BUCHBESPRECHUNGEN

Renate Schernus

Hausärztin im Kiez Porträt der Anna B. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2002, 136 Seiten, 12,90 Euro

Renate Schernus wird in der sozialpsychiatrischen Szene wegen ihrer bissigen Analysen gefürchtet und geliebt. Ihr „Plädoyer gegen den Machbarkeitswahn in Psychiatrie und Gesellschaft“ (so die gleichnamige Sammlung ihrer Aufsätze) war Höhepunkt manch einer Tagung. Im vorliegenden Buch ist sie als Erzählerin zwar präsent, hat sich aber verwandelt. Der Fokus ist ganz auf Anna Bogailoff gerichtet, die Freundin aus der Jugendzeit. Renate Schernus tritt zurück

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und gibt sich neugierig und verwundert, dabei etwas naiv, als staune ein Kind mit großen Augen über das Treiben einer Hausärztin in einem ungenannten Berliner Kiez. Mit diesem Blick folgt der Leser Renate Schernus – und erlebt tatsächlich ein Wunder. Die Praxis wird zunächst in ihrer eher kläglichen Ausstattung beschrieben; das ganze Team wirkt wenig spektakulär. Später ist zu erfahren, dass einige von ihnen ehemalige Patienten sind, womit eine basale Therapiemethode bereits verraten ist. Anna B. behandelt in ihrer Praxis die üblichen Gebrechen; darüber hinaus hat sie 20 Methadonpatienten, die sie am stärksten beanspruchen. Sie schätzt, dass 60 Prozent ihrer Patienten nicht im eigentlichen Sinne körperlich krank sind. Da gibt es den Mann, dem immer so schrecklich kalt ist. Anna B. geht mit ihm in ein Geschäft für Globetrotter und kauft ihm eine Polar-Unterhose, die er von nun an nicht mehr auszieht. Oder Tatjana mit den mysteriösen Schmerzen in den Füßen. Sie nimmt ihr Blut ab, klopft es 25-mal auf einen Block, nicht mehr und nicht weniger, und piekst ihr dann in die Füße. Oder die Methadonpatientin, die nicht mehr aus ihrem Bett raus will, weil es ihr immer so zieht. Anna B. bringt ihr das Methadon und Decken und Laken und baut ihr ein Himmelbett. Als das Ziehen immer noch nicht aufhört, gibt sie ihr ein Neuroleptikum, und langsam wird es besser, und inzwischen ist Frau Sürig ihre Sprechstundenhilfe. Derart märchenhafte, wahrlich un-

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glaubliche Geschichten durchziehen das ganze Buch, erzählt in eher banalem Ton, und eingebettet in weitaus weniger Spektakuläres, und somit beinahe neutralisiert. Fast unendlich viele Vermischungen und Verflechtungen werden geschildert: Fast alle Methadonpatienten müssen irgendetwas tun, entweder Briefmarken ablösen oder als „Situationsbetreuer“ gegen Entgelt alte Leute versorgen. Patienten kommen zu Anna B. nach Hause oder am Wochenende auf ihr Boot. Anschaffungen und Honorare, Geschenke oder aufwendige therapeutische Requisiten werden aus einem speziellen Fonds gespeist, der dank eines gutverdienenden Ehemanns immer gut gefüllt ist. Ergibt sich von selbst, dass Anna B. eigentlich rund um die Uhr arbeitet. Das Geheimnis von Anna B. ist Charisma, gepaart mit einer sympathischen Ratlosigkeit. Es bleibt ein pochender Argwohn im Hinterkopf, weil das kleine Buch mehr ist und sein will als nur die Geschichte einer völlig verrückten Praxis, die man ganz entspannt konsumieren könnte. „Nachmachen gewünscht!“ scheint in großen Lettern über den Kapiteln zu stehen. Aber die Heilige Theresa ist nicht zu imitieren, und so landet man bei den Ratschlägen aus der Supervision, an die eigenen Grenzen zu denken, die eigenen Motive kritisch zu prüfen. Aber mit der Floskel „Helfersyndrom“, dafür rügt schon vorab der Klappentext, ist Anna B. nicht beizukommen. Bleibt also nichts, als sich einfach aufstören zu lassen, das Buch weiterzugeben, und mit dem Streiten anzufangen. Ilse Eichenbrenner

BUCHBESPRECHUNGEN Tilmann Moser

Berührung auf der Couch Formen der analytischen Körperpsychotherapie Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001, 204 Seiten, 8 Euro

In einer meisterlich geschriebenen „Handreichung“ stellt Moser typische Behandlungsformen analytischer Körperpsychotherapie vor. Das Buch besteht aus zwei Hauptteilen. Der erste befasst sich mit den Berührungen auf der Couch (z.B. die Berührung der Stirn, das Halten des Kopfes, die Berührung am Nacken, der Hände oder das Experimentieren mit dem Blickkontakt). Der zweite Hauptteil handelt von den Formen der analytischen Körperpsychotherapie ohne Couch. Hier werden ebenso konkret die Formen der inszenierenden Interaktion vorgestellt (z.B. Rücken an Rücken sitzen, Kampfspiele, Schlagen und Treten usw.). Das Buch liest sich sehr flüssig. Mich hat die Verbindung zwischen der literarischen Sprache, dem Bezug zu den Phänomenen und der Klarheit beeindruckt, in der sehr differenzierte und komplexe Vorgänge erfasst werden. Ein Musterbeispiel sind seine Ausführungen zur projektiven Identifizierung, d.h. zu den geheimnisvollen Vorgängen, wenn sich der Psychotherapeut durch die Selbstzustände des Patienten quasi infiziert fühlt: Wie er das künstliche Verständnis in der herkömmlichen Psychoanalyse auf die konkreten Wirkungszusammenhänge zwischen Patient und Therapeut bezieht und dabei eine angemessene Sprache für diese basalen Vorgänge findet. Immer wieder wird deutlich, dass Inszenierungen oder Berührungen einen besonderen Zugang zu frühen Stadien der Selbstwerdung haben. Die Vielzahl der Beispiele zeigt, wie mit den angebotenen Berührungs- und Handlungsproben der Raum zwischen Analytiker und Patient um die Dimension des operativen Verstehens und Behandelns erweitert wird. Der Kosmos präverbaler Beziehungs- und Handlungserfahrungen ist nicht im verbalisierbaren Unbewussten gespeichert, sondern in einem Unbewussten, das nur über konkrete Handlungsdialoge zugänglich ist. Das Buch stellt eine praxeologische Fundgrube mit reichhaltigen Anregungen für analytische Körperpsychothera-

peuten und für Körperpsychotherapeuten mit tiefenpsychologischer Fundierung dar. Es bietet viele konkrete Hinweise, wie der therapeutische Raum für eine Inszenierung von Modellsituationen der Vergangenheit oder der aktuellen seelischen Wirklichkeit genutzt werden kann. Es ist ein hilfreiches Lehrbuch für Körperpsychotherapeuten, die die Übertragung und Gegenübertragung in der Arbeit mehr berücksichtigen wollen und nach Anleitungen suchen, wie die Gegenübertragungsreaktionen in hilfreiche therapeutische Interventionen transformiert werden können. Es bietet allen Psychoanalytikern, die an einer vorsichtigen Erweiterung ihres Repertoires interessiert sind, vielfältige Anstöße für erste Experimente in ihrer Behandlungspraxis. Günter Heisterkamp

Ursula Koch-Straube

Beratung in der Pflege Huber Verlag, Bern 2001, 211 Seiten, 24,95 Euro

Ursula Koch-Straube, Inhaberin einer pflegewissenschaftlichen Professur mit dem Schwerpunkt Beratung / Supervision an der evangelischen Fachhochschule in Bochum, liefert mit ihrem Buch „Beratung in der Pflege“ einen grundlegend ansetzenden Diskussionsbeitrag zum Thema. Koch-Straube favorisiert den so genannten „integrativen“ Ansatz, der aus der Gestalttherapie heraus von H. Petzold entwickelt wurde und für sich in Anspruch nimmt, alle vorhandenen Psychotherapieansätze zu einem einzigen schlüssigen Gesamtmodell zu vereinigen. Dementsprechend sind im „integrativen“ Ansatz die Psychoanalyse, die Verhaltenstherapie, die Gestalttherapie zu erkennen, aber auch soziologische Ansätze etc. Im Anschluss an die Ausführungen zu den psychotherapeutischen Ansätzen befasst Koch-Straube sich mit der Differenzierung von Psychotherapie und Beratung und macht jeweils Unterschiede in Zielsetzung und Rahmen deutlich, um dann den integrativen Psychotherapieansatz auf einen integrativen Beratungsansatz für die Pflege zu übertragen. Nach dem ersten Abschnitt des Buches, in dem theoretische Grundlagen für das Thema Beratung gelegt werden, befasst sich die Autorin mit der Pflege-

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BUCHBESPRECHUNGEN praxis und hebt hervor, dass Beratung wesentlich stärker zu einem Leitprinzip pflegerischen Handelns gemacht werden müsste, wovon die Realität im Gesundheitswesen aber noch weit entfernt sei. Sie leitet dabei für verschiedene pflegerische Aufgabenfelder Schwerpunkte des Beratungsbedarfs ab, z. B. für Überleitungspflege, Arbeit mit chronisch Kranken und Pflege in der Pädiatrie. Des Weiteren stellt sie Überlegungen dazu an, wie Beratung verstärkt in der Pflegepraxis verankert werden könnte. Neben den bekannten Möglichkeiten dazu, wie Supervision, kollegiale Supervision und der Forderung nach verstärkter Einbindung beraterischer Elemente in die Pflegeausbildung, empfiehlt sie die Einführung eines Pflegeberatungsstudiengangs. Frau Koch-Straubes Buchbeitrag zum Thema „Beratung in der Pflege“ ist vor allem dafür zu würdigen, dass er das derzeit noch vernachlässigte Thema sehr umfassend in den Blick nimmt. Für den am theoretischen Diskurs interessierten Leser wird vor allem deutlich, mit welchen Nachbarwissenschaften eine Theorie zur Beratung in der Pflege sich auseinandersetzen muss. Der kritische oder beraterisch tätige Leser wird aber KochStraubes Kritik an den renommierten Psychotherapieansätzen inhaltlich schwer nachvollziehen können. So teile ich die Schlussfolgerung Koch-Straubes auch nicht, dass für die Pflege der wenig bekannte „integrative“ Therapieansatz von H. Petzold als theoretische Basis der geeignetste sei. Bei ihrem Versuch, diesen auf einen Pflegeberatungsansatz zu übertragen, entsteht der Eindruck, dass es sich weniger um ein „integriertes“ Modell, sondern vielmehr um ein „additives“ handelt, bei dem situationsabhängig jeweils tiefenpsychologisch, verhaltenstherapeutisch usw. interveniert wird. Hinzu kommt, dass in den weiteren Ausführungen nicht wirklich klar wird, wie Koch-Straubes „integrativer“ Beratungsansatz in der pflegerischen Anwendung ganz konkret aussieht. Offen bleibt vor allem auch, welche Kriterien darüber entscheiden, in welchen konkreten Situationen jeweils Interventionen der unterschiedlichen Psychotherapieansätze angewendet werden sollen. Daneben entsteht die Frage, wer eine Kompetenz zur Pflegeberatung nach dem integrativen Beratungsansatz überhaupt haben könnte. Müssen PflegeberaterInnen also,

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um kompetent beraten zu können, zunächst tiefenpsychologische, personzentrierte, gestalttherapeutische usw. Ausbildungen durchlaufen, um dann in die Pflegeberatung einsteigen zu können? An Beratung interessierte Pflegepraktiker erkennen durch Koch-Straubes Buch, dass Beratung ein pflegerisches Grundinstrumentarium sein sollte, das im gesamten Pflegeprozess angewendet werden müsste. Praktische Unterstützung bei dem Bestreben, den von KochStraube bevorzugten „integrativen“ Ansatz in der Pflege auch tatsächlich anzuwenden, gibt dieses Buch jedoch bei näherer Betrachtung eher nicht. Es leistet somit zwar einen wichtigen Diskussionsbeitrag, macht aber weitere Veröffentlichungen zum Thema Beratung in der Pflege erforderlich, die Antworten auf praxisrelevante Fragen geben: Wie kann Pflegeberatung unter den spezifischen und oftmals schwierigen Praxisbedingungen für alle Beteiligten lebbar gestaltet werden? Wie kann Pflege konzeptionell begründet entscheiden, wann sie jeweils „somatische“ Pflegemaßnahmen durchführt, wann sie Informationen vermittelt, wann sie im Prozess der Krankheitsbewältigung hilft, wann sie den Patienten im persönlichen Wachstumsund Genesungsprozess fördert usw.? Wie können sich Pflegende die dafür erforderlichen Kompetenzen aneignen und erhalten? Agnes Koß

Martin Wollschläger (Hg.)

Sozialpsychiatrie Entwicklungen – Kontroversen – Perspektiven dgvt Verlag, Tübingen 2001, 908 Seiten, 49 Euro

In einer Zeit, in der über die Zukunft der Sozialpsychiatrie sorgenvoll diskutiert wird, legt Martin Wollschläger, Psychologe an der Westfälischen Klinik Gütersloh, einen anregenden Sammelband mit 52 Artikeln, Literatur- und AutorInnenverzeichnis und Namens-, Orts- und Sachregister auf über 900 Seiten vor: kurzum, einen Wälzer. Die Artikel verteilen sich auf folgende Gebiete: – Neuere und Zeitgeschichte der Psychiatrie; – Rechtsverhältnisse in der Psychiatrie;

BUCHBESPRECHUNGEN – Allgemeine Bestandsaufnahme und kritische Reflexion; – Orte psychiatrischen Handelns; – Psychiatrische Therapeutik; – Alternativen und Komplementäres; – Der Trialog aus Sicht der Psychiatrieerfahrenen und Angehörigen; – Forschung und Qualitätssicherung. Vorwort, Einleitung und Ausblick greifen die alte Diskussion darüber auf, ob Sozialpsychiatrie ein Spezialgebiet oder ein Wesensbestandteil der Psychiatrie ist und wie dieser Wesensbestandteil für die Zukunft gesichert werden kann. Führt die explizite Benennung als Sozialpsychiatrie zu einer deutlicheren Wahrnehmung der damit verbundenen Ansprüche oder dient sie eher der Aussonderung? Insbesondere die renommierten Ärzte sorgen sich darum, ob es dauerhaft gelingt, sozialwissenschaftliche Ansätze in der Medizin als wesentlich zu stabilisieren, und zwar sowohl unter Forschungs- wie unter Versorgungsaspekten. Die Zerreißprobe zwischen einer sozialen und einer naturwissenschaftlichtechnologischen Medizin wird exemplarisch deutlich an und in der Psychiatrie. Obwohl auf der wissenschaftstheoretischen Ebene die Befunde deutlich in Richtung auf ein multifaktorielles Bedingungsgefüge in der Entstehung und im Verlauf psychischer Erkrankungen weisen, werden Konsequenzen bezüglich entsprechender Forschungsdesigns und Mittelvergabe genauso wenig gezogen wie z.B. bezüglich der unterschiedlichen Zeitdynamiken von sozialen, psychischen und körperlichen Faktoren. Am Beispiel des gesellschaftlich geprägten Umgangs mit der Zeit lassen sich weitere Auswirkungen ablesen: so arbeitet eine Reihe von Artikeln den Zusammenhang zwischen Umgang mit der Zeit und Beziehung zwischen PatientInnen / Betroffenen und Tätigen heraus, so z. B. in den dichten Erzählungen in „Soteriaelemente in der psychiatrischen Pflichtversorgung. Möglichkeiten der Gewaltvermeidung“ oder in Renate Schernus’ „Umweg vor Zielgenauigkeit – Effektivitätsdogmen hinterfragen“. Sozialpsychiatrie könnte sich, folgt man diesem Buch, auch dadurch auszeichnen, dass in ihr die Beziehungen zwischen allen betroffenen Personen durch Respekt und Begegnung auf gleicher Höhe bestimmt sind. Die Publikation zeichnet sich dadurch aus, dass sie

das selbst realisiert: die Art und Weise, wie AutorInnen zu ihren Themen kamen, spielt für ihre Zuordnung zu den oben aufgezählten Gebieten ebenso wenig eine Rolle wie die Form, in der diese präsentiert werden. Entsprechend schlägt Wollschläger vor, den Begriff „Sozialpsychiatrie als Kennzeichnung für ein grundsätzlich multiperspektivisches, fächerübergreifendes und dabei gleichberechtigtes psychiatrisches Denken und Handeln weiterzuverwenden“. Was bringt das Buch? Es bringt eine Fülle von Anregungen zum Hineinschnuppern und Weiterlesen, zum Wiederbedenken, zum Bedauern über abgebrochene Entwicklungen. Es sichert aber auch durch seine Darstellung gewisse Entwicklungsprozesse. Es illustriert durch eine Vielzahl von Berichten, dass die Entwicklung medizinischer Teilgebiete wie aller Wissenschaften immer im Fluss ist und welche menschlichen Qualitäten der Medizin verloren gehen, wenn die sozialen an andere Fachdisziplinen abgegeben werden – mal abgesehen davon, dass sich die Frage stellt, mit welcher Berechtigung die Medizin dann über Versorgungsfragen mitreden will. Es ist ein Lehrbuch in dem Sinne, dass es die eigenen Fragen anregt und das Weitersuchen, wozu die umfangreichen Register und das Literaturverzeichnis sehr hilfreich sind. Es ist kein Lehrbuch in dem Sinne, dass es eine Systematik vermittelt. Da auch Lernen mit Umwegen verbunden ist, gehört es zumindest in jede Fach- und Hochschulbibliothek. Alexa-Köhler-Offierski

Jürgen Krauß / Petra Müller u.a.

Arzneimitteleinnahme Wann – Wie viel – Womit Deutscher Apotheker-Verlag, Stuttgart 2002, 320 Seiten, 22 Euro

Viele Bücher sind kaum mehr als Doubletten anderer Bücher, nur eben anders zusammengestellt. Dieses Buch jedoch ist etwas Neues. Es füllt eine Lücke, denn Folgendes passiert immer wieder: Man hat ein Arzneimittel verordnet, von dem man sicher ist, dass es passt; dazu ist der Patient zuverlässig in puncto Einnahme und trotzdem bleibt der Behandlungserfolg aus. Dann kann dies auch daran liegen, dass nicht berücksichtigt wurde, wie das Mittel einzunehmen ist, also, auf nüchternen Ma-

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BUCHBESPRECHUNGEN gen oder mit, oder nach dem Essen, oder auf keinen Fall zusammen mit Milch ... Es ist erstaunlich, wie viel Störwirkungen einfach aus falschen Einnahmeweisen oder aus Interaktionen mit anderen Mitteln resultieren. Um auf diesem Felde aufzuklären, widmet sich das Buch ganz den Fragen des Wann? – Wie viel? – Womit? Die Autoren geben für etwa 600 Arzneistoffe konkrete Einnahmeempfehlungen und pharmakokinetische Basis-Daten, die durch Angaben zum Wirkungseintritt und zur Wirkungsdauer ergänzt werden. Eigentlich ist das Buch für Apothekenmitarbeiter gedacht. Aber ich bin überzeugt, dass es auch auf internistischen, psychiatrischen oder geriatrischen Stationen oder auch in Altenheimen gute Dienste leisten kann. Hätten Sie zum Beispiel gewusst, welche Pharmaka auf gar keinen Fall mit Cola eingenommen werden sollten oder welche Störwirkungen Grapefruitsaft für andere Arzneien haben kann? Eine kleine Kritik: Für die 2. Auflage würde ich mir wünschen, dass noch die Interaktionen von hochdosierten Johanniskraut-Extrakten mit anderen Pharmaka, z.B. mit bestimmten Gerinnungshemmern und mit den Protease-Inhibitoren in der HIV-Therapie aufgenommen werden. Was auch fehlt sind Hinweise darauf, wie man Homöopathika und Anthroposophika einzunehmen hat. Wilfried Schubert

Aachener Hauspflege-Team (Hg.)

Handbuch der ambulanten Pflege – von Praktikern für Praktiker Hippokrates Verlag, Stuttgart 2001, 328 Seiten, 49,95 Euro

Derzeit erhalten etwa 1,4 Millionen Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung, um in ihrer häuslichen Umgebung betreut, versorgt und gepflegt zu werden. Die Anzahl steigt nach den Prognosen der Kostenträger und der zuständigen Ministerien in den nächsten Jahren auf über zwei Millionen an. Gründe dafür ergeben sich aus der demografischen Entwicklung und einer erhöhten Nachfrage, vor allem durch ältere Menschen und ihre Angehörigen. Eine Folge dieser Entwicklung ist der wachsende Bedarf an Pflegekräften im Marktseg-

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ment der ambulanten Pflege. Viele examinierte Kräfte in Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen überlegen sich, ob sie in diesen wachsenden Arbeitsbereich wechseln sollen. Weil die Pflegebereitschaft der Familien aus unterschiedlichen Gründen immer mehr zurückgeht, werden zusätzlich angelernte Hauspflegende und PflegehelferInnen für die Übernahme hauswirtschaftlicher und grundpflegerischer Aufgaben benötigt. Ein Streitthema der letzten Monate war die Green Card für „ausländische Haushaltshilfen in Pflegehaushalten“. Hierdurch könnte, so die Initiatoren, stillschweigend geduldete häusliche „Schwarzarbeit“ legalisiert und wenigstens teilweise dem Pflegenotstand abgeholfen werden. Für die Zielgruppen der angelernten Mitarbeiter/innen sowie der examinierten Pflegekräfte liegt nun ein Handbuch vor, das Wissen vermitteln bzw. auffrischen und Erfahrungen weitergeben will: „Sie haben gerade eine Anstellung als Hilfskraft in der häuslichen Pflege bekommen. Wie ging doch gleich die 30°Seitenlagerung? • Ihr Patient hat immer Schwierigkeiten einzuschlafen, aber der Hausarzt kümmert sich nicht. Auf der Suche nach einem geeigneten Naturheilmittel werden Sie fündig • Sie stehen vor der verschlossenen Tür Ihres Patienten. Das ist noch nie passiert! • Sie pflegen schon seit Jahren und beherrschen Ihren Job, doch der neue Patient stammt aus Russland. Wir haben Ihnen einen kleinen auf Ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Wortschatz an die Hand gegeben, mit dem Sie den Kontakt zu diesem Patienten zufriedenstellend gestalten können • Ihre demente Patientin verweigert eine wichtige Pflegemaßnahme. Mit einem kleinen Trick könnte es besser klappen.“ Diese und mehr Themen behandelt das Aachener Hauspflege-Team in zehn Kapiteln: Rund um den Beruf, rund um den Patienten, Körperpflege, Lagerung und Mobilisation, Kreislauf und Atmung, Nahrungsaufnahme und Ausscheidung, Geräte und Instrumente, Prophylaxen, spezielle Krankenpflege, Notfälle. Im Anhang finden sich Adressen von Selbsthilfegruppen, eine Liste gebräuchlicher Medikamente in der Haus- und Altenpflege, eine Sprachta-

BUCHBESPRECHUNGEN belle pflegebezogener Begriffe in Englisch, Französisch, Italienisch, Polnisch, Russisch, Spanisch und Türkisch sowie ein Glossar und ein Fremdwortverzeichnis. Wichtige Themen wie „Gewalt in der Pflege“, Stressbewältigung, Umgang mit „schwierigen“ Patienten werden ebenso angesprochen wie Techniken der Gesprächsführung oder der Umgang mit Angehörigen. Insgesamt also ein Handbuch, das neben solidem pflegerischen Grundwissen in praxisorientierten Beschreibungen und vielen Abbildungen konkrete Hilfen, Tipps und Tricks für Pflegende im Bereich der ambulanten Pflege anbietet. Karl Stanjek

Rudolf Tischner

Das Werden der Homöopathie Geschichte der Homöopathie vom Altertum bis zur neuesten Zeit Neuauflage der Ausgabe von 1950 Mit einem Nachtrag von Robert Jütte Johannes Sonntag Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 2001, 253 Seiten, 49,95 Euro

Wer tiefer in das Wesen der Homöopathie eindringen möchte, dem bleibt es nicht erspart, sich mit deren Wurzeln intensiver zu beschäftigen. Das Lesen der Originalwerke Hahnemanns, seiner Streitschriften und der Repliken seiner Widersacher ist hierfür nach wie vor der „Königsweg“. Wer diesen nicht einschlagen kann, sich aber rasch und dennoch umfassend einen Einblick in die historischen Zusammenhänge verschaffen möchte, sei auf das Buch von Rudolf Tischner „Das Werden der Homöopathie“ verwiesen. Wie in wenigen Fällen ist hierbei ein bedeutendes Werk und der Name seines Autors zu einem Begriff verschmolzen. Die Restauflage der in den Jahren 1932 bis 1939 im Verlag Dr. Willmar Schwalbe in vier Teilen erschienenen „Geschichte der Homöopathie“ wurde 1943 bei einem Bombenangriff vernichtet. Eine verbesserte Neuauflage des „Klassikers“ kam nicht zustande. Umso erfreulicher ist es, dass die Johannes Sonntag Verlagsbuchhandlung nun das Standardwerk zur Geschichte der Homöopathie in einer Neuausgabe vorgelegt hat. In knapper Sachlichkeit und ohne Voreingenommenheit präsentiert das nach wie vor erstaunlich aktuelle Buch

den Entwicklungsgang der Hahnemannschen Lehre, wobei es dem Autor gelungen ist, die Geschichte der Homöopathie lebendig und anschaulich zu entfalten. Für die Neuauflage hat Robert Jütte vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart „Nachträge und Ergänzungen“ beigesteuert. Durch sie soll die Aufmerksamkeit auf persönliche und zeitgebundene Wertungen gelenkt werden, die Tischner vornahm und die teilweise mit der damals führenden Richtung in der Homöopathie konform gingen; zudem – was viel schwieriger ist – versucht er die recht umfangreiche Forschungsliteratur, die in den letzten 50 Jahren zu diesem Thema erschienen ist, auf knappem Raum und somit ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu referieren. Während sich zu Tischners Lebzeiten nur wenige Gelehrte mit der Geschichte dieser Außenseitermedizin beschäftigten, hat sich die Situation inzwischen grundlegend verändert. So entstehen mittlerweile nicht nur an zahlreichen medizinhistorischen Instituten im Inund Ausland Dissertationen zur Geschichte der Homöopathie, es gibt auch mit dem Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung, die seit 1980 einen ihrer beiden Schwerpunkte auf diesem Gebiet hat und ein internationales Netzwerk von (Medizin-)Historikern, die zur Homöopathie forschen, koordiniert. Angesichts einer rasanten Entwicklung ist es nach Ansicht Jüttes bedauerlich, dass Versuche, die Entwicklung der letzten fünf Jahrzehnte aus der Sicht der Medizingeschichte zu schreiben und damit Tischners Werk fortzuschreiben, bislang kaum unternommen wurden. Von daher bleibe zu hoffen, dass mit größer werdendem zeitlichen Abstand auch das Interesse an der Zeitgeschichte unter Homöopathiehistorikern wachsen wird, zumal auch die Quellenbasis recht gut ist. Dem bleibt nichts hinzuzufügen. Die Neuausgabe dieses Standardwerks zur Homöopathiegeschichte ist sehr zu begrüßen, zumal es nunmehr einem interessierten Publikum sehr leicht möglich ist, sich in kurzer Zeit einen fundierten Überblick über das Thema zu verschaffen und sich intensiv damit auseinander zu setzen. Hubert Kolling

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BUCHBESPRECHUNGEN Klaus Dörner / Ursula Plog / Christine Teller / Frank Wendt

Irren ist menschlich Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie Psychiatrie Verlag, Neuausgabe, Bonn 2002, 655 Seiten, 25 Euro

Ein Klassiker unter den psychiatrischen Lehrbüchern kommt in einer Neuausgabe auf den Markt, schon äußerlich erkennbar daran, dass zwei AutorInnen dazu gekommen sind, der Seitenumfang auf 655 angestiegen und ein Kapitel – der für sich und Andere gefahrvolle Mensch (die forensische Seite) – eingefügt wurde. Dieses Lehrbuch wendet sich an den „lernenden Leser“ und will ihn / sie befähigen, das Examen in Psychiatrie / Psychotherapie zu bestehen, indem es Wissen und Fähigkeiten, aber auch Haltungen vermittelt. Letzteres gelingt ihm durch die Vielzahl von Übungsanregungen, die insbesondere die Begegnungen, die Beziehungen und den sozialen Kontext mit in den Blick nehmen. Es gelingt auch über die teilweise steilen Formulierungen und provozierenden Einseitigkeiten, die die Entwicklung eigener Fragen und Positionen und Abgrenzungen herausfordert – und das ist nicht schlecht. „Irren ist menschlich“ wird getragen durch eine ethische Grundhaltung, die sich an den chronisch Kranken als den Schwächsten orientiert. Es verträgt sich allerdings mit den ethischen Ansprüchen dieses Buches nicht, mein Kind in die Apotheke zu schicken, um ein Schlafmittel zu kaufen, wie auf S. 257 als Übung vorgeschlagen wird. Ich wünsche mir auch in Zukunft, dass differenzierter reflektiert wird, was „das Produkt in der Psychiatrie“ (S. 42) ist, jedenfalls widerspricht es einer Grundhaltung, die den Anderen als Subjekt sehen möchte, ihn als solches zu bezeichnen. Diejenigen LeserInnen, die sich in der Psychiatrie neu orientieren, finden in 19 Kapiteln alle psychiatrischen Krankheitsgruppen dargestellt in den Dimensionen Selbst-, Beziehungs-, Körperund Lebensalterkränkung. Hinzu kommen Kapitel, die psychiatrisch Tätige, das psychiatrische Hilfesystem, Psychiatriegeschichte, sozio-, körper- und psychotherapeutische Techniken und die rechtlichen Rahmenbedingungen (sehr hilfreich!) thematisieren. Im Anhang fin-

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den sich Hinweise auf grundlegende Literatur, Adressen und Register. Diejenigen LeserInnen, die bereits frühere Ausgaben kennen, können vermerken, dass „Irren ist menschlich“ ein Lehrbuch ist, das einen fortlaufenden Lernprozess widerspiegelt. Einige weitere Beispiele: In der Darstellung „Der sich und Anderen helfende Mensch“ sind nicht nur Zwischenüberschriften verändert (z.B. als Teil der Wahrnehmung der Auffälligkeiten: sich einlassen, riskieren, reifen bzw. Macht ausüben), sondern die Veränderungen gehen bis in detaillierte Darstellungen hinein (einschließlich der Revision veralteter epidemiologischer Angaben und Therapieverfahren in den letzten Ausgaben). So bleibt die Hoffnung, dass die AutorInnen uns weiter an ihrem Lernprozess teilhaben lassen, die Metapher des „Ersatzspielers“ oder der „Halbwertzeit der psychiatrischen Reformbewegung“ reflektieren, in der nächsten Ausgabe den Autor (Hartmut Bargfrede) des insgesamt gelungenen Kapitels über die forensische Psychiatrie nicht nur irgendwo in der Gebrauchsanweisung nennen, vielleicht auch Peter Mrozynski für das Kapitel Recht und Gerechtigkeit. Alexa Köhler-Offierski