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Marinelli, L. (2009): Tricks der Evidenz. Zur Geschichte psychoanalytischer Medien. Herausgegeben von Andreas Mayer. Mit einem Vorwort von John Forrester. Wien/Berlin: Turia + Kant (= Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse, Band 1) Marinelli, L. (2009): Psyches Kanon. Zur Publikationsgeschichte rund um den Internationalen Psychoanalytischen Verlag. Editorisch bearbeitet von Christian Huber und Walter Chramosta. Mit einem Vorwort von Jacqueline Carroy. Wien/Berlin: Turia + Kant (= Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse, Band 2) Marinelli, L. & Mayer, A. (2009): Träume nach Freud. Die »Traumdeutung« und die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. Zweite, durchgesehene Auflage. Mit einem Vorwort von John C. Burnham. Wien/Berlin: Turia + Kant (= Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse, Band 3) Am 8. September 2008 hat sich Lydia Marinelli das Leben genommen. Etwa ein Jahr später gelangten drei Bände mit Texten vorwiegend aus ihrer Feder zur Veröffentlichung. Das Leben, mit dem sie nichts mehr zu tun haben wollte, bewahrt sich seitdem als Nachhall ihres Sprechens und Schreibens in einem Memorial, das man nicht nach vorgegebenen Öffnungszeiten, sondern lesend zu beliebigen Tages- und Nachtzeiten, beliebig lang und beliebig oft besuchen kann, um darin zu lernen, was eine hochtalentierte Historikerin aus ihrem Leben (Widrigkeiten und Anfeindungen zum Trotz) gemacht hat. Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse ist der Generaltitel, der einen Aufsatzband, die überarbeitete Fassung einer Dissertation und eine Monographie über die verwickelte Geschichte der Traumdeutung Sigmund Freuds umklammert. Der ach so konventionelle Generaltitel verrät allerdings nicht, daß es sich um ein ganz andere als um eine konventionelle Geschichte der Psychoanalyse handelt. Bücher, Almanache, Verleger, Übersetzungsprobleme, Tantieme, Editionspolitiken, Filme, eine echte Mütze (und Thomas Bernhard als Erzähler), verstaubte Überreste vergangener Zivilisationen, Vitrinen, Möbel und anderes häusliches Requisit, Klassenlotterien, Photographien und so weiter übernehmen in dieser Geschichte der Psychoanalyse Haupt- und Nebenrollen – und eben nicht mehr oder minder umstrittene Theorien einer »neuen Wissenschaft«, wenige männliche Helden (oder Giganten, wie es beim Wissenschaftssoziologen Robert King Merton hieß), Verführungen cum fundamento in re oder Verführungen de dicto, Traumata, Richtungskämpfe und Spaltungen, Topiken, Lesarten des Unbewußten, hier und dort ein tyrannisches Überich in mancher Variation und abgründige Familienromane. Oder etwas genauer, wenn Sigmund und Anna Freud, Wilhelm Stekel, Sándor Ferenczi, Max Eitingon oder kaum bekannte PersoBuchbesprechungen
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nen wie Edwin Porter oder John Mourly Vold auftreten, dann fast durchweg als Aktanten materieller Praktiken (wie Aufschreiben, Sammeln, Abzählen, Übertragen, Filmen, Photographieren, Klassifizieren), in denen sich die psychoanalytische Bewegung mal so, mal anders verkörperte, ohne mit diesen Verkörperungen ganz eins zu werden und schon gar eins zu sein. Daß Sigmund Freud als die hell leuchtende und grell erleuchtende Gründerfigur der Psychoanalyse nicht mehr den beherrschenden Fokus historischen Rekonstruktionen durch Lydia Marinellis bildet, mag von der einen oder vom anderen als Kränkung erlebt werden. Doch die geschichtliche Sach- und Quellenlage macht es einem beinahe zum Gebot, so vorzugehen, wie es in diesen drei Bänden auf vorbildliche Weise geschieht. Nehmen wir den Fall der Traumdeutung. Die Entstehung dieser bereits im November 1899 erschienenen, auf das 20. Jahrhundert vordatierten Monographie ist unzweifelhaft vielen abendlichen Anstrengungen und kühnen Ideen ihres Autors geschuldet. Nur ist das nicht das Buch, das seit 1950 sowohl in seiner Ursprache wie auch in seinen Übersetzungen zu den psychoanalytischen Verkaufsschlagern zählt. Von Auflage zu Auflage erfuhr der Text der Traumdeutungen Veränderungen, die jeden Versuch zunichte machen, die Autorschaft unzweifelhaft nur einer Person zuzuschreiben. Zur vierten Auflage steuerte Otto Rank als »nichtärztlicher Hausphilologe« unter eigenem Namen (folglich: mit Zustimmung der Erstautors) zwei Textstücke bei, die in den Auflagen nach dem Zerwürfnis zwischen Freud und dem bezahlten Sekretär der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung prompt aus dem Buch verschwanden. Ziel dieser Zusammenarbeit war es, wie Marinelli und Mayer hervorheben, »die Universalität der im fünften Kapitel der Traumdeutung erstmals erwähnten Träume vom ›Tod theurer Personen‹ zu stützen, die Freud mit der Ödipustragödie verbunden hatte. In der ersten Fassung des Buches hatte Freud diese mehr beiläufig erwähnten Träume mit der literarischen Vorlage des Sophokles verknüpft, ohne sie zum Bestandteil einer Komplexlehre zu machen. Erst jetzt sollte das Kapitel stärker an die Doktrin des ›Ödipuskomplexes‹ angeschlossen werden, die Freud inzwischen zum Schibboleth des psychoanalytischen Neurosenlehre erhoben hatte.« (Bd. 3, S. 83-84) Eine Folgerung dieser historischen Erkenntnis läßt sich rasch ziehen: Wer die vierte Auflage der Traumdeutung las, gewann nicht zuletzt vom theoretischen Gehalt und von der sprachlichen Entfaltung desselben ein anderes Bild als die Leser der ersten oder jene der letzten, wiederum veränderten Auflage des Buches. Und von der Perennität des Ödipuskomplexes im Werk Freuds, von der alltenhalben ausgegangen wird, dürfte eigentlich nicht mehr die Rede sein. Man weiß zwar, daß der mehrdeutige Satz vom Lernen aus der Geschichte zumeist nur hinsichtlich ihrer ungünstigen Folgen ausgelegt (und ausgelebt) wird; es ist also kaum zu erwarten, daß die Lehre vom Ödipuskomplex nach besserem historischen Wissen plötzlich historisiert werden wird. Es dürfte indes niemandem schaden, wenn man sich in Anbetracht dieser fein differenzenden Untersuchung
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der Geschichte des Freudschen Buches wieder Gedanken über den Status des Ödipuskomplexes macht. Die Traumdeutung war zunächst als einführendes Lehrbuch in die (klinische) Psychoanalyse konzipiert. Daß der Text diese Funktion nicht zu erfüllen vermochte, belegt der Briefwechsel zwischen Freud und dem in Zürich weilenden Eugen Bleuler – ein Briefwechsel, der nicht deshalb stattfand, weil der Psychiater vom Burghölzli irgendwelche beflügelnde Gedanken mit dem Meister aus Wien tauschen wollte, sondern deshalb, weil die Traumdeutung nur auf unzureichende Art oder womöglich überhaupt nicht vormachte, wie man psychoanalytisch arbeitet. Daraus ergab sich für Bleuler die Notwendigkeit, eine (Pseudo-)Lehranalyse auf postalischem Wege einzuleiten, woraus sich ihrerseits eine für die Historiographie der Psychoanalyse wertvolle Quellensammlung ergab, die von Marinelli & Mayer ausgewertet wurde und in ihrer Monographie auch einzusehen ist (Bd 3, S. 38-49 sowie der Anhang mit Briefen Bleulers an Freud, S. 155-170). Wenn die Traumdeutung als Lehrbuch nicht rezeptionsfähig war, als was wurde sie denn rezipiert? Zunächst als Hilfestellung psychoanalytisch gerechter Traumarbeit. Das war von Freud und seinen Anhängern bestimmt nicht erwünscht. So geschah es aber, weil das Buch, sobald es öffentlich verfügbar, öffentlich in seinen Wirkungen nicht mehr beherrschbar war. Eine wunderbare Analyse eben dieses Aspekts der Geschichtlichkeit, in die sich die Traumdeutung einschreibt, ist im Aufsatz »Wie psychoanalytische Bücher Träume und Psychoanalysen Bücher verändern können« zu finden (Bd. 1, S. 79-114). Da heißt es: Studenten brachten Träume [in Freuds Vorlesungen an der medizinischen Fakultät der Universität Wien], deren Struktur und Inhalt sich genau an die von Freud vorgetragenen anlehnten oder einzelne Elemente der in der Traumdeutung vorgebrachten Szenen aufgriffen, um sie in neue Zusammenhänge zu stellen. An diesen ›nachgeträumten‹ Beispielen lässt sich immer weniger eine klare Trennung zwischen Theorie und beobachtetem Phänomen aufrechterhalten, bis schlussendlich die Theorie selbst geträumt wird. (Bd. 1, S. 89)
Die Vorstellung, daß sich einzelne Bestandteile psychoanalytischer Theorien gleichsam nach der Logik des mit offenen Augen sich vollziehenden Schlafwandlertums ergeben haben, ist zugleich bestechend und innovativ. Allein schon das Aufdecken des engen Zusammenhangs von Traumarbeit und Arbeit am Traumwissen (und wer weiß mit Sicherheit, ob sich dieser Zusammenhang seit damals geändert hat?), wirft auf die historische Dynamik der Psychoanalyse ein Licht, das Ultraviolettstrahlen bei Anwendung in der Dunkelheit vergleichbar ist: Man erkennt plötzlich etwas, das zuvor schon da war und nun als Sichtbargewordenes das Blickfeld für Dinge, deren man im Tageslicht ansichtig wird, umorganisiert. Die Traumdeutung wurde ferner als Symbollexikon konzipiert und rezipiert. Die Konzeption des Symbollexikons erweist sich bei genauerem Buchbesprechungen
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Hinsehen als Ergebnis einer intensiven Sammelarbeit eines Kollektivs, auf das Freud, zwar nach wie vor in der Rolle des Federführers, wie ein Resonanzkörper reagierte, indem er seine Position revidierte, neue theoretische Gesichtspunkte entwickelte, widerstrebend dem einen oder anderen Einwand nachgab, und so weiter. Und schließlich wurde das Buch in einer dritten Phase, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs einsetzte, als historisches Selbstzeugnis seines Autors rezipiert. Von nun an hatten die Selbstanalysen zunehmend als Zeugnisse eines teils schmerzhaften, teils an peinliche Geständnisse erinnernden Selbsterkenntnisprozesses Bestand. Und an den Nachwirkungen dieser Rezeptionsweise zeigt es sich, daß letztlich sie die Oberhand gewann. Das Traumsubjekt Freud, dem er in der Selbstdeutung durch sein waches Erkenntnis-Ich wiederbegegnete, wurde ungefragt einem endlosen scheinenden, sekundären, sogar tertiären Deutungsprozeß unterworfen, in dem Gedankenassoziationen und Gegenübertragungen der Hermeneuten die Grundlage des (eigentlich mißbräuchlich so bezeichneten) historischen Erkennens bilden.1 Wer im Wiener Freud Museum die eine oder andere, von Lydia Marinelli kuratierte Ausstellung besuchte und die zu diesen Anlässen veröffentlichten Kataloge zur Hand nahm, wird die dort abgedruckten Texte der Kuratorin in Tricks der Evidenz wiederfinden. Das Wiederfinden ereignet sich jetzt aber in einem Kontext, aus dem die Zielstrebigkeit der Autorin hin zu einer innovativen Lesart der Geschichte der Psychoanalyse klar konturiert aufscheint.2 Der gänzlich aus dem Nachlaß der Autorin stammende Band Psyches Kanon enthält die editorisch zubereitete Dissertation, deren Veröffentlichung Lydia Marinelli zu Lebzeiten begonnen, dann aufgeschoben, dann wiederbegonnen hatte. Auch in diesem Band wird die Geschichte der Psychoanalyse vom Medium ihrer Verbreitung her aufgerollt – von jenen Vermittlungsinstrumenten her, die produziert wurden, um die Auffassungen Freuds und, später, die seiner Mitstreiter, Widersacher, Nachfolger, Freunde und Feinde überhaupt erst greifbar zu machen. Psyches Kanon versinnbildlicht in dem dreibändigen Memorial für Lydia Marinelli jene Seite ihres Arbeitens, die zuvor fast nur vom Hörensagen bekannt geworden war. Auf diesen Band hätten die Bearbeiter allemal die 1
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Ein jüngeres Beispiel unter mehreren für diese hochesoterische Herangehensweise: die auf hauchdünner Empirie (einem Eintrag in das Gästebuch eines Hotels) durchgeführte, geschwätzige und doch zu keinem eindeutigen Ergebnis führende Rekonstruktion des kürzesten Aufenthalts der Gäste Sigmund Freud und Minna Bernays im Engadin in Franz Maciejewski: Freud in Maloja. Die Engadiner Reise mit Minna Bernays. Berlin: Osburg Verlag, 2008. Zur methodologischen Einordnung dieser innovativen Lesart der Geschichte der Psychoanalyse siehe John Burnham: The ›New Freud Studies‹: A historiographical shift, in: The Journal of the Historical Society, 6/2, 2006, S. 213-233.
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gleiche Sorgfalt verwenden müssen, die die Autorin in ihre anderswo schon veröffentlichte und in Tricks der Evidenz erneut abgedruckte Beiträge investiert hat. So ist es indes nicht geschehen. Die editorischen Bearbeiter und der Verleger von Psyches Kanon haben also ohne Not ein Memorial mit unübersehbaren Rissen zu verantworten.3 Weniger Eile hätte dem Denkmal für die Verstorbene nicht das Aussehen einer Baustelle belassen. Von Tieren ist in den drei Bänden wenig die Rede. Wenn von Tieren hier die Rede ist, dann sind sowohl Lebewesen – die Hunde im Freudschen Haushalt – als auch symbolische oder symbolisierende Tiere wie der Wolf (als Gattungstier) im Seelenleben des Wolfsmanns gemeint. Lydia Marinelli hat mal hier, mal dort über das Tierthema referiert. Mag sein, daß sich im Nachlaß Spuren dieses Zugangs zur Geschichte der Psychoanalyse erhalten haben. Wie dem auch sei – mehr noch als die auf Personen zugeschnittenen historiographischen Untersuchungen Marinellis belegt auch dieser noch unerschlossene Teil ihres Lebenswerks die Ergiebigkeit einer Methode, die zielbewußt die Ideen- und Theoriegeschichte abwies, um ausgiebig den analytischen Blick auf Zwischenobjekte in Gestalt von Tieren und Möbeln und Büchern und göttlichen Statuetten zu lenken. (Alexandre Métraux, Mannheim)
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Zur Ergänzung und in verstohlener Petit-Schrift: Grammatische Unbeholfenheiten (Singular statt Plural, fehlende Hilfsverben usw.) sind überzufällig stehen geblieben, so auf S. 117, S. 130, S. 147, Fußnote 277 usw. usw.; an etlichen Stellen erfolgt der Wechsel von einer der Vergangenheitsformen zum historischen Präsens – und umgekehrt – auf schwer nachvollziehbare, jedenfalls auf unsensible Art und Weise, und und und …
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