtiger Mann“. Was denken sich ihre Eltern eigentlich? Sie und Jürgen Winterberg! Nein, Katharina horchte in sich hinein. Für Jürgen hatte sie kameradschaftliche Gefühle. Mehr nicht.

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Sicher, er wäre schon an ihr interessiert. Doch Katharina hatte zu oft Bilder von ihm gesehen, die ihn als Mann und Partner für sie und die Kinder ausschlossen: Sie wusste, dass er in seiner Arbeit aufging, dass Geld und Ruhm für ihn von sehr großer Bedeutung waren. Jürgen reiste auch sehr viel. Eine Frau an seiner Seite würde er schon wollen, familiäre Verpflichtungen würden ihn jedoch zu sehr einschränken, dass er sie ablehnte. Jürgen war immer nett, besorgt und interessiert wegen der Kinder, Katharina schmunzelte, aber nur als Arzt. Als väterlicher Freund wüsste er mit Kindern gar nichts anzufangen! Denk an etwas anderes mahnte sie sich, du hast den Kopf schon voll genug. Die Kinder werden sich freuen, wenn wir Weihnachten zu Opa und Oma nach Rothenbach fahren. Und endlich schlief Katharina ein.

Als Mira aus dem Bad kam, lag Viktor schon im Bett und blätterte in einer Broschüre. Mira schob zwei Umzugskisten zur Seite, die noch vollgepackt mit Wäsche neben ihrer Seite des Bettes standen. „Soll ich helfen?“ fragte Viktor und sah sie über den Rand seiner Lesebrille an. „Geht schon“, Mira schlüpfte unter die Decke und klopfte sich das Kopfkissen zurecht. „Baust du morgen den Schrank noch fertig zusammen?“ Wollte sie dabei wissen und sah ihn fragend an. „Muss ich wohl“, brummelte er, legte die Broschüre über sich auf das kleine Bord, die Brille darauf, streckte den Arm über Mira hinweg und löschte das Licht. Eine Weile lagen beide schweigend da. „Sie geht morgen zu Winterberg und kommt sich anschließend die Wohnung ansehen“, brach Mira die Stille. „Ich bin schon gespannt, was sie sagt.“ „Wenn sie so gut ist, wie ihr alle sagt -“ „Sie ist gut! Und du weißt das auch“, unterbrach Mira ihn heftig. „Ja also“, fuhr Viktor leise fort, „dann müsste sie dir ja sagen, dass wir nicht für lange hier wohnen werden.“ „Viktor!“ freudig fuhr Mira hoch, wandte sich ihm zu, stützte ihren Kopf auf ihren Arm und sah ihn an. Das Licht der Straßenlampe fiel durch das Fenster auf den Fußboden. Sie konnte die Umrisse der Möbel und der noch nicht fertig ausgepackten Umzugskisten sehen. Viktors Gesicht lag im Dunkeln. „Du meinst, wir können uns das Haus bald leisten?“ Mira legte ihren Kopf auf seine Brust. Ein unverständliches Brummen kam von Viktor. Für sie war das die Bestätigung auf ihre Frage. Er war froh, dass Mira sein Gesicht nicht sehen konnte. Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe und strich mit der Hand über ihr aufgelöstes Haar. Scham stieg in ihm hoch und er fühlte einen Kloß in seinem Hals. Miras Hand begann zärtlich an seinem Körper entlang zu tasten. Die Hand, die eben noch über ihr Haar fuhr, glitt hinüber und umfasste die tastende Hand Miras und hielt sie fest. „Was will sie denn bei Winterberg und noch dazu morgen?“ fragte er dabei. Mira hob ihren Kopf, kuschelte sich näher an ihn heran und flüsterte „Das ist doch jetzt egal, was hältst du davon, wenn wir –“ „Warte, das ist wichtig!“ Viktor drehte sich zur Seite und hielt noch immer ihre Hand umfasst. „Warum geht Katharina morgen zu Winterberg? Hat sie dir nichts gesagt?“

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„Bloß, dass Winterberg mit ihr etwas besprechen will.“ Mira war etwas verärgert und fügte trotzig hinzu, „Sie wird es mir morgen schon erzählen. Fahr du mit den Mädchen den Keller ausräumen, dann haben wir Ruhe und Zeit um zu reden. Ich glaube, es ist noch etwas anderes, was sie mir sagen will.“ „Und was?“ „Ich weiß es doch nicht.“ Mira hatte ihre Hand aus seiner gezogen und drehte sich auf den Rücken. „Wie lange, Viktor, wie lange soll das noch so gehen?“ „Du darfst dir nichts anmerken lassen.“ „Ich weiß, aber lange kann ich so nicht mehr leben. Ich fühle mich so falsch, so gemein.“ Viktor legte seinen Arm um sie und zog sie an sich. „Mir gefällt es doch auch nicht, aber es nützt nichts. Wir haben es übernommen.“ „Manchmal denke ich, sie ahnt es.“ „Sicher “, Viktor überlegte kurz, „es ist darum umso wichtiger, dass sie zu dir weiter Vertrauen hat, hast du verstanden Mira?“ „Mmmh“ Viktor strich über ihren Arm. „Wir dürfen jetzt keine Fehler machen Mira. Ein Fehler und alles wäre umsonst gewesen.“ „Ich hoffe du hast recht.“

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