C-I.M1 Die Bibel und die Wahrheit Alles, was in der Bibel steht, ist wahr. Du musst dich nur wortwörtlich nach der Bibel richten, dann lebst du auch richtig. Dann wird Gott dich am Ende belohnen. Diese Meinung gab es und es gibt sie bis heute. Du findest aber Widersprüche in der Bibel. Zum Beispiel: Auf der einen Seite heißt es: „Du sollst nicht töten“. Auf der anderen Seite findest du Vorschriften für die Todesstrafe. Und du findest einen Gott, der tötet. Die Schöpfung wird ­einmal so erzählt, einmal anders. Das Leben Jesu wird viermal erzählt, viermal ähnlich und doch anders. Das ist Gottes Weisheit, lautet eine Antwort. Alles ist wahr. Auch wenn wir es nicht verstehen. Eine andere Weisheit lautet: Das sind verschiedene Geschichten, die verschiedene Menschen zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenen Absichten aufgeschrieben haben. Das sind Annäherungen an das Geheimnis Gottes. Das sind Deutungen. Versuche. Die Bibel ist eine Sammlung von Deu­ tungen und Bekenntnissen. Und alles dreht sich um Gott. Wenn du das so siehst, ist die Bibel immer noch „wahr“. Aber du musst diese Wahrheit immer wieder neu suchen. Zwischen den Zeilen findest du sie eher als im Wortlaut. Und trotzdem ist der Wortlaut wichtig. Er verbindet dich immer wieder neu mit den Bekenntnissen deiner Ahnen und Urahnen im Glauben. Frag nicht: Warum hat Gott das oder jenes so gemacht? Frag besser: Warum haben Menschen so von Gott erzählt? Der Vorteil: Du kommst dabei in ein Gespräch mit den „Ahnen und Urahnen“ und du kannst dabei ganz neu und persönlich über Gott nachdenken.

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Inzwischen ist die Bibel  – so wie jede historische Quelle und jede Literatur  – wissenschaft­ lich ­erforscht. Die Ergebnisse räumen Hindernisse aus dem Weg der Wahrheitssuche: Die Bibel ist ein Sammelwerk aus vielen verschiedenen Schriften, die im Laufe von Jahrhunderten entstan­ den sind. •• Das Erste (oder: Alte) Testament dokumentiert die Suche des Volkes Israel nach seinem Gott. Sie haben Gott in verschiedenen Facetten kennengelernt: -- Die Nomaden (Abraham) haben Gott kennengelernt als einen, der mitgeht und begleitet, als einen, der Segen schenkt. -- Die Israeliten, die aus Ägypten geflohen sind, haben Gott kennengelernt als einen, der befreit. -- Die Israeliten am Berg Sinai haben Gott kennengelernt als einen, der Lebensregeln gibt. -- In der Königszeit und danach, im Exil, haben sie aus allen diesen Erfahrungen Lehren gezogen: ›› Gott ist einer. ›› Gott hält die ganze Welt in seiner Hand. ›› Gott ist einer, der Treue verlangt. ›› Und Gerechtigkeit. ›› Der eingreift – rettend und strafend. Erfahrungen des Volkes Israel mit dem Leben, mit seiner Geschichte, mit Gott.

C-I.M1

•• Das Zweite (oder: Neue) Testament dokumentiert die Versuche der Anhänger Jesu Christi um Deutung: -- einerseits: Was können wir neu von Gott lernen – durch die Worte und das Wirken Jesu? -- Und andererseits: Wer war (ist) dieser Jesus? Wie verstehen wir die Auferstehung? Und wie ­verstehen wir von der Auferstehung her sein Leben, seine Botschaft, sein Wesen?

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Nach Ostern (und Pfingsten) hat Paulus seine Briefe verfasst; nach Paulus hat Markus die Er­ zählungen, die über Jesus im Umlauf waren, zu einer ersten Lebens-Erzählung Jesu geordnet und damit die Gattung „Evangelium“ erfunden. Nach Markus haben sich auch Matthäus, Lukas und noch mal später Johannes daran gemacht, von Jesus zu erzählen. Die Weihnachtsgeschichten (Lukas und Matthäus) sind ebenso Deutungen wie die Auferstehungs­ geschichten. Ihre Wahrheit liegt in dem, was ihre Erzähler damit ausdrücken wollen: was Jesus damals und heute für Menschen bedeutet.

C-I.M1

C-I.M2 Weise Sprüche aus der Bibel

1. Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; Gott allein lenkt seinen Schritt. (Spr 16,9)

2. Der Mensch sieht, was vor Augen ist; Gott aber sieht das Herz an. (1 Sam 16,7)

3. Bei den Menschen ist’s unmöglich; aber bei Gott sind alle Dinge möglich.

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(Mt 19,26)

4. Gott lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. (Mt 5,45)

C-I.M2

5. Gott spricht: Ich habe dich je und je ­ geliebt; ich habe dich zu mir gezogen aus lauter Güte. ( Jer 31,3)

6. Gott spricht: Fürchte dich nicht; denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein. ( Jes 43,1)

7. Denn Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen. (Ps 91,11)

8. Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs; aber das Herz der Gottlosen ist unbarmherzig. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

(Spr 12,10)

9. Und Gott schuf den Menschen sich zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn, und schuf sie als Mann und Frau. (1 Mose 1,27)

C-I.M2

10. Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. (1 Mose 1,31)

11. Gott spricht: Solange die Erde besteht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. (1 Mose 8,22)

12. Gottes Gnade reicht, so weit der Himmel ist, und seine Treue, so weit die Wolken gehen. (Ps 108,5)

13. Gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte ist Gott.

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( Jona 4,2)

14. Von Jesus Christus wird gesagt: Das geknickte Rohr wird er nicht abbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. (Mt 12,20)

C-I.M2

15. Christus spricht: Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! (Mt 7,12)

16. Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt – und nimmt doch Schaden an seiner Seele? (Mt 16,25)

17. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr.

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(3 Mose 19,18)

C-I.M2

C-I.M3 Fremde Sprüche

1. Gottes Weg ging durch das Meer und Gottes Pfad durch große Wasser; doch niemand sah Gottes Spur.

2. Da nahm der Prophet Hananja das Joch vom Nacken des Propheten Jeremia und zerbrach es.

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3. Lass dich nicht hinreißen von der Sängerin, damit sie dich nicht mit ihren Künsten fängt.

4. Und sie fuhren weiter in die Gegend der Gerasener, die Galiläa gegenüber liegt.

C-I.M3

5. Und die Heuschrecken sahen aus wie Rosse, die zum Kampf gerüstet sind, und auf ihren Köpfen war es wie goldene Kronen …

6. Wer nun aussätzig ist, soll zerrissene Kleider tragen und das Haar lose und den Bart verhüllt und soll rufen: „Unrein! Unrein!“

7. Ist nicht Abraham, unser Vater, durch Werke gerecht geworden, als er seinen Sohn Isaak auf dem Altar opferte?

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8. Ihr sollt um eines Toten willen keine Einschnitte machen noch euch Zeichen einätzen; ich bin der Herr.

9. Wenn ein Mann oder eine Frau Geister beschwören oder Zeichen deuten kann, so sollen sie des Todes sterben; man soll sie steinigen.

C-I.M3

10. Gott sprach zu Saul: … verschone sie nicht, sondern töte Mann und Frau, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe …

11. Und als er den Weg ging, kamen kleine Knaben aus der Stadt heraus und verspotteten ihn (den Propheten Elisa)

12. Um den Abend: Siehe, da ist Schrecken, und ehe es Morgen wird, sind sie nicht mehr da.

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13. Weh dem, der mit seinem Schöpfer hadert, eine Scherbe unter irdenen Scherben!

14. Nach diesem Gebet trat sie zu der Säule oben an seinem Bett und griff nach seinem Schwert, das dort hing …

C-I.M3

15. Da stand er auf, nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich in die Nacht und entwich nach Ägypten.

16. Da hörten die drei Männer auf, Hiob zu fragen, weil er sich für gerecht hielt.

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17. Und als sie am Morgen an dem Feigenbaum vorbeikamen, sahen sie, dass er verdorrt war bis zur Wurzel.

C-I.M3

C-I.M4 Zum Umgang mit problematischen Bibelstellen „Darf“ ich beim Bibellesen über Texte, die mir schwierig vorkommen und die ich mit meinem Weltund Gottesbild nicht vereinbaren kann, einfach hinweggehen?

Einerseits •• Wir wollen die Bibel als Angebot lesen und prüfen. Insofern: Ja, wir dürfen.

Andererseits •• Die Texte der Bibel in ihrer kanonischen Zusammenstellung haben über Jahrhunderte Men­ schen bewegt und überzeugt. Wir stehen in ihrer Tradition. Insofern: Wir sollten es uns nicht zu leicht machen. Nur zu lesen und gelten zu lassen, was wir sowieso schon wissen und glauben, bringt uns nicht weiter. Lassen wir uns also auf sperrige Texte ein. Wie können sie lesen und ­prüfen. Und dann können wir auch entscheiden: Nein, hierzu muss man nein sagen.

Texte oder Gedanken, zu denen man nein sagen muss: •• die, die Ab- und Ausgrenzung, Gewalt und Hass predigen. •• die, die Körper- und Todesstrafen sanktionieren (z. B. indem Gott selbst in der Rolle des ­Strafenden dargestellt wird) •• die, die mit dem Motiv des „Auf die Probe Stellens“ argumentieren. In allen drei Fällen ist der Atem einer anderen Zeit zu spüren, in der Menschenleben nicht viel zählten (Feinde, Sünder), in der Frauen und Kinder Eigentum der Männer waren; in der Sklaverei, Kriege und Kriegsgefangene zum Alltag gehörten und Hierarchien nicht hinterfragt wurden.

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Wir leben in einer Zeit, die das Lebensrecht aller Völker und Menschen garantiert (wenigstens auf dem Papier), die Todes- und Körperstrafen abgeschafft hat (wenigstens in Westeuropa) und die ­unbedingtem Gehorsam gegenüber skeptisch geworden ist (späte Lehre aus zwei Weltkriegen). Was diesen Grundsätzen zuwider steht, sollte man weder bedenken noch weitergeben. Dass das Leben oft ungerecht erscheint, dass es hart ist und wehtut und dass der, der das erfährt und erleidet, dann auch Gott als hart und ungerecht erlebt, ja: zornig – das ist damit nicht bestrit­ ten. Abzulehnen ist lediglich, zur Deutung auf die Paradigmen „Strafe“, „Rache“ oder „Prüfung“ zurückzugreifen. Wir haben dabei die Bibel auf meiner Seite. Die Bibel gegen die Bibel? – Wie kann das sein? Das kann sein, wenn wir die Bibel von Jesu Verkündigung her lesen und auch von vielen alttestament­ lichen Texten her, die der Vorstellung von einem prüfenden, strafenden, eifersüchtigen und rach­ süchtigen Gott widersprechen. Die Bibel gegen die Bibel – ja, durchaus! Und zwar in dem Sinn, dass die Bibel einerseits den Atem ihrer Entstehungszeit(en) atmet, andererseits aber auch den Atem von etwas ganz Neuem: der un­ bedingten Hinwendung Gottes zu jedem einzelnen seiner Geschöpfe. Eine Regel aus der Literatur­ wissenschaft besagt: Das, was besonders ist, das, was aus dem allgemein Gewohnten heraussticht, das ist das Eigentliche.

C-I.M4

Rote Fäden Man hat oft versucht, einen gemeinsamen Nenner in den verschiedenen Gottesvorstellungen der biblischen Texte und Bücher zu finden, etwas, das sie zusammenhält und verbindet. „Was Christum treibet“, hat Martin Luther gesagt. Der Religionspädagoge und Bibeldidaktiker Horst Klaus Berg spricht von „Grundbescheiden“, die er den verschiedenen Erzähltraditionen entnimmt: a. Gott schenkt Leben (Schöpfung) b. Gott stiftet Gemeinschaft (Liebe, Partnerschaft, Bund, Ökumene) c. Gott leidet mit und an seinem Volk (Leiden und Leidenschaft; z. B. Hiob, Passion) d. Gott befreit die Unterdrückten (Befreiung, z. B. Exodus) e. Gott gibt seinen Geist (Heiliger Geist und Begeisterung) f. Gott herrscht in Ewigkeit (Gottesreich, Schalom) Hier seien drei roten Fäden vorgeschlagen: •• Gott sucht – ein Gegenüber; Menschen, die er segnet und begleitet; Menschen, die er beauftragt und sendet; die Kleinen, die Schwachen, die Verlorenen. •• Gott stört – die allzu Sicheren. Die, die glauben, es allein aus eigener Kraft schaffen zu können. Die, die es an Achtsamkeit für ihre Nächsten und die Welt fehlen lassen. •• Gott bleibt ein Geheimnis. Martin Luther spricht in diesem Zusammenhang vom „verborgenen Gott“, der die Kehrseite des zugewandten Gottes ist. Die Rede vom „verborgenen Gott“ steht für Lebenserfahrungen des Leids, der Einsamkeit, des Zweifels und der Hilflosigkeit. Sie bedeuten dann nicht: „Gott ist fort. Gott straft.“ Sondern: Gott ist unverfügbar, unergründbar, der „ganz Andere“. Dieselben drei roten Fäden gelten übrigens auch für Jesus – sein Handeln und Wirken, seine Ver­ kündigung und sein Gottesbild. Dazu kommt noch: Gott liebt das Leben, nicht den Tod. Und sein Name ist: „Ich bin, der ich bin, und ich bin für euch (dich) da“ (2 Mose 3,14).

Fazit: Wie gehen wir mit biblischen Texten um? Offen und frei. Sich darauf einlassen, auch auf Fremdes und Unbequemes.

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Kritisch. Stopp sagen, wenn die Grundwerte eines aufgeklärten, menschlichen, friedlichen Mit­ einanders auf dem Spiel stehen bzw. die Grundsätze einer Pädagogik, die Kindern die Entwicklung zu starken, selbstbewussten, empathischen und toleranten Individuen ermöglicht. Deutlich. Die Bibel gegen die Bibel in Anspruch nehmen. Gott in Anspruch nehmen gegen Geschich­ ten von Gott.

C-I.M4

C-I.M5 Metaphern

Achill ist ein Löwe.

Der Herr ist mein Hirte.

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Dieser Film ist der Hammer.

Das Baby ist ein Schreihals.

C-I.M5

Opa ist ein Schatz.

My home is my castle.

Dieser Skandal ist mein / sein … Tod.

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Lehrer X ist eine Pest.

Die Tänzerin ist eine Feder.

C-I.M5

Aschenputtel war ein hässliches Entlein.

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Mein Bruder ist das schwarze Schaf der Familie.

C-I.M5

C-I.M6 Theologen sind …

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Theologen sind Menschen, die im komplett dunklen Raum eine schwarze Katze suchen, die nicht da ist, und laut rufen: „Ich hab sie!“

C-I.M6

C-I.M7 Als Theologen …

Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.

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Karl Barth

C-I.M7

C-I.M8 Ich möchte von Gott reden wie von einem Menschen, den ich liebe Es hat Zeiten gegeben, in denen das Reden von Gott verhältnismäßig unproblematisch erschien. Man gab biblische und systematische Aussagen über Gott weiter, ohne die Art und Weise der Rede von Gott zu reflektieren – obwohl verantwortliche Theologie eigentlich immer gewusst hat, dass Gottes Wirklichkeit nicht in menschlichen Worten zu fassen ist. Heute ist es uns bewusster als zu anderen Zeiten, dass menschliches Reden von Gott schwie­ rig ist. Gott ist der „ganz andere“ (Karl Barth), sein Sein und Handeln lässt sich nicht mit un­ seren menschlichen Erfahrungen und Vorstellungen von einem „höheren Wesen“ gleichsetzen. So sind wir in unserem Reden von Gott vorsichtiger geworden. Theologische Aussagen sind ab­ strakter geworden und betonen häufig, was Gott nicht ist: nicht verfügbar, nicht objektivierbar, nicht „irgendwo dort droben“, aber auch nicht einfach in dem, was Menschen für wahr, gut und schön befinden. Die Scheu, von Gott ungeschützt zu reden, veranlasste manche, das Wort „Gott“ überhaupt zu vermeiden. In Gesprächen über den Glauben kann man häufig erleben, dass die Teilnehmer Um­ schreibungen verwenden, so als schämten sie sich und befürchteten, als naiv angesehen zu werden, wenn sie Gott schlicht bei dem Namen nennen, den er in unserer Sprache nun einmal hat. Nun können wir aber, wollen wir nicht gänzlich schweigen, von Gott nur in unserer Sprache sprechen. Und Sprache bedeutet: menschliche Vorstellungen, Bilder, Erfahrungen. Auch der ab­ strakteste Gottesbegriff ist Produkt menschlichen Denkens, auch Negativaussagen sind Bilder, wenngleich besonders blasse.

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Wenn ich erzähle, dass Gott vor Freude über seine Schöpfung lacht oder vor Schmerz über Kains Bluttat weint, so erscheint dies zunächst als kindlich-unreflektierte, unangemessen menschen­ gleiche Gottesvorstellung. Wenn man sich andererseits mit der Negation begnügt und feststellt, dass Gott „natürlich“ keine menschlichen Tränen weint und über kindlich-fröhliches Gelächter hoch erhaben ist, so ergibt auch das eine Vorstellung von Gott, und es ist die Frage, ob ein solcher Gott, einer, der weder lacht noch weint, der biblischen Überlieferung näher kommt. Durch die scheinbar so logische Negation der allzu menschlichen Züge nimmt man Gott gerade das, was ihn für uns lebendig macht und uns nahe sein lässt. Wenn wir Gott nicht mit einem menschlichen Her­ zen erfahren und verkündigen, dann erfahren und verkündigen wir ihn herzlos. Das Gebot, sich von Gott kein Bild zu machen (2. Mose 20,4), erfüllen wir nicht dadurch, dass wir Gott möglichst farblos und abstrakt statt bildhaft persönlich schildern. Sonst hätten alle Propheten und Jesus selbst es missachtet. Dieses Gebot ist vielmehr eine Warnung davor, Gott auf ein be­ stimmtes Bild, eine bestimmte Vorstellung festzulegen, den Unterschied zu vergessen zwischen un­ serer Darstellung und dem Dargestellten selbst. Das Volk Israel hat eine solche Festlegung Gottes gerade dadurch vermieden, dass es Gott persönlich-menschlich gezeichnet hat, mit Gefühlen und Leidenschaft. Dabei wussten die Verfasser der alten Schriften sehr gut, dass „der Himmel und aller Himmel Him­ mel Gott nicht fassen können“ (1. Könige 8,27) und dass Menschen Gott nicht ins Gesicht schauen können (2. Mose 33,20). Trotzdem gestalteten sie ihre Botschaft von Gott menschlich lebendig und gaben so ihren besonderen Erfahrungen und Einsichten Ausdruck.

C-I.M8

Alle Versuche, Gottes Wirklichkeit vor menschlicher Verzerrung zu schützen, schlagen ganz ein­ fach dadurch fehl, dass auch diese Versuche menschlich verzerrter Gedankenwelt entspringen. Wir haben nicht die Wahl, von Gott Adäquates oder Unzulängliches auszusagen, sondern nur die, die unzulänglich menschlich von ihm zu reden oder ganz zu schweigen. Darum möchte ich von Gott erzählen wie von einem Menschen, den ich liebe, und ihm damit den Platz lassen, auf den er sich durch seine Menschwerdung begeben hat.

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Hans Frör, Ich will von Gott erzählen wie von einem Menschen, den ich liebe © 2005, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

C-I.M8

C-I.M9 Indikativ – was ist gemeint?

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Sie finden hier fünf Sätze aus der Bibel, aus unterschiedlichen Zusammenhängen, der eine mehr, der andere weniger bekannt. Lesen Sie die Sätze laut.

1.

Ihn (= Jesus) hat Gott gesetzt zum Erben über alles; durch ihn hat er auch die Welt gemacht. (Hebr 1,2)

2.

Der Herr ist mein Hirte. (Psalm 23,1)

3.

Der Herr steht da zum Gericht und ist aufgetreten, sein Volk zu richten. ( Jes 3,13)

4.

Als der Herr sah, dass Lea ungeliebt war, machte er sie fruchtbar. (1 Mose 29,31)

5.

Am Anfang schuf Gott der Herr Himmel und Erde … (1 Mose 1,1)

Alle fünf Sätze stehen im Indikativ, dem Modus der ungebrochenen Wirklichkeit. Und doch ist Gott das Subjekt – Gott, von dem Menschen keine sicheren Aussagen machen können. Schlagen Sie die Stellen auf und prüfen Sie, wie dieser Indikativ jeweils gemeint ist.

C-I.M9

Lösung

1. Der erste Satz steht in einem Brief. Der Briefschreiber schreibt belehrend, verkündigend. Die Autorität hinter dem zitierten Satz ist seine eigene: So beantwortet er die Frage nach Christus. Er tut das in der Gewissheit, etwas Wahres entdeckt zu haben, und mit dem ­Anspruch: „Glaub mir.“ – Wer das weiß, kann mit ihm diskutieren.

2. Der zweite Satz steht in einem Psalm, einem Gebet. Der Beter spricht bekennend. Die Autori­ tät hinter dem zitierten Satz ist seine eigene: So hat er persönlich Gott erfahren. Er lädt dazu ein, diese Erfahrung nachzuvollziehen.  – Man kann versuchen, den Prozess, der zum Bekennt­nis geführt hat, zu rekonstruieren, zum Beispiel so: Der Mann ist selbst Hirte und kennt das Hirtenleben und die Verantwortung eines Hirten. Er weiß auch um die Unwägbarkeiten; in Unsicherheit und Gefahr wünscht er, er selbst hätte auch einen guten Hirten; und er erfährt: Er hat einen! Das ist Gott.

3. Der dritte Satz steht im Zusammenhang einer Prophetie. Der Prophet redet verkündigend. Die Autorität hinter dem zitierten Satz ist die Autorität seiner Vision: „So spricht Gott“. Er verlangt dringend Gehör: „Glaubt mir und kehrt um.“ – Die Plausibilität der Vision sowie der Drohung kann man prüfen.

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4. Der vierte Satz steht im Zusammenhang der Sagen um Jakob und seine Frauen. Im Stil ­neutraler Berichterstattung erzählt der Autor die Geschichte Israels als eine Familien­ geschichte. Er erzählt Gott als Urheber und als Motor dieser Geschichte. Die Autorität hinter dem zitierten Satz ist die Erfahrung seines Volkes: „Wir sind von Gott erwählt. Gott kümmert sich um uns. Unsere Väter und Mütter hat er begleitet.“ Das heißt: Die Bericht­ erstattung ist verwoben mit Theologie – mit einem starken, sicheren Bekenntnis zu Gottes Wirken. – Wer das weiß, kann mit eigenen Erfahrungen vergleichen.

5. Der fünfte Satz steht im Zusammenhang eines Mythos. Auf die existenzielle Frage nach dem Urgrund und Sinn des Lebens wird eine Geschichte erzählt. In ihrem Geist, nicht in den Buchstaben verbergen sich tiefe Einsicht und Weisheit. Die Autorität hinter dem zi­ tierten Satz ist die Weisheit des Erzählers und seiner Erzählung: menschliche Annäherung an ­Göttliches und damit eigentlich Unfassbares.

C-I.M9