Einführung in das Wirtschaftsrecht Band I

Vertragsrecht Vito Roberto / Bernhard Stehle

Vorwort Verträge bilden einen unverzichtbaren Teil des Wirtschaftslebens. Entsprechend ist das Vertragsrecht zentraler Bestandteil des Wirtschaftsrechts. Unternehmen schliessen nicht nur Verträge ab, sondern sind regelmässig auch mit haftpflichtrechtlichen Ansprüchen konfrontiert. Zentral ist dabei insbesondere die Haftung im Rahmen des Produktevertriebs. Mit diesen Themen befasst sich das vorliegende Werk. Es beruht auf dem Skript „Einführung ins Privatrecht“, welches die Bachelorstudierenden an der Universität St. Gallen im Rahmen ihrer Privat- und Wirtschaftsrechtsvorlesungen begleitete. Dieses Skript wurde aus didaktischen Gründen umgestaltet. Der allgemeine Teil des Obligationenrechts (OR AT) und die einzelnen Verträge (OR BT) werden nicht mehr in getrennten Teilen dargestellt, sondern gemeinsam behandelt. Erfahrungsgemäss ist es für jene, die sich zum ersten Mal mit dem Obligationenrecht befassen, schwierig, sich in der (historisch begründeten) Zweiteilung des Vertragsrechts zurechtzufinden. Sodann spielen in der Praxis der allgemeine und der besondere Teil des OR ohnehin stets ineinander, und es müssen deshalb jeweils beide Teile gemeinsam berücksichtigt werden. Das Werk beginnt mit einer Einführung in die Grundlagen und Grundbegriffe des Vertragsrechts samt Überblick über die verschiedenen Vertragsarten. Danach geht es folgenden zentralen Fragen nach: Wie kommt ein Vertrag gültig zustande? Welche Rechte und Pflichten schafft er? Welche Rechtsfolgen hat die Vertragsverletzung? Wann endet die vertragliche Leistungspflicht und der Vertrag? Abschliessend werden die Grundzüge der Haftung für Produkte erläutert. Bei didaktisch neu gestalteten Werken besteht eine erhöhte Gefahr, dass sich Fehler einschleichen. Für entsprechende Hinweise sind wir dankbar.

St. Gallen, im August 2015

Vito Roberto / Bernhard Stehle

5

Inhaltsverzeichnis INHALTSVERZEICHNIS ...................................................................................... 5 KAPITEL I – EINFÜHRUNG .............................................................................. 11 1

ZGB und OR............................................................................................ 11

2

Die Einleitungsartikel des ZGB ............................................................... 14 2.1 Art. 1 ZGB: Rechtsfindung ................................................................... 14 2.2 Art. 2 ZGB: Treu und Glauben und Rechtsmissbrauchsverbot............ 16 2.3 Art. 3 ZGB: Schutz des guten Glaubens............................................... 17 2.4 Art. 8 ZGB: Beweislastverteilung ........................................................ 17

3

Personenrecht........................................................................................ 18 3.1 Natürliche Personen ........................................................................... 18 3.2 Juristische Personen ........................................................................... 21

4

Grundbegriffe des Obligationenrechts ................................................... 24 4.1 Obligation und Obliegenheit ............................................................... 24 4.2 Willenserklärung und Rechtsgeschäft................................................. 24

5

Entstehungsgründe der Obligation......................................................... 26

6

Die einzelnen Vertragsverhältnisse: Überblick und Abgrenzungen ........ 28 6.1 Die gesetzlich geregelten Verträge (Nominatverträge) ...................... 29 6.1.1 Veräusserungsverträge ............................................................... 30 6.1.2 Gebrauchsüberlassungsverträge ................................................ 30 6.1.3 Verträge auf Arbeits- bzw. Dienstleistung .................................. 31 6.1.4 Hinterlegungs- und Sicherungsverträge ..................................... 34 6.1.5 Die einfache Gesellschaft ............................................................ 35 6.2 Die Innominatverträge ........................................................................ 35

7

Fragen und Fälle für das Selbststudium .................................................. 36

KAPITEL II – VERTRAGSSCHLUSS .................................................................... 39 1

Die vorvertragliche Phase ...................................................................... 39 1.1 Die Pflicht, fair und redlich zu verhandeln .......................................... 39 1.2 Die Strukturierung der vorvertraglichen Phase .................................. 41 1.2.1 Geheimhaltungsvereinbarung .................................................... 41 1.2.2 Memorandum of Understanding ................................................ 41 1.2.3 Letter of Intent ............................................................................ 42 1.2.4 Heads of Agreement ................................................................... 42 1.2.5 Vorvertrag ................................................................................... 42 1.3 Praktische Empfehlungen für die vorvertragliche Phase .................... 42

2

Antrag und Annahme ............................................................................. 43 2.1 Antrag ................................................................................................. 44 2.2 Annahme............................................................................................. 48

6

Inhaltsverzeichnis

2.3

Vertrag und Gefälligkeit ...................................................................... 51

3

Auslegung und Ergänzung von Verträgen ................................................52 3.1 Die Vertragsauslegung ........................................................................ 52 3.2 Die Vertragsergänzung........................................................................ 56

4

Die Form der Verträge ............................................................................57

5

Zulässiger Vertragsinhalt ........................................................................59 5.1 Widerrechtlichkeit .............................................................................. 59 5.2 Sittenwidrigkeit ................................................................................... 60 5.3 Persönlichkeitsverletzungen ............................................................... 61 5.4 Unmöglichkeit ..................................................................................... 62 5.5 Nichtigkeit als Rechtsfolge der Rechtswidrigkeit, Sittenwidrigkeit oder Unmöglichkeit ............................................................................ 63 5.6 Übervorteilung .................................................................................... 63 5.7 Verwendung missbräuchlicher Geschäftsbedingungen ...................... 64

6

Willensmängel beim Vertragsabschluss ..................................................65 6.1 Irrtum .................................................................................................. 66 6.1.1 Erklärungsirrtum ......................................................................... 66 6.1.2 Motivirrtum/Grundlagenirrtum .................................................. 67 6.1.3 Rechnungsfehler ......................................................................... 69 6.2 Absichtliche Täuschung ....................................................................... 70 6.3 Drohung .............................................................................................. 71 6.4 Geltendmachung des Willensmangels ................................................ 71

7

Stellvertretung ........................................................................................72 7.1 Ermächtigung zur Vertretung ............................................................. 73 7.2 Handeln im Namen des Vertretenen und Eigengeschäft .................... 75 7.3 Stellvertretung ohne Ermächtigung .................................................... 76 7.4 Selbstkontrahieren und Doppelkontrahieren ..................................... 78

8

Fragen und Fälle zum Selbststudium .......................................................78

KAPITEL III – VERTRAGSERFÜLLUNG ...............................................................81 1

Die Beteiligten ........................................................................................81 1.1 Der Gläubiger ...................................................................................... 81 1.1.1 Erfüllung an den Gläubiger persönlich ........................................ 81 1.1.2 Vertrag zu Gunsten Dritter.......................................................... 82 1.1.3 Mehrzahl von Gläubigern............................................................ 83 1.1.4 Abtretung von Forderungen (Zession) ........................................ 84 1.1.5 Vertragsübernahme, Vertragsbeitritt, Vermögensübernahme .. 85 1.2 Der Schuldner ..................................................................................... 86 1.2.1 Persönliche Erfüllung .................................................................. 86 1.2.2 Mehrzahl von Schuldnern ........................................................... 86 1.2.3 Schuldübernahme ....................................................................... 87 1.2.4 Vertrag über die Leistung eines Dritten (Garantievertrag) ......... 87

2

Inhalt der Vertragspflichten ....................................................................88 2.1 Kaufvertrag ......................................................................................... 88 2.1.1 Pflicht des Verkäufers zur Lieferung mängelfreier Ware („dem Käufer den Kaufgegenstand zu übergeben“) ................... 89

Inhaltsverzeichnis

2.1.2

Pflicht des Verkäufers zur Verschaffung des unbelasteten Eigentums am Kaufgegenstand („und ihm das Eigentum daran zu verschaffen“) ................................................................ 92 2.1.3 Pflicht des Käufers, „dem Verkäufer den Kaufpreis zu bezahlen“ .................................................................................... 94 2.1.4 Nebenpflichten des Verkäufers und des Käufers ........................ 94 2.1.5 Übergang von Nutzen und Gefahr .............................................. 95 2.2 Mietvertrag ......................................................................................... 96 2.2.1 Pflichten des Vermieters ............................................................. 97 2.2.2 Pflichten des Mieters .................................................................. 99 2.2.3 Untermiete.................................................................................. 99 2.2.4 Mieterschutz ............................................................................. 100 2.3 Werkvertrag ...................................................................................... 101 2.3.1 Pflichten des Unternehmers ..................................................... 102 2.3.2 Pflichten des Bestellers ............................................................. 103 2.4 Auftrag .............................................................................................. 105 2.4.1 Pflichten des Beauftragten ....................................................... 106 2.4.2 Pflichten des Auftraggebers ...................................................... 108 3

Modalitäten der Leistungserbringung .................................................. 109 3.1 Gegenstand der Erfüllung ................................................................. 109 3.1.1 Der „Gegenstand der Erfüllung“ gemäss Art. 69-73 OR ........... 109 3.1.2 Leistung an Erfüllungs Statt und Leistung erfüllungshalber...... 110 3.2 Ort der Erfüllung ............................................................................... 111 3.3 Zeit der Erfüllung .............................................................................. 112 3.4 Besondere Regeln zur Erfüllung von Geldschulden .......................... 114

4

Bedingte Pflichten ................................................................................ 115

5

Fragen und Fälle zum Selbststudium .................................................... 115

KAPITEL IV – VERTRAGSVERLETZUNG .......................................................... 117 1

Verschuldens- und Hilfspersonenhaftung ............................................ 118 1.1 Verschuldenshaftung ........................................................................ 118 1.2 Hilfspersonenhaftung und Haftung für den Substituten .................. 119

2

Nichterfüllung ...................................................................................... 122 2.1 Verzug ............................................................................................... 122 2.1.1 Voraussetzungen des Schuldnerverzuges ................................. 123 2.1.2 Rechtsfolgen des Schuldnerverzugs.......................................... 125 2.1.3 Übersicht über Voraussetzungen und Folgen des Schuldnerverzugs ...................................................................... 132 2.1.4 Gläubigerverzug ........................................................................ 133 2.2 Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit................................................. 135 2.2.1 Begriff der Unmöglichkeit und der Unzumutbarkeit ................ 135 2.2.2 Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit als Vertragsverletzung oder Befreiungsgrund ............................................................... 137

3

Schlechterfüllung ................................................................................. 139 3.1 Vorliegen einer Schlechterfüllung..................................................... 140 3.1.1 Erfüllung oder Erfüllungshandlung ........................................... 140 3.1.2 Mangelhafte Leistung ............................................................... 143

7

8

Inhaltsverzeichnis

3.2 Voraussetzungen für Schlechterfüllungsansprüche.......................... 144 3.2.1 Keine Freizeichnung .................................................................. 144 3.2.2 Keine Kenntnis des Mangels ..................................................... 144 3.2.3 Rechtzeitige Geltendmachung des Mangels ............................. 145 3.2.4 Vorliegen eines Verschuldens ................................................... 147 3.3 Rechtsfolgen der Schlechterfüllung .................................................. 148 3.3.1 Verweigerung der eigenen Leistung ......................................... 148 3.3.2 Verbesserung der Leistung ....................................................... 149 3.3.3 Minderung ................................................................................ 150 3.3.4 Beendigung des Vertrags .......................................................... 151 3.3.5 Schadenersatz ........................................................................... 153 4

Freizeichnung........................................................................................155

5

Konventionalstrafe ...............................................................................157

6

Fragen und Fälle zum Selbststudium .....................................................157

KAPITEL V – BEENDIGUNG DER LEISTUNGSPFLICHT ......................................159 1

Erlöschen der Forderung .......................................................................159 1.1 Erfüllung ............................................................................................ 160 1.2 Verrechnung ..................................................................................... 160 1.3 Verwirkung ........................................................................................ 160 1.4 Unmöglichkeit ................................................................................... 161 1.5 Weitere Arten des Erlöschens von Forderungen .............................. 161

2

Beendigung des Vertrags ......................................................................162 2.1 Allgemeine Beendigungsgründe ....................................................... 162 2.2 Kündigung des Mietvertrags ............................................................. 163 2.3 Beendigung des Werkvertrags .......................................................... 163 2.4 Beendigung des Auftrags .................................................................. 164

3

Verjährung ............................................................................................165

KAPITEL VI – HAFTUNG FÜR PRODUKTE .......................................................171 1

Überblick über das Haftpflichtrecht ......................................................171 1.1 Haftungsgründe, Haftungsarten, Haftungsvoraussetzungen............ 171 1.1.1 Haftungsgründe ........................................................................ 171 1.1.2 Verhältnis der Haftung aus Vertrag zur Haftung aus unerlaubter Handlung ............................................................... 172 1.1.3 Haftungsarten der Haftung aus unerlaubter Handlung ............ 173 1.1.4 Allgemeine Haftungsvoraussetzungen...................................... 175 1.2 Ziele und Funktionen des Haftpflichtrechts ...................................... 175 1.3 Haftpflichtrecht und andere Rechtsgebiete ..................................... 177 1.3.1 Haftpflichtrecht und Versicherung ........................................... 177 1.3.2 Haftpflichtrecht und Strafrecht................................................. 178

2

Die Produzentenhaftung gemäss Art. 55 OR .........................................178 2.1 Konstruktionsfehler .......................................................................... 179 2.2 Fabrikationsfehler ............................................................................. 179 2.3 Instruktionsfehler.............................................................................. 180

Inhaltsverzeichnis

2.4 3

Produktebeobachtungsfehler ........................................................... 181

Produktehaftung .................................................................................. 181 3.1 Begriff ............................................................................................... 181 3.2 Spezielle Haftungsvoraussetzungen ................................................. 182 3.2.1 Produkt ..................................................................................... 182 3.2.2 Produktefehler im Allgemeinen ................................................ 183 3.2.3 Berechtigte Sicherheitserwartung ............................................ 183 3.2.4 Produktpräsentation ................................................................. 183 3.2.5 Zeitpunkt des Inverkehrbringens .............................................. 184 3.3 Einzelfragen ...................................................................................... 185 3.3.1 Passivlegitimation ..................................................................... 185 3.3.2 Haftungsausschluss ................................................................... 185 3.3.3 Verjährung ................................................................................ 185 3.3.4 Konkurrierende Ansprüche ....................................................... 186 3.4 Das Produktesicherheitsgesetz (PrSG) .............................................. 186

ANHANG I – ANTWORTEN ZU DEN FRAGEN UND FÄLLEN ZUM SELBSTSTUDIUM .......................................................................................... 189 Fragen und Fälle zur Einführung in das Vertragsrecht .................................. 189 Fragen und Fälle zur Vertragsentstehung .................................................... 193 Fragen und Fälle zu den Vertragspflichten ................................................... 196 Fragen und Fälle zur Vertragsverletzung ...................................................... 200 ANHANG II – LITERATURHINWEISE .............................................................. 205

9

11

Kapitel I – Einführung Vertragsrecht ist Privatrecht. Zu einer Einführung in das Vertragsrecht gehört deshalb ein Überblick über das Privatrecht. In den kontinentaleuropäischen Ländern („civil law-Länder“) sind die zentralen Rechtsquellen des Privatrechts die jeweiligen Gesetzesbücher. Diese Kodifizierungen enthalten gesetzliche Regelungen für Rechtsfragen namentlich im Zusammenhang mit Personen, Kindern, Familien, Sachen, Verträgen, juristischen Personen. Im angloamerikanischen Rechtssystem („common law“) gibt es zwar ebenfalls Gesetze; ihnen kommt aber nicht die gleiche Bedeutung zu wie im Rechtsgefüge des „civil law“. Im „common law“ steht die Rechtsprechung im Zentrum. Damit können die Gerichte die anwendbaren Regeln selbst im Rahmen der Rechtsprechung entwickeln. Andere Gerichte befolgen im Sinne des Prinzips der „starren Entscheidungen“ im Allgemeinen die in früheren Entscheidungen formulierten Regeln. Im Schweizer Privatrecht gibt es zwei zentrale Gesetzesbücher: das Zivilgesetzbuch (ZGB) und das Obligationenrecht (OR). Das ZGB trat zusammen mit dem erstmals revidierten OR, das in Grundzügen bereits im 19. Jahrhundert bestand, am 1. Januar 1912 in Kraft. Diese beiden Erlasse enthalten nicht das gesamte schweizerische Privatrecht. Zu beachten sind (neben Gewohnheits- und Richterrecht) auch die einschlägigen Sondergesetze (z.B. Pauschalreise-, Fusions-, Börsen- oder Versicherungsvertragsgesetz), die Verordnungen des Bundes (z.B. Zivilstands- oder Grundbuchverordnung) sowie kantonale Erlasse. Dennoch sind ZGB und OR die wichtigsten Rechtsquellen des Privatrechts.

1

ZGB und OR

Das ZGB im engeren Sinn umfasst vier Teile. Zu Beginn des Gesetzes stehen als Sinnbild und Träger der Gesellschaft das Personen- und das Familienrecht. Erbrecht und Sachenrecht bilden die Teile drei und vier. Diesen vier Teilen sind die Einleitungsartikel (Art. 1 bis 10 ZGB), die einige zentrale Grundsätze unserer Rechtsordnung enthalten, vorangestellt. Die am Schluss des ZGB angefügten Schlusstitel bestimmen das Verhältnis zwischen altem und neuem Recht. Das OR ist der fünfte Teil des ZGB. Es hat aber eine eigene Paragraphierung und beginnt somit mit Artikel 1. Das OR ist in fünf Abteilungen unterteilt: Die erste Abteilung (Art. 1 bis 183 OR) enthält den Allgemeinen Teil des OR (AT). Er ist folgendermassen gegliedert: 

  

Entstehung der Obligation (Art. 1-67 OR): Drei Möglichkeiten der Entstehung: Vertrag (Art. 1-40g OR), ausservertragliche Haftung (Art. 41-61 OR), ungerechtfertigte Bereicherung (Art. 62-67 OR); Wirkung der Obligation: Hier geht es vor allem um die Erfüllung und die Nichterfüllung; Erlöschen der Obligation: insbesondere unverschuldete Unmöglichkeit, Verrechnung und Verjährung; Besondere Verhältnisse bei Obligationen, z.B. die Solidarität unter Schuldnern oder von einer Bedingung abhängige Verträge

Merke: ZGB und OR enthalten nicht das gesamte schweizerische Privatrecht. Zu beachten sind (neben Gewohnheits- und Richterrecht) auch verschiedene Sondergesetze, Verordnungen des Bundes und kantonale Erlasse.

12

Kapitel I – Einführung



Abtretung einer Forderung und Übernahme einer Schuld

Die zweite Abteilung (Art. 184 bis 551 OR) regelt die einzelnen Vertragsverhältnisse. Sie wird Besonderer Teil (BT) genannt. Der BT regelt unter anderem folgende Verträge: Kauf/Tausch (Art. 184 ff. OR), Schenkung (Art. 239 ff. OR), Miete (Art. 253 ff. OR), Pacht (Art. 275 ff. OR), Leihe (Art. 305 ff. OR), Arbeitsvertrag (Art. 319 ff. OR), Werkvertrag (Art. 363 ff. OR), Auftrag (Art. 394 ff. OR). Grundsätzlich sind die Bestimmungen des AT auch auf die besonderen Schuldverhältnisse anwendbar. Allerdings gehen Sonderregelungen des OR BT den Vorschriften des AT regelmässig vor. Ist eine betreffende Rechtsfrage im Besonderen Teil nicht geregelt, gelten die Bestimmungen des AT. Beispiele: Allgemeine Regelung zu nicht gehöriger Vertragserfüllung im AT – Art. 97 ff. OR Für die Lieferung bzw. Herstellung einer mangelhaften Sache bestehen aber besondere Gewährleistungsvorschriften im Kaufvertrags- und Werkvertragsrecht (Art. 197 ff., 368 ff. OR). Allgemeine Regelung der verspäteten Leistung im AT – Art. 102 ff. OR; für bestimmte Sonderfälle bestehen Regelungen im BT (z.B. Art. 190 OR). – Stets zu beachten ist, für welche Fälle solche Spezialnormen genau gelten; so z.B. Art. 190 OR nicht bei jedem Kaufvertrag, sondern nur „im kaufmännischen Verkehr“. Die dritte Abteilung (Art. 552-926 OR) enthält Regelungen zu den Handelsgesellschaften und zur Genossenschaft, die vierte Abteilung (Art. 927-963b OR) zum Handelsregister, zu den Geschäftsfirmen (Regelung der Namensbildung einer Firma) und zur kaufmännischer Buchführung. Die fünfte Abteilung (Art. 965-1186 OR) enthält das Wertpapierrecht. ZGB und OR bilden eine Einheit. So sind einerseits die allgemeinen Bestimmungen des ZGB auch auf das OR anwendbar. Dazu gehören vor allem die Einleitungstitel (s. I/2) und das Personenrecht (s. I/3). Andererseits gelten die allgemeinen Bestimmungen des OR auch für das ZGB. Art. 7 ZGB schreibt vor, dass die allgemeinen Bestimmungen über die Entstehung, Erfüllung und Aufhebung der Verträge auch auf andere zivilrechtliche Verhältnisse Anwendung finden. Das Obligationenrecht bildet zusammen mit dem Sachenrecht (Art. 641 bis 977 ZGB) und dem Immaterialgüterrecht das schweizerische Vermögensrecht. Dieses umfasst alle Rechtsnormen, welche das persönliche Vermögen des einzelnen betreffen. Während im Obligationenrecht festgelegt ist, wer wem was aus welchem Rechtsgrund schuldet, werden im Sachenrecht die dinglichen Rechte, also die Rechte an einer Sache, definiert: etwa Gegenstand und Umfang des Eigentums, des Besitzes etc. Die obligatorischen und die dinglichen Rechte unterscheiden sich wie folgt:

Obligatorische Rechte sind relative Rechte

Dingliche Rechte sind absolute Rechte

Ein Vertrag verleiht Rechte, die nur gegenüber dem Vertragspartner geltend gemacht werden können.

Eigentumsrechte können gegenüber jedermann geltend gemacht werden.

Beispiel: Der Käufer kann nur vom Verkäufer die Ware verlangen.

Beispiel: Wenn die Eigentümerin nicht will, darf niemand ihr Haus betreten.

1

Obligatorische Rechte „kleben“ an der Person

Dingliche Rechte „kleben“ an der Sache

Beispiel: Wenn die Galeristin ein Bild an K verkauft, vor der Übergabe aber das Bild an einen Freund verschenkt, muss der Beschenkte das Bild nicht aushändigen. Vielmehr bleibt die Galeristin nach wie vor an den Kaufvertrag gebunden und wird, falls sie das Bild nicht dem Käufer übereignen kann, schadenersatzpflichtig.

Beispiel: Das Grundpfandrecht (=beschränktes dingliches Recht) ist im Grundbuch einzutragen und gilt unabhängig von der Person des Grundeigentümers (vgl. Art. 745 f. ZGB), d.h. das Pfandrecht gilt auch dann, wenn das Grundstück in der Zwischenzeit verkauft wurde.

Das Vertragsrecht ist durch den Grundsatz der Vertragsfreiheit geprägt. Jedermann kann frei entscheiden, ob, mit wem und mit welchem Inhalt er einen Vertrag abschliessen will. Die Vertragsfreiheit ist Voraussetzung für eine freie Marktwirtschaft und wird durch die Verfassung garantiert. Die Vertragsfreiheit umfasst die folgenden Aspekte („Einzelfreiheiten“):   





Die Abschlussfreiheit besagt, dass jeder frei ist, einen bestimmten Vertrag abzuschliessen bzw. auf einen bestimmten Vertragsabschluss zu verzichten. Die Partnerwahlfreiheit gewährt die Freiheit, den Vertragspartner frei zu wählen sowie Verträge mit bestimmten Personen nicht abzuschliessen. Die Inhaltsfreiheit gewährt die Freiheit, den Inhalt des Vertrages, also die Ausgestaltung von Leistung und Gegenleistung sowie sämtliche anderen Bedingungen eines Vertrags, beliebig festlegen zu können. Insbesondere müssen die Parteien nicht einen im Besonderen Teil des OR geregelten Vertragstyp wählen, sondern können auch neue Vertragstypen kreieren (sog. Typenfreiheit). Durch die Aufhebungs- und Änderungsfreiheit wird die Freiheit gewährt, einen abgeschlossenen Vertrag durch Vereinbarung wieder aufzuheben oder abändern zu dürfen. Die Formfreiheit bedeutet, dass Verträge grundsätzlich in beliebiger Form abgeschlossen werden dürfen.

Die genannten Freiheiten gelten nur dem Grundsatz nach. Das Gesetz sieht verschiedene Schranken vor: So wird etwa die Inhaltsfreiheit durch verschiedene zwingende Bestimmungen und die Formfreiheit gelegentlich durch Formvorschriften eingeschränkt. Die Mehrzahl der vertragsrechtlichen Vorschriften des OR sind „dispositiv“: Die Parteien sind frei, den betreffenden Punkt anders als das Gesetz zu regeln, und ihre Vereinbarung geht dann vor. Die gesetzliche Regelung gilt also nur, wenn die Parteien den betreffenden Punkt nicht selbst geregelt haben. Einzelne Vorschriften sind jedoch so verfasst, dass sie nach ihrem Wortlaut oder ihrer Bedeutung vertraglichen Vereinbarungen vorgehen. Für einen solchen Fall können keine vom Gesetz abweichenden Vereinbarungen geschlossen werden; sie wären unwirksam. Man spricht hier von zwingenden Rechtsnormen. Zwingende Rechtsnormen finden sich vor allem in den Regeln zum Miet- und Arbeitsvertrag. In diesen Bereichen bestehen auch verschiedene Formvorschriften.

ZGB und OR

13

14

Kapitel I – Einführung

2 Merke: Die Einleitungsartikel sind auf sämtliche Rechtsbereiche des Privatrechts anwendbar, somit auch auf das Obligationenrecht als „fünfter Teil“ des ZGB sowie auf sämtliche Vollzugsbestimmungen, wie z.B. die Handelsregisterverordnung (HRegV). Auf andere Rechtsgebiete hingegen sind sie nicht unmittelbar, unter Umständen aber analog anwendbar.

Die Einleitungsartikel des ZGB

Im Gegensatz zu anderen Rechtsordnungen, die einen weitaus grösseren allgemeinen Teil aufweisen, beschränkt sich die schweizerische Privatrechtskodifikation auf zehn grundlegende Regeln. Diese sind in den ersten zehn Artikeln des Zivilgesetzbuches (ZGB), den „Einleitungsartikeln“, enthalten. Nachfolgend werden die wichtigsten Bestimmungen kurz dargestellt.

2.1

Art. 1 ZGB: Rechtsfindung

Art. 1 ZGB gibt Antwort auf die Frage, wie der Richter mit Bezug auf einen konkreten Sachverhalt das Recht anzuwenden hat. Grundsätzlich geht es um die Frage des Verhältnisses von Richter und Gesetz. Dabei ist eine Stufenordnung erkennbar: Gesetzesrecht (Abs. 1), Gewohnheitsrecht (Abs. 2) und zuletzt das Richterrecht (Abs. 2).

Gesetzesrecht Verfassung Gesetz Verordnung

Gewohnheitsrecht

Richterrecht

Die Gesamtheit der Gesetze und Verordnungen, des Gewohnheitsrechts und der richterrechtlichen Regeln, d.h. die allgemeingültigen, geschriebenen oder ungeschriebenen Rechtsnormen, bilden die geltende Rechtsordnung. Das Gericht, das mit einer Rechtsfrage konfrontiert ist, muss die Gesetze auslegen, um festzustellen, ob sie auf bestimmte Fragen eine Antwort geben. Dazu kann es mit folgenden Methoden arbeiten: 







Grammatikalische Methode: Ausgangspunkt ist der Wortlaut des Gesetzes, d.h. was sich rein sprachlich aus den verwendeten Worten und Wendungen der Gesetzesbestimmung ergibt. Allerdings unterscheidet sich die juristische Fachsprache oftmals von der Umgangssprache. Systematische Methode: Eine Gesetzesnorm soll nie isoliert („aus dem Zusammenhang gerissen“), sondern immer im Zusammenhang mit den übrigen Bestimmungen betrachtet werden (sog. Auslegung aus dem Zusammenhang). Ein wichtiger Anhaltspunkt für diese Auslegungsmethode sind die Überschriften und Marginalien. Deren Systematik kann oftmals helfen, die wichtigen Zusammenhänge aufzudecken. Historische Methode: Jedes Gesetz hat eine Vorgeschichte. Die Gesetzesmaterialien (Unterlagen über die Vorarbeiten zu einem Gesetz, z.B. Botschaft des Bundesrates) liefern wichtige Indizien bei der Ermittlung des objektiven Sinnes einer Gesetzesbestimmung. Teleologische Methode: Mit Hilfe dieser Auslegungsmethode soll der Sinn und Zweck einer Gesetzesbestimmung, die sog. ratio legis, ermittelt werden. Sie steht bei der Auslegung in der Regel im Vordergrund.

2

Beispiel: Nach einer Legende soll über der Tür eines Männerklosters die Inschrift „Kein Frauenfuss darf diese Schwelle übertreten“ gestanden haben. Als nun eine Königin das Kloster betreten wollte, wurde sie über die Schwelle getragen, um nicht gegen die Bestimmung zu verstossen. Hieraus wird klar ersichtlich, dass zwar nach dem Wortlaut (grammatikalische Auslegung) das Vorgehen korrekt, nach dem Sinn der Bestimmung (teleologische Auslegung) aber nutzlos war. Der Sinn der Bestimmung war, dass keine Frauen das Männerkloster betreten sollten. Hat der Richter die Bedeutung einer Norm bestimmt, prüft er, ob der Sachverhalt den Tatbestand dieser Norm erfüllt. Beispiel: Ärztin Yvonne muss Xavier vereinbarungsgemäss das geliehene Auto zurückbringen. Weil sie keine Zeit hat, lässt sie ihre Arztassistentin Zita das Auto zurückbringen. Zita fährt Xaviers Gartenzaun um, der für CHF 500 repariert werden muss. Nach Art. 101 Abs. 1 OR muss jemand, der „die • Erfüllung einer • Schuldpflicht […]• durch eine Hilfsperson, wie […] Arbeitnehmer vornehmen lässt, […] dem andern • den Schaden ersetzen, den die Hilfsperson • in Ausübung ihrer Verrichtungen • verursacht“. • Erfüllung einer Schuldpflicht? Ja (Rückgabepflicht aus Leihvertrag, Art. 305 OR). • Durch eine Hilfsperson vornehmen lassen? Ja (Zita ist Arbeitnehmerin der Yvonne). • Schaden? Ja (Vermögensnachteil). • In Ausübung der Verrichtungen? Ja (bei der Rückgabehandlung). • Verursacht? Ja (Fahrfehler war ursächlich) → Alle Tatbestandsmerkmale erfüllt; Rechtsfolge: Schadenersatzpflicht der Yvonne. Kann dem Gesetz für eine bestimmte Frage keine Vorschrift entnommen werden, so muss das Gericht diese Lücke füllen (Art. 1 Abs. 2 ZGB). Der Übergang zwischen der Auslegung gemäss Art. 1 Abs. 1 ZGB und der Lückenfüllung gemäss Art. 1 Abs. 2 ZGB ist fliessend. Bei ungeregelten Fragen ist der Analogieschluss bedeutsam. Der Analogieschluss bedeutet, dass das Gericht auf eine im Gesetz ungeregelte Frage eine Regelung anwendet, die einen anderen, aber ähnlichen Sachverhalt regelt. Es tut dies dann, wenn die Unterschiede zwischen dem geregelten Fall und dem nicht geregelten Fall nicht gewichtig genug sind, um eine unterschiedliche Behandlung zu rechtfertigen. Beispiel: Art. 20 Abs. 2 OR (Teilnichtigkeit) wird analog auf die Formungültigkeit (Art. 11 OR) und die Vertragsanfechtung wegen Willensmängeln (Art. 23 ff. OR) angewandt. Damit ist eine bloss teilweise Formungültigkeit bzw. eine Teilanfechtung wegen Willensmängeln möglich, obwohl von dieser Möglichkeit im Gesetz nichts steht. Das Spiegelbild des Analogieschlusses ist die teleologische Reduktion. Unter dem Titel der teleologischen Reduktion wendet das Gericht eine Regel auf einen bestimmten Sachverhalt nicht an, obwohl die Regel nach ihrem Wortlaut auf den Sachverhalt anwendbar wäre. Das Gericht stellt also fest, dass der Wortlaut der Bestimmung weitergeht als ihr Sinn.

Die Einleitungsartikel des ZGB

15

16

Kapitel I – Einführung

Beispiel: Nach Art. 402 Abs. 2 OR haftet der Auftraggeber dem Beauftragten für den aus dem Auftrage erwachsenen Schaden, soweit er nicht zu beweisen vermag, dass der Schaden ohne sein Verschulden entstanden ist. Die Haftung des Auftraggebers ist also eine Verschuldenshaftung. Die Bestimmung unterscheidet nicht danach, ob der Beauftragte entgeltlich oder unentgeltlich tätig ist. Im Gegensatz zu Art. 402 Abs. 2 OR haftet der Geschäftsherr dem Geschäftsführer bei der Geschäftsführung ohne Auftrag gemäss Art. 422 Abs. 1 OR ohne Verschulden. Es wäre ein Wertungswiderspruch, wenn der Geschäftsführer ohne Auftrag besser geschützt ist als der Beauftragte, der unentgeltlich/altruistisch tätig ist. Denn es gilt das Prinzip, dass niemandem die Erfüllung einer Pflicht, die er altruistisch und nicht eines eigenen Vorteils wegen übernommen hat, nachteilig sein soll. Das Bundesgericht hat deshalb Art. 402 Abs. 2 OR teleologisch reduziert: Er ist nur auf entgeltliche Aufträge anwendbar (für unentgeltliche Aufträge gilt Art. 422 Abs. 1 OR).

2.2

Art. 2 ZGB: Treu und Glauben und Rechtsmissbrauchsverbot

Das Gebot des Handelns nach Treu und Glauben (Art. 2 Abs. 1 ZGB) umfasst Werte wie z.B. Rücksichtnahme (Treu), Vertrauen (Glauben), Ehrlichkeit, Loyalität und Fairness. Treu und Glauben wirken sich sowohl bei der Gesetzesanwendung als auch im rechtsgeschäftlichen Bereich aus. Beispiele: Rechtsgeschäfte werden in der Schweiz nach dem Vertrauensprinzip ausgelegt. Ist der subjektive Wille einer Vertragspartei unklar, so ist die Willensäusserung so zu verstehen, wie sie ihr Empfänger nach Treu und Glauben verstehen durfte und musste. Die culpa in contrahendo (Verletzung der vorvertraglichen Informationspflicht oder Verhandeln ohne jegliche Absicht, einen Vertrag zu schliessen) ist ein Anwendungsfall des Gebots, sich nach Treu und Glauben zu verhalten. Merke: In der Anwendung von Gesetzen und bei Rechtsgeschäften geht man von anständigen und vernünftigen Personen aus.

Rechtsmissbrauch (Art. 2 Abs. 2 ZGB) kann von jeder beteiligten Prozesspartei geltend gemacht werden. Geschieht dies nicht, so muss der Richter von Amtes wegen prüfen, ob ein solcher vorliegt (Art. 2 Abs. 2 ZGB ist eine zwingende Bestimmung). Die wichtigsten Fallgruppen sind: 

die zweckwidrige Verwendung eines Rechtsinstituts; Beispiele: Missbräuchliche Kündigung (Art. 336 OR). „Entlassung einer Kaderperson, welcher kein Vorwurf gemacht werden kann, um das Ansehen des Arbeitgebers zu wahren, welches durch widerrechtliche Handlungen eines Mitarbeiters im von der entlassenen Kaderperson geleiteten Dienst beeinträchtigt wurde“ (BGE 131 III 535). Heirat ausschliesslich zum Zweck, eine Aufenthaltsbewilligung zu erlangen: sogenannte Scheinehe im Ausländerrecht (s. BGE 128 II 144 f.).



widersprüchliches Verhalten (venire contra factum proprium);

2

Die Einleitungsartikel des ZGB

17

Beispiel: Die Gründe für die Unterbrechung der Verjährung sind in Art. 135 OR aufgeführt. Sichert der Schuldner dem Gläubiger zu, eine verjährungsunterbrechende Handlung sei unnötig, da er die Schuld bald erfüllen werde und sich nicht auf die Verjährung berufen werde, so stellen diese Zusicherungen keine der im Gesetz erwähnten verjährungsunterbrechenden Handlungen dar. Beruft sich der Schuldner in der Folge auf die Verjährung, wäre dies nach dem Gesetzeswortlaut zwar zulässig, aber stossend. 

eine Rechtsausübung, die nutzlos bzw. schikanös ist oder zu einem krassen Missverhältnis der berechtigten Interessen führt.

2.3

Art. 3 ZGB: Schutz des guten Glaubens

Die schweizerische Rechtsordnung schützt den „guten Glauben“ einer Person in besonderen Einzelfällen (z.B. Art. 714 Abs. 2, Art. 933 bis 935 ZGB), kennt aber keinen allgemeinen Gutglaubensschutz. „Gutgläubig“ ist eine Person dann, wenn sie glaubt, korrekt (rechtmässig) zu handeln, dies in Wirklichkeit aber nicht tut. Voraussetzungen des guten Glaubens sind also stets ein Rechtsmangel und die diesbezügliche Unkenntnis. Nicht geschützt wird hingegen, wer mit der „gebotenen Aufmerksamkeit“ den Rechtsmangel hätte erkennen sollen (Art. 3 Abs. 2 ZGB). Da der gute Glauben als eine innere Tatsache schwer zu beweisen ist, wird sein Vorhandensein vermutet (Art. 3 Abs. 1 ZGB). Beispiele: Beat verkauft und übergibt Christoph ein Fahrrad, das er von Anita ausgeliehen hat. Obwohl Beat das Fahrrad nicht veräussern durfte, kann Christoph das Eigentumsrecht erwerben (Art. 714 Abs. 2 und 933 ZGB); Voraussetzung dafür ist, dass er gutgläubig ist, d.h. nicht erkennen konnte, dass das Fahrrad nicht Beat gehört. Um das Fahrrad zurückzuerlangen, muss Anita beweisen, dass Christoph nicht gutgläubig war. Ein Filmproduzent hat finanzielle Schwierigkeiten, und nun fordert auch noch ein Lieferant den Kaufpreis für teures Filmmaterial ein. Der Produzent hat das Geld nicht. Er erklärt aber, ihm stehe eine Forderung aus dem Verkauf eines Films an eine Fernsehanstalt zu; dazu legt er sogar einen Vertrag vor. Der Lieferant lässt sich die Forderungen abtreten und gibt sich vorerst zufrieden. Als er bei der Fernsehanstalt die abgetretene Forderung geltend machen will, erfährt er, dass der Film längst bezahlt worden war; die Forderung stand dem Produzenten also gar nicht mehr zu. Auf guten Glauben kann sich der Lieferant nicht berufen, denn das Gesetz sieht den gutgläubigen Erwerb einer Forderung nicht vor.

2.4

Art. 8 ZGB: Beweislastverteilung

Mit blossen Behauptungen lässt sich in der Regel kein Prozess gewinnen. Deshalb ist der Beweis einer Tatsache im Zivilprozess von grosser Bedeutung. Die Frage, wer im Einzelfall den Beweis zu erbringen hat (sog. Beweislastverteilung), ist oft von grosser Tragweite. Misslingt der auferlegte Beweis, trägt die beweisbelastete Partei die Folgen der Beweislosigkeit (Klageabweisung). Grundsätzlich muss derjenige den Beweis erbringen, der aus einer Tatsache Rechte ableitet. Das Gesetz sieht Ausnahmen vor (z.B. Beweislastumkehr in Art. 97 Abs. 1 OR).

Merke: Der Schutz des guten Glaubens ist nur in einzelnen Bestimmungen ausdrücklich vorgesehen. Es gibt keinen allgemeinen Gutglaubensschutz.

18

Kapitel I – Einführung

3

Personenrecht

Die Bestimmungen des Personenrechts, die sich systematisch nach den Einleitungsartikeln befinden, bilden den ersten Teil des ZGB. Das Personenrecht ist notwendige Grundlage jeder privatrechtlichen Beziehung, wie z.B. des Erbrechts, Sachenrechts und des Vertragsrechts. Das Personenrecht regelt nämlich die Frage, wer überhaupt Verträge abschliessen darf. Zudem regelt es, wo eine Person ihren (Wohn)Sitz hat, was im Vertragsrecht ebenfalls von Bedeutung ist (nach dem Wohnsitz bestimmt sich z.B. der Erfüllungsort einer Leistung, s. Art. 74 OR).

3.1

Natürliche Personen

Jedermann ist rechtsfähig. Für alle Menschen besteht also (in den Schranken der Rechtsordnung) die gleiche Fähigkeit, Rechte und Pflichten zu haben (Art. 11 ZGB). Stufen der Handlungsfähigkeit: Volle Handlungsfähigkeit

Beschränkte Handlungsfähigkeit

Beschränkte Handlungsunfähigkeit

Volle Handlungsunfähigkeit

Nicht alle haben aber die Fähigkeit, Rechte und Pflichten zu begründen, also z.B. einen Vertrag abzuschliessen. Dazu muss man handlungsfähig sein (Art. 12 ZGB). Handlungsfähig ist, wer volljährig und urteilsfähig ist (Art. 13 ZGB):  

Volljährig ist, wer das 18. Lebensjahr zurückgelegt hat (Art. 14 ZGB). Die Urteilsfähigkeit ist in Art. 16 ZGB geregelt: „Urteilsfähig im Sinne dieses Gesetzes ist jede Person, der nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln.“ Die Urteilsfähigkeit ist relativ: Sie beurteilt sich jeweils mit Blick auf das einzelne, konkrete Rechtsgeschäft zu einem bestimmten Zeitpunkt. Es kann also z.B. sein, dass eine bestimmte Person hinsichtlich einfacher, alltäglicher Rechtsgeschäfte urteilsfähig ist, nicht aber hinsichtlich komplexer Rechtsgeschäfte.

Innerhalb der Handlungsfähigkeit ist zwischen der vollen und der beschränkten Handlungsfähigkeit zu unterscheiden. Urteilsfähige Volljährige sind grundsätzlich voll handlungsfähig (Art. 13 ZGB). In bestimmten Fällen kann ihre Fähigkeit, Rechtsgeschäfte zu tätigen, eingeschränkt sein, z.B. durch das Eherecht (und das Recht der eingetragenen Partnerschaft) oder durch das Schuldbetreibungsund Konkursrecht. Beispiele: Art. 169 Abs. 1 ZGB bestimmt: „Ein Ehegatte kann nur mit der ausdrücklichen Zustimmung des andern einen Mietvertrag kündigen, das Haus oder die Wohnung der Familie veräussern oder durch andere Rechtsgeschäfte die Rechte an den Wohnräumen der Familie beschränken.“ Siehe auch Art. 266m und Art. 266n OR. Art. 178 Abs. 1 ZGB hält fest: „Soweit es die Sicherung der wirtschaftlichen Grundlagen der Familie oder die Erfüllung einer vermögensrechtlichen Verpflichtung aus der ehelichen Gemeinschaft erfordert, kann das Gericht auf Begehren eines Ehegatten die Verfügung über bestimmte Vermögenswerte von dessen Zustimmung abhängig machen.“ Der Arbeitnehmer kann bis drei Jahre vor Entstehung des Anspruchs auf Altersleistungen seinen Anspruch auf Vorsorgeleistungen oder einen Betrag bis zur Höhe seiner Freizügigkeitsleistung für Wohneigentum zum eigenen Bedarf verpfänden (Art. 331d Abs. 1 OR). Ist der Arbeitnehmer aber verheiratet, so ist die

3

Verpfändung nur zulässig, wenn sein Ehegatte schriftlich zustimmt (Art. 331d Abs. 5 OR). Art. 494 Abs. 1 OR: „Die Bürgschaft einer verheirateten Person bedarf zu ihrer Gültigkeit der im einzelnen Fall vorgängig oder spätestens gleichzeitig abgegebenen schriftlichen Zustimmung des Ehegatten, wenn die Ehe nicht durch richterliches Urteil getrennt ist.“ Art. 96 SchKG: „Der Schuldner darf bei Straffolge (Art. 169 StGB) ohne Bewilligung des Betreibungsbeamten nicht über die gepfändeten Vermögensstücke verfügen.“ Gemäss Art. 19d ZGB kann die Handlungsfähigkeit durch eine Massnahme des Erwachsenenschutzes eingeschränkt werden: 



Kann eine Person bestimmte Angelegenheiten nicht erledigen, errichtet die Erwachsenenschutzbehörde eine Vertretungsbeistandschaft. Die Erwachsenenschutzbehörde kann die Handlungsfähigkeit der betroffenen Person entsprechend einschränken (Art. 394 ZGB). Braucht eine Person zu ihrem Schutz für bestimmte Handlungen die Zustimmung eines Beistands, errichtet die Erwachsenenschutzbehörde eine Mitwirkungsbeistandschaft. In diesen Fällen wird die Handlungsfähigkeit der betroffenen Person von Gesetzes wegen entsprechend eingeschränkt (Art. 396 ZGB).

Wird die Handlungsfähigkeit einer Person durch eine solche Massnahme des Erwachsenenschutzes eingeschränkt, ist die betroffene Person nicht mehr voll handlungsfähig, sondern nur noch beschränkt handlungsfähig. So wie es innerhalb der Handlungsfähigkeit eine Abstufung zwischen voller und beschränkter Handlungsfähigkeit gibt, so sind auch innerhalb der Handlungsunfähigkeit zwei Stufen zu unterscheiden, nämlich die beschränkte Handlungsunfähigkeit und die volle Handlungsunfähigkeit. Gemäss Art 17 ZGB sind folgende Personen handlungsunfähig: Urteilsunfähige, Minderjährige sowie Personen unter umfassender Beistandschaft (zur umfassenden Beistandschaft s. Art. 398 ZGB). Handlungsunfähige Personen, die urteilsfähig sind (also urteilsfähige Minderjährige und urteilsfähige Personen unter umfassender Beistandschaft), sind aber nicht voll handlungsunfähig, sondern nur beschränkt handlungsunfähig. Sie können also gewisse Rechte und Pflichten begründen: 

Sie können Vorteile erlangen, die unentgeltlich sind (Art. 19 Abs. 2 ZGB). Beispiel: Eine 14–jährige Schülerin kann ein kostenfreies Jugendsparkonto eröffnen. Die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters wäre hingegen nötig, wenn das Konto überzogen werden könnte und somit negative Zinsbelastungen möglich wären (Entgeltlichkeit).

 

Sie können geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens selbst besorgen (Art. 19 Abs. 2 ZGB). Sie können auch grössere Geschäfte tätigen, wenn der gesetzliche Vertreter (meist die Eltern) zustimmt (Art. 19 Abs. 1 ZGB). Der Vertreter kann die Zustimmung ausdrücklich oder stillschweigend im Voraus geben oder das Geschäft nachträglich genehmigen (Art. 19a Abs. 1 ZGB).

Personenrecht

19

20

Kapitel I – Einführung

Beispiele: Die Mutter gibt ihrer 12-jährigen Tochter Geld, damit sie Nahrungsmittel einkaufen geht. Der 16-jährige Sohn erwirbt ein Mountain-Bike zu einem Preis von CHF 2 500. Als das Bike bereit ist, begleitet ihn sein Vater, womit dieser den Kauf nachträglich (zumindest stillschweigend) genehmigt. 

Sie üben die Rechte, die ihnen um ihrer Persönlichkeit willen zustehen, selbstständig aus (Art. 19c Abs. 1 ZGB). In Bezug auf diese sogenannten höchstpersönlichen Rechte sind sie also voll handlungsfähig. In manchen Fällen hängt die Ausübung eines höchstpersönlichen Rechts jedoch von der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters ab (Art. 19c Abs. 1 ZGB; s. z.B. Art. 90 Abs. 2 und Art. 183 Abs. 2 ZGB). Beispiele für höchstpersönliche Rechte: Einwilligung in einen ärztlichen Eingriff, Eheschliessung, Anerkennung eines Kindes, Klage auf Unterhalt, Abschluss eines Ehe- oder Erbvertrags, Errichtung eines Testaments.

 

Sie werden aus unerlaubter Handlung schadenersatzpflichtig, sind also „deliktsfähig“ (Art. 19 Abs. 3 ZGB). Minderjährige können schliesslich Geschäfte tätigen, wenn sie dabei Geld ausgeben, dass sie durch eigene Arbeit erworben oder von den Eltern zur Ausübung ihres Berufs herausbekommen haben (Art. 323 Abs. 1 ZGB). Zu beachten ist dabei allerdings, dass die gesetzlichen Vertreter dem Arbeitsvertrag, auf dem das eigene Einkommen beruht, zustimmen müssen. Beispiele: Hat ein Minderjähriger ein Smartphone vom eigenen Lohn gekauft, ist der Vertrag auch ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters gültig. Will der Minderjährige einen wertvollen Gegenstand kaufen und übersteigt die Ausgabe seinen Arbeitsverdienst (also seine Ersparnisse aus Arbeitseinkommen plus sein Einkommen bis zum nächsten ordentlichen Kündigungstermin), so bedarf der Kaufvertrag der elterlichen Zustimmung.

Im Gegensatz zu den urteilsfähigen Handlungsunfähigen, die nur beschränkt handlungsunfähig sind, vermögen Urteilsunfähige (unter Vorbehalt der gesetzlichen Ausnahmen) keine Rechten und Pflichten zu begründen (Art. 18 ZGB). Wer urteilsunfähig ist, ist deshalb voll handlungsunfähig und kann entsprechend auch keinen Vertrag abschliessen. Im Personenrecht ist neben der Rechts- und Handlungsfähigkeit einer Person u.a. auch geregelt, wo diese ihren Wohnsitz hat. Nach Art. 23 Abs. 1 ZGB befindet sich der Wohnsitz einer Person an dem Orte, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält. Nach der Rechtsprechung kommt es nicht auf den inneren Willen an, sondern darauf, welche Absicht objektiv erkennbar ist. Der Lebensmittelpunkt einer Person liegt dort, wo sich ihre Lebensinteressen nach den konkreten Umständen objektiv betrachtet konzentrieren. Jede Person hat nur einen Wohnsitz (Art. 23 Abs. 2 ZGB).

3

3.2

Juristische Personen

Nach Art. 11 ZGB besteht in den Schranken der Rechtsordnung für jeden Menschen die gleiche Fähigkeit, Rechte und Pflichten zu haben. Dadurch, dass die Rechtsordnung dem Individuum die Rechtsfähigkeit verleiht, wird es zur Person im Rechtssinn. Viele Aufgaben können aber durch Zusammenschluss mehrerer Individuen besser gelöst werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Rechtsfähigkeit eines Personenverbundes. Das ZGB anerkennt Körperschaften und Anstalten als Personen mit eigener Rechtspersönlichkeit und stellt sie den Einzelpersonen gleichberechtigt zur Seite (Art. 52 Abs. 1 ZGB). Demnach kann sowohl einer natürlichen Person als auch einer juristischen Person die Rechts- und Handlungsfähigkeit zukommen. Zudem geniesst auch die juristische Person den Persönlichkeits- und Namensschutz (Art. 28 und Art. 29 ZGB) und verfügt nach Art. 56 ZGB über einen Sitz. Die juristischen Personen sind durch die Rechtsordnung geschaffene Rechtssubjekte. Der Gesetzgeber sieht grundsätzlich zwei Arten von juristischen Personen vor: die körperschaftlich organisierten Personenvereinigungen (Körperschaften) und die selbständigen Anstalten. Primäres Unterscheidungskriterium ist die Art des Rechtsträgers. Während die Körperschaft eine zu einer Einheit zusammengefasste Personenverbindung darstellt (universitas personarum), ist die privatrechtliche Anstalt (Art. 52 Abs. 2 ZGB) ein mit Rechtspersönlichkeit ausgestaltetes Zweckvermögen (universitas bonorum), d.h. eine Stiftung. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal liegt in der Zwecksetzung der juristischen Person. Während die Personenverbindungen mit ideellem Zweck (Verein und Stiftung) vollumfänglich dem ZGB unterstellt sind, stehen die Körperschaften mit wirtschaftlicher Zwecksetzung (AG, Kommandit-AG, GmbH, Genossenschaft) primär unter den Bestimmungen des Gesellschaftsrechts (Art. 59 Abs. 2 ZGB), d.h. unter Art. 620 ff. OR. Grundsätzlich geht man bei der juristischen Person von einer vollständigen Trennung zwischen dem Rechtsträger und seinen Mitgliedern aus. Die juristische Person ist selbständiges Rechtssubjekt und nimmt als solches unabhängig von ihren Mitgliedern am Rechtsverkehr teil. Sie alleine ist Trägerin von Rechten und Pflichten. Das Vermögen der einzelnen Mitglieder haftet den Gläubigern nur in Ausnahmefällen. Primär haftet nur das Vermögen der juristischen Person. Keine juristischen Personen sind die einfache Gesellschaft (Art. 530 ff. OR), die Kollektivgesellschaft (Art. 552 ff. OR) und die Kommanditgesellschaft (Art. 594 ff. OR). Sie haben also keine eigene Rechtspersönlichkeit. Träger von Rechten und Pflichten sind deshalb nicht die Gesellschaften, sondern deren Gesellschafter. Die Kollektivgesellschaft und die Kommanditgesellschaft können aber unter ihrer Firma Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen, vor Gericht klagen und verklagt werden (Art. 562, Art. 602 OR). Diese Gesellschaften sind somit zwar keine juristischen Personen, sie werden aber in gewisser Hinsicht (insbesondere im Aussenverhältnis) wie solche behandelt.

Personenrecht

21

22

Kapitel I – Einführung

Rechtspersönlichkeit Gebilde mit Rechtspersönlichkeit

natürliche Personen

Merke: Wenn ein Verein wie ein kaufmännischer Betrieb geführt wird, bedarf es einer Eintragung ins Handelsregister (Art. 61 Abs. 2 ZGB). Dieser Handelsregistereintrag hat aber nur eine erklärende (deklaratorische), nicht aber eine begründende (konstitutive) Wirkung.

juristsiche Personen (z.B. AG)

Gebilde ohne Rechtspersönlichkeit Personenverbindung ohne Rechtspersönlichkeit (z.B. einfache Gesellschaft)

Juristische Personen erhalten das Recht der Persönlichkeit mit ihrer rechtmässigen Gründung. Es ist zu beachten, dass je nach Art der zu gründenden juristischen Person unterschiedliche Gründungsvorschriften zur Anwendung kommen. Im Allgemeinen erlangen juristische Personen gemäss Art. 52 ZGB die Persönlichkeit mit der Eintragung ins Handelsregister. Vereine (Art. 60 und 61 ZGB), Familien- und kirchliche Stiftungen (Art. 52 Abs. 2 ZGB) erhalten dagegen die Rechtspersönlichkeit ohne Eintragung (System der freien Bildung). Personenverbindungen mit widerrechtlichem Zweck erlangen das Recht der Persönlichkeit nicht (Art. 52 Abs. 3 ZGB). Gemäss Art. 53 ZGB ist die juristische Person aller Rechte und Pflichten fähig (= Rechtsfähigkeit), bei denen es nicht auf die natürlichen Eigenschaften des Menschen ankommt (z.B. Heirat). Die Handlungsfähigkeit der juristischen Person ist von der Bestellung der vom Gesetz und den Statuten vorgeschriebenen Organe abhängig. Juristische Personen treten durch ihre Organe (natürliche Personen) im Rechtsverkehr auf, welche den Willen der juristischen Person zum Ausdruck bringen (Art. 54 und Art. 55 Abs. 1 ZGB). Beispiel: Ein Verein benötigt einen Vorstand (Art. 69 ZGB) und eine Vereinsversammlung (Art. 64 Abs. 1 ZGB). Als Organe im formellen Sinn sind die gewählten oder ordnungsgemäss eingesetzten Organe zu qualifizieren (z.B. Verwaltungsrat einer AG). Daneben gelten aber auch Personen als Organe, die Entscheidungen treffen, welche den formellen Organen vorbehalten sind (faktische oder materielle Organe). Zum Organbegriff s. auch Band II, II/1.7.4. Beispiele für faktische Organe: Stiller Verwaltungsrat, Muttergesellschaft im Konzern.

Merke: Im Gegensatz zu Organen, die Teil der Persönlichkeit der juristischen Person sind, üben Hilfspersonen (vgl. Art. 101 OR für den vertraglichen und Art. 55 OR für den ausservertraglichen Bereich) lediglich Tätigkeiten für die juristische Person aus.

Im externen Verhältnis bringen die Organe den „Willen“ der juristischen Person zum Ausdruck. Sie nehmen eine gewisse Vertreterfunktion wahr, die aber nicht mit der obligationenrechtlichen Stellvertretung (Art. 32 ff. OR) zu verwechseln ist. Gemäss Art. 55 ZGB hat die juristische Person für rechtsgeschäftliches sowie sonstiges Handeln ihrer Organe einzustehen. Die juristische Person ist insofern im zivilrechtlichen Bereich voll deliktsfähig.

3

Wie erwähnt muss man grundsätzlich zwischen der juristischen Person und ihren Mitgliedern trennen. In Ausnahmefällen kann es aber sein, dass sich natürliche Personen auf rechtsmissbräuchliche Weise hinter der juristischen Person verstecken. In diesen Fällen muss dem Gläubiger der sog. Durchgriff auf das Vermögen der hinter ihr stehenden natürlichen Person gewährt werden (vgl. Band II, I/2.3.2). Beispiel: Vermischt der Eigentümer einer Einpersonengesellschaft sein eigenes Vermögen mit demjenigen der Gesellschaft (z.B. Abwicklung der privaten und geschäftlichen Transaktionen über ein und dasselbe Konto), ist bei einem Konkurs auch der Durchgriff auf sein Privatvermögen möglich. Wie die natürlichen Personen einen Wohnsitz haben, haben die juristischen Personen einen Sitz, der den Anknüpfungspunkt ihrer Rechte und Pflichten darstellt. Art. 56 ZGB bestimmt, dass sich der Sitz der juristischen Person am Ort ihrer Verwaltung befindet, sofern die Statuten nichts anderes bestimmen. Demnach kann der Sitz der juristischen Person privatautonom bestimmt werden. Der statutarische Sitz braucht nicht mit demjenigen des „Lebensmittelpunktes“ der Firma übereinzustimmen, sondern kann beliebig bestimmt werden. Die juristische Person muss also lediglich erreichbar (sog. Briefkastenfirma) sein. Weiter dient auch bei der juristischen Person der Sitz als Anknüpfungspunkt für die örtliche Zuständigkeit der Behörden sowie als Anknüpfungspunkt für diverse Rechtsnormen. Muss sich die juristische Person nicht im Handelsregister eintragen (z.B. ein Verein) und ergibt sich nichts aus den Statuten, so befindet sich der Sitz am Ort der Verwaltung (Art. 56 ZGB). Fallen dabei mehrere Orte in Betracht, so ist der Sitz derjenige Ort, von dem die wesentlichen Führungsentscheide ausgehen. Bei der Auflösung einer juristischen Person werden folgende drei Typen unterschieden: 

Auflösung von Gesetzes wegen: Die Zweckverfolgung der juristischen Person ist nicht mehr möglich („natürlicher Tod“). Beispiel: Konkurs einer AG



Auflösung durch den Richter: Richterliche Aufhebung auf Grund gesetzlich anerkannter Gründe („gewaltsamer Tod“). Beispiel: Verein mit unsittlichem oder widerrechtlichem Zweck (sog. nachträgliche Widerrechtlichkeit).



Rechtsgeschäftliche Aufhebung: Selbstauflösung („Selbstmord“). Beispiel: Auflösung eines Vereins durch Vereinsbeschluss.

Personenrecht

23

24

Kapitel I – Einführung

4

Grundbegriffe des Obligationenrechts

4.1

Obligation und Obliegenheit

Die Obligation, die dem OR seinen Namen gibt, ist die Rechtsbeziehung zwischen zwei Personen, wonach die eine (Schuldner) zu einer Leistung verpflichtet und die andere (Gläubiger) zu einer Forderung berechtigt ist. Aus dem Blickwinkel des Gläubigers betrachtet wird die Rechtsbeziehung als Forderung, aus demjenigen des Schuldners betrachtet wird sie dagegen als Schuld (auch Verpflichtung, Verbindlichkeit) bezeichnet. Beispiel: Peter muss der Verwaltungs-AG seine Miete aus Mietvertrag bezahlen. Zwischen den Parteien besteht somit eine Obligation. Für Peter handelt es sich um eine Schuld, für die Verwaltungs-AG hingegen ist es eine Forderung. Die Leistungspflicht des Schuldners kann darin bestehen, dass er etwas tun, also eine Sachleistung (Geld, Güter) oder Dienstleistung erbringen muss. Der Schuldner kann aber auch verpflichtet werden, etwas zu dulden (z.B. eine Nutzung seiner Liegenschaft) oder zu unterlassen (z.B. seinen früheren Arbeitgeber zu konkurrieren). Ein Vertrag kann dem Schuldner sowohl klagbare Pflichten auferlegen als auch solche, die der Gläubiger nicht selbständig einklagen kann, deren Verletzung den Schuldner aber zu Schadenersatz verpflichtet. Erfüllt der Schuldner seine (klagbare) Schuld nicht, so kann der Gläubiger auf Erfüllung seiner Forderung klagen und das Urteil mit staatlicher Hilfe vollstrecken lassen. Beispiel: Der Käufer bezahlt den geschuldeten Kaufpreis nicht. Die gerichtliche Klage des Verkäufers wird gutgeheissen. Dieses Urteil kann der Verkäufer durch Betreibung und anschliessende Pfändung bzw. Konkurs des Käufers vollstrecken. Seine Forderung wird aus dem Erlös der in der Pfändung oder dem Konkurs liquidierten Gegenstände befriedigt. Von den Leistungspflichten sind die Obliegenheiten zu unterscheiden. Obliegenheiten sind nicht einklagbar und bei ihrer Verletzung kann kein Schadenersatz gefordert werden. Bei der Verletzung einer Obliegenheit schadet sich aber der Belastete selbst, da er Rechtsnachteile zu gewärtigen hat. So muss etwa der Käufer die Kaufsache prüfen und bei Mangelhaftigkeit sofort rügen. Unterlässt der Käufer diese Obliegenheit, verliert er das Recht, den Verkäufer für die mangelhafte Sache zu belangen (Art. 201 OR).

4.2

Willenserklärung und Rechtsgeschäft

Die Willenserklärung ist die Äusserung einer Person, die auf eine rechtliche Wirkung gerichtet ist, also auf die Begründung, Änderung oder Aufhebung eines Rechts oder Rechtsverhältnisses. Ein Rechtsgeschäft liegt vor, wenn die Rechtsordnung einer oder mehreren Willenserklärungen rechtliche Wirkung verleiht. Bei einseitigen Rechtsgeschäften tritt die rechtliche Wirkung bereits durch die Willenserklärung einer Partei

4

Grundbegriffe des Obligationenrechts

ein, bei zweiseitigen (oder mehrseitigen) Rechtsgeschäften braucht es dazu die übereinstimmenden Willenserklärungen zweier (oder mehrerer) Parteien. Beispiele für einseitige Rechtsgeschäfte: Eine Person kann ohne Zustimmung einer anderen eine Stiftung (Art. 80 ZGB) oder ein Testament (Art. 498 ZGB) errichten, durch Auslobung für eine Leistung eine Belohnung aussetzen (Art. 8 OR) oder eine andere Person zur Stellvertretung ermächtigen (Art. 32 ff. OR). Hat sie ein Gestaltungsrecht, so kann sie dieses ebenfalls ohne Zustimmung einer andern Person ausüben: Übt sie ein Vorkaufsrecht (Art. 216a ff. OR) oder ein anderes Optionsrecht aus, begründet sie damit ein Rechtsverhältnis; sie kann ein Rechtsverhältnis ändern, indem sie nach Art. 107 Abs. 2 OR auf Gegenleistung verzichtet oder nach Art. 269d den Mietzins erhöht; durch Kündigung eines Vertrags (z.B. Art. 335 OR), Rücktritt vom Vertrag (Art. 109 OR), Wandlung (Art. 205 ff. OR) oder Erklärung der Verrechnung (Art. 120 OR) hebt sie das Rechtsverhältnis auf. Beispiele für zwei- oder mehrseitige Rechtsgeschäfte: Der Vertrag ist im Normalfall ein zweiseitiges, zuweilen aber auch ein mehrseitiges Rechtsgeschäft (z.B. Aktionärbindungsvertrag). Der Beschluss (z.B. der Beschluss einer Vereinsversammlung oder der Generalversammlung einer AG) ist in der Regel ein mehrseitiges Rechtsgeschäft. Unterscheidet man also nach der Zahl der Willenserklärungen, die für das Zustandekommen eines Rechtsgeschäfts notwendig sind, lassen sich die Rechtsgeschäfte wie folgt einteilen: Das Rechtsgeschäft

Einseitiges Rechtsgeschäft z.B. letztwillige Verfügung (Art. 498 ff. ZGB) oder die Ausübung eines Gestaltungsrechts

Zwei- oder mehrseitiges Rechtsgeschäft

Vertrag

Beschluss z.B. GVBeschluss einer AG (Art. 698 ff. OR)

Die Rechtsgeschäfte können aber auch nach ihren Rechtswirkungen unterschieden werden: Verpflichtungsgeschäfte haben obligatorische, Verfügungsgeschäfte dingliche Wirkung. 

Verpflichtungsgeschäft: Durch ein Verpflichtungsgeschäft wird die Verpflichtung zu einem Handeln oder Unterlassen begründet. Das Verpflichtungsgeschäft wirkt sich nicht unmittelbar auf die dinglichen Rechte (z.B. Eigentum) aus. Beispiel: Ein Verkäufer bleibt trotz Abschluss des Kaufvertrages Eigentümer der verkauften Sache. An der rechtlichen Zuordnung des Kaufgegenstandes ändert

25

26

Kapitel I – Einführung

sich durch den Kaufvertrag noch nichts. Denn gemäss Art. 184 Abs. 1 OR wird lediglich eine Verpflichtung zur Eigentumsverschaffung begründet. 

Verfügungsgeschäft: Durch das Verfügungsgeschäft wird ein Recht übertragen, belastet, geändert oder aufgehoben. Das Verfügungsgeschäft vollzieht das Verpflichtungsgeschäft. Beispiel: Eigentumsübertragung von Fahrnis (Art. 714 ZGB); Eigentumsübertragung von Grundstücken (Art. 656 Abs. 1 ZGB); Einräumung eines Pfandrechts (Art. 884 ZGB); Forderungsabtretung (Art. 164 OR); Aufhebung einer Forderung (Art. 115 OR).

Beachte: Beim Abschluss von mehreren Kaufverträgen mit verschiedenen Vertragsparteien über dieselbe Kaufsache (z.B. ein Auto) sind alle rechtsgültig.

Als wesentlicher Unterschied zwischen Verfügungs- und Verpflichtungsgeschäft kann angeführt werden, dass beim Verpflichtungsgeschäft lediglich das rechtliche Dürfen, beim Verfügungsgeschäft aber das rechtliche Können beschränkt wird. Beispiel: Anton verkauft Berta ein Fahrzeug, obwohl Anton gar nicht Eigentümer des Fahrzeugs ist. Auch in einem solchen Fall ist der Kaufvertrag rechtswirksam zustande gekommen. Möglicherweise gelingt es Anton, das Fahrzeug vom Eigentümer zu erwerben. Scheitert die Erfüllung des Kaufvertrages an der fehlenden Verfügungsmacht von Anton, wird dieser schadenersatzpflichtig (Art. 102 ff. OR).

5

Entstehungsgründe der Obligation

Das OR nennt unter seinem ersten Titel („Die Entstehung der Obligationen“) drei Entstehungsgründe für Obligationen: den Vertrag (Art. 1-40f OR), die unerlaubte Handlung (Art. 41-61 OR) und die ungerechtfertigte Bereicherung (Art. 62-67 OR). Diese Unterteilung beruht auf römischrechtlicher Tradition. Sie ist allerdings unvollständig. Deshalb wird heute zwischen den Obligationen aus Rechtsgeschäft und den Obligationen aus Gesetz unterschieden. Erstere beruhen auf dem Willen einer oder beider (bzw. mehrerer) Parteien, letztere auf dem Gesetz oder der Rechtsprechung: Entstehungsgründe für Obligationen

Rechtsgeschäft Einseitiges oder zwei- bzw. mehrseitige Rechtsgeschäfte

Unerlaubte Handlung

culpa in contrahendo

Ungerechtfertigte Bereicherung

Geschäftsführung ohne Auftrag

Gesetz

Andere Entstehungsgründe

andere gesetzliche Schuldverhältnisse

5

Beispiele: - Einseitiges Rechtsgeschäft: Anton verfasst sein Testament. - Zwei- oder mehrseitige Rechtsgeschäfte: Antonia und Beat schliessen einen Kaufvertrag. Die Aktionäre Andreas, Beatrice und Caspar fassen an der jährlichen Generalversammlung ihrer AG Beschlüsse. - Unerlaubte Handlung: Anton schlägt aus purem Neid eine Beule in das neue Fahrzeug seines Nachbarn. Beat fährt an der Ampel auf Christina auf. - Ungerechtfertigte Bereicherung: Die Bank KG überweis versehentlich CHF 10 000 auf Antonias Konto. Andreas bezahlt Brigitte im Voraus den Kaufpreis für ein Grundstück. Der Kaufvertrag erweist sich jedoch als formnichtig. - Culpa in contrahendo: Anna verhandelt mit Bodo, obwohl sie mit ihm gar keinen Vertrag abschliessen will. - Geschäftsführung ohne Auftrag: Ein Rettungstrupp bricht auf, um einen verunfallten Bergsteiger zu suchen. Ein Dritter unterstützt ein Kind in Notlage während einiger Monate (und hat damit einen Anspruch aus GoA gegenüber dessen Eltern, s. BGE 123 III 161). - Andere gesetzliche Schuldverhältnisse: Z.B. die Unterhaltspflicht zwischen Ehegatten (Art. 163 f. ZGB) oder der Eltern gegenüber ihren Kindern (Art. 276 ZGB) sowie der Herausgabeanspruch gestützt auf Eigentum (Art. 641 Abs. 2 ZGB). Die Praxis bringt nun häufig Fälle hervor, in welchen die Voraussetzungen für verschiedene Ansprüche gegeben sind. In diesen Fällen stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der verschiedenen Ansprüche zueinander. Je nach der Art der Ansprüche, um die es geht, gestaltet sich ihr Verhältnis unterschiedlich: 

Es kann sein, dass der Gläubiger alle Ansprüche gleichzeitig geltend machen kann. In diesen Fällen spricht man von Anspruchskonkurrenz. Der Gläubiger soll seinen Anspruch aber nicht mehrfach erhalten. Deshalb geht der eine Anspruch unter, wenn der andere erfüllt wird. Beispiel: Anton hat eine 4½-Zimmer Wohnung in St. Gallen gemietet. Aus allgemeiner Frustration beschädigt er schuldhaft seine Wohnung. Die Beschädigung einer fremden Sache erfüllt grundsätzlich den Tatbestand der unerlaubten Handlung (Art. 41 Abs. 1 OR). Darüber hinaus hat der Vermieter aber auch einen vertraglichen Anspruch gegen den Mieter Anton (Art. 257 f. i.V.m. Art. 97 ff. OR). Erhält der Vermieter den Schaden aus Vertrag ersetzt, geht sein Anspruch aus unerlaubter Handlung unter, da zwischen Ansprüchen aus Vertrag und solchen aus unerlaubter Handlung Anspruchskonkurrenz besteht.



In den Fällen der Alternativität kann der Gläubiger nicht alle Ansprüche gleichzeitig geltend machen. Vielmehr muss er sich für einen Anspruch entscheiden. Beispiel: Wurde ein Werkvertrag durch den Unternehmer mangelhaft erfüllt, stehen dem Besteller die Rechtsbehelfe der Wandelung, Minderung und Nachbesserung zur Verfügung (vgl. dazu Art. 368 OR). Obwohl dem Besteller mehrere Anspruchsgrundlagen zur Auswahl stehen, kann er nicht alle drei gleichzeitig fordern.

Entstehungsgründe der Obligation

27

28

Kapitel I – Einführung



In den Fällen der Exklusivität verlangt einer der Ansprüche exklusive Geltung und verdrängt alle andern Ansprüche. Beispiele: Die Gewährleistungsrechte des Werkvertragsrechts verdrängen die allgemeine Vertragshaftung nach Art. 97 OR. Die im Kaufrecht und im Mietrecht speziell geregelten Normen des Schuldnerverzugs (Art. 190 f., 214 f. und 257d OR) gehen den allgemeinen Verzugsregeln von Art. 107 OR vor.

6

Die einzelnen Vertragsverhältnisse: Überblick und Abgrenzungen

Wer sich auf irgendeine Weise mit einem bestimmten Vertrag befasst, muss sich als erstes die Frage nach der Qualifikation des betreffenden Vertrags stellen. Denn die Vertragsqualifikation beeinflusst bereits die Anfangsfrage, ob überhaupt ein Vertrag zustande gekommen ist. Dazu müssen sich die Parteien nämlich über die wesentlichen Punkte einig sein (Art. 1 und 2 OR). Je nach Art des Vertrags sind andere Punkte wesentlich und hat das Gericht die Möglichkeit, nicht geregelte wesentliche Punkte zu ergänzen oder nicht. Beispiele zur Einigung über die wesentlichen Punkte (Art. 1 und 2 OR): Bei einem Mietvertrag müssen sich die Parteien über die Höhe des Mietzinses einigen. „Ist der Mietzins von den Parteien nicht hinreichend bestimmt worden und liegt erst eine grundsätzliche Einigung über die Entgeltlichkeit der Gebrauchsüberlassung vor, ist ein Mietvertrag noch nicht geschlossen. Nur für die Dauer der bereits erfolgten Benutzung kann der Richter das Entgelt festlegen.“ (BGE 119 II 347, Regeste). Beim Kaufvertrag und beim Werkvertrag genügt es dagegen, wenn die Parteien sich einig sind, dass die Leistung entgeltlich erfolgen soll. In diesem Fall kann das Gericht gestützt auf Art. 212 bzw. Art. 374 OR die Höhe des Entgelts ergänzen. Ein Arbeitsvertrag gilt gemäss Art. 320 Abs. 2 OR zum Schutz des Arbeitnehmers bereits dann als abgeschlossen, wenn der Arbeitgeber Arbeit in seinem Dienst auf Zeit entgegennimmt, deren Leistung nach den Umständen nur gegen Lohn zu erwarten ist. Auf den Willen der Parteien kommt es nicht an. Lohn und Arbeitszeit richten sich sodann nach dem Üblichen. Beispiele zu Antrag und Annahme (Art. 3 ff. OR): Eine Einigung über die wesentlichen Punkte setzt grundsätzlich einen Antrag und eine Annahme voraus, wobei der Antragsteller an seinen Antrag gebunden ist (Art. 3 ff. OR). Im OR BT gibt es Spezialregelungen zu Antrag und Annahme: So hält z.B. Art. 244 OR fest, dass der Schenker seinen Antrag bis zur Annahme seitens des Beschenkten jederzeit zurückziehen kann. Und gemäss Art. 395 OR gilt der Antrag zu einem Auftrag als angenommen, wenn ihn der Beauftrage nicht sofort ablehnt (und sich der Auftrag auf Geschäfte bezieht, die der Beauftragte kraft obrigkeitlicher Bestellung oder gewerbsmässig betreibt oder zu deren Besorgung er sich öffentlich empfohlen hat – eine dieser Möglichkeiten dürfte oft erfüllt sein).

6

Die einzelnen Vertragsverhältnisse: Überblick und Abgrenzungen

Sodann ist die Vertragsqualifikation wichtig, weil bestimmte Rechtswirkungen für einzelne Verträge anders geregelt sind als gemäss OR AT. Beispiele: Will der Besteller vom Unternehmer Schadenersatz wegen eines Werkmangels, so müssen die Voraussetzungen von Art. 367 ff. OR erfüllt sein. Der Besteller kann seinen Anspruch nicht auf Art. 97 OR stützen. Die Regelung der Gefahrtragung beim Kaufvertrag gemäss Art. 185 OR schliesst die Anwendung von Art. 119 Abs. 2 OR (Unmöglichkeit) aus. Weiter enthalten zahlreiche Verträge AGB. Diese unterliegen der Inhaltskontrolle (der versteckten gemäss Ungewöhnlichkeitsregel oder der offenen gestützt auf Art. 8 UWG). Danach hängt die Zulässigkeit einer AGB-Klausel unter anderem davon ab, wie stark sie vom dispositiven Recht abweicht. Die Vertragsqualifikation bestimmt nun, mit welchen dispositiven Regeln die AGB bei der Inhaltskontrolle verglichen werden. Auch bei der Lückenfüllung spielt das dispositive Recht eine wichtige Rolle, denn es wird vermutet, die Parteien hätten die Lücke im Vertrag mit der passenden Regel des dispositiven Rechts füllen wollen (s. II/3.2). Deshalb gilt es festzulegen, welches dispositive Recht zur Anwendung kommt. Darüber entscheidet die Qualifikation. Schliesslich enthalten die Regeln zu einzelnen Verträgen zahlreiche zwingende Bestimmungen, also solche, von denen die Parteien in ihrem Vertrag nicht abweichen können. Hier entscheidet die Qualifikation des Vertrags über den Gestaltungsspielraum der Parteien. Beispiele: Liegt ein Auftrag vor, können die Parteien ihren Vertrag weitgehend frei gestalten. Handelt es sich jedoch um einen Arbeitsvertrag, ist diese Freiheit durch zahlreiche zwingenden Bestimmungen eingeschränkt (s. Art. 361 f. OR). Ebenfalls zahlreiche zwingende Bestimmungen finden sich im Recht des Mietvertrags (Art. 253 ff. OR; s. z.B. Art. 273c OR). Auch Konsumkredite sind weitgehend durch zwingendes Recht geregelt (s. Art. 37 KKG: „Von den Bestimmungen dieses Gesetzes darf nicht zu Ungunsten der Konsumentin oder des Konsumenten abgewichen werden.“). Da also die Qualifikation des Vertrags von Anfang an in die Lösung vertragsrechtlicher Fragen hineinspielt, ist der Überblick über die einzelnen Vertragsverhältnisse und deren Abgrenzung den Kapiteln über die Vertragsentstehung (Kapitel II), die Vertragspflichten (Kapitel III) und die Vertragsverletzung (Kapitel IV) vorangestellt. Nachfolgend werden zunächst die gesetzlich geregelten Verträge behandelt und danach die sog. Innominatverträge, also die Verträge, für die das Gesetz (OR oder Spezialgesetze) keine besonderen Regeln zur Verfügung stellt.

6.1

Die gesetzlich geregelten Verträge (Nominatverträge)

Die in Art. 184–551 OR (also im OR BT) geregelten Verträge lassen sich in Veräusserungsverträge, Gebrauchsüberlassungsverträge, Verträge auf Arbeitsbzw. Dienstleistungen und Hinterlegungs- und Sicherungsverträge einteilen. Daneben regelt das Gesetz die Unterhaltsverträge (Leibrente, Art. 516 ff. OR

29

30

Kapitel I – Einführung

und Verpfründung, Art. 521 ff. OR) und enthält Bestimmungen zu Spiel und Wette (Art. 513 ff. OR). Auch die einfache Gesellschaft ist im Vertragsrecht geregelt (Art. 530 ff. OR). Schliesslich enthält der OR BT auch Rechtsfiguren, die keine Verträge sind: die Geschäftsführung ohne Auftrag („GoA“, Art. 419 ff. OR), die handelsrechtlichen Vollmachten (Art. 458 ff. OR) und die Anweisung (Art. 466 ff. OR). Diese Rechtsfiguren hätten auch im OR AT geregelt werden können. Sie sind im BT enthalten, da sie auftragsähnliche Merkmale aufweisen (GoA) oder regelmässig im Zusammenhang mit einem Arbeitsvertrag, Auftrag oder Gesellschaftsvertrag stehen (Vollmachten). Nachfolgend werden die Veräusserungs- und Gebrauchsüberlassungsverträge, die Verträge auf Arbeitsleistungen (im weitesten Sinn) und die Hinterlegungsund Sicherungsverträge vorgestellt und voneinander abgegrenzt.

6.1.1

Veräusserungsverträge

Veräusserungsverträge verpflichten eine der Parteien, dem anderen Eigentum an einer Sache oder einem Recht zu verschaffen. Die andere Partei erbringt dafür eine Gegenleistung. Je nach Art dieser Gegenleistung lassen sich folgende Veräusserungsverträge unterscheiden: 





Kaufvertrag = Eigentum gegen Geld: „Durch den Kaufvertrag verpflichten sich der Verkäufer, dem Käufer den Kaufgegenstand zu übergeben und ihm das Eigentum daran zu verschaffen, und der Käufer, dem Verkäufer den Kaufpreis zu bezahlen.“ (Art. 184 Abs. 1 OR). Das OR regelt folgende Arten des Kaufs: Den Fahrniskauf (Art. 184-215 OR), den Grundstückkauf (Art. 216-221 OR) und folgende „besondere Arten“ des Kaufs: den Kauf nach Muster (Art. 222 OR), den Kauf auf Probe oder auf Besicht (Art. 223-225 OR) und die Versteigerung (Art. 229-236 OR). Tauschvertrag = Eigentum gegen Eigentum: Beide Parteien verpflichten sich, der andern eine Sache zu übergeben und das Eigentum daran zu verschaffen (vgl. Art. 237 OR). Schenkung = Eigentum ohne Gegenleistung: „Als Schenkung gilt jede Zuwendung unter Lebenden, womit jemand aus seinem Vermögen einen andern ohne entsprechende Gegenleistung bereichert.“ (Art. 239 Abs. 1 OR). Der Beschenkte muss den Schenkungsvertrag aber immerhin akzeptieren. Eine gemischte Schenkung (also eine Mischung aus Schenkungs- und Kaufvertrag) liegt vor, wenn der „Beschenkte“ eine Gegenleistung erbringt, die unter dem wirklichen Wert der Zuwendung liegt und die Parteien diese Wertdifferenz kennen und wollen. Der Veräusserer muss mit dem Willen gehandelt haben, dem Erwerber im Umfang der Wertdifferenz eine unentgeltliche Zuwendung zu machen (BGE 116 II 234).

6.1.2

Gebrauchsüberlassungsverträge

Sie verpflichten eine der Parteien, der anderen eine Sache oder ein Recht zum Gebrauch zu überlassen. Im Unterschied zu den Veräusserungsverträgen wird also kein Eigentum übertragen. Die einzelnen Gebrauchsüberlassungsverträge lassen sich wie folgt unterscheiden: 

Miete = Gebrauchsüberlassung einer Sache gegen Geld: „Durch den Mietvertrag verpflichtet sich der Vermieter, dem Mieter eine Sache zum Ge-

6









Die einzelnen Vertragsverhältnisse: Überblick und Abgrenzungen

brauch zu überlassen, und der Mieter, dem Vermieter dafür einen Mietzins zu leisten“ (Art. 253 OR). Pacht = Gebrauchsüberlassung plus Nutzung einer Sache oder eines Rechts: „Durch den Pachtvertrag verpflichten sich der Verpächter, dem Pächter eine nutzbare Sache oder ein nutzbares Recht zum Gebrauch und zum Bezug der Früchte oder Erträgnisse zu überlassen, und der Pächter, dafür einen Pachtzins zu leisten“ (Art. 275 OR). Der Lizenzvertrag (Vertrag über die Nutzung eines Immaterialgüterrechts, z.B. eines Patents) ist einem Pachtvertrag sehr ähnlich. Er wird aber von Rechtsprechung und Lehre als eigenständiger Vertrag (als ein Vertrag „sui generis“) behandelt und ist damit ein im Gesetz nicht geregelter „Innominatvertrag“. Leihe = Gebrauchsüberlassung einer Sache ohne Gegenleistung: „Durch den Gebrauchsleihevertrag verpflichten sich der Verleiher, dem Entlehner eine Sache zu unentgeltlichem Gebrauche zu überlassen, und der Entlehner, dieselbe Sache nach gemachtem Gebrauche dem Verleiher zurückzugeben“ (Art. 305 OR). Darlehen = Gebrauchsüberlassung von Geld (oder anderer vertretbarer Sachen): „Durch den Darlehensvertrag verpflichtet sich der Darleiher zur Übertragung des Eigentums an einer Summe Geldes oder an andern vertretbaren Sachen, der Borger dagegen zur Rückerstattung von Sachen der nämlichen Art in gleicher Menge und Güte“ (Art. 312 OR). Das Darlehen kann entgeltlich oder unentgeltlich sein (s. Art. 313 OR). Im Unterschied zu den übrigen Gebrauchsüberlassungsverträgen wird der Borger Eigentümer des Geldes. Dennoch wird das Darlehen nicht bei den Veräusserungsverträgen eingeteilt, sondern bei den Gebrauchsüberlassungsverträgen. Denn wirtschaftlich/funktional gesehen erhält der Borger das Geld zum „Wertgebrauch“. Entsprechend muss er dem Darleiher eine gleiche Summe zurückerstatten. Gebrauchsüberlassung gegen Gebrauchsüberlassung, z.B. Wohnungstausch oder Nutzungstausch. Diese Art von Geschäften ist im Gesetz nicht besonders geregelt. Es sind die Vorschriften über Miete, Pacht usw. anwendbar.

Allen Gebrauchsüberlassungsverträgen ist gemeinsam, dass der Umfang der Leistungspflichten von der Dauer des Vertragsverhältnisses abhängt. Die Gebrauchsüberlassungsverträge sind deshalb sog. „Dauerverträge“ (weitere Dauerverträge sind z.B. der Arbeitsvertrag, der Hinterlegungsvertrag, der Sukzessivlieferungsvertrag oder die einfache Gesellschaft).

6.1.3

Verträge auf Arbeits- bzw. Dienstleistung

Diese Verträge sind auf Arbeitsleistungen im weitesten Sinn ausgerichtet. Aufgrund dieses Kriteriums kann man sie in vielen Fällen relativ einfach von den Veräusserungs- und Gebrauchsüberlassungsverträgen abgrenzen (es kann allerdings schwierig sein, zwischen Kauf- und Werkvertrag zu unterscheiden, s. dazu sogleich). Innerhalb der Verträge auf Arbeitsleistung bestehen grosse Unterschiede: 

Arbeitsvertrag = weisungsgebundene Arbeitsleistung gegen Geld: „Durch den Einzelarbeitsvertrag verpflichtet sich der Arbeitnehmer auf bestimmte oder unbestimmte Zeit zur Leistung von Arbeit im Dienst des Arbeitgebers und dieser zur Entrichtung eines Lohnes, der nach Zeitabschnitten (Zeitlohn) oder nach der geleisteten Arbeit (Akkordlohn) bemessen wird“ (Art.

31

32

Kapitel I – Einführung



319 Abs. 1 OR). Charakteristisch ist dabei das Subordinationsverhältnis: Der Arbeitnehmer arbeitet weisungsgebunden („im Dienst des Arbeitgebers“). So lässt sich der Arbeitsvertrag auch vom Werkvertrag und vom Auftrag abgrenzen: Im Gegensatz zum Arbeitnehmer arbeiten der Unternehmer und der Beauftragte selbständig (unabhängig). Das OR regelt neben dem gewöhnlichen Einzelarbeitsvertrag folgende besonderen Einzelarbeitsverträge: den Lehrvertrag (Art. 344-346a OR), den Handelsreisendenvertrag (Art. 347-350a OR) und den Heimarbeitsvertrag (Art. 351-354 OR). Werkvertrag = Arbeitserfolg gegen Geld („contrat de résultat“): „Durch den Werkvertrag verpflichtet sich der Unternehmer zur Herstellung eines Werkes und der Besteller zur Leistung einer Vergütung“ (Art. 363 OR). Abgrenzung zum Arbeitsvertrag: Die Abgrenzung gegenüber dem Arbeitsvertrag beruht einerseits auf der Erfolgsbezogenheit des Werkvertrages (der Arbeitnehmer schuldet lediglich ein sorgfältiges Tätigwerden), andererseits ist dem Werkvertrag sowohl das Unterordnungsverhältnis als auch das darauf beruhende Weisungsrecht des Arbeitgebers fremd. Für die Abgrenzung zwischen dem Werkvertrag und dem Arbeitsvertrag ist auf die gesamten Umstände des konkreten Falles abzustellen (BGE 112 II46). Abgrenzung zum Kaufvertrag: Die Unterscheidung ist wichtig, da unterschiedliche Regeln bestehen z.B. hinsichtlich der Gefahrtragung (beim Kauf, Art. 185 OR: Vertragsschluss; beim Werkvertrag, Art. 376 Abs. 1 OR: Ablieferung des Werks) und der Gewährleistung (Nachbesserungsanspruch nur im Werkvertrag: Art. 368 Abs. 2 OR). Sodann kann nur der Unternehmer die Eintragung eines (in der Praxis bedeutsamen) Bauhandwerkerpfandrechts verlangen (Art. 837 ff. ZGB). Auf den ersten Blick scheinen Kauf- und Werkvertrag einfach abgrenzbar zu sein: Der Kaufvertrag ist auf die endgültige Eigentumsverschaffung gerichtet, der Werkvertrag auf die Herstellung eines Werks. Schwierigkeiten ergeben sich vornehmlich in zwei Fällen: Bei noch herzustellenden Sachen, wenn der Unternehmer auch den Werkstoff liefert sowie bei der Lieferung einer Sache mit Montagepflicht. Es stellt sich in diesen Fällen die Frage, ob ein Kauf- oder ein Werk(lieferungs)vertrag vorliegt. Der Werkvertrag unterscheidet sich vom Kaufvertrag vor allem durch die Herstellungspflicht des Unternehmers (der Verkäufer ist zur Übereignung, nicht aber zur Herstellung der Sache verpflichtet). Im Fall noch herzustellender Sachen spricht es für einen Werkvertrag, wenn die individuellen Anforderungen und Bedürfnisse des Bestellers im Vordergrund stehen, d.h. wenn die Ware speziell für den Besteller konfektioniert und nicht in Serie hergestellt wird. Für einen Kaufvertrag spricht es, wenn die Parteien wussten, dass der Schuldner die Sache ohnehin herstellt (z.B. im Fall der Massen- bzw. Serienproduktion), wenn eine marktgängige Sache nach Katalog oder Muster bestellt wird oder wenn dem Abnehmer unbekannt oder gleichgültig war, ob die Sache bereits bestand oder nicht. Beispiele: Matthias kauft einen neuen Alfa 159 TI, Farbe rot, mit dem Sportpaket und einem Auspuffrohr aus Edelstahl sowie extra für diesen Wagen gefertigten Ledersitzen. Das Fahrzeug wird erst nach der Bestellung im Werk hergestellt. Es liegt ein Kaufvertrag vor. Linda bestellt beim Kunstschmied ein neues Treppengeländer für den Garten, welches dieser nach ihren Spezifikationen herstellt. Es liegt ein Werkvertrag vor.

6

Die einzelnen Vertragsverhältnisse: Überblick und Abgrenzungen

33

Weitere Abgrenzungsprobleme zwischen Kauf und Werkvertrag bestehen, wenn die Verpflichtung, eine Sache zu liefern, mit einer Montageverpflichtung verbunden ist und dafür ein einheitlicher Preis vereinbart wurde. Massgebliches Abgrenzungskriterium ist das Verhältnis zwischen Arbeit und Sachlieferung: Dient die Arbeit lediglich dazu, die Sache gebrauchsfertig zu machen, handelt es sich um einen Kauf mit Montagepflicht. Steht jedoch die Arbeit im Vordergrund und dient die gelieferte Sache der Erreichung des geschuldeten Arbeitserfolgs, liegt ein Werklieferungsvertrag vor. Die Frage lautet also: Geht es im Vertrag um die Sache oder um die Arbeit? Beispiele: Ein Unternehmer verpflichtete sich, ein vorfabriziertes Schwimmbad auf einer vom Besteller entsprechend vorbereiteten Baustelle zu installieren (Semjud 101, 1979, 346 ff.). Das Gericht qualifizierte den Vertrag als Kaufvertrag. Ein Ofenverkäufer bot an, verkaufte Kachelöfen „fix und fertig“ aufzustellen (ZBJV 59, 1923, 305 ff.). Das Gericht qualifizierte den Vertrag als Kaufvertrag (der Wert der Montage war weit geringer als der Wert des Materials). Das Bundesgericht hat die Verträge über die Erstellung der sanitären Installation eines Gebäudes (BGer 4C.452/1999) und über die Erstellung einer Restaurantküche (BGer 4C.55/2002), je mit eigenem Material des Unternehmers, als Werkverträge qualifiziert. 

Auftrag = unabhängige Arbeitsleistung gegen Geld oder unentgeltliche unabhängige Arbeitsleistung, wobei das sorgfältige Tätigwerden geschuldet ist („contrat de moyen“): „Durch die Annahme eines Auftrages verpflichtet sich der Beauftragte, die ihm übertragenen Geschäfte oder Dienste vertragsgemäss zu besorgen. (…) Eine Vergütung ist zu leisten, wenn sie verabredet oder üblich ist“ (Art. 394 Abs. 1 und 3 OR). Das OR regelt neben dem einfachen Auftrag (Art. 394-406 OR) den Auftrag zur Ehe- oder zur Partnerschaftsvermittlung (Art. 406a-406h OR), den Kreditbrief (Art. 407 OR), den Kreditauftrag (Art. 408-411 OR), den Mäklervertrag (Art. 412-418 OR), den Agenturvertrag (Art. 418a-418v OR), die Kommission (Art. 425-439) und den Frachtvertrag (Art. 440-457 OR). Vom Arbeitsvertrag lässt sich der Auftrag, wie erwähnt, dadurch abgrenzen, dass der Beauftragte selbständig und unabhängig arbeitet, der Arbeitnehmer dagegen weisungsgebunden. Zur Feststellung eines Unterordnungsverhältnisses sind u.a. die folgenden Merkmale zu beachten: • Verpflichtung zu bestimmten Arbeitszeiten; • Verpflichtung zur Tätigkeit an einem bestimmten Arbeitsplatz; • Ausmass der Weisungsabhängigkeit. Beispiel: Y verpflichtet sich zur wöchentlichen Reinigung der Büroräumlichkeiten der X AG. Die Reinigung erfolgt immer zur gleichen Zeit, nach Anweisungen der X AG und mit den Arbeitsutensilien der X AG. Diese Merkmale deuten auf das Vorliegen eines Arbeitsvertrags hin. Das massgebende Abgrenzungskriterium zum Werkvertrag bildet der Erfolg des Arbeitsergebnisses. Der Unternehmer schuldet ein (erfolgreiches) Werk, der Auftragnehmer „nur“ ein sorgfältiges Tätigwerden im Interesse des Auftraggebers.

Merke: Die Abgrenzung zwischen Auftrag und Arbeitsvertrag ist ausserordentlich wichtig. Das Arbeitsvertragsrecht kennt zahlreiche zwingende Sozialschutzbestimmungen, die im Auftragsrecht nicht bestehen, wie z.B. der beschränkte Kündigungsschutz bei Krankheit (Art. 336 OR), die zeitlich begrenzte Lohnfortzahlungspflicht bei unverschuldeter Verhinderung zur Arbeitsleistung (Art. 324a OR) sowie die Pflicht zu Sozialabgaben (AHVBeiträge usw.) und beruflichen Vorsorgeleistungen (Pensionskassenbeiträge). Beim Auftrag muss dagegen (bei Überschreiten des Mindestumsatzes) die Mehrwertsteuer abgeliefert werden.

34

Kapitel I – Einführung

Beispiele zur Abgrenzung Auftrag / Werkvertrag: Nach Lehre und Rechtsprechung gilt beim Architektenvertrag für die Erstellung der Ausführungspläne, Kostenvoranschlag und Bauprojekt Werkvertragsrecht, für die Arbeitsvergabe und die eigentliche Bauaufsicht bzw. Bauführung Auftragsrecht. Beim Totalunternehmervertrag (der Totalunternehmer oder Generalunternehmer übernimmt die gesamte Ausführung eines Bauwerks) handelt es sich aber um einen Werkvertrag (BGE 114 II 53). Zum Auftragsrecht gehört der Vertrag mit dem Rechtsanwalt oder der Vertrag mit einem Arzt. Der Behandlungsvertrag zwischen Zahnarzt und Patient ist auch dann kein Werkvertrag, wenn er die Anfertigung von Brücken und Kronen umfasst (vgl. BGE 110 II 376 E. 1). Bei Gutachten kommt es darauf an, ob sich objektiv garantieren lässt, dass das Ergebnis des Gutachtens richtig ist. Ist dies der Fall, liegt ein Werkvertrag vor. Ansonsten handelt es sich um einen Auftrag. Beispiel zur Abgrenzung Auftrag / Arbeitsvertrag / Werkvertrag: Alfred Grünewald, gelernter Gärtner, ist ein Spezialist für die Baumpflege. Er arbeitet „auf eigene Rechnung“, mit den eigenen Werkzeugen, jedoch ohne Personal und ohne nennenswerte eigene Infrastruktur. Für Grossbauer Sebastian Kocher schneidet er jeweils im Frühjahr dessen 350 Obstbäume fachgerecht zurück. Als „Entlöhnung“ wird jeweils eine Pauschale vereinbart. Während ungefähr zwei Monaten ist Alfred Grünewald ausschliesslich für Sebastian Kocher tätig. Es fragt sich, ob ein Werkvertrag, ein Auftrag oder ein Arbeitsvertrag vorliegt. Ein Auftrag kann dann nicht vorliegen, wenn das fachgerechte „Zurückschneiden“ der Obstbäume als Arbeitserfolg gewertet wird. Trotz der wirtschaftlichen Abhängigkeit Grünewalds von Kocher (während zweier Monate) kann auch kein eigentliches Unterordnungsverhältnis angenommen werden. Grünewald ist beispielsweise nicht in die Arbeitsorganisation von Kocher eingebunden und bringt die eigenen Arbeitswerkzeuge mit. Auch hat Kocher gegenüber Grünewald kein Weisungsrecht. Deshalb liegt auch kein Arbeitsvertrag vor. Am ehesten kommt wohl ein Werkvertrag in Betracht.

6.1.4

Hinterlegungs- und Sicherungsverträge

Unter diesem Titel lassen sich die beiden folgenden Verträge zusammenfassen, denen ein Sicherungselement eigen ist: 



Hinterlegungsvertrag: „Durch den Hinterlegungsvertrag verpflichtet sich der Aufbewahrer dem Hinterleger, eine bewegliche Sache, die dieser ihm anvertraut, zu übernehmen und sie an einem sicheren Orte aufzubewahren“ (Art. 472 Abs. 1 OR). Bürgschaft: „Durch den Bürgschaftsvertrag verpflichtet sich der Bürge gegenüber dem Gläubiger des Hauptschuldners, für die Erfüllung der Schuld einzustehen“ (Art. 492 Abs. 1 OR). Neben der Bürgschaft dient auch die Garantie dazu, die Erfüllung vertraglicher Pflichten abzusichern (Art. 111 OR: „Wer einem andern die Leistung eines Dritten verspricht, ist, wenn sie nicht erfolgt, zum Ersatze des hieraus entstandenen Schadens verpflichtet.“). Weitere Möglichkeiten der Sicherung von Forderungen sind z.B. der Eigentumsvorbehalt, die Sicherungsübereignung, die Pfandrechte, das irreguläre Pfandrecht, die Sicherungshinterlegung, das Treuhand- und das Sperrkonto, das Finanzierungsleasing und der Schuldbeitritt.

6

Die einzelnen Vertragsverhältnisse: Überblick und Abgrenzungen

35

Im weiteren Sinn gehört auch der Versicherungsvertrag zu den Sicherungsverträgen. Dieser Vertrag ist in einem speziellen Gesetz geregelt (Versicherungsvertragsgesetz).

6.1.5

Die einfache Gesellschaft

Die einfache Gesellschaft ist ein Vertrag von zwei oder mehreren Personen zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels mit gemeinsamen Kräften und Mitteln (Art. 530 OR). Bei den synallagmatischen Verträgen (wie z.B. dem Auftrag) ist demgegenüber der Interessengegensatz zwischen den Vertragsparteien gerade das charakteristische Merkmal. Entscheidendes Kriterium zur Bestimmung, ob eine einfache Gesellschaft oder ein Auftrag (oder ein anderer Vertrag auf Arbeitsleistung) vorliegt, ist das Vorhandensein oder Fehlen eines gemeinsamen Zwecks, den die Gesellschafter verfolgen. Sofern überwiegend nur Zwecke der einen Seite verfolgt werden, liegt ein Auftrag oder ein anderer Vertrag auf Arbeitsleistung vor. Beispiel: Unter Würdigung der krassen Ungleichstellung zwischen Manager und Sängerin ist ein Managementvertrag mit einer angehenden Schlagersängerin nicht als einfache Gesellschaft, sondern als Auftrag zu qualifiziert (BGE 104 II 113). Zur einfachen Gesellschaft, s. Band II, I/4.

6.2

Die Innominatverträge

Innominatverträge sind gesetzlich nicht geregelte Verträge. Sie werden in der Lehre in zahlreiche Kategorien unterteilt (Gemischte Verträge, Verträge eigener Art/“sui generis“, zusammengesetzte Verträge). Unabhängig von dieser Einteilung bestimmt sich das mangels Parteivereinbarung anwendbare Recht wie folgt: Es „muss jede Streitfrage entsprechend den auf sie je zutreffenden Gesetzesvorschriften und Rechtsgrundsätzen beantwortet werden, ausgehend vom Schwerpunkt des Vertrags, der als einheitliche Gesamtvereinbarung zu erfassen ist.“ (BGE 131 III 528, Regeste). Das Gericht wendet also dasjenige Vertragsrecht an, das am besten zum Problem passt. Rechtspolitisch brisant ist die Abgrenzung des Mietvertrages vom Leasingvertrag (englisch: to lease = überlassen, vermieten). Zum Leasingvertrag finden sich einzig im Konsumkreditgesetz Regeln (Art. 11 KKG) – diese beschränken sich jedoch auf blosse Formvorschriften. Das Leasing umfasst sowohl Elemente des Kaufs als auch der Miete. Charakteristisch ist die Überlassung einer Sache auf eine bestimmte Zeit und gegen ein regelmässig in monatlichen Teilbeträgen zu entrichtendes Entgelt. Gefahr und Instandhaltungslasten werden dem Leasingnehmer überwälzt. Leasing kommt in verschiedenen Formen vor, wobei in der Praxis das Finanzierungsleasing überwiegt. Beim Finanzierungsleasing (teils wird die Bezeichnung indirektes Leasing verwendet) liegt ein Dreiparteienverhältnis vor: Der Leasingnehmer möchte einen Gegenstand. Da er die Finanzierung nicht aufbringen kann oder will, erwirbt der Leasinggeber den Leasinggegenstand vom Verkäufer und überlässt ihn im Rahmen des Leasingvertrags gegen Entgelt dem Leasingnehmer. Der Leasinggegenstand wird dabei dem Leasingnehmer nicht übereignet, sondern lediglich zum Gebrauch überlassen.

Zu den Innominatverträgen gehören z.B. der Leasingvertrag, Factoringvertrag, Alleinvertriebsvertrag, Franchisingvertrag, Lizenzvertrag, Management-Consulting-Vertrag, Spitalaufnahmevertrag, Sponsoringvertrag und das Kreditkartengeschäft.

36

Kapitel I – Einführung

Mit anderen Worten: Finanzierungsleasing verschafft dem Leasingnehmer wirtschaftlich die Stellung eines Eigentümers, belässt jedoch der Leasinggesellschaft das rechtliche Eigentum am Leasingobjekt zur Sicherung ihrer Forderung. Durch die Gebrauchsüberlassung einer Sache gegen Entgelt ist der mietrechtliche Charakter des Leasings offensichtlich. Im Leasingvertrag verpflichtet sich aber der Leasingnehmer entgegen den Bestimmungen des Mietrechts zur Übernahme sämtlicher Risiken und Lasten des Mietgegenstandes. Das wirtschaftliche Interesse, Leasing nicht dem Mietvertragsrecht zu unterstellen, ist nahe liegend. Zum Teil hat der Leasingnehmer nach Ablauf der Vertragszeit eine Kaufoption. Die Leasingraten lassen sich aus einem Anteil für den Kaufpreis und einem Teil der Kreditverzinsung berechnen, wodurch Berührungspunkte zum Konsumkreditgesetz (vgl. Art. 11 KKG) bestehen.

7

Fragen und Fälle für das Selbststudium

1.

In welchem Verhältnis stehen ZGB und OR zueinander, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

2.

Was bedeutet „guter Glaube“?

3.

Paulina Poppen kauft sich von ihrem Gehalt als Lehrtochter einen iPad für CHF 550. Paulina ist aber erst 16½ Jahre alt und somit unmündig. Ihr Vater ist nicht bereit, sein Einverständnis zum Vertrag zu geben und verlangt vom Geschäft, den Vertrag zu annullieren. Das Geschäft weigert sich und droht mit Klage auf Erfüllung des Vertrags. Sie sind Anwalt von Vater Poppen. Was raten Sie ihm?

4.

Braucht jedermann einen Wohnsitz?

5.

Nach welchen Kriterien wird beurteilt, ob es sich bei einem in Frage stehenden Ort um den Wohnsitz handelt oder nicht?

6.

Wie ist das Verhältnis des Allgemeinen Teils des OR zum Besonderen Teil geregelt?

7.

Wie unterscheiden sich „relative“ von „absoluten“ Rechten?

8.

Käufer K klagt gegen den Verkäufer (Importeur) V, der ihm das Auto nicht zum vertraglich vereinbarten Kaufpreis liefern will. V wehrt sich und macht geltend, dass er auf Grund eines Vertrags zwischen ihm und dem Hersteller das Fahrzeug nicht zu einem so tiefen Preis verkaufen dürfe, da dies für das Image der Marke schädigend sei. Er habe dies beim vertraglich mit K ausgehandelten Preis übersehen. Kann sich der Verkäufer gegenüber dem Käufer auf dieses Argument berufen?

9.

Welches sind die Entstehungsgründe für eine Obligation?

10.

Das Schlafzimmer eines Einfamilienhauses brennt aus, weil der Mieter beim Rauchen eingeschlafen ist. Hat nun der Vermieter Anspruch auf Schadenersatz aus (Miet-)Vertrag oder aus unerlaubter Handlung?

11.

Wo ist das Haftpflichtrecht geregelt, und welche Hauptgruppen von Haftungen werden unterschieden?

12.

Was verstehen Sie unter „Qualifikation eines Vertrages“? Beschreiben Sie anhand eines von Ihnen erfundenen Beispiels, wie im Streitfall ein Gericht die Qualifikation eines Vertrages vornimmt.

7

Fragen und Fälle für das Selbststudium

13.

Welche gesetzlichen Vertragsarten lassen sich unter den Oberbegriff „Verträge auf Gebrauchsüberlassung“ subsumieren?

14.

Was ist ein Vertrag sui generis?

15.

Anita schliesst mit der ImmoProjekt AG einen „Fertighausvertrag“ über den Bau eines Hauses aus vorfabrizierten Bauelementen. Wie ist dieser Vertrag zu qualifizieren?

16.

Worin unterscheidet sich der Leasingvertrag vom Mietvertrag?

17.

Was unterscheidet den Auftrag vom Arbeitsvertrag?

37

39

Kapitel II – Vertragsschluss Dieses Kapitel befasst sich mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Vertrag gültig zustande kommt. Zudem enthält es Ausführungen zur Vertragsauslegung und Vertragsergänzung, die allgemein gelten, also nicht nur für den Vertragsabschluss. Es beginnt mit Ausführungen zur Phase vor dem eigentlichen Abschluss des Vertrags (1) und beschreibt danach den Vertragsschluss durch Antrag und Annahme (2). Es folgen Erwägungen zur Auslegung und Ergänzung von Verträgen (3). Danach werden die formellen (4) und inhaltlichen (5) Anforderungen an das gültige Zustandekommen eines Vertrags dargestellt, gefolgt von der Möglichkeit, den Vertrag wegen Willensmängeln anzufechten (6). Das Kapitel schliesst mit einer Übersicht über die Regeln der Stellvertretung (7).

1

Die vorvertragliche Phase

Es gibt verschiedenste Arten von Verträgen. Nicht alle haben eine vorvertragliche Phase, während welcher die späteren Parteien den Inhalt des Vertrags verhandeln. Viele Verträge sind einmalige Leistungsaustauschverträge (insbesondere Kaufverträge über Gegenstände des täglichen Bedarfs). Leistungsgegenstand und Preis sind fixiert: Entweder wird das Produkt oder die Dienstleistung in der angebotenen Form bezogen oder nicht. Verhandlungen gibt es keine. Zum anderen gibt es viele Verträge, die auf der Grundlage von standardisierten Geschäftsbedingungen (sogenannten AGB) abgeschlossen werden: Hier sind die Vertragsbedingungen einseitig von der einen (in der Regel marktmächtigen) Partei fixiert. Die andere Partei (meist ein Konsument oder ein kleineres Unternehmen) können den Vertrag nur zu diesen Bedingungen abschliessen. Auch hier gibt es keinen Verhandlungsspielraum. Im Handelsverkehr gibt es jedoch Geschäfte, deren Bedeutung oder Komplexität es erfordern, dass die Parteien vor Abschluss des Vertrags dessen Gegenstand, die Höhe der Entschädigung, Rechte und Pflichten der Parteien, die Folgen der Nichterfüllung, etc. verhandeln. Solche Verhandlungen können sich je nach Art, wirtschaftlicher Bedeutung und rechtlicher Komplexität des Vertrags über einen mehr oder weniger langen Zeitraum erstrecken. Wie nachfolgend gezeigt wird, ist die Verhandlungsphase kein rechtsfreier Raum.

1.1

Die Pflicht, fair und redlich zu verhandeln

Vielmehr unterliegen Verhandlungspartner nach Treu und Glauben (Art. 2 ZGB) gewissen vorvertraglichen Pflichten. Wer mit einer oder mehreren anderen Parteien in Vertragsverhandlungen eintritt, muss die Gebote der Redlichkeit und der Loyalität beachten und hat im Gegenzug selbst einen Anspruch darauf, dass diese auch von den Verhandlungspartnern beachtet werden. Trotz mangelnder vertraglicher Bindung der Parteien entstehen also bereits im Vorstadium eines Vertragsabschlusses Pflichten für die Vertragsparteien. Diese vorvertraglichen Pflichten können wie folgt zusammengefasst werden:

40

Kapitel II – Vertragsschluss



Die Verhandlungspartner sind verpflichtet, ernsthaft zu verhandeln. Demzufolge muss eine Partei die Verhandlungen abbrechen, sobald für sie ein Vertragsabschluss nicht mehr in Frage kommt. Beispiel: Meier hat eine Bäckerei und ein Haus. Um seine beiden Kinder testamentarisch möglichst gleich zu behandeln, möchte er den Wert seiner Güter herausfinden. Er tritt daher mit Interessenten für seine Bäckerei bzw. für sein Haus in Verbindung. Diese lassen Expertisen über den Wert erstellen. Nachdem Meier die Ergebnisse kennt, bricht er die Verhandlungen ab.



Die Vertragsparteien trifft eine sog. Aufklärungspflicht. Es handelt sich dabei nicht um eine allgemeine Mitteilungspflicht. Was der andere selbst wissen müsste, braucht man ihm nicht zu sagen. Die Aufklärungspflicht darf also keinen Vorwand bieten, die eigene Sorgfalt nicht zu wahren. Sind aber der einen Partei Tatsachen bekannt, welche für den Vertragsabschluss relevant, aber der Gegenpartei nicht bekannt sind und auch nicht bekannt sein müssen, besteht eine Aufklärungspflicht. Gegebenenfalls ist es auch geboten, Auskünfte und Ratschläge im Hinblick auf einen möglichen Vertragsabschluss zu erteilen. Entscheidend ist diesbezüglich die Stellung der Parteien im Wirtschaftsleben. Eine erhöhte Aufklärungspflicht wird dann bejaht, wenn zwischen den Parteien auf Grund der unterschiedlichen Verhandlungsposition ein Macht- oder Informationsgefälle besteht (vgl. BGE 116 II 431). Beispiel: Der Buchladen muss die Studentin darüber aufklären, dass das Buch, das sie erwerben möchte, eine alte Auflage ist. Der Computerhändler muss den Käufer von Hard- und Software über deren Kompatibilität aufklären. Die Bank muss einen Kleinsparer über die Risiken von Termingeschäften aufklären, nicht aber die Verwalterin einer Pensionskasse.



Die Auskünfte müssen sorgfältig erteilt werden, auch mit Bezug auf deren Inhalt.

Wer anlässlich der Vertragsverhandlungen gegen die Pflicht zu ernsthaftem Verhandeln oder Aufklärungs- und Informationspflichten verstösst, wird aus culpa in contrahendo („cic“) haftbar. Das Rechtsinstitut der cic ist im OR nicht konkret geregelt. Es finden sich bloss punktuelle positivrechtliche Bestimmungen in den Art. 26, 31 Abs. 3, 36 Abs. 2 und 39 OR. Die cic gehört also zu den durch Richterrecht, d.h. durch richterliche Lückenfüllung, entwickelten Entstehungsgründen für Schuldverhältnisse. Mit dem Instrument der cic wird das Problem erfasst, wenn bei Vertragsverhandlungen ein Schaden für eine Vertragspartei entstanden ist, welcher einer Kompensation bedarf. Da der Vertragsabschluss aber noch gar nicht getätigt wurde, kann hierfür nicht auf eine vertragliche Grundlage zurückgegriffen werden. Deshalb wird in diesem Zusammenhang regelmässig von einer vorvertraglichen Haftung gesprochen. Merke: Der blosse Abbruch von Vertragsverhandlungen begründet für sich keine Haftung; vielmehr muss das Verhalten Treu und Glauben im Geschäftsverkehr widersprechen.

Selbstverständlich kann aus dem Rechtsinstitut der cic für die Vertragsparteien keine grundsätzliche Verpflichtung hergeleitet werden, Rechtsgeschäfte zu einem Abschluss zu führen. Auf Grund der Vertragsfreiheit können Vertragsverhandlungen jederzeit, ohne Grundangabe und ohne Ersatzpflicht abgebrochen werden, unter Einhaltung vorne erwähnter Grundsätze.

1

Die Voraussetzungen für eine Haftung aus cic sind deshalb die folgenden: 

  

Die Schädigung muss aus der Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben in einem bestehenden Treueverhältnis zwischen den Vertragsverhandlungsparteien resultieren; es muss ein Schaden eingetreten sein; es muss ein adäquater Kausalzusammenhang zwischen der Sorgfaltspflichtverletzung und dem eingetretenen Schaden vorliegen; ein Verschulden des Haftpflichtigen muss gegeben sein (Absicht oder Fahrlässigkeit).

1.2

Die Strukturierung der vorvertraglichen Phase

Bei komplexeren Projekten, bei denen sich die Verhandlungsphase über eine längere Zeit erstreckt und eine grössere Anzahl von Personen involviert sind, empfiehlt es sich, die Verhandlungen zu strukturieren. Dazu stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung.

1.2.1

Geheimhaltungsvereinbarung

Die Pflicht zur Wahrung der Geheimhaltungsinteressen der Parteien in der Vertragsverhandlungsphase ergibt sich bereits aus dem Grundsatz von Treu und Glauben. Eine vertragliche Regelung empfiehlt sich jedoch, weil damit die Voraussetzungen, der Inhalt sowie die Folgen der Verletzung der Geheimhaltungspflicht auf die Umstände der konkreten Situation angepasst werden können. In der Geheimhaltungsvereinbarung sollten insbesondere folgende Punkte geregelt werden:   

 

Umschreibung, welche der Gegenseite offenzulegenden Informationen geheim sind; Zweck des Hauptvertrags, auf den die Verhandlungen und damit die Offenlegung der Informationen gerichtet sind; Definition des zulässigen Umfangs der Verwendung der geheimen Informationen, d.h. Regelung der Frage, wer diese zu welchem Zweck verwenden darf (insb. auch Offenlegungsverbot gegenüber Dritten); Dauer der Verpflichtung zur Geheimhaltung der Informationen; Regelung der Rechtsfolgen bei Verletzung der Vereinbarung: In der Regel wird eine Konventionalstrafe vereinbart, also die Zahlung einer bestimmten Geldsumme (s. Art. 160 ff. OR).

1.2.2

Memorandum of Understanding

In einem Memorandum of Understanding (MoU) werden die Eckpunkte einer zukünftigen Vereinbarung grob skizziert. Das MoU steht oft am Ausgangspunkt von Verhandlungen und macht die Rahmenbedingungen des Vertrags transparent. Das MoU ist kein Vorvertrag nach Art. 22 OR, begründet damit keine Pflicht zum Vertragsabschluss und führt auch nicht zu einer rechtlich verbindlichen Teileinigung der Parteien über einen oder mehrere Punkte. Es drückt lediglich aus, dass Parteien in einer Sache gleicher Meinung sind: „Wir fassen diesen oder jenen Punkt so oder so auf...“.

Die vorvertragliche Phase

41

42

Kapitel II – Vertragsschluss

1.2.3

Letter of Intent

Der Letter of Intent (LoI) ist eine Absichtserklärung, in dem die Parteien ihren Willen erklären, einen Vertrag abschliessen zu wollen. Sie sind aber dazu nicht gezwungen, d.h. der LoI ist kein Vorvertrag i.S.v. Art. 22 OR. Der LoI begründet also keinen Zwang zur Einigung. Im LoI werden häufig die Hauptinhalte des beabsichtigten Vertrags vorgezeichnet oder Regeln für eine künftige Due Diligence (Überprüfung aller für einen Vertragsschluss wesentlichen betriebswirtschaftlichen und rechtlichen Daten) festgelegt.

1.2.4

Heads of Agreement

Punktationen, auch Heads of Agreement genannt, halten ein erreichtes Zwischenergebnis der Verhandlungen fest. Sie stellen eine vorläufige Teileinigung dar („wir sind uns vorläufig über dies und das einig“), ohne dass aber schon eine rechtlich verbindliche Bindung eintritt. Im weiteren Verlauf der Verhandlung kann somit auch auf einen in solchen Heads of Agreement festgehaltenen Punkt zurückgekommen werden. Durch Punktationen entsteht keine Verpflichtung zum Vertragsabschluss.

1.2.5

Vorvertrag

In einem Vorvertrag verpflichten sich die Vertragsparteien zum Abschluss eines künftigen Vertrages (Art. 22 Abs. 1 OR). Je nach Inhalt erhält eine oder erhalten beide Parteien das Recht, den Abschluss des Hauptvertrags zu verlangen. Der Vorvertrag muss den wesentlichen Inhalt des Hauptvertrags bereits festlegen (Bestimmung oder Bestimmbarkeit der Leistungen). In der Regel sind die Parteien des Vorvertrags dieselben wie die Parteien des Hauptvertrags. Es ist aber auch möglich, dass sich die eine Partei verpflichtet, den Hauptvertrag mit einem Dritten abzuschliessen (Vorvertrag zu Gunsten Dritter). Der gültig abgeschlossene Vorvertrag verpflichtet zum Abschluss des Hauptvertrages. Insbesondere ist die Bestimmung des Art. 22 Abs. 2 OR zu beachten, wonach die Form des künftig abzuschliessenden Vertrages auch für den Vorvertrag eingehalten werden muss. Beispiel: Anton schliesst mit Peter einen Vorvertrag, wonach sich Anton verpflichtet, mit Peters Sohn einen Mietvertrag abzuschliessen.

1.3

Praktische Empfehlungen für die vorvertragliche Phase

Im Hinblick auf die spätere Vertragsauslegung, die Gewährleistung einer reibungslosen Vertragsabwicklung und eine allfällige gerichtliche Auseinandersetzung sind folgende Hinweise wertvoll: 

Die verschiedenen Vertragsentwürfe sind chronologisch zu nummerieren und zu datieren. Dies erlaubt es, später festzustellen, welche Formulierung

2





2

im Vertrag auf welche Partei zurückgeht und wie sich bestimmte Klauseln entwickelt haben. Vertragsentwürfe sind in ihrem jeweiligen Stadium in einem geeigneten Filing-System abzulegen (hard copy und elektronisch). Dies erleichtert das spätere Vertragsmanagement. Die Vertragsverhandlungen sind möglichst vollständig zu dokumentieren. Dies bedeutet, dass Memoranda, Gutachten, E-Mails etc. aufzubewahren sind und sichergestellt wird, dass sie später zugänglich sind.

Antrag und Annahme

Zum Abschluss eines Vertrages ist die übereinstimmende gegenseitige Willensäusserung der Parteien erforderlich. Die Willensäusserung kann eine ausdrückliche oder eine stillschweigende sein (Art. 1 OR). Die zeitlich erste Willensäusserung ist der Antrag (2.1), die zweite die Annahme (2.2). Die Parteien müssen sich nicht nur über den Inhalt ihrer Pflichten einig sein, sondern auch darüber, dass sie sich mit ihrer Vereinbarung rechtlich binden wollen. An diesem Konsens fehlt es, wenn die eine Partei der andern eine Leistung aus Gefälligkeit erbringt (2.3). Antrag und Annahme müssen alle wesentlichen Punkte des Vertrags umfassen (Art. 2 OR). Man unterscheidet die subjektiv wesentlichen und die objektiv wesentlichen Vertragspunkte. 

Als objektiv wesentlich bezeichnet man jene Vertragspunkte, die den unentbehrlichen „Geschäftskern“ ausmachen (essentialia negotii). Darunter sind nach herrschender Auffassung die vertragstypenbestimmenden Merkmale zu verstehen, nämlich Leistung und Gegenleistung sowie die Parteien. Beispiele: Beim Kaufvertrag sind wesentlich: Käufer und Verkäufer, Kaufgegenstand und Entgeltlichkeit (also die Tatsache dass eine Person einer andern für Geld Eigentum an einer Sache oder Forderung verschafft, Art. 184 OR). Beim Mietvertrag sind wesentlich: Mieter und Vermieter, Sache, die zum Gebrauch überlassen wird und Mietzins (Art. 253 OR). Beim Werkvertrag sind wesentlich Besteller und Unternehmer, Werkleistung und Entgeltlichkeit (Art. 363 OR). Beim Auftrag sind wesentlich: Auftraggeber und Beauftragter, zur Besorgung übertragene Geschäfte oder Dienste (Art. 394 OR). Die objektiv wesentlichen Vertragspunkte müssen bestimmt oder bestimmbar sein. Zu beachten ist, dass das Gericht bei verschiedenen Verträgen den objektiv wesentlichen Punkt des Preises ergänzen kann: Beispiele: Bei einem Mietvertrag müssen sich die Parteien über die Höhe des Mietzinses einigen. „Ist der Mietzins von den Parteien nicht hinreichend bestimmt worden und liegt erst eine grundsätzliche Einigung über die Entgeltlichkeit der Gebrauchsüberlassung vor, ist ein Mietvertrag noch nicht geschlossen. Nur für die Dauer der bereits erfolgten Benutzung kann der Richter das Entgelt festlegen“ (BGE 119 II 347, Regeste).

Antrag und Annahme

43

44

Kapitel II – Vertragsschluss

Beim Kaufvertrag und beim Werkvertrag genügt es dagegen, wenn die Parteien sich einig sind, dass die Leistung entgeltlich erfolgen soll. In diesem Fall kann das Gericht gestützt auf Art. 212 OR (ausser der Kaufgegenstand habe keinen Marktpreis) bzw. Art. 374 OR die Höhe des Entgelts ergänzen. Ein Arbeitsvertrag gilt gemäss Art. 320 Abs. 2 OR zum Schutz des Arbeitnehmers bereits dann als abgeschlossen, wenn der Arbeitgeber Arbeit in seinem Dienst auf Zeit entgegennimmt, deren Leistung nach den Umständen nur gegen Lohn zu erwarten ist. Auf den Willen der Parteien kommt es nicht an. Lohn und Arbeitszeit richten sich sodann nach dem Üblichen. 

Subjektiv wesentlich ist ein Vertragspunkt dann, wenn eine Partei ohne eine Einigung darüber den Vertrag nicht schliessen würde (d.h. wenn die Regelung dieses Punktes für eine Partei unabdingbare Voraussetzung für den Vertragsabschluss darstellt) und dies für die Gegenpartei erkennbar ist.

Alle Vertragspunkte, die nicht objektiv oder subjektiv wesentlich sind, sind unwesentliche Vertragspunkte, sog. Nebenpunkte (accidentalia negotii). Beispielsweise sind Zahlungs- und Lieferbedingungen, Erfüllungsort und -zeit typischerweise Nebenpunkte. Bei der Abgrenzungsfrage, ob ein Vertragspunkt für eine Partei subjektiv wesentlich ist oder ob es sich um einen (unwesentlichen) Nebenpunkt handelt, kommt das Vertrauensprinzip zur Anwendung. Beispiel: A und B sind sich nicht darüber einig, ob die Ware per Flugzeug oder per Schiff geliefert werden soll. Da B wiederholt betont hat, dass für ihn die schnelle Lieferung wichtig ist, muss A davon ausgehen, dass es sich beim Transportweg für B um einen subjektiv wesentlichen Punkt handelt. Fehlt eine Einigung über Nebenpunkte, so kommt der Vertrag trotz dieser „Lücken“ zustande (Art. 2 OR). Das Gericht muss sodann die Lücken füllen. Dazu richtet es sich nach dem hypothetischen Parteiwillen, d.h. nach der Lösung, welche die Parteien nach Treu und Glauben getroffen hätten. Es vermutet, dass das dispositive Recht – also die passende Regel des OR – dem hypothetischen Parteiwillen entspricht. Beispiel: Die Parteien haben den Ort der Vertragserfüllung nicht festgelegt. Die Lücke wird durch Art. 74 OR ausgefüllt.

2.1 Merke: Ein Antrag ist eine auf den Abschluss eines Vertrages gerichtete Willenserklärung. Der Antrag muss alle objektiv wesentlichen Punkte enthalten.

Antrag

Der Antrag muss so bestimmt (oder bestimmbar) sein, dass die Gegenseite bloss noch zuzustimmen braucht, d.h. es müssen alle wesentlichen Vertragspunkte enthalten sein. Als Faustregel gilt: Es handelt sich um einen Antrag, wenn der Empfänger lediglich „ja“ sagen muss, um einen Vertragsabschluss zu erreichen. Beispiel: „Ich würde gerne ein Auto kaufen“, ist kein Antrag, weil weder das Auto noch dessen Preis bestimmt ist. „Haben Sie Rindfleisch?“ ist kein Antrag, weil die Verkäuferin nicht weiss, wie viel die Kundin will, ob es gehackt oder am Stück sein soll.

2

Wer einen Antrag „annimmt“, in der Annahmeerklärung aber vom Antrag abweicht, der hat mit seiner Erklärung einen neuen Antrag gestellt. Beispiel: „Ich verkaufe Ihnen dieses Velo für 500 Franken“, ist ein Antrag von A. Wenn nun der Angebotsempfänger B antwortet: „Für 400 Franken würde ich es nehmen“, so ist dies ein Gegenantrag, dem A zustimmen kann (und damit den Vertrag zum Abschluss bringen), den A ablehnen kann (womit kein Vertrag zustande kommt) oder auf den A mit einem neuen Antrag, z.B. über 480 Franken, reagieren kann. Der Antrag ist an keine bestimmte Form gebunden und kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen (vgl. z.B. Art. 266 Abs. 2 OR). Er ist grundsätzlich unwiderruflich und kann auch nicht mehr einseitig durch den Antragsteller verändert werden. Der Antragssteller kann den Antrag nur widerrufen, wenn der Widerruf vor dem Antrag beim Empfänger eintrifft (oder später dort eintrifft, aber dem Empfänger zur Kenntnis gebracht wird, bevor er vom Antrag Kenntnis genommen hat, Art. 9 Abs. 1 OR). Da der Antragssteller also an seinen Antrag gebunden bleibt, ist die Dauer dieser Bindung bedeutsam. Hinsichtlich dieser Bindungsfrist unterscheidet das Gesetz den Antrag mit Annahmefrist (Art. 3 OR) und den Antrag ohne Annahmefrist und innerhalb des Antrags ohne Annahmefrist zwischen dem Antrag unter Anwesenden (Art. 4 OR) und dem Antrag unter Abwesenden (Art. 5 OR): 

Antrag mit Annahmefrist (Art. 3 OR): Der Antragsteller setzt im Antrag ausdrücklich oder stillschweigend eine Annahmefrist. Dann ist er bis zum Ablauf dieser Frist gebunden (und wird erst frei, wenn die Annahme nicht vor Ablauf der Frist eintrifft). Beispiel: „Die vorliegende Offerte ist gültig bis 30. November 2015.“





Antrag ohne Annahmefrist an einen Anwesenden (Art. 4 OR): Stehen Antragsteller und Antragsempfänger in direkter Kommunikation (auch Telefon, Funk oder Chatroom im Internet), so muss der Antrag „sogleich“ angenommen werden, ansonsten entfällt die Bindung des Antragstellers. „Sogleich“ bedeutet: noch während die Verhandlungspartner anwesend sind. Für Versteigerungen enthält Art. 231 OR eine Spezialregelung: Der Bietende ist nach Massgabe der Versteigerungsbedingungen an sein Angebot gebunden. „Er wird, falls diese nichts anderes bestimmen, frei, wenn ein höheres Angebot erfolgt oder sein Angebot nicht sofort nach dem üblichen Aufruf angenommen wird“ (Abs. 2). Antrag ohne Annahmefrist an einen Abwesenden (Art. 5 OR): Zwischen Antragsteller und Empfänger fehlt es an direkter Kommunikation. Als Antrag unter Abwesenden ist auch ein Angebot per E-Mail zu betrachten. Die gesetzliche Annahmefrist dauert bis zum Zeitpunkt, an welchem der Antragsteller „den Eingang der Antwort“ erwarten durfte. Diese Zeitspanne umfasst drei Elemente: Die Zeit für die Übermittlung des Angebots, eine angemessene Überlegungsfrist und die Zeit für die Übermittlung der Annahme (massgebend ist das Kommunikationsmittel, das der Antragssteller gewählt hat). Entscheidend ist die gesamte Frist. Die Annahmefrist ist mithin eingehalten, wenn die Annahmeerklärung vor Ablauf der Frist beim Antragsteller eintrifft (Art. 5 Abs. 3 OR).

Antrag und Annahme

45

Merke: Die von einem Antrag abweichende „Annahme“ ist ein neuer Antrag.

46

Kapitel II – Vertragsschluss

Beispiel: Anton hat ein briefliches Angebot erhalten. Da er sich zunächst nicht entscheiden konnte, übermittelt er die Antwort (innerhalb der Frist) per EMail. Durch die Verwendung eines „schnelleren“ Antwortwegs (Mail statt Brief) konnte er die etwas längere Überlegungsdauer kompensieren. Für Versicherungsverträge enthält Art. 1 VVG eine besondere Regel: Wer einer Versicherung einen Antrag stellt (typischerweise, indem er eine von der Versicherung entworfene Police unterzeichnet und der Versicherung zur Gegenzeichnung schickt), bleibt 14 Tage ab Absendung seines Antrags gebunden, ausser er hat eine kürzere Frist gesetzt. Mit Ablauf der Annahmefrist erlischt die Bindung des Antragstellers. Eine verspätete Annahme führt deshalb nicht zum Vertragsschluss, sondern gilt als neues Angebot. Für den Fall, dass die Annahme rechtzeitig abgesandt wurde, aber verspätet eintraf, gilt Art. 5 Abs. 3 OR: Da der Absender grundsätzlich von einer ordentlichen Beförderung ausgehen können soll, hat der Antragsteller den Annehmenden unverzüglich über die Verspätung und damit das Erlöschen der Bindungswirkung des Antrags zu unterrichten. Diese Regel ist analog auch auf Anträge gemäss Art. 3 OR anwendbar. Behält sich der Antragssteller den Widerruf seines Antrags vor („Widerruf vorbehalten“), so kann er den Antrag auch während der Bindungsfrist widerrufen. Der Widerruf muss aber beim Antragsempfänger eintreffen, bevor dessen Annahmeerklärung beim Antragssteller eintrifft. Auch Art. 40a ff. OR (Haustürgeschäfte) und Art. 16 KKG (Konsumkredite) räumen dem Antragssteller ein Widerrufsrecht ein. Sofern er dieses fristgerecht ausübt, ist der Widerruf auch dann gültig, wenn sein Vertragspartner den Antrag inzwischen angenommen hat. Deshalb entsprechen diese Widerrufsrechte in ihrer Wirkung einem Rücktrittsrecht, wie z.B. gemäss Art. 406e OR (Auftrag zur Ehe- oder Partnerschaftsvermittlung). Fügt der Antragssteller seinem Angebot einen Vorbehalt wie „unverbindlich“, „freibleibend“ oder „ohne obligo“ bei, so liegt kein Antrag vor (Art. 7 Abs. 1 OR). Denn der Antragssteller zeigt damit, dass er keinen Bindungswillen hat. Keine Anträge bilden auch Zeitungsinserate, Werbespots usw., da sich andernfalls der Anbieter mit einer unabsehbar grossen Zahl von Verträgen konfrontiert sehen könnte (Art. 7 Abs. 1 OR). Nach Art. 7 Abs. 2 OR wird sodann vermutet, dass die Versendung von Tarifen, Preislisten und dergleichen keinen Antrag bedeuten. Bei all diesen Erklärungen handelt es sich vermutungsweise um die Einladungen zur Offertstellung („invitatio ad offerendum“), d.h. um eine Aufforderung an die Gegenpartei, Anträge zu machen. Demgegenüber gilt die Auslage von Waren mit Angabe des Preises als Antrag (Art. 7 Abs. 3 OR). Beim Internetshopping ist nach Art und genauem Inhalt der Angebote zu entscheiden, ob der Offerent Bindungswillen hatte und damit eine annahmefähige Offerte vorliegt. Beispiele: Anton schreibt sein Fahrzeug für CHF 10 000 auf einer Online-Plattform zum Verkauf aus. Melden sich mehrere Interessenten, wäre es unsinnig, das Zustandekommen eines Kaufvertrags mit allen Interessenten anzunehmen. Die Abhaltung einer Versteigerung und der konkrete Ausruf eines bestimmten Objekts sind Einladungen zur Offertstellung (vgl. Art. 231 OR).

2

Antrag und Annahme

47

Etwas anderes gilt demgegenüber oft bei Online-Auktionen. Dort schreiben die Versteigerungsbedingungen jeweils vor, dass jedes Einstellen einer Ware ein bindendes Angebot ist und jedes Preisgebot eine Annahme unter dem Vorbehalt (d.h. unter der auflösenden Bedingung) eines höheren Gebots. Auch die Erklärung, hinsichtlich eines Geschäfts in Verhandlungen eintreten zu wollen (sog. „letter of intent“), stellt keinen Antrag dar. Allerdings kann aus nicht ernsthaften Vertragsverhandlungen eine Schadenersatzhaftung aus culpa in contrahendo entstehen (s. II/1.1). Damit AGB Teil eines Vertrags werden, muss der AGB-Verwender seinen Vertragspartner deutlich (sichtbar) auf die Geltung und den Inhalt der AGB hinweisen. Die AGB müssen für den Vertragspartner vor Vertragsschluss auf zumutbare Weise zugänglich sein (z.B. über einen deutlichen und unmissverständlichen Hyperlink). Die Prüfung, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, wird Geltungskontrolle (oder auch Einbezugs- oder Konsenskontrolle) genannt (zur Auslegungskontrolle s. II/3.1, zur Inhaltskontrolle s. II/5.7). Beispiele: Folgende AGB werden nicht Teil eines Vertrags: AGB, die in schlecht leserlichem Kleinstdruck verfasst sind; AGB, die auf der Rückseite eines Vertragsformulars gedruckt sind, ohne dass auf der Vorderseite, wo unterschrieben wird, deutlich darauf hingewiesen wird; nach dem Vertragsschluss abgegebene AGB, z.B. AGB auf der Rückseite einer Quittung; im Geschäftslokal ausgehängte AGB, die nicht deutlich sicht- und lesbar sind. Zwischen Geschäftsleuten ist auch eine stillschweigende Übernahme von AGB denkbar. Beispiel: Zwei Vertragspartner stehen in ständiger Geschäftsverbindung und bestimmte AGB sind für diese Geschäfte selbstverständlich geworden. Die Parteien müssen nicht mehr bei jedem Geschäft ausdrücklich auf diese AGB verweisen. Vom Antrag zu unterscheiden ist das einseitige Versprechen. Art. 8 Abs. 1 OR bestimmt: „Wer durch Preisausschreiben oder Auslobung für eine Leistung eine Belohnung aussetzt, hat diese seiner Auskündung gemäss zu entrichten.“ Der Anspruch auf die angekündigte Leistung entsteht, sobald eine Person die vorausgesetzten Bedingungen erfüllt. Beispiel: Im sogenannten Ringerentscheid (BGE 121 III 350) hat das Bundesgericht entschieden: „Ein Sportverein handelt rechtsmissbräuchlich, wenn er kurz vor Wettkampfbeginn und ohne hinreichenden Grund einem Athleten, der bereits nach den unlängst aufgestellten Selektionskriterien qualifiziert ist, einen zusätzlichen Ausscheidungswettkampf auferlegt. Ein solches Verhalten macht den Sportverein gegenüber dem zunächst selektionierten, dann ausgeschlossenen Sportler schadenersatzpflichtig.“ (Regeste). Das Bundesgericht hat den Fall gestützt auf die Vertrauenshaftung (Art. 2 ZGB, „venire contra factum proprium“, d.h. Verbot widersprüchlichen Verhaltens) gelöst, doch es geht es um denselben Grundsatz wie in Art. 8 OR: „Versprechen muss man halten.“

Merke: AGB unterliegen einer dreistufigen Kontrolle: der Geltungskontrolle, der Auslegungskontrolle und der Inhaltskontrolle.

48

Kapitel II – Vertragsschluss

2.2

Annahme

Die Annahme (Akzept) ist die zeitlich zweite Willenserklärung. Dadurch erklärt der Antragsempfänger seinen (endgültigen) Abschlusswillen, indem er dem Antrag zustimmt. Wie der Antrag ist auch die Annahme an keine bestimmte Form gebunden. Sie kann ausdrücklich oder stillschweigend erfolgen (z.B. dadurch, dass der Antragsempfänger den angebotenen Vertrag zu erfüllen beginnt; vgl. auch Art. 266 Abs. 2 OR). Damit ein Vertrag zustande kommt, muss sich die Annahme an den Antragsteller richten, und die wesentlichen Punkte müssen mit dem Antrag übereinstimmen. Zu den wesentlichen Punkten gehören in erster Linie die begriffsnotwendigen Bestandteile eines bestimmten Vertragstypus, also diejenigen Punkte, die einen Vertrag definieren (sog. „objektiv wesentliche“ Punkte; vgl. dazu vorne, I/6). Als wesentlich gelten ferner jene Vertragspunkte, deren Regelung für die Parteien unabdingbare Voraussetzung des Vertragsschlusses ist (sog. „subjektiv wesentliche“ Punkte). Beispiel: Begriffsnotwendige Punkte des Kaufvertrags sind die Bestimmungen über die Parteien, den Kaufgegenstand, den Kaufpreis und die Absicht, Eigentum am Kaufgegenstand zu übertragen (Art. 184 Abs. 1 OR). Nicht begriffsnotwendig sind dagegen Bestimmungen zu den Zahlungsbedingungen, zum Lieferort und zur Leistungszeit. Die Parteien können aber vereinbaren, dass diese Punkte ebenfalls wesentliche Vertragspunkte sein sollen. Weicht die Annahmeerklärung in einem wesentlichen Punkt vom Antrag ab, handelt es sich nicht um eine Annahme, sondern um einen neuen Antrag. Betrifft die Abweichung dagegen einen unwesentlichen Vertragspunkt, kommt der Vertrag gleichwohl zustande (Art. 2 Abs. 1 OR). Verweist die Annahme auf AGB, die von den AGB des Antrags abweichen („battle of the forms“, z.B. der Käufer legt dem Angebot seine Einkaufsbedingungen bei und der Verkäufer der Annahme seine Lieferbedingungen), gilt nach herrschender Lehre, dass nur die übereinstimmenden Bestimmungen Vertragsbestandteil wurden. Wo sich die AGB-Bestimmungen widersprechen, gilt keine von beiden und es klafft eine Lücke (die durch den hypothetischen Parteiwillen und dispositives Recht zu füllen ist). Der Vertrag gilt in diesem Zeitpunkt als geschlossen, in dem die mit dem Angebot übereinstimmende Annahme wirksam (rechtzeitig) beim Antragssteller eintrifft. Der Zeitpunkt der Vertragswirkungen fällt beim Vertrag unter Anwesenden zusammen mit dem Moment des Vertragsschlusses. Für den Vertrag unter Abwesenden beginnen gemäss Art. 10 Abs. 1 OR die Wirkungen des Vertrages bereits im Zeitpunkt, da die Erklärung der Annahme zur Absendung abgegeben wurde. Die Wirkung wird also „vorverlagert“: Der Vertrag kommt zustande, sobald die Annahmeerklärung beim Antragssteller eintrifft, aber dessen Wirkungen beginnen bereits zum Zeitpunkt, an dem die Annahmeerklärung abgesandt wurde. Die praktische Bedeutung dieser systemwidrigen Vorschrift ist (zum Glück) gering. Beispiel: Marianne übersendet Nina am 10. August eine Offerte. Diese trifft am 12. August bei Nina ein, worauf sie ihre Annahmeerklärung am 14. August abschickt. Am 17. August trifft die Annahmeerklärung bei Marianne ein. Der Vertrags-

2

schluss erfolgt also am 17 August, der Beginn der Vertragswirkungen wird hingegen auf den 14. August zurückbezogen. Das Schweigen auf einen Antrag bedeutet grundsätzlich keine Annahme. Dies gilt selbst dann, wenn der Antragsteller ausdrücklich erklärt, er gehe von einer Annahme aus, falls der Antrag nicht ausdrücklich abgelehnt wird. Ohne diese Regelung müssten wir – bei entsprechender Formulierung der persönlich adressierten Werbeangebote – täglich eine Unzahl von Angeboten ablehnen, um nicht ungewollt vertraglich gebunden zu werden. Ausnahmsweise kann das Schweigen aber als Annahme gelten. Bedeutsam ist diesbezüglich vor allem Art. 6 OR, wonach Schweigen als Annahmeerklärung vermutet wird, wenn „eine ausdrückliche Annahme nicht zu erwarten“ ist. Die Bestimmung unterscheidet zwei Fälle: 

Die „besondere Natur des Geschäfts“: Hier sind insbesondere Fälle gemeint, bei welchen ein Vertrag dem Angebotsempfänger lediglich Vorteile bringt. Beispiele: Bei einer Schenkung muss der Beschenkte nicht ausdrücklich zustimmen (sofern der Vertrag ihn wirklich in keiner Weise belastet). Wem eine Schuld erlassen wird, muss dazu nicht ausdrücklich zustimmen.



„Besondere Umstände“: Zwischen den Parteien besteht ein gewisses Vertrauensverhältnis auf Grund bereits bestehender Geschäftsverbindungen, insbesondere wenn in der Vergangenheit Verträge ohne ausdrückliche Annahme erfüllt wurden. Das Vertrauensverhältnis kann auch aufgrund angebahnter Vertragsverhandlungen bestehen. Hier müssen die Parteien vorsichtig sein, denn je nach den Umständen des Einzelfalls gilt im Rahmen von Vertragsverhandlungen eine (Gegen)Offerte, die nicht abgelehnt wird, als angenommen. Sodann muss eine Partei, die eine andere zur Offertstellung eingeladen hat und danach auch einen Antrag erhält, diesen ablehnen, wenn sie nicht gebunden sein will. Beispiele Anton bestellt seine Getränke jeweils bei einem Lieferanten, der ohne Auftragsbestätigung die gewünschten Getränke innerhalb von vier Tagen liefert. Bei der letzten Bestellung erhielt Anton auch nach zehn Tagen seine Getränke nicht. Der Lieferant kann nicht anführen, er sei vertraglich nicht gebunden, da er die Bestellungen nie bestätigt hatte. Anton denkt, Beat könnte am Kauf seines Motorrades interessiert sein, und teilt ihm mit, er beabsichtige es für einen Betrag von etwa CHF 5 000 zu verkaufen. Beat schreibt ihm unmittelbar, er würde das Motorrad gerne erwerben und bietet CHF 5 500. Falls Anton diesen Antrag nicht ablehnt, ist der Vertrag zustande gekommen. Bea bestellt Waren aus einem Katalog. Die Anpreisung im Katalog ist eine Einladung zur Offertstellung; Beas Bestellung ein Antrag. Lehnt das Versandhaus die Bestellung nicht ab (z.B. weil der Artikel ausverkauft ist), kommt ein Kaufvertrag zustande. Kauft Bea per Internet dort angepriesene Waren, ist umstritten, ob die Anpreisung bereits einen Antrag darstellt (Auslage von Waren gemäss Art. 7 Abs. 3 OR) oder bloss eine Einladung zur Offertstellung. Die Konsequenzen dieser Unterscheidung werden aber durch Art. 6 OR abgemildert: Liegt eine

Antrag und Annahme

49

50

Kapitel II – Vertragsschluss

Einladung zur Offertstellung vor, muss der Anbieter eine Bestellung (also den Antrag) sofort ablehnen, falls er nicht gebunden sein will. Im täglichen Geschäftsverkehr bewirkt deshalb die Bestellung per Internet in der Regel, dass ein Vertrag zustande kommt.

Schweigen auf einen Antrag Grundsatz: Schweigen ist kein Akzept

Ausnahmen: Art. 6 OR

besondere Natur des Geschäfts

besondere Umstände

Der Vertrag bringt dem Akzeptanten lediglich Vorteile

Z.B.: Bestehende Geschäftsverbindungen, angebahnte Vertragsverhandlungen

In den Fällen von Art. 6 OR muss der Angebotsempfänger seine Ablehnung gegenüber dem Antragsteller innert angemessener Frist mitteilen, wenn er das Geschäft nicht eingehen will. Dabei werden die Regeln für die Annahmeerklärung analog angewendet (Empfangsbedürftigkeit, Fristberechnung). Wenn unbestellte Sachen zugestellt werden, fehlt es schon am Antrag. Deshalb kommt eine Annahme durch Schweigen gar nicht in Betracht (Art. 6a Abs. 1 und 2 OR). Dies gilt auch dann, wenn der Absender der Ware eine Rechnung mit der Aufforderung beilegt, entweder die Rechnung zu bezahlen oder die Sache zurückzusenden, und der Empfänger beides unterlässt. Der Empfänger kann die Sache behalten und ge- bzw. verbrauchen oder auch vernichten. Der Empfänger wird dabei weder aus Vertrag noch aus unerlaubter Handlung oder ungerechtfertigter Bereicherung schadenersatzpflichtig. Dies gilt jedoch nicht, wenn die unbestellte Sache offensichtlich irrtümlich zugesandt worden ist (Art. 6a Abs. 3 OR). In einem solchen Fall muss der Empfänger den Absender benachrichtigen und die Sache während einer angemessenen Zeit zur Abholung bereithalten. Unterlässt der Empfänger dies, wird er aus unerlaubter Handlung (Art. 41 OR) ersatzpflichtig. Beispiele: Anton erhält einen Kalender/eine Zeitschrift/Postkarten zugestellt mit einer Rechnung. Er muss die Rechnung nicht bezahlen und kann mit der Ware machen, was er will. Herr Meier erhält vier Kisten Bier und drei Kisten Cola zugestellt. Da Meier die Getränke nicht bestellt hat, muss er davon ausgehen, dass sich der Lieferant bei der Zustellung geirrt hat. Falls er den Lieferanten nicht benachrichtigt, sondern die Getränke selber trinkt, wird er ersatzpflichtig. Eine besondere Regel gilt für das sog. kaufmännische Bestätigungsschreiben: Es kann sein, dass die Parteien im kaufmännischen Verkehr mündlich etwas vereinbart haben und danach eine der Parteien der anderen ein Schreiben schickt, das diese Vereinbarung bestätigen soll, aber vom mündlich Vereinbarten abweicht. In diesem Fall muss der Empfänger des Schreibens in analoger Anwendung von Art. 6 OR reagieren, wenn er nicht an den Inhalt des Schreibens

2

gebunden sein will. Ausserhalb des kaufmännischen Verkehrs ist zu beachten, dass ein „Bestätigungsschreiben“ eine Gegenofferte darstellen kann, auf die der Empfänger reagieren muss, wenn er nicht einverstanden ist. Zusammengefasst lässt sich zur Bedeutung des Schweigens auf einen Antrag sagen: Grundsätzlich bedeutet Schweigen keine Zustimmung. In den Fällen eines Antrags, der auf eine Einladung zur Offertstellung erfolgt, einer Gegenofferte oder eines kaufmännischen Bestätigungsschreibens muss man aber reagieren, wenn man mit dem Inhalt nicht einverstanden ist. In diesen Fällen darf man nicht darauf vertrauen, Schweigen stelle keine Annahme dar.

2.3

Vertrag und Gefälligkeit

Die Parteien müssen sich nicht nur über den Inhalt ihrer Pflichten einig sein, sondern auch darüber, dass sie sich mit ihrer Vereinbarung rechtlich binden wollen. Erbringt die eine Partei der andern eine Leistung aus Gefälligkeit, fehlt es an einem solchen Rechtsbindungswillen. Das Bundesgericht hat folgende Kriterien aufgestellt, um zwischen Vertrag und Gefälligkeit zu unterscheiden (s. BGE 137 III 539 ff.): „Ob Vertrag oder Gefälligkeit vorliegt, entscheidet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere der Art der Leistung, ihrem Grund und Zweck, ihrer rechtlichen und wirtschaftlichen Bedeutung, den Umständen, unter denen sie erbracht wird und der Interessenlage der Parteien. Für einen Bindungswillen spricht ein eigenes, rechtliches oder wirtschaftliches Interesse der Person, welche die Leistung erbringt, oder ein erkennbares Interesse des Begünstigten an fachkundiger Beratung oder Unterstützung. […] Als typisches Beispiel für Gefälligkeiten im täglichen Leben wird das Kinderhüten für eine beschränkte Dauer von zwei Stunden unter Freunden angeführt.“ Beispiele Im zitierten BGE ging es um folgenden Sachverhalt: Am Vormittag des Unfalltages vom 2. April 2001 hielt sich Daniela bei Carina, der Mutter von Anna, auf und trank mit ihr Kaffee. Die damals noch nicht ganz vierjährige Anna spielte mit Danielas fünfjährigem Sohn Eric im Freien. Benno, der Vater von Anna, befand sich ebenfalls zu Hause und liess seine Frau wissen, dass er mit einem Kollegen zu einem Baumarkt fahre. Gleichzeitig erklärte die Mutter von Anna, dass sie noch rasch einkaufen wolle. Anna wollte ihre Mutter nicht begleiten. Deshalb schlug einer der Erwachsenen vor, dass Daniela während der Abwesenheit der Eltern auf Anna aufpassen solle. Lag hier ein Auftrag vor oder handelte es sich um eine Gefälligkeit? Das Bundesgericht führte aus, das Interesse an der kurzfristigen Betreuung von Anna durch Daniela habe auf Seiten von Carina und Benno gelegen, ohne dass ein direktes eigenes Interesse Danielas an dieser Betreuung erkennbar gewesen wäre. Deshalb handelte es sich um eine Gefälligkeit. „Am Nachmittag des 1. März 1997 begab sich A. zum Bauernhof von B., um dort ein Kalb zu besichtigen, das er eventuell übernehmen wollte. Im Verlaufe des Besuches wurde A. von B. dazu veranlasst, ihm bei der Umplatzierung eines schweren Rundholzes behilflich zu sein. Dieses Holz stand in einer Baugruppe an die Fassade des Wohnhauses angelehnt. Es sollte mit Hilfe eines von B. gelenkten Baggers ‚Menzi-Muck‘ bewegt werden. A. bestieg eine in die Baugrube gestellte Leiter, von wo aus er eine an der Schaufel des ‚Menzi-Muck‘ befestigte massive Kette um das Rundholz legen sollte. Bevor es dazu kam, stürzte er von der Leiter und verletzte sich schwer.“ (BGE 129 III 181). Der Rechtsbindungswillen wurde verneint aufgrund der Art der Arbeitsleistung, dem fehlenden wirt-

Antrag und Annahme

51

52

Kapitel II – Vertragsschluss

schaftliche Interesse des verletzten A sowie aufgrund des mangelnden Interesses des beklagten B an fachkundiger Unterstützung. In BGE 124 III 369 bestätigte das Bundesgericht seine bisherige Praxis, eine Auskunft, „die weder in Ausübung eines Gewerbes noch sonst gegen Entgelt erteilt wird“, nicht als Erfüllung einer vertraglich übernommenen Pflicht zu werten. „Der Kläger X. erwarb im Jahre 1979 den ‚Paradieserhof‘ in Beringen SH. Er liess durch einen Architekten ein Projekt für die Renovation der Liegenschaft erarbeiten, welches er jedoch nicht ausführen liess, da ihm die veranschlagten Kosten von rund CHF 700 000 zu hoch erschienen. In der Folge wurde der Umbau ohne Beizug des Architekten an die Hand genommen und namentlich eine neue Heizungsanlage eingebaut. Dabei half der Bruder der Lebensgefährtin des Klägers, Y. (Beklagter), von Beruf Heizungsinstallateur, mit“ (BGE 116 II 695 ff.). Auch hier wurde ein Rechtsbindungswille verneint: „Aus den Tatsachen, dass der Beklagte dem Kläger zu günstigen Materialbezügen verhalf und ihn bei der Arbeitsausführung unterstützte, durfte dieser nach Treu und Glauben nicht darauf schliessen, er habe sich als Projektleiter verpflichtet und übernehme die Verantwortung für ein mängelfreies Anlagekonzept.“ Eine vertragliche Haftung des Beklagten kommt deshalb nicht in Betracht. Dies rechtfertigt sich umso mehr, als „die Verwandtschaft des Beklagten zu der Lebensgefährtin des Klägers für den Beizug ausschlaggebend war und die Arbeitskoordination grundsätzlich durch die Lebensgefährtin selbst besorgt wurde.“ Anton hilft bei Bedarf, und wenn er gerade Zeit und Lust dazu hat, seinem Nachbarn bei der Gartenarbeit. Ein rechtlicher Bindungswille ist darin nicht zu erkennen. Es ist deshalb von einer blossen Gefälligkeit auszugehen. Es liegt insbesondere kein Arbeitsvertrag vor, da es am Kriterium der Unterordnung fehlt. Anders verhält es sich, wenn Anton zusichern würde, beim Zurückschneiden der Bäume und Büsche zu helfen und der Nachbar daraufhin den vereinbarten Termin freihält, extra Arbeitsgeräte und einen Transport der Grünabfuhr organisiert. Darin wäre wohl ein rechtlicher Bindungswillen erkennbar. In Frage kommt je nach den Umständen ein befristeter Arbeitsvertrag, Auftragsrecht oder Werkvertragsrecht (dazu I/6.1).

3

Auslegung und Ergänzung von Verträgen

3.1

Die Vertragsauslegung

Stimmen Antrag und Annahme überein? Wie sind die Erklärungen einer Partei oder beider Parteien zu verstehen? Was bedeutet eine bestimmte Klausel in einem Vertrag? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Vertragsauslegung. Sie stützt sich auf Art. 18 Abs. 1 OR. Das Bundesgericht hat in BGE 123 III 39 f. die Grundsätze der Vertragsauslegung wie folgt zusammengefasst: „Im schweizerischen Vertragsrecht gilt bei Fragen des Konsenses oder der Auslegung der Grundsatz des Primats des subjektiv übereinstimmend Gewollten vor dem objektiv Erklärten, subjektiv aber unterschiedlich Verstandenen.“ Die Gerichte müssen vorab „prüfen, ob die Parteien sich tatsächlich übereinstimmend geäussert, verstanden und in diesem Verständnis geeinigt haben. Ist dies für den Vertragsschluss als solchen zu bejahen, liegt ein tatsächlicher Konsens vor.

3

Auslegung und Ergänzung von Verträgen

Haben die Parteien sich in den Vertragsverhandlungen zwar übereinstimmend verstanden, aber nicht geeinigt, besteht ein offener Dissens und damit kein Vertragsschluss. Haben sie sich übereinstimmend geäussert, aber abweichend verstanden, liegt ein versteckter Dissens vor, welcher zum Vertragsschluss führt, wenn eine der Parteien nach dem Vertrauensgrundsatz in ihrem Verständnis der gegnerischen Willensäusserung zu schützen und damit die andere auf ihrer Äusserung in deren objektivem Sinn zu behaften ist. Diesfalls liegt ein normativer Konsens vor.“ Im Fall eines normativen Konsenses hat die irrende Partei unter bestimmten Umständen die Möglichkeit, den Vertrag wegen Erklärungsirrtums (Art. 23 f. OR) anzufechten. Damit kann sie sich von den Wirkungen ihrer Erklärung lösen, kann aber der anderen Partei gegenüber schadenersatzpflichtig werden (s. II/6.1 und II/6.4). Dies klingt kompliziert und lässt sich am besten anhand von Beispielen verdeutlichen. Beispiele: Zwei Parteien vereinbaren mündlich, dass die eine der anderen Walfleisch liefern solle. Im Vertrag, den sie verwenden, steht „Haakjöringsköd“. Sie wissen nicht, dass dieser norwegische Ausdruck auf Deutsch Haifischfleisch bedeutet. Es entbrennt ein Streit darüber, ob die eine Partei der andern nun Haifischoder Walfleisch liefern muss (s. Urteil des Reichsgerichts vom 8. Juni 1920 II 549/19). A will B ein Grundstück abkaufen. Sie werden sich beim Preis von CHF 1 Mio. einig. B will Steuern sparen. Deshalb schreiben sie im öffentlich beurkundeten Vertrag, der Verkaufspreis betrage CHF 800 000 (vgl. BGE 104 II 99). Nach Art. 18 OR ist in beiden Fällen der übereinstimmende wirkliche Wille der Parteien zu beachten, und nicht deren unrichtige Bezeichnung, die sie versehentlich („Haakjöringsköd“) oder absichtlich („CHF 800 000.-“) verwendet haben. Die Parteien haben also einen Vertrag über Walfleisch bzw. über ein Grundstück für CHF 1 Mio. (der aber formungültig ist) geschlossen. Der Käufer will vom Verkäufer jährlich 3 500 Stück abnehmen, schreibt aber aus Versehen „35 000 Stück“. Der Vertrag kommt über 35 000 Stück zustande („normativer Konsens“), ausser der Verkäufer wüsste, dass der Käufer einen kleinen Betrieb führt und niemals 35 000 Stück verbraucht und bisher auch noch nie Stücke weiterverkauft hat. Der Käufer kann den Vertrag wegen Erklärungsirrtums anfechten. Es wird lange verhandelt, ob der Käufer jährlich mindestens 30 000 oder (so der Wunsch des Verkäufers) 40 000 Stück abnehmen muss. Man trifft sich schliesslich in der Mitte und der Verkäufer schreibt in den Vertrag als Mindestabnahmemenge: „jährlich 3 500 Stück“. Der Käufer muss aus den Umständen vernünftigerweise 35 000 Stück verstehen. Heidi und Clara führen Verhandlungen über den Verkauf von Heidis Mountainbike. Bisher war immer von einem Verkaufspreis von CHF 920 die Rede. Nun macht Heidi Clara per E-Mail ein Angebot. Sie verschreibt sich und verlangt CHF 290. Clara darf nicht davon ausgehen, dass Heidi ihre Preisvorstellung plötzlich nach unten korrigiert hat. Vielmehr hätte Heidi Claras Irrtum erkennen müssen. Entsprechend kommt gemäss Vertrauensprinzip der Vertrag über ein Mountainbike für CHF 920 zustande. Ein Juwelier stellt in einem Schaukasten in der Nähe seines Geschäftes stellt einen Damenring aus. Den Preis für diesen Ring hat er auf CHF 13 800 festgesetzt; aus Versehen bringt aber seine Angestellte am Ring eine Preisetikette an,

53

54

Kapitel II – Vertragsschluss

auf der ein Verkaufspreis von CHF 1 380 vermerkt ist. Ein Käufer sieht Ring und Preis, betritt das Geschäft und kauft bei einem anderen Angestellten den Ring für CHF 1 380 (s. BGE 105 II 32). Handelt es sich beim Käufer um einen Laien, der sich mit Juwelen nicht auskennt und auskennen muss, so darf er davon ausgehen, dass der Preis auf der Etikette stimmt. Entsprechend ist nach Vertrauensprinzip ein Kaufvertrag über den Ring für CHF 1 380 zustande gekommen. Der Juwelier kann den Vertrag anfechten, in dem er einen Erklärungsirrtum (s. dazu II/6.1.1) geltend macht. Ist der Käufer jedoch ein Fachmann für Edelsteine, so hätte er den Irrtum des Juweliers erkennen müssen. Denn er weiss, dass der Ring unmöglich derart billig sein kann. Entsprechend ist in diesem Fall nach Vertrauensprinzip kein Vertrag zustande gekommen (Dissens). Ein Italiener und ein Schweizer schliessen einen Kaufvertrag über Lederjacken ab. Zur Verständigung bedienen sie sich der englischen Sprache. Im Vertrag ist von „leather“ die Rede. Während der Schweizer darunter „echt Leder“ versteht, meint der Italiener „Kunstleder“, da er ansonsten von „real leather“ sprechen würde (Bezirksgericht St. Gallen, im St. Galler Tagblatt vom 6.2.1986). In diesem Fall bestehen für beide Ansichten gute Argumente, so dass keine Partei in ihrem Verständnis zu schützen ist. Es liegt wohl ein Dissens vor. Das Waadtländer Tribunal Cantonal hatte im Jahre 1893 folgenden Fall zu beurteilen: Ein Wiener Handelshaus offerierte einem Handschuhhändler in Yverdon Handschuhe für 18 österreichische Gulden pro Dutzend. Der Handschuhhändler überlas die Währungsangabe. In der irrigen Annahme, es handle sich um Franken, bestellte der Händler eine gewisse Menge Handschuhe. Das Wiener Handelshaus seinerseits überlas in der schriftlichen Bestellung die vom Handschuhhändler gemachte Währungsbezeichnung „Franken“ und schickte die bestellte Ware ab. Auch hier liegt ein Dissens vor – beide hätten bemerken müssen, dass die jeweils andere Partei von einer anderen Währung ausgeht. Das Bundesgericht unterscheidet zwischen der Feststellung des subjektiv übereinstimmend Gewollten, d.h. dem inneren Willen der Parteien (sog. „subjektive Auslegung“), und der Auslegung nach Vertrauensprinzip („objektive Auslegung“; wie eine vernünftige Person etwas verstehen muss). Es hält aber diese Abgrenzung für schwierig und ist sich zuweilen selbst nicht sicher, ob die Vorinstanz nun subjektiv oder objektiv ausgelegt hat. Die Schwierigkeit rührt daher, dass es diese Unterscheidung im Grunde gar nicht gibt. Die Gerichte gehen bei der Auslegung von Willenserklärungen jeweils folgendermassen vor: Sie lesen das Vertragsdokument und würdigen die Beweisanträge der Parteien (z.B. Korrespondenz zwischen den Parteien und Zeugenaussagen zu den Verhandlungen) sowie die bekannten Umstände des Vertragsabschlusses. Daraus schliessen sie darauf, was die Parteien vernünftigerweise (d.h. unter Berücksichtigung von Treu und Glauben) vereinbart haben. Der vermeintliche Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Auslegung reduziert sich auf die Frage, welche Erklärungen und Umstände bewiesen sind. Beispiele: Die vorne vorgestellten Fallbeispiele „Haakjöringsköd“ und „Kaufpreissimulation“ verdeutlichen dies: Liegt nur der Vertragstext vor, wird das Gericht nach Treu und Glauben entscheiden, die Parteien hätten sich auf „Haifischfleisch“ oder „den Kauf eines Grundstücks für CHF 800 000“ geeinigt. Sind weitere Umstände nachgewiesen, z.B. gestützt auf Vertragsentwürfe, auf die Korrespondenz zwischen den Parteien oder auf Zeugenaussagen, führen sie dazu, dass das Gericht den Vertragstext nicht mehr für massgebend hält, sondern nach Treu und Glauben zum Schluss kommt, die Parteien hätten in Wahrheit „Walfleisch“ oder „den Kauf eines Grundstücks für CHF 1 Mio.“ vereinbart.

3

Auslegung und Ergänzung von Verträgen

Die Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Auslegung spielt nur im Zivilprozess eine Rolle: Die subjektive Auslegung beantwortet nach geltender Rechtsprechung eine Tatfrage, die objektive Auslegung demgegenüber eine Rechtsfrage. Das Bundesgericht befasst sich nur mit Rechtsfragen. Stellt also die Vorinstanz des Bundesgerichts (ein kantonales Ober- oder Handelsgericht) den inneren Willen der Parteien fest, kann das Bundesgericht diese Feststellung nicht mehr überprüfen. Bei der Auslegung von Verträgen ist wie folgt vorzugehen: 



Ausgangspunkt der Vertragsauslegung ist der Wortlaut des Vertrags („grammatikalische Auslegung“). Massgebend ist dabei grundsätzlich das Verständnis des Worts in der Alltagssprache. Sind beide Parteien branchenkundig, richtet sich das Verständnis nach der Fachsprache der betreffenden Branche. Enthält der Vertrag eigene Begriffsdefinitionen, sind diese zu beachten, auch wenn diese vom allgemeinen Sprachgebrauch oder dem verkehrsüblichen Sinn abweichen. Bei der grammatikalischen Auslegung ist auch die Stellung der Worte oder der Satzteile in der Gesamtsystematik des Vertrages zu beachten („systematische Auslegung“). Der Sinngehalt eines Ausdrucks wird häufig durch seine Stellung im Vertragstext (mit-)bestimmt. Der Aufbau des Vertrages oder die Zwischentitel können Hinweise darauf liefern, wie eine bestimmte Formulierung gemeint ist. Beispiel: Ein Kaufvertrag enthält unter der Überschrift „Haftungsausschluss bei Sachmängeln“ eine Klausel, welche die Haftung des Verkäufers für eine Reihe aufgeführter Mängel ausschliesst. Kommt es in der Folge zu einem Fall der Rechtsgewährleistung (s. Art. 192 ff. OR), ergibt sich aus der Überschrift der Vertragsklausel, dass sie auf die Rechtsgewährleistung nicht anwendbar ist.







Das Gericht darf sich bei der Vertragsauslegung nicht nur auf das Vertragsdokument selbst beschränken. Die Umstände sind ebenfalls zu berücksichtigen: der Verlauf der Vertragsverhandlungen („historische Auslegung“), der Regelungszweck des Vertrags bzw. die Interessenlage der Vertragspartner („teleologische Auslegung“), der Ort und Zeitpunkt des Vertragsschlusses, die Verkehrsübung der jeweiligen Branche, die Kenntnisse der Parteien und das Wissen, das sie beim jeweils andern voraussetzen dürfen, die Sachgerechtigkeit und das dispositive Recht. Führt diese Auslegung zu keinem eindeutigen Ergebnis, können die Regeln für Zweifelsfälle herangezogen werden, z.B. in dubio favor negotii (Bedeutung wählen, die den Vertrag nicht ungültig oder unvernünftig macht) oder die Unklarheitenregel (in dubio contra proferentem/stipulatorem: im Zweifel gegen den Verfasser auslegen). Bei der Auslegung von AGB ist zu beachten: Die individuell vereinbarten Klauseln haben Vorrang vor den AGB-Klauseln. Sodann wird die Unklarheitenregel primär bei der Auslegung von AGB angewandt (denn bei individuell ausgehandelten Verträgen haben in der Regel beide Parteien die Unklarheit zu verantworten). Schliesslich kommt bei der Auslegung bzw. der Kontrolle von AGB die sogenannte Ungewöhnlichkeitsregel zur Anwendung (dazu II/5.7).

55

56

Kapitel II – Vertragsschluss

3.2

Die Vertragsergänzung

Die Auslegung des Vertrages führt nicht immer zu einer Klärung der aufgeworfenen Rechtsfragen. Es kann sein, dass der Vertrag lückenhaft ist, weil die Vertragsparteien einen Nebenpunkt (bzw. in gewissen Fällen sogar den wesentlichen Vertragspunkt des Preises, s. die Beispiele zu Art. 1 f. OR unter I/6) nicht geregelt haben, sodass der Vertrag durch das Gericht ergänzt werden muss. Dazu richtet sich das Gericht nach dem hypothetischen Parteiwillen, d.h. nach der Lösung, die redliche und vernünftige Parteien gewollt und nach Treu und Glauben vereinbart hätten, wenn sie die offen gelassene Frage selber erkannt und geregelt hätten. Es gilt die Vermutung, dass das dispositive Recht – also die passende Regel des OR – dem hypothetischen Parteiwillen entspricht. Clausula rebus sic stantibus heisst: Der Vertrag ist unter der stillschweigenden auflösenden Bedingung geschlossen worden, dass sich die Rahmenbedingungen des Vertrags nach Vertragsschluss nicht wesentlich ändern.

Ein Sonderproblem der Vertragsergänzung liegt vor, wenn der Vertrag deshalb keine Regel mehr enthält, weil sich die Umstände so stark verändert haben, dass die ursprüngliche Vereinbarung der Parteien nicht mehr auf die neue Sachlage passt: Es kann sein, dass die Leistung für ihren Empfänger keinen Zweck mehr hat (Zweckfortfall) oder dass sie für den Erbringer viel teurer geworden ist (Äquivalenzstörung). Eine solche Lücke ist nicht leichthin anzunehmen. Denn nach dem Prinzip der Vertragstreue (pacta sunt servanda) muss grundsätzlich jede Partei ihre Leistungen so erbringen, wie ursprünglich versprochen, auch wenn sich die Umstände zum Nachteil einer Partei verändern. Unter bestimmten Umständen darf sich jedoch eine Partei auf die sog. clausula rebus sic stantibus berufen und die Anpassung oder Aufhebung des Vertrags verlangen. Folgende Voraussetzungen müssen vorliegen:    

Das Risiko veränderter Umstände wird nicht aufgrund einer vertraglichen oder gesetzlichen Regelung einer der Parteien zugewiesen. Die mit der Änderung der Umstände verbundene Störung des vertraglichen Gleichgewichts ist gravierend. Derjenige, der sich auf die clausula beruft, hat die Veränderung nicht zu verantworten. Die Veränderung war für ihn auch nicht voraussehbar.

Zu beachten ist: Fälle, die unter die clausula rebus sic stantibus fallen, können oft auch über die nachträgliche Unmöglichkeit (Art. 119 OR) gelöst werden, denn Fälle der nachträglichen Unmöglichkeit sind Spezialfälle der clausula rebus sic stantibus. So wird in der Regel der Zweckfortfall als Fall der Unmöglichkeit behandelt und die Äquivalenzstörung kann einen Fall der wirtschaftlichen Unmöglichkeit i.S.v. Art. 119 OR darstellen (zur nachträglichen Unmöglichkeit s. IV/2.2). Ausserdem ist die „clausula“ vom Grundlagenirrtum über einen zukünftigen Sachverhalt abzugrenzen. Diese Grenze wird wie folgt gezogen: Haben sich die Parteien konkrete Vorstellungen über einen zukünftigen Sachverhalt gemacht und erweisen sich diese als falsch, liegt ein Grundlagenirrtum vor (dazu II/6.1.2). Alle übrigen Veränderungen von Umständen – also solche, über die sich die Parteien keine Gedanken gemacht haben – werden von der „clausula“ erfasst. Im Geschäftsverkehr (in Unternehmenskäufen, Kreditverträgen usw.) wird die Thematik oft durch sogenannte „material adverse change“-Klauseln geregelt. Ein weiteres Sonderproblem der Vertragsergänzung ist die Konversion, also die Umdeutung eines (aufgrund von Form- oder Inhaltsmängeln) nichtigen Rechtsgeschäfts in ein ähnliches gültiges. Die Konversion ist im OR nicht geregelt, doch gilt gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts, was in Deutschland § 140 BGB wie folgt formuliert: „Entspricht ein nichtiges Rechtsgeschäft den Erfordernis-

4

Die Form der Verträge

57

sen eines andern Rechtsgeschäfts, so gilt das letztere, wenn anzunehmen ist, dass dessen Geltung bei Kenntnis der Nichtigkeit gewollt sein würde.“ Das Ersatzgeschäft darf aber in seinen Rechtswirkungen nicht über das nichtige Geschäft hinausgehen. Zudem darf die Konversion nicht gegen den Zweck der Vorschrift verstossen, welche die Nichtigkeit des ursprünglich vereinbarten Geschäfts vorschreibt. Beispiel: Umdeutung einer formbedürftigen Inkasso-Zession in eine formfrei gültige Inkasso-Vollmacht (d.h. die Forderung kann nicht in eigenem Namen geltend gemacht werden, da die Abtretung formungültig ist; stattdessen kann die Forderung im Namen des Berechtigten geltend gemacht werden, da man annimmt, es liege wenigstens eine Vollmacht zur Eintreibung der Forderung vor).

4

Die Form der Verträge

Im schweizerischen Obligationenrecht gilt der Grundsatz der Formfreiheit: Willenserklärungen können ausdrückliche oder stillschweigende sein (Art. 1 Abs. 2 OR) und Verträge bedürfen zu ihrer Gültigkeit nur dann einer besonderen Form, wenn das Gesetz eine solche vorschreibt (Art. 11 Abs. 1 OR). Zur Formfreiheit gehört auch, dass die Parteien für ihren Vertrag eine eigene Formvorschrift aufstellen können (vgl. Art. 16 OR). Dennoch kennt das Gesetz Formvorschriften. Diese haben verschiedene Funktionen. Die wichtigste ist die Beweisfunktion: Es ist einfacher, einen vertraglichen Anspruch durchzusetzen, wenn man ihn mit einer Vertragsurkunde beweisen kann. Weiter haben Formvorschriften eine Warnfunktion: Die Einhaltung der Form soll die Parteien vor übereiltem Handeln schützen. Schliesslich ist den Formvorschriften eine Transparenzfunktion eigen: Der Vertrag wird verkörpert und für Dritte sichtbar, und er bietet eine gesicherte Grundlage für die Eintragung ins Grundbuch oder Handelsregister. Das Gesetz kennt folgende besonderen Formen: 



Einfache Schriftlichkeit: S. dazu Art. 12-14 OR. Das Gesetz schreibt einfache Schriftlichkeit vor z.B. für die Erklärung des Zedenten (Art. 165 Abs. 1 OR), für Vorkaufsverträge an Grundstücken, die den Kaufpreis nicht zum Voraus bestimmen (Art. 216 Abs. 3 OR), für das Schenkungsversprechen (Art. 243 Abs. 1 OR), für das Konkurrenzverbot des Arbeitnehmers (Art. 340 OR), für den Handelsreisendenvertrag (Art. 347a OR), für den Auftrag zur Ehe- oder zur Partnerschaftsvermittlung (Art. 406d OR). Die einfache Schriftlichkeit kommt auch dann zur Anwendung, wenn die Parteien die schriftliche Form ohne nähere Bezeichnung vereinbaren (Art. 16 Abs. 2 OR). Art. 256 Abs. 2 lit. a OR (Miete) und Art. 288 Abs. 2 lit. a OR (Pacht) regeln Fälle, in denen eine Vereinbarung unter Verwendung Allgemeiner Geschäftsbedingungen unwirksam ist. Von qualifizierter Schriftlichkeit spricht man, wenn die einfache Schriftlichkeit durch zusätzliche Anforderungen ergänzt wird. Qualifizierte Schriftlichkeit verlangt das Gesetz z.B. für das Testament (Art. 505 ZGB: ganzer Text in eigener Handschrift samt Datum und Unterschrift), für die Kündigung von Wohn- oder Geschäftsräumen (Art. 266l OR, besonderes Formular), für den Lehrvertrag (Art. 344a Abs. 1 f. OR, Vertrag muss bestimmte Angaben enthalten), für die Bürgschaft (Art. 493 Abs. 2 OR, eigenschriftliche Angabe des

Beachte: Gemäss Art. 13 OR bedarf es nur der Unterschrift der Personen, die sich durch den Vertrag verpflichten.

58

Kapitel II – Vertragsschluss



Haftungsbetrags), für den Konsumkredit (Art. 9 KKG, Vertrag muss bestimmte Angaben enthalten). Beim Formerfordernis der öffentlichen Beurkundung handelt es sich um die strengste gesetzliche Formvorschrift. Sie ist insbesondere in Fällen vorgesehen, wo das Rechtsgeschäft Grundlage für die Eintragung in ein öffentliches Register bildet. Die Form der öffentlichen Beurkundung wird z.B. verlangt: bei Bürgschaftserklärungen natürlicher Personen nach Art. 493 Abs. 2 OR, wenn der Haftungsbetrag die Summe von CHF 2 000 übersteigt; für Grundstückgeschäfte nach Art. 216 Abs. 1 und 2 OR (Kauf), nach Art. 243 Abs. 2 OR (Schenkung) und nach Art. 657 Abs. 1 ZGB (Erbschaft); für Eheund Erbverträge (Art. 184 und 512 ZGB); sodann finden sich viele Beispiele im Gesellschaftsrecht (s. z.B. Art. 629 OR, Errichtung einer AG).

Was ist der Umfang des Formzwangs? Wo das Gesetz die formbedürftigen Teile des Vertrags nicht selbst aufzählt (wie z.B. bei der Bürgschaft oder dem Konsumkredit) und einen ganzen Vertrag einer Formvorschrift unterstellt, werden nur die wesentlichen Punkte vom Formzwang erfasst, dabei aber sowohl die objektiv als auch die subjektiv wesentlichen Punkte. Eine gesetzliche Formvorschrift ist auch für eine spätere Abänderung wesentlicher Punkte zu beachten (Art. 12 OR). Demgegenüber können Verträge, für welche die Schriftform vertraglich vorbehalten wurde (s. Art. 16 OR), formlos abgeändert werden, denn ein vertraglicher Formvorbehalt kann jederzeit formfrei aufgehoben werden. Auch bedarf ein Vertrag über die Aufhebung einer Forderung oder eines ganzen Vertrags keiner Form, und zwar selbst dann nicht, wenn zur Eingehung der Verbindlichkeit eine Form erforderlich war (Art. 115 OR). Zu beachten ist sodann Art. 22 Abs. 2 OR: Er sieht vor, dass die Formvorschriften, welche für einen Hauptvertrag gelten, auch für Vorverträge gewahrt werden müssen, sofern sie dem Schutz der Parteien dienen (dazu das Beispiel hinten). Was sind die Rechtsfolgen eines Formmangels? Es ist zu unterscheiden, ob eine gesetzliche Formvorschrift oder ein vertraglicher Formvorbehalt nicht eingehalten wurde: 



Die Missachtung gesetzlicher Formvorschriften führt zur Ungültigkeit des Rechtsgeschäfts sofern das Gesetz nicht eine andere Rechtsfolge vorsieht (Art. 11 Abs. 2 OR). Das Rechtsgeschäft ist also nichtig. Das Rechtsmissbrauchsverbot kann es einer Partei aber verbieten, sich auf die Formnichtigkeit zu berufen: Haben die Parteien den formungültigen Vertrag beidseitig freiwillig (in Kenntnis des Formmangels) erfüllt, können sie sich grundsätzlich nicht mehr auf den Formmangel berufen; dasselbe kann gelten, wenn der Vertrag erst zur Hauptsache erfüllt wurde. Ist der Vertrag noch gänzlich unerfüllt, ist die Berufung auf den Formmangel nicht rechtsmissbräuchlich. Die Fragen der Formnichtigkeit und ihrer rechtsmissbräuchlichen Geltendmachung stellen sich vor allem im Fall von „Schwarzzahlungen“ bei Grundstückkäufen (die vereinbart werden, damit der Verkäufer Grundstückgewinn- und Handänderungssteuern spart). Für den Fall eines vertraglichen Formvorbehalts stellt Art. 16 Abs. 1 OR die Vermutung auf, dass die Parteien vor Erfüllung der vereinbarten Form nicht verpflichtet sein wollen. Verstossen die Parteien gegen die Formvorschriften, ist der Vertrag aber nur dann ungültig, wenn der Formverstoss den Zweck des Formvorbehalts berührt. Die Parteien können den vertraglichen Formvorbehalt jederzeit formfrei aufheben (z.B. dadurch, dass eine beginnt, den Vertrag zu erfüllen, und die andere nicht widerspricht).

5

5

Zulässiger Vertragsinhalt

Wie bei der Form des Vertrags gilt auch bezüglich dessen Inhalts grundsätzlich Vertragsfreiheit: Der Inhalt eines Vertrags kann in den Schranken des Gesetzes beliebig vereinbart werden (Art. 19 Abs. 1 OR). Nachfolgend geht es um diese Schranken. Sie sind insbesondere in Art. 19 Abs. 2, Art. 20 Abs. 1 und Art. 21 OR geregelt.

5.1

Widerrechtlichkeit

Gemäss Art. 19 Abs. 2 und Art. 20 Abs. 1 OR darf ein Vertrag nicht widerrechtlich sein. Ein Vertrag ist widerrechtlich, wenn er gegen zwingende Gesetzesvorschriften verstösst (die Abweichung von dispositivem Recht kann definitionsgemäss nicht widerrechtlich sein). Dabei ist irrelevant, ob es sich um einen Verstoss gegen eine unabänderliche Vorschrift des eidgenössischen Privatrechts (z.B. zwingende Bestimmungen im Miet- oder Arbeitsrecht; ferner Art. 34 Abs. 2 und Art. 100 Abs. 1 OR), gegen eine Vorschrift des öffentlichen Rechts (z.B. Verbot des Drogenhandels) oder gegen eine Vorschrift des kantonalen Rechts handelt. Beispiele: Das Konsumkreditgesetz (KKG) und die dazugehörige Verordnung (VKKG) bestimmen, dass der Zinssatz in einem Konsumkreditvertrag 15% nicht übersteigen darf. Das Interkantonale Konkordat über Massnahmen zur Bekämpfung im Zinswesen (das für die Kantone BE, FR, GE, JU, NE, SH, VD, VS, ZG gilt) bestimmt, dass die maximalen Zinskosten eines Kreditgeschäfts 18% nicht übersteigen dürfen. Die Verletzung lediglich relativer Rechte Dritter erfüllt den Tatbestand der Widerrechtlichkeit grundsätzlich nicht. Beispiel: X schliesst mit Y einen Kaufvertrag über ein Fahrzeug ab, der Verkaufspreis beträgt CHF 8 500. Noch bevor der Verkäufer X dem Käufer Y das Fahrzeug übergeben hat, um Y das Eigentum an der Kaufsache zu verschaffen, kommt Z mit einer attraktiveren Kaufofferte von CHF 9 500 für dasselbe Fahrzeug auf X zu. Daraufhin nimmt X das Angebot von Z an und übergibt ihm das Fahrzeug gegen Zahlung von CHF 9 500. Damit hat X nur das relative Recht von Y auf Übertragung des Eigentums verletzt; der zweite Vertrag ist nicht widerrechtlich und damit gültig. Y hat lediglich obligatorische Ansprüche gegen X aus dem rechtsgültig zustande gekommenen Kaufvertrag (da X nicht mehr erfüllen kann, wird er wohl schadenersatzpflichtig, mehr dazu hinten). Wird der zweite Kaufvertrag aber primär mit dem gemeinsamen Zweck abgeschlossen, die Erfüllung des ersten Kauvertrags zu vereiteln, so ist der zweite Kaufvertrag sittenwidrig (dazu II/5.2). Keine Widerrechtlichkeit liegt vor, wenn die Parteien gegen ein Verbot verstossen, das nur die Art und Weise betrifft, wie der Vertrag zustande kommt (ausser die Verbotsnorm bestimme etwas anderes, s. z.B. Art. 34 Abs. 2 OR oder Art. 314 OR: Verbot einer Vereinbarung im Voraus).

Zulässiger Vertragsinhalt

59

60

Kapitel II – Vertragsschluss

Beispiele: Kauf nach Ladenschluss; Vertrag mit einer Partei, die keine Berufs- oder Arbeitsbewilligung hat; Vertrag (z.B. für den Bau eines Kernkraftwerks) der aufgrund von Bestechung eines Beamten zustande gekommen ist (demgegenüber ist der Vertrag auf Bezahlung von Bestechungsgeld sittenwidrig und damit nichtig). Die Widerrechtlichkeit kann auch bei Umgehungsgeschäften gegeben sein, wenn die Vertragsparteien einen gewünschten, aber gesetzlich verbotenen Erfolg durch eine andere juristische Konstruktion zu erreichen versuchen. Beispiel: Zur Umgehung der Bestimmungen über den Erwerb von Grundstücken durch ausländische Staatsangehörige erwarben zahlreiche italienische Staatsangehörige im Kanton Graubünden Aktiengesellschaften, die als einzigen Aktivposten eine Liegenschaft hatten. Der Aktienkauf ist in einem solchen Fall widerrechtlich.

5.2

Sittenwidrigkeit

Nach Art. 19 Abs. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 OR wird dem Grundsatz der Inhaltsfreiheit der Parteien beim Abschluss von Schuldverträgen durch das Kriterium der guten Sitten Schranken gesetzt. Als sittenwidrig gelten Verträge, die gegen die herrschende Moral, d.h. gegen das allgemeine Anstandsgefühl verstossen. Die konkrete Festlegung der Sittenwidrigkeit unterliegt den sich ständig wandelnden Wertvorstellungen einer Gesellschaft. Was früher als sittenwidrig galt, muss es heute nicht mehr sein und umgekehrt. So haben sich z.B. die Moralvorstellungen bezüglich sexueller Aktivitäten zunehmend liberalisiert. Beispiele: Nicht sittenwidrig sind: -

Die Verletzung obligatorischer Rechte Dritter (anders ist aber im hinten zitierten Fall eines Vertrags zu entscheiden, der primär dazu dient, die Erfüllung eines andern Vertrags zu vereiteln).

-

Das ehebrecherische Konkubinat war bis zum 1. Januar 1990 gemäss Art. 214 StGB widerrechtlich. Diese Bestimmung wurde auf das eben genannte Datum ersatzlos gestrichen, und es stellt sich nun die Frage, ob das ehebrecherische Konkubinat im geltenden Recht gegen die guten Sitten verstösst. Das Bundesgericht hatte im BGE 111 II 298 offen gelassen, ob der Konkubinatsvertrag sogar ganz allgemein als sittenwidrig zu gelten hat. Diese Ansichten sind heute überholt.

-

Verträge mit Telefonsexanbietern (BGE 129 III 604).

-

Ein Vertrag über die Verbreitung von erotischen Nacktbildern. Es „kann im Lichte der heutigen Moralvorstellungen und der Verbreitung pornografischen Materials im Internet nicht behauptet werden, ein solches Rechtsgeschäft verstosse an sich inhaltlich gegen Art. 20 OR und sei folglich nichtig“ (BGE 136 III 409 f.).

-

Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Vereinbarung einer Vergütung für den Rückzug eines Rekurses bei einem Baubewilligungsver-

5

fahren sittenwidrig und damit mit der Rechtsfolge der Nichtigkeit beschlagen ist, ist umstritten (vgl. dazu BGE 123 III 101). Sittenwidrig sind: -

Die Prostitution, mithin Verträge über die entgeltliche Vornahme einer sexuellen Handlung (BGE 129 III 617).

-

Die Vereinbarung, eine strafbare Handlung gegen Entgelt nicht anzuzeigen (Schweigegeld, vgl. BGE 123 III 101).

-

Bezahlte Unterstützung bei der Erbschleicherei (BGE 66 II 256).

-

Schmiergeldverträge (die aufgrund von Art. 322ter ff. StGB und Art. 4a UWG auch widerrechtlich sind). Der durch die Bestechung erlangte Vertrag ist dagegen gültig (BGE 129 III 324 f.).

-

Ein Vertrag, der aufgrund einer heimlichen Abrede zwischen dem Vertreter und dem Vertragspartner zum Nachteil des Vertretenen abgeschlossen wird.

-

Abreden zwischen den Bietenden, die das Ergebnis einer Versteigerung verfälschen sollen (d.h. die entgeltliche Abrede von Mitbietenden, nicht zu bieten) oder die Abrede zwischen dem Versteigerer und einem Bietenden, sein Zuschlag verpflichte ihn nicht (so dass er das Angebot in die Höhe treiben kann). Vgl. BGE 112 II 337 und BGE 109 II 123.

-

Das Treffen wettbewerbsverfälschender Abreden bei sportlichen Wettkämpfen.

-

Abschluss eines Vertrags mit dem primären und gemeinsamen Zweck, die Erfüllung eines andern Vertrags zu vereiteln (BGer 4C.273/2002 E. 3.3).

5.3

Persönlichkeitsverletzungen

Verletzungen der Persönlichkeit verstossen gegen Art. 27 ZGB i.V.m. Art. 19 Abs. 2 OR. Sie können sowohl unter dem Titel Widerrechtlichkeit als auch der Sittenwidrigkeit erfasst werden. Die Persönlichkeit kann wie folgt verletzt werden: 

Einerseits durch Verträge, die einen höchstpersönlichen Bereich (körperliche Integrität, Ehe, Familie, Religion usw.) regeln. Beispiele: Verpflichtung, sich an einem gesundheitsbedrohenden medizinischen Test für neue Medikamente zu beteiligen, (k)eine Ehe einzugehen, in die Ehescheidung einzuwilligen oder auf das Scheidungsrecht zu verzichten, empfängnisverhütende Mittel einzunehmen, einen Erbvertrag abzuschliessen, einer Ordensgemeinschaft oder einer politischen Partei beizutreten, die Konfession oder Staatsangehörigkeit (nicht) zu wechseln. Demgegenüber können Persönlichkeitsgüter, die nicht zum Kernbereich der menschlichen Existenz gehören, Gegenstand von vertraglichen und unwiderruflichen Verpflichtungen sein. Dazu gehören der Name, die Stimme oder das Bild. Beispiel: Zu den Verträgen über solche Persönlichkeitsgüter äusserte sich das Bundesgericht wie folgt: „Angesichts der Bedeutung, welche die Vermarktung des eigenen Bildes, des Namens oder der Stimme in den letzten Jahrzehn-

Zulässiger Vertragsinhalt

61

62

Kapitel II – Vertragsschluss

ten erreicht hat, ist es lebensfremd, weiterhin die Einwilligung zur Abtretung der Rechte am eigenen Bild als einer rechtlich bindenden Verpflichtung nicht zugängliches Geschäft anzusehen, das jederzeit und frei widerrufbar sein soll. Dies gilt grundsätzlich nicht nur für bekannte Persönlichkeiten, die ihren Namen oder ihr Bild mit Lizenzverträgen für kommerzielle Zwecke zur Verfügung stellen, sondern auch für diejenigen, die sich nur gelegentlich bzw. ein Mal im Leben öffentlich zur Schau stellen, namentlich auch für Teilnehmer an neuen Sendeformaten in der Art der ‚reality shows‘. Es muss aber auch für Personen gelten, die sich wie hier an bescheideneren Produktionen beteiligen [Produktion und Veröffentlichung erotischer Bilder im Internet]“ (BGE 136 III 405 f.). 

Persönlichkeitsverletzend sind sodann Verträge, die eine Person übermässig binden (Art. 27 Abs. 2 ZGB). Hier wird die Persönlichkeitsverletzung durch den Umfang (Intensität oder Dauer) einer vertraglichen Bindung herbeigeführt: „Eine vertragliche Beschränkung der wirtschaftlichen Freiheit wird nach schweizerischem Verständnis als übermässig betrachtet, wenn sie den Verpflichteten der Willkür eines andern ausliefert, sowie die wirtschaftliche Freiheit aufhebt oder in einem Masse einschränkt, dass die Grundlagen seiner wirtschaftlichen Existenz gefährdet sind“ (BGE 138 III 322). Beispiele: „Ewige“ Verträge, d.h. Dauerschuldverhältnisse ohne Höchstdauer und ohne Kündigungsmöglichkeit. Zeitlich und gegenständlich unbeschränkte Abtretung aller gegenwärtigen und zukünftigen Forderungen (BGE 112 II 433). Übermässige arbeitsrechtliche Konkurrenzverbote mit erheblicher Existenzerschwerung. Das Gericht kann übermässige Konkurrenzverbote jedoch gemäss der Sonderregelung von Art. 340a Abs. 2 OR herabsetzen. Managementvertrag, mit dem sich eine Sängerin verpflichtet, im künstlerischen Bereich und im Bereich ihrer Lebensführung ihren Manager entscheiden zu lassen (BGE 104 II 108).

5.4

Unmöglichkeit

Die Unmöglichkeit der Erfüllung einer vertraglichen Verpflichtung kann auf tatsächlichen, rechtlichen oder wirtschaftlichen Gründen beruhen. Es wird einerseits zwischen objektiver (niemand kann die Leistung erbringen) und subjektiver (nur der Vertragspartner ist nicht in der Lage, die Leistung zu erbringen) Unmöglichkeit unterschieden, andererseits zwischen anfänglicher und nachträglicher Unmöglichkeit. Praktisch bedeutsam ist aber einzig, ob der Schuldner die Unmöglichkeit zu verantworten hat oder nicht. Im ersten Fall schuldet er Schadenersatz (Art. 97 OR), im zweiten Fall sind beide Parteien von ihren Leistungen befreit (Art. 119 OR).

5

5.5

Nichtigkeit als Rechtsfolge der Rechtswidrigkeit, Sittenwidrigkeit oder Unmöglichkeit

Ein Vertrag, der einen unmöglichen oder widerrechtlichen Inhalt hat oder gegen die guten Sitten verstösst, ist nach Art. 20 Abs. 1 OR nichtig, also absolut ungültig. Die Nichtigkeit ist von Amtes wegen zu beachten, d.h. es braucht keine Einrede zur Geltendmachung der Nichtigkeit. Jedermann (nebst den Vertragsparteien auch Dritte) kann sich darauf berufen und die Nichtigkeit wirkt gegenüber jedermann. Die Nichtigkeit wirkt ex tunc, d.h. sie hebt den gesamten Vertrag von Anfang an auf. Es treten keine Vertragswirkungen ein. Die bereits erbrachten Leistungen sind zurückzugeben (Rückabwicklung). Dabei können Sachleistungen mit der Eigentumsklage nach Art. 641 Abs. 2 ZGB, Grundstücke mittels Grundbuchberichtigungsklage nach Art. 975 Abs. 1 ZGB und andere Leistungen mittels Bereicherungsrecht nach Art. 62 ff. OR zurückgefordert werden. Bei Dauerschuldverhältnissen (z.B. Miete, Arbeitsvertrag) ist jedoch die Nichtigkeit in ihrer Wirkung auf die Zukunft zu beschränken (Nichtigkeit ex nunc). In solchen Fällen findet keine Rückabwicklung bereits erbrachter Leistungen statt (analog zu Art. 320 Abs. 3 OR; BGE 129 III 320). Die Geltendmachung der Nichtigkeit unterliegt keiner Verjährungsfrist (die daraus entstehenden Forderungen aus ungerechtfertigter Bereicherung aber schon). Betrifft der Form- oder Inhaltsmangel nur einzelne Bestimmungen eines Vertrages und ist anzunehmen, dass der Vertrag ohne den nichtigen Teil dennoch geschlossen worden wäre, ist analog zu Art. 20 Abs. 2 OR Teilnichtigkeit anzunehmen. Beispiel: A und B schliessen einen befristeten Arbeitsvertrag auf 15 Jahre ab. Sie vereinbaren schriftlich, dass der Vertrag während der ganzen Laufzeit nicht gekündigt werden kann. Eine solche Abmachung verstösst gegen Art. 334 OR, wo festgestellt wird, dass nach 10 Jahren jederzeit mit einer Frist von sechs Monaten gekündigt werden kann. Es ist aber nicht der ganze Vertrag nichtig, sondern lediglich die Kündigungsklausel. Möglich ist auch, dass es zur „modifizierten Teilnichtigkeit“ kommt: Der nichtige Vertragsteil entfällt nicht ersatzlos, sondern die Lücke wird entweder durch eine gesetzliche Regel oder eine Regel gemäss dem hypothetischen Parteiwillen gefüllt. Es kann auch sein, dass eine übermässige Regel auf das erlaubte Mass reduziert wird (Grundsatz der „geltungserhaltenden Reduktion“). Für besondere Fälle übermässiger Verpflichtungen sehen spezielle Bestimmungen des OR ausdrücklich vor, dass das Gericht die Verpflichtung herabsetzen kann, wie z.B. im Fall einer übermässig hohen Konventionalstrafe (Art. 163 Abs. 3 OR), eines übermässigen Konkurrenzverbots (Art. 340a Abs. 2 OR) oder eines übermässig hohen Mäklerlohns (Art. 417 OR).

5.6

Übervorteilung

Grundsätzlich ist die Würdigung des Wertverhältnisses der auszutauschenden Leistungen Sache der Vertragsparteien; dies folgt aus dem Prinzip der Vertrags-

Zulässiger Vertragsinhalt

63

64

Kapitel II – Vertragsschluss

freiheit. Die Rechtsordnung sieht aber zum Schutz der wirtschaftlich schwächeren Vertragspartei in Art. 21 Abs. 1 OR einen Tatbestand vor, der ausnahmsweise die Nachprüfung des Wertverhältnisses der Vertragsleistungen durch den Richter zulässt. Der Tatbestand der Übervorteilung nach Art. 21 OR regelt u.a. die Fälle des Wuchers. Damit der Tatbestand der Übervorteilung erfüllt wird, müssen folgende drei Voraussetzungen kumulativ vorliegen: 

Zwischen Leistung und Gegenleistung besteht ein offenbares Missverhältnis. Der Richter entscheidet nach freiem Ermessen und stellt dabei auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ab. Beispiele: Das Bundesgericht hat den Tatbestand der Übervorteilung in einem Fall als erfüllt betrachtet, bei welchem für die Gewährung eines Darlehens eine Provision und ein Bonus von insgesamt 37.5% vereinbart wurde. In einem anderen Fall wurde ein Missverhältnis verneint, bei welchem ein gebrauchtes Fahrzeug für CHF 7 500 anstatt zum effektiven Marktwert von CHF 5 000 veräussert wurde.





Eine Partei befindet sich in einem Schwächezustand. Das Gesetz zählt als Beispiele die Notlage, die Unerfahrenheit oder den Leichtsinn auf; denkbar wären z.B. auch die Arbeitslosigkeit oder eine Scheidungssituation. Die andere Partei nutzt diesen Zustand bewusst aus.

Sind die eben genannten Voraussetzungen erfüllt, ist der Vertrag für den Übervorteilten einseitig unverbindlich. Beispiel: Verliebter Witwer, welcher die Bedingung seiner künftigen Ehefrau für die Zustimmung zur Ehe mit ihm erfüllt und dieser ein Restaurant zu einem viel zu hohen Preis abkauft (BGE 61 II 31 ff.). Das Bundesgericht hat den Tatbestand der Übervorteilung in Art. 21 OR als erfüllt betrachtet. Im Gegensatz zur Widerrechtlichkeit oder Sittenwidrigkeit nach Art. 20 Abs. 1 OR führt die Übervorteilung nicht automatisch zur Ungültigkeit des Vertrags. Der Übervorteilte hat die Möglichkeit, sich durch einseitige Willenserklärung vom Vertrag zu lösen. Die Anfechtung muss innerhalb eines Jahres nach Abschluss des Vertrages erklärt werden (Verwirkungsfrist). Wird der Vertrag vom Übervorteilten gemäss Art. 21 OR für unverbindlich erklärt, können die bereits vollzogenen Leistungen zurückgefordert werden (Art. 21 Abs. 1 OR). Wie bei Verstössen gegen Art. 19 und Art. 20 OR kann auch bei der Übervorteilung eine Reduktion des Übermasses der Verpflichtung erfolgen.

5.7

Verwendung missbräuchlicher Geschäftsbedingungen

AGB unterliegen einer dreistufigen Kontrolle: der Geltungskontrolle (s. II/2.1), der Auslegungskontrolle (s. II/3.1) und der Inhaltskontrolle. Zur Geltungskontrolle gehören die Anforderung, dass die AGB der Gegenseite vor Vertragsschluss zugänglich sein müssen (Einbezugskontrolle) sowie der Vorrang der Individualabrede. Die Auslegungskontrolle erfolgt anhand der Unklarheitenregel, wonach eine nicht eindeutige Vertragsbestimmung zum Nachteil ihres Verfassers auszulegen ist.

6

Willensmängel beim Vertragsabschluss

Die Inhaltskontrolle wird durch die Ungewöhnlichkeitsregel gewährleistet. Danach werden Klauseln, mit denen der Vertragspartner vernünftigerweise nicht rechnen konnte, nicht Bestandteil des Vertrags. Ungewöhnlich ist eine Klausel, die zu einer wesentlichen Änderung des Vertragscharakters führt oder in erheblichem Mass aus dem gesetzlichen Rahmen des Vertragstypus fällt. Je stärker die Klausel die Rechtsstellung des Vertragspartners beeinträchtigt, desto eher ist sie als ungewöhnlich zu qualifizieren (s. z.B. BGE 135 III 227 f.). Seit dem 1. Juli 2012 ist der revidierte Art. 8 UWG in Kraft. Nach dieser Vorschrift ist die Verwendung von AGB unlauter, wenn die AGB in Treu und Glauben verletzender Weise, zum Nachteil der Konsumenten ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis zwischen den vertraglichen Rechten und Pflichten vorsehen. Diese Bestimmung ermöglicht eine offene Inhaltskontrolle von AGB. Sie ist allerdings nur auf Konsumentenverträge anwendbar. Für die übrigen Verträge wird das Bundesgericht weiterhin über die Ungewöhnlichkeitsregel eine (verdeckte) Inhaltskontrolle vornehmen. Es ist nicht zu erwarten, dass die beiden Kontrollen massgeblich voneinander abweichen: Die Inhaltskontrolle gemäss Art. 8 UWG dürfte sich stark an der bisherigen Rechtsprechung zur Ungewöhnlichkeitsregel orientieren (vgl. z.B. BGE 140 III 404).

6

Willensmängel beim Vertragsabschluss

Ein Vertrag kommt gemäss Art. 1 Abs. 1 OR durch gegenseitige übereinstimmende Willenserklärung der Parteien zustande. Es kann jedoch vorkommen, dass der Wille einer Partei fehlerhaft gebildet oder geäussert wurde. In solchen Fällen liegt ein Mangel in der Willensbildung oder -erklärung vor. Man spricht ganz allgemein von einem Willensmangel. Es lassen sich zwei Gruppen von Willensmängeln unterscheiden: 



Fälle von Erklärungsirrtum, bei denen die Willensäusserung einer Partei nicht ihrem fehlerfrei gebildeten Willen entspricht (Art. 24 Abs. 1 Ziff. 1-3 OR). Fälle von Motivirrtum/Grundlagenirrtum, bei denen die Bildung des Willens fehlerhaft ist (Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 und Abs. 2 OR). Eine Vertragspartei bildet ihren Willen auch dann falsch, wenn sie getäuscht (Art. 28 OR) oder bedroht (Art. 29 f. OR) wird.

Willensmängel mangelhafte Erklärung

Erklärungsirrtum

mangelhafte Willensbildung

Motivirrtum

Absichtliche Täuschung

Drohung

Das Gesetz sieht in den Art. 23 ff. OR vor, dass Verträge, die an einem Willensmangel leiden, anfechtbar sind (s. Art. 31 OR). Die Willensmängel sind allerdings nur zu beachten, wenn sie sowohl wesentlich als auch kausal für die Abgabe der Willenserklärung gewesen sind. Kausalität ist dann anzunehmen, wenn der

65

66

Kapitel II – Vertragsschluss

Erklärende die Willenserklärung bei wahrer Kenntnis der Sachlage nicht oder in anderer Weise abgegeben hätte.

6.1

Irrtum

6.1.1

Erklärungsirrtum

Hat eine Partei ihren Willen richtig gebildet, aber falsch erklärt, liegt ein Erklärungsirrtum vor. Erklärungsirrtümer sind z.B.: 

Irrtum über die Art des Vertrags (Art. 24 Abs. 1 Ziff. 1 OR): Der Irrende wollte einen anderen Vertrag abschliessen, als er tatsächlich erklärt hat; z.B. Abschluss eines entgeltlichen statt eines unentgeltlichen Vertrags, eines Kauf- statt eines Mietvertrags; sodann Fälle, in denen jemand überhaupt keine rechtsgeschäftliche Erklärung abgeben wollte, seine Äusserung aber nach Treu und Glauben als solche interpretiert werden muss. Beispiele: Das Schulbeispiel ist die „Trier Weinversteigerung“: Ein Ortsfremder betritt eine Wirtschaft in Trier. Er ist dort mit einem Freund verabredet und weiss nicht, dass gerade eine Weinversteigerung staatfindet. Als er seinen Freund entdeckt, winkt er ihm zu. Der Versteigerer interpretiert die Geste als Angebot und erteilt dem Ortsfremden den Zuschlag. Je nach den Umständen des Falls kann man sich natürlich darüber streiten, ob der Versteigerer nicht hätte merken müssen, dass das Winken nicht ihm galt. Die Sekretärin findet auf dem Tisch ihres Chefs unterschriebene Briefe und schickt diese ab (oder verschickt noch nicht abgesandte E-Mails ihres Chefs). Dieser wollte die Briefe/E-Mails aber gar nicht abschicken.



Irrtum über die Sache oder die Person (Art. 24 Abs. 1 Ziff. 2 OR): Der Irrtum bezieht sich auf die Identität der Sache oder der Person (vgl. BGE 118 II 297). Es handelt sich typischerweise um Verwechslungen. Handelt es sich dagegen um einen Irrtum über den Preis oder die Eigenschaften eines individualisierten Objekts, liegt ein Irrtum über den Umfang der Leistung (Preis) oder ein Grundlagenirrtum (Eigenschaften) vor. Beispiele: Irrtümlicherweise wird Rechtsanwalt Roland Ackermann statt Roland Achermann beauftragt. Ein Käufer bestellt Kalisalpeter für pharmazeutische Zwecke statt Kalisalpeter für die Verwendung als Dünger. Der Kalisalpeter für pharmazeutische Zwecke ist chemisch rein und hundertmal teurer (BGE 45 II 433). Beat findet in einem Möbelgeschäft einen Tisch, der ihm gefällt, und fragt den Verkäufer, wie viel er koste. Dieser schaut hinter seinem Computer hervor und sagt: CHF 500. Beat bezahlt, sagt, er werde den Tisch am nächsten Tag abholen, und verlässt das Geschäft. Am selben Abend ruft ihn der Verkäufer an und teilt ihm mit, er hätte sich im Tisch geirrt, da morgens zwei Tische aus der Schreinerei geliefert worden seien. Sein Tisch koste CHF 1 000. Obwohl der Verkäufer angibt, die Tische verwechselt zu haben, liegt hier kein Irrtum über die Sache, sondern ein Irrtum über den Umfang der

6

Willensmängel beim Vertragsabschluss

67

Leistung vor. Denn Beat hat nach dem Preis eines bestimmten, individualisierten Tischs gefragt. 

Irrtum über den Umfang der Leistung und Gegenleistung (Art. 24 Abs. 1 Ziff. 3 OR): Wesentlichkeit liegt vor, wenn eine „erhebliche Differenz“ zwischen gewollter und tatsächlich erklärter Leistung oder Gegenleistung besteht. Beispiel: Irrtümlicherweise wird eine Perlenkette für CHF 1 340 statt für CFH 13 400 verkauft. Bei einer solchen erheblichen Differenz ist ein wesentlicher Erklärungsirrtum anzunehmen. Ist aber die Differenz nur unerheblich, etwa CHF 1 340 statt CHF 1 430, liegt ein unwesentlicher Erklärungsirrtum vor (vgl. BGE 82 II 576).



Weitere Fälle von Erklärungsirrtum: Der Erklärende versteht ein Fremdwort oder eine Abkürzung falsch. Beispiel: Der Erklärende setzt den Begriff „sans engagement“ fälschlicherweise mit „gratis“ gleich (vgl. BGE 64 II 9 ff.).



Die unrichtige Übermittlung ist ein Sondertatbestand des Erklärungsirrtums und gemäss Art. 27 OR ebenfalls den allgemeinen Bestimmungen über den Irrtum unterstellt. Dabei wird die Erklärung nicht durch den Erklärenden selbst, sondern durch einen von ihm benannten Erklärungsboten (z.B. Dolmetscher) unrichtig übermittelt.

Vom Erklärungsirrtum zu unterscheiden ist der „gemeinsame Erklärungsirrtum“. Ein solcher liegt vor, wenn die Parteien gemeinsam eine „unrichtige Bezeichnung oder Ausdrucksweise“ verwenden. In einem solchen Fall ist einzig der übereinstimmende wirkliche Wille der Parteien nach Art. 18 Abs. 1 OR massgebend. Beispiel: Die beiden Parteien schliessen einen Vertrag über „Haakjöringsköd“ in der Meinung, es handle sich um Walfleisch, während es in Wirklichkeit „Haifischfleisch“ bedeutet (s. auch II/3.1). Hätte eine Partei den Erklärungsirrtum der andern erkennen müssen, gilt nach dem Vertrauensprinzip (Art. 1 und Art. 18 OR, s. II/3.1) der Vertrag so, wie ihn sich die irrende Partei vorgestellt hat. Entsprechend muss und kann sie gar keinen Erklärungsirrtum geltend machen. Daraus ergibt sich, dass der Erklärungsirrtum für die Gegenpartei nicht erkennbar sein darf. Der erkennbare Erklärungsirrtum fällt unter Art. 18 OR, nicht unter Art. 23 f. OR. S. dazu die Beispiele unter II/3.1.

6.1.2

Motivirrtum/Grundlagenirrtum

Vom Erklärungsirrtum ist der Motivirrtum zu unterscheiden. Während beim Erklärungsirrtum der Wille zwar fehlerfrei gebildet wurde, nachfolgend aber mangelhaft kundgegeben wird, entsteht der Motivirrtum bereits bei der Willensbildung. Grundsätzlich ist der Motivirrtum nach Art. 24 Abs. 2 OR ein unwesentlicher. Ein unwesentlicher Motivirrtum liegt z.B. vor, wenn sich der Bürge

Beachte: Der Stellvertreter fällt nicht unter Art. 27 OR, da er eine eigene Willenserklärung abgibt (während der Bote lediglich eine fremde Erklärung übermittelt).

68

Kapitel II – Vertragsschluss

falsche Vorstellungen über die finanziellen Verhältnisse des Schuldners macht; eine Partei sich über die Erträge eines Geschäftes irrt (vgl. BGE 109 II 105 ff.); sich die Parteien über die von Gesetzes wegen eintretenden Rechtsfolgen ihrer Vereinbarung irren (sog. Rechtsirrtum). Mit anderen Worten: Es ist grundsätzlich unerheblich, aus welchen Motiven heraus eine Partei einen Vertrag abschliesst. Der Motivirrtum kann aber ausnahmsweise wesentlich sein, wenn die qualifizierenden Merkmale eines Grundlagenirrtums nach Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR erfüllt sind. Für einen Grundlagenirrtum müssen kumulativ folgende zusätzlichen Merkmale erfüllt sein: 





Subjektive Wesentlichkeit des Irrtums: Der Irrende muss den irrtümlich vorgestellten Sachverhalt im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses als eine notwendige Grundlage des Vertrages betrachtet haben, d.h. der Sachverhalt muss „conditio sine qua non“ für die Willensbildung gewesen sein. Bei Kenntnis der wahren Sachlage hätte der Erklärende den Vertrag nicht oder nicht zu diesen Bedingungen geschlossen. Die objektive Wesentlichkeit besteht darin, dass der Irrende den vorgestellten Sachverhalt „nach Treu und Glauben im Geschäftsverkehr“ als eine notwendige Grundlage des Vertrages betrachten durfte. Mit dieser Formulierung wird auf den loyalen Geschäftsverkehr abgestellt, d.h. es wird gefragt, ob auch ein redlicher Dritter den Abschluss des Vertrages vom Vorliegen des vorgestellten Sachverhalts abhängig gemacht hätte. Schliesslich muss die Bedeutung des irrtümlich vorgestellten Sachverhalts für den Vertragspartner des Irrenden erkennbar gewesen sein.

Im Ergebnis liegt Grundlagenirrtum also dann vor, wenn die irrige Vorstellung gemäss Vertrauensprinzip zum Vertragsinhalt geworden ist. Denn der irrige Sachverhalt ist eine wesentliche Vertragsgrundlage, und dies ist für die Gegenpartei erkennbar. Der Grundlagenirrtum beschreibt also Fälle, in denen die Parteien etwas vereinbart haben, das von der Wirklichkeit abweicht. Aus diesem Grund sind z.B. die Fälle von wesentlichen Mängeln im Kauf- oder Mietvertrag gleichzeitig auch Fälle des Grundlagenirrtums (dazu sogleich hinten). Beispiele: Ein Grundlagenirrtum liegt vor, wenn es sich beim Kauf eines Kunstwerks um eine Fälschung handelt (vgl. BGE 114 II 131 ff.). Denn wenn der Käufer den Preis eines echten Kunstwerks bezahlt, so ist klar, dass er ein echtes Kunstwerk kaufen will. Die Parteien haben also den Kauf eines echten Kunstwerks vereinbart. Die Fläche einer gekauften oder gemieteten Wohnung ist kleiner als in den Plänen angegeben (vgl. BGE 113 II 25 ff.). Die Parteien haben den Kauf oder die Miete einer Wohnung mit der Fläche gemäss Plänen vereinbart. Diese Vereinbarung weicht von der Wirklichkeit ab. Das gekaufte Auto ist gestohlen. Damit muss nach Treu und Glauben im Geschäftsverkehr niemand rechnen. Entsprechend ging der Kaufvertrag über einen Wagen, dem kein solcher Rechtsmangel anhaftet. Frau Huber bucht für sich und ihre Nichte ein Zimmer in Stuttgart vom 10. bis zum 12. Dezember, um den Weihnachtsmarkt zu besuchen. Dieser findet dieses Jahr aber wegen grösserer Bauarbeiten nicht statt. Frau Huber hätte die Buchung nicht getätigt, wenn sie gewusst hätte, dass der Weihnachtsmarkt nicht stattfindet (subjektive Wesentlichkeit); gleiches gilt nach Treu und Glauben für einen Dritten in der Situation von Frau Huber (objektive Wesentlichkeit). Für das buchende Reisebüro bzw. das Hotel war dieser Umstand auch erkennbar,

6

Willensmängel beim Vertragsabschluss

da Frau Huber bei der Buchung explizit erwähnte, dass sie nur auf Grund des schönen Weihnachtsmarktes nach Stuttgart reisen wolle. Es ist also für beide Parteien zum Vertragsinhalt geworden, dass Frau Huber mit ihrer Nichte nach Stuttgart reisen und dort übernachten will, um den Weihnachtsmarkt zu besuchen. Der Besuch des Weihnachtsmarkts ist Teil des Vertragszwecks. Frau Huber kann daher die Buchung der Hotelübernachtungen wegen Grundlagenirrtums gemäss Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR i.V.m. Art. 31 Abs. 1 OR anfechten. Der Grundlagenirrtum bezieht sich in der Regel auf gegenwärtige oder vergangene Sachverhalte. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kann der Grundlagenirrtum aber auch hinsichtlich eines künftigen Sachverhaltes geltend gemacht werden, falls die Gegenpartei erkennen konnte, dass der Irrende den Eintritt des zukünftigen Ereignisses als sicher und somit als Vertragsvoraussetzung betrachtete (vgl. BGE 117 II 218 ff.). Genau genommen müssen sich die Parteien dieses Eintritts aber nicht sicher sein. Vielmehr genügt, dass sie den Eintritt (oder auch das Ausbleiben) des zukünftigen Ereignisses zum Vertragsbestandteil machen. Bei risikoreichen und spekulativen Geschäften ist ein Grundlagenirrtum in der Regel zu verneinen (vgl. BGE 109 II 105). Denn in diesen Fällen erwartet und hofft die eine Partei oft gerade auf eine andere Entwicklung als die andere (Beispiel: Call- oder Put-Optionen). Es ist deshalb nicht davon auszugehen, sie hätten die eine oder andere Entwicklung zur Vertragsbedingung gemacht. Vielmehr ist das Risiko Teil des Geschäfts. Beispiel: Ein zum Preis von Bauland gekauftes Grundstück wird nicht erschlossen, sondern aus der Bauzone ausgeschieden. Der Käufer kann sich auf Grundlagenirrtum berufen (BGE 109 II 105 ff., BGE 98 II 15 ff.). Dadurch, dass der Käufer den Preis von Bauland bezahlte, brachten die Parteien zum Ausdruck, dass es im Vertrag um den Kauf von Bauland geht (vgl. dazu BGE 102 II 97). Selbst wenn sie sich nicht sicher sein konnten, ob das Bauland erschlossen (oder z.B. eingezont) wird, haben sie dieses Ereignis doch zum Bestandteil ihres Vertrags gemacht. Anders lägen die Dinge, wenn der Käufer angesichts der Ungewissheit der Entwicklung einen tieferen Preis bezahlt und damit spekuliert: Wird das Land erschlossen, erzielt er einen Gewinn, wird es nicht erschlossen, muss er den Verlust tragen. Das wissen beide Parteien. Der Käufer kann sich im Verlustfall nicht auf Grundlagenirrtum berufen. Der Grundlagenirrtum erfasst nicht nur Fehlvorstellungen über Tatsachen und Entwicklungen. Auch Rechtsirrtümer können Grundlagenirrtümer sein. Der Grundlagenirrtum steht in Anspruchskonkurrenz zur Mängelhaftung des Kauf- und Mietvertrags. Im Fall mangelhafter Kauf- oder Mietsachen kann sich der Käufer oder Mieter also entweder auf seine Gewährleistungsrechte (Art. 192 ff., Art. 197 ff. OR für den Kaufvertrag und Art. 256, 258 ff. OR für den Mietvertrag) oder auf den Grundlagenirrtum berufen. Demgegenüber ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts in werkvertraglichen Gewährleistungsfällen (Art. 368 ff. OR) die Berufung auf den Grundlagenirrtum ausgeschlossen.

6.1.3

Rechnungsfehler

Nach Art. 24 Abs. 3 OR sind „blosse Rechnungsfehler“ und ein „offener Kalkulationsirrtum“ zu berichtigen. Damit ein „blosser Rechnungsfehler“ oder ein „offener Kalkulationsirrtum“ vorliegt, müssen die einzelnen Berechnungselemente Gegenstand des Vertrages sein, und das Resultat muss auf einem Fehler beru-

69

70

Kapitel II – Vertragsschluss

hen (vgl. BGE 119 II 341 ff.). Der Vertrag ist von Anfang an gültig (mit Berichtigung) und kann von keiner Partei in Frage gestellt werden. Beispiel: Hans möchte ein Grundstück von 578 m2 an Kurt verkaufen. Der Kaufpreis wird auf der Grundlage des ortsüblichen Preises von CHF 250/m2 berechnet. Hans unterläuft ein Fehler bei der Multiplikation (er multipliziert 250 mit 478), und er verlangt von Kurt insgesamt CHF 119 500 statt CHF 144 500. Hans und Kurt einigen sich auf diesen zu geringen Kaufpreis. Gemäss Art. 24 Abs. 3 OR wird der Vertrag aber berichtigt, und Hans erhält den richtigen Kaufpreis.

6.2 Die Voraussetzungen der absichtlichen Täuschung im Überblick: 1. Täuschung über Tatsachen – Vorspiegeln falscher Tatsachen – Unterdrücken von Tatsachen – Schweigen bei Aufklärungspflicht aus Gesetz, Vertrag, Treu und Glauben 2. Absicht (Vorsatz) 3. Irrtum (Motivirrtum; muss nicht wesentlich sein)

Absichtliche Täuschung

Ein Vertrag kann nach Art. 28 Abs. 1 OR angefochten werden, wenn der Irrende durch die Gegenseite absichtlich getäuscht wurde. Seitens des Irrenden liegt ein Motivirrtum vor, wobei der Irrtum nicht wesentlich im Sinne von Art. 23 und Art. 24 OR sein muss, da der Vertragspartner nicht schutzwürdig ist. Der Grund zur Anfechtung der absichtlichen Täuschung liegt in der Beeinträchtigung der Entschlussfreiheit, und nicht etwa in der Arglist der Täuschung. Die Täuschungshandlung besteht in der Vorspiegelung falscher oder im Verschweigen vorhandener Tatsachen (vgl. BGE 116 II 431). Aus dieser Definition geht hervor, dass sich die Täuschung auf Tatsachen beziehen muss, d.h. auf objektiv feststellbare Zustände oder Ereignisse tatsächlicher oder rechtlicher Art. Diese Tatsachen können sowohl äussere (z.B. die Zahlungsfähigkeit) als auch innere Eigenschaften (z.B. den Leistungswillen) betreffen. 

4. Kausalität



Im Regelfall erfolgt die Täuschung durch ein aktives Tun. Der Täuschende behauptet z.B. wahrheitswidrig bestimmte Tatsachen („mit dem Fahrzeugmotor hatte ich keinerlei Probleme“), sichert nicht vorhandene Eigenschaften des Vertragsgegenstandes zu („das Fahrzeug ist unfallfrei“) oder unterdrückt bestimmte Tatsachen (Zurückdrehen des Tachometers; Übermalen von Roststellen). Eine Täuschung durch Schweigen kommt nur dann in Betracht, wenn ausnahmsweise eine Aufklärungspflicht besteht. Die Vertragspartner sind nicht generell verpflichtet, einander über sämtliche Umstände aufzuklären. Insbesondere muss man nicht einen potentiellen Vertragspartner von sich aus über mögliche Nachteile oder Schwächen des Vertrags informieren. Eine Aufklärungspflicht kann sich aber aus besonderer gesetzlicher Vorschrift, aus Vertrag oder aus dem Grundsatz von Treu und Glauben ergeben (s. auch vorne, II/1.1). Ob eine solche Aufklärungspflicht konkret vorliegt, ist im Einzelfall zu bestimmen. Eine Aufklärungspflicht besteht mit Bezug auf Umstände, die für den Vertragsabschluss wesentlich sind, sofern der Täuschende dies erkennt.

Die Täuschung muss absichtlich, d.h. vorsätzlich, erfolgen. Absicht ist zu bejahen, wenn der Täuschende die Unrichtigkeit des Sachverhaltes kennen muss. Es genügt aber auch, wenn ohne Kenntnis der konkreten Tatsachen aufs Geratewohl Angaben gemacht werden. In solchen Fällen beabsichtigt der Täuschende nicht eine Irreführung per se, sondern nimmt in Kauf, dass seine Aussagen nicht der Wahrheit entsprechen (Eventualvorsatz ist auch ein Vorsatz, vgl. BGE 53 II 143).

6

Willensmängel beim Vertragsabschluss

71

Die Täuschung muss beim Getäuschten einen Irrtum hervorrufen oder aufrechterhalten, welcher für den Entschluss zum Vertragsabschluss kausal ist. Der Irrende darf also zum einen den wahren Sachverhalt nicht gekannt haben und zum anderen hätte er bei Kenntnis der wahren Tatsachen den Vertrag nicht bzw. nicht mit diesem Inhalt abschliessen dürfen. Der Vertrag ist für den Getäuschten unverbindlich, d.h. er kann den Vertrag nach Art. 31 OR anfechten. Zudem ist der Täuschende zur Leistung von Schadenersatz (aus culpa in contrahendo oder unerlaubter Handlung, Art. 41 OR) verpflichtet.

6.3

Drohung

Wie die absichtliche Täuschung beeinträchtigt auch die Drohung nach Art. 29 OR die Willensfreiheit einer Partei beim Vertragsabschluss. Der Vertrag kann angefochten werden, wenn eine Partei vom Vertragspartner oder von einem Dritten durch Erregung begründeter Furcht widerrechtlich zum Abschluss eines Vertrages bewegt wird. Die bedrohte Vertragspartei hätte den Vertrag nicht geschlossen, wäre sie nicht durch die Androhung eines Übels in Furcht geraten. Damit der Vertrag angefochten werden kann, muss eine begründete Furcht beim Bedrohten vorliegen. Art. 30 Abs. 1 OR erklärt nicht abschliessend, in welchen Fällen von einer begründeten Furcht gesprochen werden kann. Massgebend ist aber eine objektive Begründetheit: Die Drohung muss ein solches Gewicht besitzen, dass sie objektiv geeignet ist, jemandes Willensfreiheit zu beeinträchtigen. Das Übel muss der Vertragspartei selbst oder einer ihr nahe stehenden natürlichen Person angedroht worden sein. Eine weitere Voraussetzung stellt die Widerrechtlichkeit der Drohung dar. Man spricht hier von der Widerrechtlichkeit des Mittels, d.h. das angedrohte Übel muss widerrechtlich sein. Darunter fällt etwa die Bedrohung von Leib und Leben, die Drohung mit Vertragsbruch oder die Drohung mit einer Strafanzeige, wenn kein innerer Zusammenhang mit dem Vertrag besteht (z.B. die Drohung, ein Betäubungsmitteldelikt anzuzeigen, wenn der Betreffende sein Fahrzeug nicht günstig an den Drohenden verkauft). Zur Drohung mit der Geltendmachung eines Rechts s. Art. 30 Abs. 2 OR. Der Vertrag ist für den Bedrohten nach Art. 29 Abs. 1 OR unverbindlich, d.h. anfechtbar. Überdies hat der Drohende Schadenersatz (aus unerlaubter Handlung, Art. 41 OR) zu leisten.

6.4

Geltendmachung des Willensmangels

Die Geltendmachung der Unverbindlichkeit ist für alle Arten von Willensmängeln in Art. 31 OR festgehalten. Die Anfechtung wirkt grundsätzlich ex tunc, also zurück auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses. Entsprechend sind die Rückabwicklungsansprüche nicht vertraglicher Natur, sondern erfolgen nach Bereicherungsrecht (Art. 62 ff. OR) und Sachenrecht (Art. 641 Abs. 2 und Art. 975 ZGB). Bei Dauerschuldverhältnissen (z.B. Miete, Arbeitsvertrag) wirkt die Anfechtung jedoch als Kündigung ex nunc, d.h. für die Zukunft ab dem Zeitpunkt der Anfechtung (BGE 129 III 320). Bereits erbrachte Leistungen werden entsprechend nicht rückabgewickelt.

Die Voraussetzungen der Drohung im Überblick: 1. Drohung 2. Begründete Furcht 3. Widerrechtlichkeit 4. Kausalität

72

Kapitel II – Vertragsschluss

Zur Anfechtung des Vertrages ist nur derjenige berechtigt, welcher dem Willensmangel unterlegen ist. Die Anfechtungserklärung bedarf keiner besonderen Form, ist jedoch innert Jahresfrist abzugeben. Lässt der Betroffene diese Frist unbenutzt ablaufen, gilt der Vertrag als genehmigt (Art. 31 Abs. 1 OR). Die Frist beginnt in den Fällen des Irrtums und der Täuschung mit der Entdeckung (sicheren Kenntnis), in den Fällen der Furcht mit deren Beseitigung zu laufen (Art. 31 Abs. 2 OR). Diese Jahresfrist ist eine Verwirkungsfrist und kann nicht wie eine Verjährungsfrist angehalten oder unterbrochen werden. In Art. 31 OR ist keine absolute Frist (wie z.B. 10 Jahre bei Art. 60 OR) vorgesehen. Es gilt jedoch zu beachten: Will der Anfechtende vom Anspruchsgegner eine Geldleistung zurückfordern, so muss er zusätzlich zur Anfechtungsfrist gemäss Art. 31 OR die Verjährungsfrist gemäss Art. 67 OR einhalten: Sie beträgt 1 Jahr ab Kenntnis des Bereicherungsanspruchs, in jedem Fall aber 10 Jahre ab Entstehung dieses Anspruchs. Da nun die Anfechtung ex tunc wirkt, entsteht der Bereicherungsanspruch rückwirkend zum Zeitpunkt, an dem der Vertrag geschlossen wurde. Mit anderen Worten: Sind seit dem Abschluss des Vertrags mehr als 10 Jahre vergangen, kann der Anfechtende seine Geldleistung nicht mehr zurückverlangen, auch wenn er den Vertrag rechtzeitig angefochten hat (s. dazu den in der Rechtswissenschaft berühmten Picasso-Entscheid, BGE 114 II 131). Bei der Irrtumsanfechtung gilt es zu beachten: 



7

Gemäss Art. 25 OR ist die Berufung auf den Irrtum unstatthaft, wenn sie Treu und Glauben widerspricht. Insbesondere muss der Irrende den Vertrag gelten lassen, wie er ihn verstanden hat, sobald sich der andere hierzu bereit erklärt. Alles andere liefe auf ein widersprüchliches Verhalten hinaus, das nicht zu schützen ist. Art. 26 OR legt fest, dass der Irrende, der den Vertrag nicht gegen sich gelten lässt, seinem Vertragspartner das negative Interesse ersetzen muss (und wo es der Billigkeit entspricht, sogar weiteren Schaden). Von seiner Ersatzpflicht wird der Irrende nur befreit, wenn sein Vertragspartner den Irrtum kannte oder hätte kennen sollen. Im Fall des Erklärungsirrtums wird der Irrende somit stets schadenersatzpflichtig (denn hätte sein Vertragspartner den Irrtum erkennen sollen, wurde der Vertrag mit dem richtigen Inhalt abgeschlossen und der Erklärungsirrtum ist ausgeschlossen, s. dazu II/3.1 und II/6.1.1). Im Fall des Grundlagenirrtums ermöglicht Art. 26 OR im Zusammenspiel mit der culpa in contrahendo (welche den Vertragspartner des Irrenden bei Verschulden zu Schadenersatz verpflichtet) eine Verteilung der Anfechtungsfolgen je nach Verschulden der Vertragspartner an der Fehlvorstellung.

Stellvertretung

Im Geschäftsverkehr besteht oft das Bedürfnis, sich von andern Personen vertreten zu lassen. Die Stellvertretung ist in Art. 32-39 OR geregelt. Vorbehalten bleiben gemäss Art. 40 OR die besonderen Vorschriften in Bezug auf die Vollmacht der Vertreter und Organe von Gesellschaften (Art. 55 ZGB und s. z.B. Art. 718 OR), der Prokuristen (Art. 458 ff. OR) und anderer Handlungsbevollmächtigter (Art. 462 OR). Sodann enthält das ZGB besondere Regeln zur Stellvertretung (s. hinten II/7.1), ebenso wie der OR BT für bestimmte Verträge (s. z.B. Art. 348b oder Art. 401 OR).

7

Der Stellvertreter gibt eine eigene Willenserklärung ab und unterscheidet sich dadurch vom Boten, der lediglich eine fremde Willenserklärung übermittelt. Beispiel: A will ein Bild, das er in der Galerie des B gesehen hat, käuflich erwerben: A lässt durch X einen Brief überbringen, worin er dem B CHF 5 000 für das Bild bietet. X ist Bote. A beauftragt X, dem B zu erklären, er kaufe das Bild im Auftrag und im Namen des A. X ist echter (oder direkter) Stellvertreter. A befürchtet, dass B ihm das Bild nicht verkaufen will. Er beauftragt daher X das Bild zu kaufen, ohne zu erkennen zu geben, dass er für A handelt. X ist unechter (oder indirekter) Stellvertreter. Bei der Stellvertretung ist zwischen echter (oder direkter) und unechter (oder indirekter) Stellvertretung zu unterscheiden: Bei der echten Stellvertretung tritt der Stellvertreter in fremdem Namen auf; die Vertragswirkungen treten deshalb direkt beim Vertretenen ein. Bei der unechten Stellvertretung tritt der Stellvertreter dagegen in eigenem Namen auf (handelt aber auf fremde Rechnung); infolgedessen wird der Vertretene selbst verpflichtet (und muss alsdann die Wirkungen auf den Vertretenen übertragen). Ob der Vertretene verpflichtet wird oder nicht, beurteilt sich vor allem nach folgenden Kriterien: Verfügt der Vertreter über eine Vertretungsvollmacht? Hat sich der Vertreter als solcher zu erkennen gegeben?

7.1

Ermächtigung zur Vertretung

Die Vertretungsbefugnis kann sich aus dem Gesetz ergeben oder durch ein Rechtsgeschäft begründet werden. Eine durch Rechtsgeschäft erteilte Ermächtigung (Art. 34 Abs. 1 OR) wird als Vollmacht bezeichnet. Sie bedarf grundsätzlich keiner besonderen Form und wird nach dem Zugangsprinzip wirksam (BGE 78 II 369). Damit der Vertreter seine Vollmacht ausüben kann, ist jedoch ein Zweifaches erforderlich: 



Der Vertreter muss urteilsfähig (Art. 16 ZGB), jedoch nicht zwingend auch handlungsfähig sein (Art. 17 ZGB). Folglich können auch urteilsfähige Minderjährige oder Verbeiständete als Vertreter rechtsgültig Verträge zum Abschluss bringen. Zudem muss der vom Vertreter abzuschliessende Vertrag der Vertretung zugänglich sein. Dies trifft für schuldrechtliche Verträge im Allgemeinen zu. Dagegen sind etwa Verlobung, Heirat oder Verfügung von Todes wegen (Testament) vertretungsfeindliche Rechtshandlungen.

Die Bevollmächtigung basiert regelmässig auf einem schuldrechtlichen Grundverhältnis. Meistens handelt es sich dabei um einen Auftrag oder Arbeitsvertrag. Beispiel: A erteilt B den Auftrag (Art. 394 OR), gegen Entgelt Kaufinteressenten zu suchen und den Kaufvertrag abzuschliessen, sobald er einen geeigneten Käufer gefunden hat. Damit erteilt er ihm zugleich auch die Vollmacht, den Gegenstand zu verkaufen (vgl. Art. 396 OR). Hier ist B nicht nur befugt zu handeln, er ist dazu

Stellvertretung

73

74

Kapitel II – Vertragsschluss

auch verpflichtet. A seinerseits hat gegebenenfalls das versprochene Entgelt auszurichten. Vollmacht und Grundverhältnis haben rechtlich je ihr eigenes Schicksal. Faktisch hängen sie aber eng zusammen. Wer z.B. jemanden beauftragt, hat damit vermutungsweise auch die zur Ausführung des Auftrags erforderliche Vollmacht erteilt (Art. 396 Abs. 2 OR, zu den Ausnahmefällen s. Abs. 3). Umgekehrt wird vermutet, dass die erteilte Vollmacht bei Beendigung des Auftrags wieder entfällt. Beispiele: Ein zur Leitung eines grösseren Bauprojektes beauftragter Architekt beauftragt zu Lasten der Auftraggeberin für die Klärung technischer Fragen einen spezialisierten Ingenieur. Diese Rechtshandlung gehört zur Ausführung des Auftrages und bedarf deshalb keiner besonderen Ermächtigung. Der Rechtsanwalt benötigt für den Abschluss eines Vergleichs für seine Klienten nicht nur einen Auftrag, sondern auch eine Vollmacht. Eine Vollmacht erlischt in folgenden Fällen: Bei Erreichen des beabsichtigten Zwecks, Verzicht des Bevollmächtigten, Zeitablauf, Eintritt einer Bedingung sowie bei Tod, Verlust der Handlungsfähigkeit oder Konkurs des Vollmachtgebers oder des Bevollmächtigten (Art. 35 Abs. 1 OR). Die Vollmacht kann jederzeit durch den Vertretenen widerrufen werden (Art. 34 Abs. 1 OR). Das jederzeitige Widerrufsrecht ist unverzichtbar (Art. 34 Abs. 2 OR). Neben der gewillkürten Stellvertretung gibt es auch die gesetzliche Stellvertretung, also die Einräumung von Vertretungsmacht von Gesetzes wegen. Gesetzliche Vertreter sind z.B. die Eltern für ihre Kinder (Art. 304 Abs. 1 ZGB), der Ehegatte für die eheliche Gemeinschaft (Art. 166 ZGB) und für seinen urteilsunfähigen Partner (Art. 374 ZGB), die Organe für die juristische Person (Art. 55 ZGB und z.B. Art. 718 OR). Arten von Vollmachten: Nach dem Umfang der Vollmacht werden unterschieden: 

Spezialvollmacht, die ein ganz bestimmtes Geschäft betrifft. Beispiel: Kauf des Grundstücks Nr. 916 in der Gemeinde X.



Gattungsvollmacht, die eine ganz bestimmte Art von Geschäften betrifft. Beispiel: Ein Kassierer in der Migros darf sämtliche angebotenen Waren verkaufen (aber nicht z.B. aus seiner Kasse ein Darlehen gewähren).



Generalvollmacht, die alle Geschäfte wirtschaftlicher Natur bezüglich eines bestimmten Vermögens betrifft. Beispiel: Eine Anwaltsvollmacht.

Nach der für eine Handlung nötigen Anzahl Vertreter differenziert man ferner: 

Einzelvollmacht: Ein Vertreter ist allein zur Vertretung befugt.

7



Kollektivvollmacht: Mehrere Bevollmächtigte können den Vertretenen nur gemeinsam vertreten.

Für die im Wirtschaftsverkehr besonders wichtigen kaufmännischen Stellvertretungen wird der Umfang der Vertretungsbefugnis vom Gesetz wie folgt umschrieben: 





Prokura als weitestgehende Handlungsvollmacht, welche den Prokuristen ermächtigt, alle Rechtsgeschäfte mit Wirkung für den Geschäftsherrn vorzunehmen, die der Zweck des Gewerbes oder des Geschäfts mit sich bringen kann (Art. 459 f. OR). Generalhandlungsbevollmächtigung, die enger ist als die Prokura und nur den Abschluss solcher Rechtsgeschäfte erfasst, die das Gewerbe oder der Geschäftszweig gewöhnlich mit sich bringen (Art. 462 OR). Vollmacht des Handelsreisenden, die im Zweifel nur die Vermittlung, und nicht auch den Abschluss von Rechtsgeschäften umfasst (Art. 348b Abs. 1 OR).

7.2

Handeln im Namen des Vertretenen und Eigengeschäft

Der Vertreter muss im Namen des Vertretenen handeln, um direkte Rechtswirkungen zu erzeugen. Er muss sich also seinem Vertragspartner als Stellvertreter zu erkennen geben. Tut er dies, so treten die Wirkungen des Vertrags beim Vertretenen, und nicht beim Vertreter ein (Art. 32 Abs. 1 OR). Beispiel: B erklärt gegenüber C ausdrücklich: „Ich kaufe im Namen von A ein Auto.“ Der Vertretene wird auch dann berechtigt und verpflichtet, wenn der Vertreter sich nicht als solcher zu erkennen gibt, aber 

der Vertragspartner aus den Umständen auf das Vertretungsverhältnis schliessen musste (Art. 32 Abs. 2 OR; Vertrauensprinzip); Beispiele: Die Angestellte am Bankschalter erklärt stillschweigend durch den Ort und die Art ihrer Tätigkeit, dass sie für die Geschäftsherrin (die Bank) handelt. B hat wiederholt im Namen von A bei C ein Auto gekauft. Beim Kauf des nächsten Autos erklärt er nicht mehr ausdrücklich, er vertrete A.



oder wenn es ihm gleichgültig war, mit wem er den Vertrag schliesse (Art. 32 Abs. 2 OR). Die Gefahr, dass ihm durch den Eintritt der Vertretungswirkung ein vielleicht missliebiger Vertragspartner aufgedrängt wird, besteht in solchen Fällen nicht. Diese Voraussetzung dürft in der Regel bei Geschäften des Alltagsgebrauchs erfüllt sein. Beispiel: Manuela beauftragt Karin, drei Nussgipfel zu kaufen. Karin tätigt im Café Gschwend den Kauf. Der Vertrag kommt zwischen Manuela und dem Gschwend zustande.



Schliesslich kann es sein, dass sich der Vertreter als solcher zu erkennen gibt, sein Vertragspartner aber nicht weiss, wer der Vertretene ist. Der Vertreter handelt „für wen es angeht“.

Stellvertretung

75

76

Kapitel II – Vertragsschluss

Zusammenfassung: Voraussetzungen der (echten, direkten) Stellvertretung: - Ermächtigung (durch Gesetz oder Vollmacht) - Vertretungsfreundliches Rechtsgeschäft - Urteilsfähigkeit des Vertreters - Vertreter gibt sich also solcher zu erkennen (oder der Vertragspartner musste auf das Vertretungsverhältnis schliessen oder es ist ihm egal, mit wem er den Vertrag schliesst).

Sind die Voraussetzungen der (echten, direkten) Stellvertretung erfüllt, kommt der Vertrag direkt zwischen dem Dritten und dem Vertretenen zustande. Der Vertretene muss alle Handlungen des Vertreters gegen sich gelten lassen. Der Vertreter selbst wird dem Dritten gegenüber weder berechtigt noch verpflichtet. Hat sich der Vertreter in einem Irrtum befunden oder liegen sonstige Willensmängel vor, sind diese vom Vertretenen geltend zu machen. Beispiel: B kauft als Vertreter von A ein Bild, das angeblich von van Gogh stammt, in Wirklichkeit jedoch gefälscht ist. Der Irrtum von B über die Echtheit des Bildes ist ein qualifizierter Motivirrtum, d.h. ein Grundlagenirrtum (Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR), und berechtigt A zur Anfechtung. Handelt der Vertreter nicht im Namen des Vertretenen und sind die Voraussetzungen von Art. 32 Abs. 2 OR nicht erfüllt, so wird der Vertreter und nicht der Vertretene berechtigt und verpflichtet. Es liegt ein Eigengeschäft des Vertreters vor. Es kann sein, dass der Vertreter und der Vertretene dies so vereinbart haben: Der Vertreter soll in eigenem Namen, aber für Rechnung des Vertretenen Geschäfte abschliessen. Man spricht in diesen Fällen von einer unechten (oder indirekten) Vertretung, da es sich nicht um eine Vertretung i.S.v. Art. 32 ff. OR handelt. Es „bedarf […] einer Abtretung der Forderung oder einer Schuldübernahme nach den hierfür geltenden Grundsätzen“ (Art. 32 Abs. 3 OR), damit der Vertretene berechtigt und verpflichtet wird. Eine besondere Regel gilt jedoch im Auftragsrecht: „Hat der Beauftragte für Rechnung des Auftraggebers in eigenem Namen Forderungsrechte gegen Dritte erworben, so gehen sie auf den Auftraggeber über, sobald dieser seinerseits allen Verbindlichkeiten aus dem Auftragsverhältnisse nachgekommen ist“ (Art. 401 Abs. 1 OR). Hier gehen die Forderungen von Gesetzes wegen über, ohne dass es einer Zession (Art. 164 ff. OR) bedarf. Der praktisch häufigste Fall der indirekten Stellvertretung ist die Kommission (Art. 425 ff. OR). Der Kommissionär übernimmt die Aufgabe, gegen eine Provision in eigenem Namen, aber im Interesse bzw. auf Rechnung eines anderen den Einkauf oder Verkauf von beweglichen Sachen zu besorgen. Art. 401 OR gilt auch für die Kommission (s. Art. 425 Abs. 2 OR).

7.3

Stellvertretung ohne Ermächtigung

Handelt der Vertreter im Namen des Vertretenen, ohne im Besitze der erforderlichen Vertretungsmacht zu sein, entfaltet das Rechtsgeschäft für den Vertretenen grundsätzlich keine Wirkungen, es sei denn  

der Dritte ist in seinem guten Glauben, es bestehe ein Vertretungsverhältnis, zu schützen; oder der Vertretene genehmigt das Rechtsgeschäft nachträglich.

Zum Schutz des guten Glaubens Dritter (s. Art. 3 ZGB) legt das Gesetz folgendes fest: 

Art. 33 Abs. 3 OR: Der Vertretene gibt einem Dritten eine Vollmacht kund, die er überhaupt nicht erteilt hat oder die den Umfang der tatsächlichen Vollmacht überschreitet. Der Umfang der Vollmacht ist nach dem Vertrau-

7

ensprinzip zu eruieren. In diesem Umfang gilt der Vertreter dem Dritten gegenüber als ermächtigt. Beispiel: A teilt B mit, dass C für ihn verhandeln und Verträge abschliessen dürfe. A hat C gegenüber die Vollmacht auf CHF 100 000 beschränkt, dies B aber nicht mitgeteilt. B schliesst mit C einen Vertrag über CHF 1 Mio. Dieser Vertrag ist zwischen A und C entstanden. 

Art. 34 Abs. 3 OR: Die Vollmacht wird vom Vertretenen gegenüber dem Vertreter ganz oder teilweise widerrufen, jedoch ohne Mitteilung des Widerrufs an Dritte, denen sie ausdrücklich oder stillschweigend kundgegeben wurde. Der gutgläubige Dritte, dem der Widerruf nicht mitgeteilt wurde, muss ihn nicht gegen sich gelten lassen. Beispiel: Der Vertretene A teilt dem C mit, er habe B zum Vertragsabschluss ermächtigt. Wegen Meinungsverschiedenheiten mit B widerruft A die Vollmacht. Trotzdem verhandelt B mit C weiter und bringt den Vertrag zum Abschluss. A ist an diesen Vertrag gebunden, wenn er C den Widerruf nicht mitgeteilt hat und C auch nicht auf andere Weise davon Kenntnis bekommen hat und auch bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit keine Kenntnis haben konnte.



Art. 37 OR: Wenn das Erlöschen einer Vollmacht dem Bevollmächtigten nicht bekannt geworden ist und auch der Dritte davon keine Kenntnis hatte, wird der Fortbestand der Vollmacht von Gesetzes wegen fingiert. Beispiel: C verlässt sich auf eine ihm von B mitgeteilte Vollmacht des A. Mit dem Tod von A erlischt auch die Vollmacht (Art. 35 Abs. 1 OR). Weder B noch C haben vom Tod des A und damit vom Erlöschen der Vollmacht Kenntnis erhalten und müssen bei der gebotenen Aufmerksamkeit auch keine Kenntnis davon haben. Unter diesen Umständen wird die Vertretungsmacht als fortbestehend betrachtet (Art. 37 OR), so dass der Vertrag zwischen C und den Rechtsnachfolgern von A zustande kommt.





Art. 36 Abs. 2 OR: Hier kommt zwar kein Vertrag zustande (da dem Vertreter im Vergleich zu Art. 37 OR der gute Glaube fehlt), doch wird der Vertretene dem gutläubigen Dritten gegenüber schadenersatzpflichtig. Ausserhalb des OR AT enthalten z.B. das Recht der einfachen Gesellschaft (Art. 543 Abs. 3 i.V.m. Art. 535 OR) und dasjenige der Kollektivgesellschaft (Art. 563 f. OR) Bestimmungen zum Schutz des gutgläubigen Dritten.

Ist der Vertragspartner des nicht ermächtigten Vertreters nicht in seinem guten Glauben zu schützen, gibt es nur noch einen Weg, auf dem der Vertretene an den Vertrag gebunden sein kann: Er muss den Vertrag genehmigen (Art. 38 Abs. 1 OR). Beispiel: B verkauft in Vertretung des A dessen Briefmarkensammlung für CHF 1 000, obwohl A einen Mindestverkaufspreis von CHF 1 500 festgesetzt hatte. Der Kaufvertrag ist für A grundsätzlich unverbindlich. Er kann ihn aber nachträglich genehmigen.

Stellvertretung

77

78

Kapitel II – Vertragsschluss

Der Vertragspartner kann vom Vertretenen verlangen, dass er sich innert angemessener Frist entscheidet, ob er den Vertrag genehmigen will oder nicht (Art. 38 Abs. 2 OR). Lehnt der Vertretene den Vertrag (ausdrücklich oder stillschweigend) ab, wird er nicht Vertragspartei. Aber auch der vollmachtlose Vertreter ist nicht an den Vertrag gebunden (denn er hat ihn nicht in eigenem Namen abgeschlossen). Der Vertreter wird aber dem Dritten gegenüber schadenersatzpflichtig (Art. 39 OR). Der Ersatzanspruch geht auf das negative Interesse, muss den Dritten also so stellen, als hätte er den Vertrag nie abgeschlossen (Art. 39 Abs. 1 OR). Für den qualifizierten Tatbestand von Art. 39 Abs. 2 OR, bei dem der Richter auch den Ersatz des positiven Vertragsinteresses zusprechen kann (und damit den Dritten so stellen muss, als wäre der Vertrag gültig), sind folgende Voraussetzungen zu prüfen:   

Der Dritte war gutgläubig und durfte dies auch sein; den Vertreter trifft ein Verschulden; die weitergehende Haftung muss der Billigkeit entsprechen.

Eine Haftung nach Art. 39 OR entfällt, wenn der Vertreter die Genehmigung des Vertretenen vorbehalten hat. Denn durch einen Genehmigungsvorbehalt wird der Dritte vom Fehlen der Vollmacht in Kenntnis gesetzt. Die Verjährung der Ansprüche aus Art. 39 OR richtet sich nach Art. 60 OR.

7.4

Selbstkontrahieren und Doppelkontrahieren

Von Selbstkontrahieren wird gesprochen, wenn jemand als Vertreter eines anderen mit sich selbst im eigenen Namen einen Vertrag abschliesst. Im Falle des Doppelkontrahierens tritt ein Vertreter als Vertreter zweier Vertragsparteien auf. Solche Geschäfte tragen die Gefahr von Interessenkollisionen in sich, weshalb sie grundsätzlich unzulässig (und damit nichtig) sind. In Fällen, in denen der Vertretene den Vertreter zu einem solchen Geschäftsabschluss besonders ermächtigt hat oder die Natur des Geschäfts die Gefahr der Benachteiligung des Vertretenen ausschliesst (z.B. weil ein Marktpreis besteht), können solche Konstellationen zulässig sein. Beispiel: Eine Bank erhält von einem Kunden den Auftrag, 50 Aktien XY bestens zu kaufen; von einem anderen Kunden erhält sie den Auftrag, 50 Aktien XY bestens zu verkaufen. Die Bank wird die Transaktion intern zu einem aktuellen Börsenkurs durchführen. Im Bereich der Kommission (Art. 425 ff. OR) ist der Selbsteintritt unter bestimmten Voraussetzungen zulässig (s. Art. 436-438 OR).

8 1.

Fragen und Fälle zum Selbststudium Schreibt der Staat Ihnen vor: Ob Sie einen Vertrag schliessen dürfen? Mit wem Sie einen Vertrag schliessen dürfen? Welchen Inhalt der Vertrag haben soll? In welcher Form Sie einen Vertrag abschliessen?

8

2.

Für C eröffnet sich die einmalige Chance, für einen Reiseveranstalter als Animateur auf den Malediven zu arbeiten. Einziger Haken: Arbeitsbeginn ist bereits in 2 Tagen. C, der noch als Sportartikelverkäufer arbeitet, bittet seinen Chef, das Arbeitsverhältnis per sofort aufzulösen. Wäre eine solche Vereinbarung im Hinblick auf die in Art. 335c OR festgehaltene Kündigungsfrist von bis zu 3 Monaten rechtens?

3.

Mieter M und Vermieter V sind sich über die Wohnung und den Mietzins einig. Ist ein Vertrag zustande gekommen, falls sie sich noch uneinig sind über: a.

die Art der Bezahlung: M möchte den Mietzins per Bank überweisen, V wünscht Barzahlung;

b.

die Auflage von V, dass M einmal pro Monat das Treppenhaus reinigen soll;

c.

die Höhe der zu bezahlenden Kaution;

d.

die Anzahl der Haustürschlüssel, die M ausgehändigt werden sollen: M will fünf Schlüssel (da er drei Kinder hat), V verweigert dies.

4.

Sie erhalten folgenden an Sie persönlich adressierten Brief: „Dies ist ein Exklusivangebot für Sie zum Kauf von 10 Flaschen Rotwein ‚Vino nobile di Montepulciano‘, Jahrgang 2003 zu CHF 15 pro Flasche. Da dieses vorteilhafte Angebot kaum abzulehnen ist, gehen wir davon aus, dass Sie mit der Lieferung einverstanden sind und werden Ihnen den Rotwein zustellen, falls wir von Ihnen keine gegenteilige Antwort erhalten.“ Müssen Sie antworten bzw. das Angebot ablehnen, um nicht an den Vertrag gebunden zu sein?

5.

In einem Brief, abgeschickt am Dienstag, erklärt A dem Juwelier J, er wolle nun den Damenring für CHF 2 500, den er letzte Woche angesehen habe, kaufen. Der Brief trifft am Donnerstag um 9.00 h im Geschäft ein. In welchen Fällen hat er seine (briefliche) Willenserklärung rechtzeitig widerrufen? a.

Er telefoniert am Donnerstag 8.55 h und widerruft seine Annahme.

b.

Er telefoniert am Freitag und widerruft.

c.

Er telefoniert am Freitag und widerruft seine Annahme, der Verkäufer hat aber den Brief noch nicht gelesen.

d.

Er telefoniert am Donnerstag um 8.00 h, teilt aber seinen Widerruf einem anderen Verkäufer mit. Der Widerruf wird nicht weitergeleitet.

e.

Er telefoniert am Donnerstag um 7.00 h und hinterlässt die Widerrufsmitteilung auf dem Anrufbeantworter. Dieser wird am Donnerstag um 12.00 h abgehört.

f.

Er schickt am Mittwoch um 23.30 h einen Fax, welcher aber in der Verwaltung liegen bleibt und nicht an den Verkauf weitergeleitet wird.

g.

Er telefoniert am Mittwoch, obwohl er mit dem Verkäufer vereinbart hat, dass er schriftlich Bescheid geben wolle.

Fragen und Fälle zum Selbststudium

79

80

Kapitel II – Vertragsschluss

6.

Was besagt die „Ungewöhnlichkeitsregel“? Was besagt die „Unklarheitsregel“?

7.

Z bucht in einem Reisebüro telefonisch einen Flug nach Rom. Als Z die Rechnung bezahlt hat und die Reisebestätigung erhält, liegt ausserdem ein Blatt mit den Allgemeinen Geschäftsbedingungen bei. Auf Rückfrage hin erhält Z die Auskunft, dass das Reisebüro ohne diese Bestimmungen grundsätzlich keine Verträge abschliesse. Sind die AGB für Z verbindlich?

8.

Welchen Formerfordernissen müssen Verträge genügen, wenn der Gesetzgeber nichts Besonderes vorgesehen hat?

9.

Nachdem ein Lehrling einen halben Monat gearbeitet hat, stellt sich heraus, dass der Lehrvertrag die Formvorschrift verletzt. Art. 334a OR verlangt Schriftlichkeit, der Vertrag wurde jedoch nur mündlich abgeschlossen. Wie ist die Rechtslage?

10.

a.

Besteht trotzdem ein gültiger Lehrvertrag?

b.

Schuldet der Arbeitgeber dem Lehrling Lohn?

c.

Wie steht es mit den üblichen Schutzbestimmungen (Persönlichkeitsschutz, Kündigungsschutz usw.)? Sind diese für den Arbeitgeber verpflichtend?

Sind folgende Verträge gültig? a.

Vertrag über die Gewährung eines Darlehens an einen Drogensüchtigen, damit er sich Heroin kaufen kann;

b.

Vertrag über den Verkauf von Heroin zwischen einem Drogensüchtigen und einem Dealer;

c.

Sparvertrag zwischen einer Bank und einem Dealer, der sein (aus dem Drogenhandel stammendes) Geld anlegen will.

11.

In welche Gruppen und Untergruppen können die Fälle des Irrtums unterteilt werden?

12.

Vater V schliesst mit seiner Tochter T einen Unterhaltsvertrag ab. Er garantiert ihr bis zur Erfüllung des 28. Lebensjahres die hälftige Finanzierung ihres Studiums. Die andere Hälfte der Kosten will T auf Grund der finanziell schlechten Lage ihres Vaters selber aufbringen. Ein Jahr später findet T durch Zufall heraus, dass ihr Vater den grössten Teil seines Vermögens im Ausland angelegt hat. Es wäre ihm ein Leichtes, ihr das ganze Studium zu finanzieren. Kann sie mit Hilfe des OR den Unterhaltsvertrag anfechten?

13.

Welche Rechtsverhältnisse bestehen zwischen welchen beteiligten Personen, wenn eine Stellvertretung vorliegt? Welche Voraussetzung muss der Vertreter erfüllen, damit eine Stellvertretungswirkung eintritt?

14.

A beauftragt B mit dem Kauf von 50 Aktien der Firma XY-AG zu höchstens CHF 1 000 pro Stück. Da B diese Aktien zu einem günstigeren Kurs erwerben kann, kauft er im Namen und auf Rechnung des A 55 XY-Aktien für CHF 950 pro Stück. Wie ist die Rechtslage?

15.

Welche Kriterien sind für die Abgrenzung eines Auftrages von einer blossen Gefälligkeit massgebend?

81

Kapitel III – Vertragserfüllung Ist ein Vertrag gültig zustande gekommen, stellt sich die Frage nach den Pflichten, die er schafft. Das vorliegende Kapitel geht dieser Frage nach und behandelt die Voraussetzungen der richtigen Vertragserfüllung: Dazu muss   

die richtige Person an die richtige Person leisten (1), und zwar die inhaltlich richtige Leistung (2), auf die richtige Art und Weise, z.B. am richtigen Ort und zur richtigen Zeit (3).

Der Darstellung dieser Voraussetzungen folgt eine kurze Einführung in die Möglichkeiten, vertragliche Pflichten bedingt auszugestalten (4).

1

Die Beteiligten

1.1

Der Gläubiger

1.1.1

Erfüllung an den Gläubiger persönlich

Der Schuldner muss grundsätzlich an den Gläubiger leisten, es sei denn, der Schuldner sei ausnahmsweise zur Leistung an einen Dritten verpflichtet oder ermächtigt worden. Die Pflicht des Schuldners zur Leistung an einen Dritten kann sich z.B. aus folgenden Sachverhalten ergeben: 





Vereinbarte Pflicht: Der Schuldner wird vertraglich verpflichtet, an einen Dritten zu leisten. Er tut dies entweder für Rechnung des Gläubigers oder für Rechnung des Dritten. Im letzteren Fall spricht man von einem Vertrag zu Gunsten Dritter (dazu sogleich hinten). Nachträgliche Weisung des Gläubigers: Der Gläubiger kann einseitig und nachträglich den Schuldner anweisen, an einen Dritten zu leisten. Der Schuldner muss diese Anweisung akzeptieren, sofern für ihn mit der Leistung an den Dritten keine Nachteile verbunden sind (Art. 468 Abs. 2 OR). Gesetzliche Pflicht (und behördliche Anweisung): Beispiele: „Das Betreibungsamt hat Zahlungen für Rechnung des betreibenden Gläubigers entgegenzunehmen. Die Schuld erlischt durch die Zahlung an das Betreibungsamt“ (Art. 12 SchKG). „Erfüllt ein Ehegatte seine Unterhaltspflicht gegenüber der Familie nicht, so kann das Gericht dessen Schuldner anweisen, ihre Zahlungen ganz oder teilweise dem andern Ehegatten zu leisten“ (Art. 177 ZGB). S. zudem Art. 291 ZGB.

Ein Recht (d.h. Berechtigung, aber nicht Verpflichtung) des Schuldners zur Leistung an einen Dritten besteht in folgenden Fällen:

82

Kapitel III – Vertragserfüllung



Wenn der Schuldner unter bestimmten Voraussetzungen kraft Gesetz an einen Dritten leisten darf. Beispiele: Bei Annahmeverzug des Gläubigers oder anderer Verhinderung der Erfüllung ist der Schuldner berechtigt, sich durch Leistung an eine Hinterlegungsstelle zu befreien (Art. 92, Art. 96 OR). „Ist die Frage, wem eine Forderung zustehe, streitig, so kann der Schuldner die Zahlung verweigern und sich durch gerichtliche Hinterlegung befreien“ (Art. 168 Abs. 1 OR). Hinterlegung des Mietzinses nach Art. 259g Abs. 1 OR. „Mit der Hinterlegung gelten die Mietzinse als bezahlt“ (Abs. 2).





Wenn der Gläubiger den Schuldner ermächtigt hat, an einen Dritten zu leisten, z.B. wenn der Gläubiger dem Schuldner gegenüber ein Bankkonto angegeben hat (s. z.B. BGE 55 II 200). Wenn der Schuldner auf Grund der Verkehrsübung berechtigt ist, an einen Dritten zu leisten. Beispiel: Zahlung auf das Post- oder Bankkonto des Gläubigers ist nach Verkehrsübung zulässig, sofern nicht besondere Umstände dagegen sprechen (meist liegt hier aber ohnehin eine Ermächtigung seitens des Gläubigers vor, vgl. z.B. BGE 55 II 200).

1.1.2

Vertrag zu Gunsten Dritter

Beim Vertrag zu Gunsten Dritter liegt ein Vertragsabschluss zwischen dem Gläubiger X und dem Schuldner Y vor. X lässt sich von Y eine Leistung an den Dritten Z versprechen. Dabei handelt X im eigenen Namen und auf eigene Rechnung. X kann nach Art. 112 Abs. 1 OR ohne weiteres von Y Vertragserfüllung verlangen und somit Leistung an den Dritten fordern.

Schuldner Y Deckungsverhältnis

Eigenes Forderungsrecht (nur beim echten Vertrag zugunsten Dritter)

Gläubiger X

Begünstigter Z Valutaverhältnis

Wie aber sieht die Rechtslage für den Begünstigten Z aus? Kann Z aus dem Vertrag zwischen X und Y Leistung von Y fordern? Die Rechtsstellung von Z hängt in erster Linie von der Willensmeinung der beiden Vertragsschliessenden X und Y sowie der Verkehrsübung ab (Art. 112 Abs. 2 OR).

1

Beim unechten Vertrag zu Gunsten Dritter hat der Begünstigte kein eigenes Forderungsrecht gegenüber dem Schuldner. Gemäss Art. 112 Abs. 1 OR kann in diesem Fall lediglich der Gläubiger verlangen, dass an den Dritten geleistet wird. Im Zweifelsfall ist ein solcher unechter Vertrag zu Gunsten Dritter anzunehmen. Beispiel: X verkauft ein Auto zu einem Verkaufspreis von CHF 8 000 an Y. Zufälligerweise beträgt die Höhe der Darlehenssumme, welche X dem Z schuldet, genau CHF 8 000. Nun können X und Y vereinbaren, dass Y den Kaufpreis in Höhe von CHF 8 000 an Z zu zahlen hat, um dabei gleichzeitig die Darlehensschuld von X gegenüber Z zu tilgen. In einem solchen Fall wird man annehmen dürfen, dass Z aus dem Vertrag zwischen X und Y kein eigenes Forderungsrecht erhalten soll. Nach Art. 112 Abs. 2 OR liegt ein echter Vertrag zu Gunsten eines Dritten dann vor, wenn der Dritte nicht bloss die Stellung eines Begünstigten hat, sondern dem begünstigten Dritten ein eigenständiges Forderungsrecht zuerkannt wird. Beim echten Vertrag zu Gunsten Dritter entspricht diese Rechtsfolge genau den Willensmeinungen der beiden Vertragsparteien sowie der Verkehrsübung. Beispiel: Die Eltern eröffnen für das Studium der Tochter ein Bankkonto. Man darf annehmen, dass die Tochter selbständig fordern können soll. Weitere Beispiele sind die Hinterlegung von Geld im Interesse eines Dritten sowie die Verträge im Rahmen der Personalvorsorge (Pensionskasse). Beim echten Vertrag zu Gunsten Dritter bestehen grundsätzlich zwei Grundverhältnisse: 



Deckungsverhältnis: X lässt sich als Gläubiger vom Schuldner Y die Leistung an den Dritten Z versprechen. X handelt in eigenem Namen und auf eigene Rechnung. Valutaverhältnis: Zwischen Z und X besteht kein Stellvertretungsverhältnis nach Art. 32 ff. OR, sondern ein Zuwendungsverhältnis. Auf Grund dieses Valutaverhältnisses zwischen X und Z wird ein Anspruch von Z gegen Y geschaffen. Y seinerseits verspricht zu leisten, weil gemäss Grundverhältnis zwischen ihm und X eine rechtliche Beziehung besteht, die diese Leistung von ihm verlangt.

1.1.3

Mehrzahl von Gläubigern

Dazu sei der „Lehrbuchentscheid“ BGE 140 III 152 ff. zitiert (ohne die zahlreichen Hinweise auf die Literatur und mit eigenen Hervorhebungen): „An einem Schuldverhältnis können sowohl auf Gläubiger- wie auf Schuldnerseite eine Mehrzahl von Personen beteiligt sein. Eine Mehrzahl von Gläubigern kann an ein und derselben Forderung im Sinne einer Einzelgläubigerschaft, einer gemeinschaftlichen Gläubigerschaft oder einer Teilgläubigerschaft berechtigt sein: 

Im Fall von Einzelgläubigerschaft ist jeder Gläubiger berechtigt, ohne Mitwirkung der andern (also selbständig), das Ganze und nicht nur einen Teil der Leistung zu verlangen. Der Schuldner hat dabei nur einmal zu leisten und wird dadurch befreit. Der wichtigste Typus der Einzelgläubigerschaft ist die in Art. 150 OR geregelte Solidargläubigerschaft, die vor allem beim gemeinsamen Bankkonto (‚compte-joint‘) von Bedeutung ist.

Die Beteiligten

83

84

Kapitel III – Vertragserfüllung





Bei der gemeinschaftlichen Gläubigerschaft steht die gesamte Forderung den Gläubigern ungeteilt zu, und zwar so, dass alle Gläubiger die Forderung nur gemeinsam geltend machen können. Umgekehrt kann der Schuldner sich nicht durch Leistung an einen einzelnen Gläubiger befreien, sondern nur durch Gesamtleistung an alle Gläubiger. (…) Bei der Teilgläubigerschaft sind mehrere Gläubiger unabhängig voneinander pro rata an einer teilbaren Forderung berechtigt, wobei die Leistung in ihrer Gesamtheit nur einmal zu erbringen ist. Jeder Gläubiger kann selbständig den ihm zustehenden Teil der Leistung verlangen und der Schuldner muss den entsprechenden Teil an jeden Gläubiger separat leisten. Die Teilforderungen bilden hier nur insoweit ein Ganzes (eine ganze Forderung), als sie aus dem gleichen Rechtsgrund entstanden sind.

Nach ganz herrschender Lehre ist Teilgläubigerschaft bei vertraglichen Obligationen von Gesetzes wegen der Regelfall, bzw. ist bei teilbaren Leistungen wie Geldforderungen im Zweifelsfall von Teilgläubigerschaft auszugehen. Teilgläubigerschaft entsteht insbesondere auch bei einem gemeinsamen Vertrag, d.h. wenn mehrere Vertragsgenossen, unter denen kein Gesamthandsverhältnis besteht, auf einer Vertragsseite kontrahieren. So sind etwa Miteigentümer, die ihre Liegenschaft als Ganzes verkaufen, Teilgläubiger, welche unabhängig voneinander je einen Teil der Kaufpreisforderung gegenüber der Käuferschaft geltend machen können.“ Art. 70 Abs. 1 OR regelt den Sonderfall mehrerer Gläubiger einer unteilbaren Leistung und hält fest, dass der Schuldner an alle gemeinsam leisten muss, und jeder Gläubiger die Leistung an alle gemeinsam fordern kann.

1.1.4

Abtretung von Forderungen (Zession)

In der Regel steht dem Schuldner bis zur Erfüllung der Obligation der gleiche Gläubiger gegenüber. Auf Grund veränderter Bedürfnisse im heutigen Wirtschaftsleben werden Forderungen insbesondere zu Finanzierungs- oder Sicherungszwecken auf neue Gläubiger übertragen (z.B. Factoring, Diskontgeschäft, Inkassozession). Die Abtretung einer Forderung oder Zession ist die rechtsgeschäftliche Übertragung einer Forderung (nicht eines Vertrages!) gegen einen Schuldner vom ursprünglichen Gläubiger (Zedent) auf einen neuen Gläubiger (Zessionar). Die Zession führt somit zu einem Gläubigerwechsel, ohne dass der Schuldner am Vertrag beteiligt ist. Der Zessionar ist berechtigt, vom Schuldner Erfüllung zu verlangen. Der Schuldner braucht von der Zession nicht einmal Kenntnis zu haben. Er kann sich auch nicht gegen die Abtretung wehren. Das Gesetz enthält aber Bestimmungen zu seinem Schutz (dazu im Einzelnen hinten). Beispiel: Alpha AG (Zedentin) verkauft die Sommerkollektion an das Warenhaus Beta AG (Schuldnerin). Der Kaufpreis beträgt CHF 750 000, zahlbar in 60 Tagen. Um ihre Liquidität zu erhöhen, tritt Alpha die Forderung an die Bank Moneymaker (Zessionarin) ab, und erhält dabei von ihr sofort CHF 740 000. Die Bank kann nach Ablauf der 60 Tage den Betrag von Beta einfordern. Eine Zession muss nicht immer auf einem Rechtsgeschäft beruhen. Es gibt auch Fälle, in denen eine Forderung ohne Zessionsvertrag auf einen neuen Gläubiger übergeht, so bei der gesetzlichen Zession (z.B. Art. 170 und Art. 401 OR); bei der

1

Zession durch richterliche Anordnung (z.B. bei Teilungsklagen und richterlicher Liquidation) oder bei der Zession durch amtliche Verfügung (z.B. im Betreibungsrecht die Lohnzession). Die Abtretbarkeit einer Forderung ist Voraussetzung für eine wirksame Zession. Gemäss Art. 164 Abs. 1 OR sind grundsätzlich alle Forderungen abtretbar, doch kann die Abtretbarkeit einer Forderung durch Gesetz, Vereinbarung oder auf Grund der Natur des Rechtsverhältnisses ausgeschlossen sein. Das Gesetz hat für die Abtretung das Formerfordernis der einfachen Schriftlichkeit aufgestellt (Art. 165 Abs. 1 OR). Gemäss Art. 13 Abs. 1 OR unterliegt aber nur die Erklärung des Zedenten der Schriftform. Die abgetretene Forderung muss individualisiert sein, was durch die Nennung von Gläubiger und Schuldner sichergestellt werden kann. In der sog. Blankozession genügt die Bestimmbarkeit der Person des Schuldners und auch des Zedenten; dabei kann offen bleiben, wer der neue Gläubiger ist.

1.1.5

Vertragsübernahme, Vertragsbeitritt, Vermögensübernahme

Bei einer Vertragsübernahme tritt an die Stelle der bisherigen Partei eine neue Partei in das gesamte Vertragsverhältnis ein (s. z.B. Art. 263 f. und Art. 292 f. OR). Im Gegensatz zur Zession gehen also nicht nur einzelne Forderungen über, sondern der ganze Vertrag als Bündel von Forderungen, Schulden und Gestaltungsrechten wechselt von einer Partei zur andern. Im Vergleich zur Zession erfordert die Vertragsübernahme denn auch die Zustimmung aller beteiligten Parteien: Der übergebenden, der übernehmenden und der verbleibenden Partei. In manchen Fällen geht der Vertrag von Gesetzes wegen auf eine andere Partei über. Beispiele: Art. 261 Abs. 1 OR: „Veräussert der Vermieter die Sache nach Abschluss des Mietvertrags oder wird sie ihm in einem Schuldbetreibungs- oder Konkursverfahren entzogen, so geht das Mietverhältnis mit dem Eigentum an der Sache auf den Erwerber über.“ Art. 333 Abs. 1 OR: „Überträgt der Arbeitgeber den Betrieb oder einen Betriebsteil auf einen Dritten, so geht das Arbeitsverhältnis mit allen Rechten und Pflichten mit dem Tage der Betriebsnachfolge auf den Erwerber über, sofern der Arbeitnehmer den Übergang nicht ablehnt.“ Mit der Vertragsübernahme nahe verwandt ist der Vertragsbeitritt. Dabei tritt eine Drittperson in einen bestehenden Vertrag ein. Der Unterschied zur Vertragsübernahme liegt darin, dass keine Partei aus dem Vertrag ausscheidet. Auch der Vertragsbeitritt setzt die Einwilligung aller Vertragsparteien voraus. Noch eine Stufe über der Vertragsübernahme (oder dem Vertragsbeitritt) steht die Übernahme eines ganzen Vermögens oder Geschäfts mit Aktiven und Passiven. Im Gegensatz zur Schuld- oder Vertragsübernahme ist hier keine Zustimmung der Gläubiger nötig, ansonsten eine solche Übernahme kaum möglich wäre. Zum Schutz der Gläubiger haftet der bisherige Schuldner während dreier Jahre solidarisch mit dem neuen Schuldner (Art. 181 Abs. 2 OR). Unternehmensübernahmen werden jedoch häufig nicht in Form der Übertragung von

Die Beteiligten

85

86

Kapitel III – Vertragserfüllung

Aktiven und Passiven vollzogen (asset deal), sondern durch Verkauf der Unternehmensanteile, v.a. von Aktien (share deal).

1.2

Der Schuldner

1.2.1

Persönliche Erfüllung

Nach dem Grundsatz von Art. 68 OR muss der Schuldner nur dann persönlich erfüllen, wenn es bei der Leistung auf seine Persönlichkeit ankommt (vgl. auch Art. 364 Abs. 2 OR für den Werkvertrag). Ob dies der Fall ist, bestimmt sich durch Auslegung des Vertrags. Im Gesetz ist persönliches Handeln z.B. beim Arbeitsvertrag (Art. 321 OR) vorgesehen. Wo es auf die persönliche Leistung des Schuldners nicht ankommt, kann die Erfüllung der Obligation auch durch einen Dritten erfolgen. In der Praxis am bedeutsamsten ist der Beizug von Hilfspersonen. Der Schuldner erbringt die Leistung gemäss Art. 101 OR mit Hilfe von Angestellten, Subunternehmern oder Hausgenossen. Beispiel: Das Haus von Sybille wird nicht durch Malermeister Hans persönlich, sondern durch dessen Lehrling oder Angestellten gestrichen.

1.2.2

Mehrzahl von Schuldnern

In der einfachsten Konstellation stehen einander bei einem Vertrag ein Schuldner und ein Gläubiger gegenüber. Gemäss der Vertragsfreiheit (insbesondere der Partnerwahlfreiheit) können aber sowohl auf Schuldner- als auch auf Gläubigerseite mehrere Personen beteiligt sein. Eine Schuldnermehrheit kann dabei bereits im Zeitpunkt des Entstehens der Forderung vorliegen (z.B. wenn zwei Personen zusammen ein Auto kaufen) oder erst zu einem späteren Zeitpunkt eintreten (z.B. wenn ein Schuldner verstirbt und von mehreren Personen beerbt wird). Praktisch sehr bedeutend ist die Solidarschuldnerschaft (Art. 143-149 OR). Jeder Solidarschuldner ist einzeln zur Erbringung der gesamten Leistung verpflichtet. Der Gläubiger „kann von allen Solidarschuldnern je nur einen Teil oder das Ganze fordern“ (Art. 144 Abs. 1 OR), insgesamt natürlich aber nicht mehr als das Ganze. Solidarschuldnerschaft kann aus Vertrag entstehen, wenn die Schuldner erklären, „dass dem Gläubiger gegenüber jeder einzeln für die Erfüllung der ganzen Schuld haften wolle“ (Art. 143 Abs. 1 OR). Die Erklärung kann auch stillschweigend sein und sich z.B daraus ergeben, dass die Schuldner den Anschein einer einfachen Gesellschaft erwecken. „Ohne solche Willenserklärung entsteht Solidarität nur in den vom Gesetze bestimmten Fällen“ (Art. 143 Abs. 2 OR). Beispiele für Solidarität von Gesetzes wegen: Art. 50 und 51 OR (Mehrheit von Haftpflichtigen), Art. 544 Abs. 3 OR und Art. 568 f. OR (Gesellschafter einer einfachen Gesellschaft und einer Kollektivgesellschaft), Art. 759 OR (Gründer, Organe, Revisionsgesellschaft einer AG; sog. differenzierte Solidarität).

1

Das Aussenverhältnis zwischen den Solidarschuldnern und den Gläubigern ist in den Art. 144 bis 147 OR geregelt. Wie erwähnt kann der Gläubiger gemäss Art. 144 Abs. 1 OR nach seiner Wahl von allen Solidarschuldnern je nur einen Teil oder das Ganze fordern. Bis zur Tilgung der ganzen Forderung bleiben alle Solidarschuldner verpflichtet (Art. 144 Abs. 2 OR). Wenn und soweit einer der Schuldner leistet, werden auch die anderen von ihrer Verpflichtung befreit (Art. 147 Abs. 1 OR). Der Gläubiger wird sich daher in der Regel an den finanzkräftigsten Schuldner halten wollen. Grundsätzlich haben die Solidarschuldner im Innenverhältnis den gleichen Teil der an den Gläubiger geleisteten Zahlung zu übernehmen (Haftung nach Köpfen gemäss Art. 148 Abs. 1 OR). Es bestehen aber zahlreiche abweichende gesetzliche Bestimmungen von diesem Prinzip. Zudem hat der Richter einen grossen Ermessensspielraum. Die Solidarschuldner können auch durch Vereinbarung selbst bestimmen, in welchem Umfang der Rückgriff erfolgen soll.

1.2.3

Schuldübernahme

Bei der Schuldübernahme findet ein Wechsel des Schuldners statt. Die Interessenlage ist hier eine andere als bei der Zession: Während bei der Zession dem Schuldner grundsätzlich gleichgültig ist, an wen er zu leisten hat, ist für den Gläubiger beim Schuldübernahmevertrag bedeutsam, wer sein neuer Schuldner sein wird, da der Wert der Forderung wesentlich von der Leistungsfähigkeit und -willigkeit des Schuldners abhängt. Deshalb ist eine Vereinbarung zwischen dem Schuldner und einem Dritten mit Bezug auf eine Schuldübernahme nur mit Zustimmung des Gläubigers verbindlich (Art. 176 OR). Zu Vertragsübernahme, Vertragsbeitritt und Vermögensübernahme s. vorne unter III/1.1.5.

1.2.4

Vertrag über die Leistung eines Dritten (Garantievertrag)

Verspricht eine Vertragspartei (Promittent) der anderen Vertragspartei (Promissar) im eigenen Namen die Leistung eines Dritten, dann will die versprechende Partei durch Ersatzleistung dafür einstehen, dass der Dritte die versprochene Leistung erbringen wird (Art. 111 OR). In solchen Fällen liegt ein Garantievertrag vor. Beispiel: Bank X verspricht dem Unternehmen Y, dass ihr Kunde Z den Kaufpreis zahlen wird, sobald die Ware geliefert ist (sog. Bankgarantie). Falls Z nicht bezahlt, kann Y die Bankgarantie einlösen. Zu beachten ist: Der Garantievertrag kann nur den Promittenten verpflichten, nicht aber den Dritten. Es handelt sich also beim Garantievertrag entgegen der Marginalie zu Art. 111 OR nicht um einen Vertrag zu Lasten eines Dritten (ein solcher wäre nichtig). Im Gegensatz zur Bürgschaft (Art. 492 ff. OR) kann der Abschluss eines Garantievertrags formlos erfolgen. Wenn der Dritte zum vereinbarten Zeitpunkt nicht leistet, tritt der Garantiefall ein.

Die Beteiligten

87

88

Kapitel III – Vertragserfüllung

2

Inhalt der Vertragspflichten

Jeder Vertrag schafft ein Pflichtenprogramm für die Parteien. Die verschiedenen Pflichten lassen sich unterteilen und gruppieren. Gemeinhin werden Haupt- und Nebenpflichten unterschieden. Hauptpflichten sind diejenigen Pflichten, derentwegen der Vertrag geschlossen wurde. Sie charakterisieren den Vertrag als Kaufvertrag, Mietvertrag, Darlehen, Werkvertrag, Auftrag usw. Nebenpflichten dienen der Erfüllung der Hauptpflichten, bereiten sie also vor, ergänzen, sichern und unterstützen sie. Manche Nebenpflichten sind einklagbar, z.B. die Pflicht des Beauftragen, Rechenschaft abzulegen (Art. 400 Abs. 1 OR). Sie werden auch Nebenleistungspflichten genannt. Andere Nebenpflichten lassen sich nicht einklagen, doch wer sie verletzt, muss Schadenersatz leisten. Ein Beispiel sind die Schutzpflichten (z.B. Sicherung von Skipisten und Schwimmbädern oder Sicherheit bei Veranstaltungen). Nachfolgend wird dargelegt welche Haupt- und Nebenpflichten aus einem Kaufvertrag, einem Mietvertrag, einem Werkvertrag und einem Auftrag entstehen.

2.1

Kaufvertrag

Der Kaufvertrag ist in Art. 184-236 OR geregelt. Art. 184-186 OR enthalten allgemeine Bestimmungen zum Kaufvertrag. In Art. 187 ff. OR regelt das Gesetz einzelne Arten des Kaufs. Die praktisch wichtigsten Arten sind der Fahrnis- und der Grundstückkauf. Der Fahrniskauf kann in Spezies- (Stückkauf) und Gattungskauf unterteilt werden. Diese Unterscheidungen haben Auswirkungen auf den Inhalt der Leistungspflicht des Verkäufers und auf den Übergang der Gefahr. 

Ein Fahrniskauf liegt gemäss der Negativdefinition von Art. 187 Abs. 1 OR vor, wenn der Kaufgegenstand weder ein Grundstück (Art. 655 Abs. 2 ZGB) noch ein in das Grundbuch als Grundstück aufgenommenes Recht ist (z.B. selbständiges und dauerndes Baurecht: Art. 779 Abs. 3 ZGB). Auf den Fahrniskauf sind die Regeln der Art. 184-215 OR anwendbar. Der Fahrniskauf kann in Spezies- (Stückkauf) und Gattungskauf unterteilt werden. Beim Spezies- oder Stückkauf ist nach dem Parteiwillen nur der eine, individuell bestimmte Kaufgegenstand geschuldet. Beim Gattungskauf ist der Kaufgegenstand nach dem Parteiwillen qualitativ (der Gattung nach) und quantitativ (nach Mass, Zahl oder Gewicht) bestimmt. Die Gattung kann beliebig eng oder weit gefasst werden (z.B. ein Fahrzeug → ein Auto → ein BMW → ein Cabriolet → das Modell CSI → mit roter Farbe etc.). Eine begrenzte Gattungsschuld (Vorratsschuld) ist gegeben, wenn der Gesamtumfang der Gattung vertraglich begrenzt wird (z.B. Kies aus einem bestimmten Steinbruch). Die Qualifikation eines Kaufvertrags als Speziesschuld oder begrenzte Gattungsschuld kann schwierig sein. Eine allgemeine Regel gibt es nicht. Vielmehr muss unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls der in Frage stehende Vertrag ausgelegt werden. Beispiel: Der Verkauf von 500 kg Äpfel, Golden Delicious, von den Bäumen des Bauern X, wird im Regelfall eine begrenzte Gattungsschuld darstellen. Denn der Käufer darf davon ausgehen, dass nicht spezifische Äpfel geschuldet sind,

2

Inhalt der Vertragspflichten

89

sondern die vereinbarte Menge aus der vertraglich umschriebenen Gattung und dass den Bauern damit eine Lieferverpflichtung trifft, solange Äpfel aus dem vereinbarten Bestand verfügbar sind. 

Für den Grundstückkauf enthält das OR in Art. 216-220 besondere Bestimmungen, unter anderem zu den Vorkaufs-, Kaufs- und Rückkaufsrechten. „Im Übrigen finden auf den Grundstückkauf die Bestimmungen über den Fahrniskauf entsprechende Anwendung“ (Art. 221 OR).

Art. 184 Abs. 1 OR enthält für alle Kaufverträge das grundsätzliche Pflichtenheft: „Durch den Kaufvertrag verpflichten sich der Verkäufer, dem Käufer den Kaufgegenstand zu übergeben und ihm das Eigentum daran zu verschaffen, und der Käufer, dem Verkäufer den Kaufpreis zu bezahlen“ (Art. 184 Abs. 1 OR). Diese Pflichten werden nachfolgend dargestellt: zunächst die Hauptpflichten des Verkäufers und des Käufers, danach deren Nebenpflichten. Schliesslich wird der Gefahrübergang erläutert, der die Rechte und Pflichten der Parteien beeinflusst.

2.1.1

Pflicht des Verkäufers zur Lieferung mängelfreier Ware („dem Käufer den Kaufgegenstand zu übergeben“)

Die erste Hauptpflicht des Verkäufers besteht darin, dem Käufer den Kaufgegenstand zu übergeben (Lieferpflicht). Der gelieferte Kaufgegenstand muss sodann mängelfrei sein. Die Lieferpflicht des Verkäufers hängt von der Art des Kaufgegenstands ab. Kaufgegenstand können alle beweglichen Sachen (Art. 713 ZGB) und Grundstücke (Art. 655 ZGB) im Sinne des Sachenrechts sein, darüber hinaus auch Sachoder Rechtsgesamtheiten (z.B. eine Bibliothek oder ein Unternehmensvermögen), Tiere, absolute Rechte wie z.B. Immaterialgüterrechte (z.B. Patent- oder Urheberrechte) sowie relative Rechte (Forderungen) und sonstige wirtschaftliche Vorteile (z.B. Know-how). Eine Übergabe des Kaufgegenstands i.S.v. Art. 184 Abs. 1 OR ist nur bei Sachen möglich. Es geht darum, dem Käufer den Besitz über den Kaufgegenstand zu verschaffen. 



Bei beweglichen Sachen wird die Lieferpflicht durch Übertragung des Besitzes an der Sache erfüllt. Dies geschieht gemäss Art. 922 Abs. 1 ZGB entweder durch Übergabe der Sache selbst oder der Mittel, die dem Käufer die Gewalt über die Sache verschaffen (z.B. Schlüssel zum Motorrad). Alternativ kann die Sache in gewissen Fällen ohne Übergabe des Besitzes, d.h. durch blosse übereinstimmende Willenserklärung erfolgen, z.B. wenn der Käufer die Sache bereits in seinem (unselbständigen) Besitz hat (Nadia leiht ihrem Kollegen Simon ein Lehrbuch, später kauft er es ihr ab). Bei Grundstücken erfolgt die Übergabe an den Käufer durch Übergabe der Mittel, die es ihm ermöglichen, die tatsächliche Herrschaft über die Sache auszuüben.

Der gelieferte Kaufgegenstand muss mängelfrei sein: „Der Verkäufer haftet dem Käufer sowohl für die zugesicherten Eigenschaften als auch dafür, dass die Sache nicht körperliche oder rechtliche Mängel habe, die ihren Wert oder ihre Tauglichkeit zu dem vorausgesetzten Gebrauche aufheben oder erheblich mindern“ (Art. 197 Abs. 1 OR).

Inhalt des normalen Kaufvertrags ist der einmalige Austausch von Leistung (Lieferung des Kaufgegenstands und Eigentumsverschaffung) und Gegenleistung (Bezahlung des Kaufpreises). Beim Sukzessivlieferungsvertrag erbringt der Verkäufer seine Leistung in zeitlich gestaffelten Teillieferungen, wobei sich diese typischerweise über einen längeren Zeitraum erstrecken. Auch die Bezahlung des Kaufpreises erfolgt in Raten. Der Sukzessivlieferungsvertrag ist damit, anders als der normale Kaufvertrag, ein Dauerschuldverhältnis.

90

Kapitel III – Vertragserfüllung

„haftet…für die zugesicherten Eigenschaften“: Eine Zusicherung ist eine ernsthafte Behauptung einer bestimmten, objektiv feststellbaren Eigenschaft, sofern der Käufer nach Treu und Glauben auf diese Angabe vertrauen darf (BGE 88 II 410, BGer 4A_480/2007 E. 3.1). Die Zusicherung kann konkludent erfolgen und muss nicht ausdrücklich abgegeben werden. Es können alle Arten von körperlichen, rechtlichen oder wirtschaftlichen (z.B. wirtschaftlicher Wert von Aktien; BGE 107 II 422) Merkmalen zugesichert werden. Die Zusicherung muss den Entscheid des Käufers, die Ware zu den vereinbarten Bedingungen zu kaufen, beeinflusst haben. Die Haftung des Verkäufers für eine zugesicherte Eigenschaft besteht unabhängig davon, ob der Wert der Sache oder die Gebrauchstauglichkeit aufgehoben oder erheblich gemindert ist. Beispiele: Zusicherungen: Die zu verkaufende Parzelle sei vollständig erschlossen (BGE 104 II 267); die Liegenschaft stehe in der Bauzone (BGer 4A_529/2010 E. 4.2.2); das zu verkaufende Gebäude weise einen bestimmten Rauminhalt auf (BGE 87 II 245); das Auto sei „fabrikneu/neu“; der zu verkaufende Gebrauchtwagen habe einen bestimmten Kilometerzählstand (BGE 109 II 24, 71 II 240); die Gastwirtschaft auf der zu verkaufenden Liegenschaft habe einen bestimmten Umsatz (BGE 62 II 78). Keine Zusicherungen: Erklärung des Liegenschaftsverkäufers, dem Käufer werde das Patent für die auf der Liegenschaft bestehenden Gastwirtschaft erteilt werden (BGE 55 II 188 f. E. 4 f. – aber Grundlagenirrtum, dazu II/6.1.2) oder der Käufer könne gegen die Erstellung von Bauten auf dem Nachbargrundstück Einsprache erheben (BGE 72 II 80). Die Zusicherung ist zu unterscheiden: 

erstens, von der blossen Anpreisung: Unverbindliche, reklamehafte Beschreibungen des Kaufgegenstands fallen nicht unter den Begriff der Zusicherung. Der Verkäufer muss allerdings beachten, dass der Übergang von der Werbeaussage zur Zusicherung fliessend ist. Beispiel: „Der Beklagte macht zunächst geltend, bei den umstrittenen Aussagen im Verkaufsinserat (‚Alles in hervorragender Bauqualität gebaut‘) und in der Kaufsvereinbarung vom 29. Januar 1999 (‚Sie kaufen eine ausgezeichnete Immobilie mit einem sehr guten Baustandard‘) habe es sich nur um allgemein gehaltene Äusserungen und nicht um verbindliche Zusicherungen gehandelt. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Bei der Aussage im Zeitungsinserat ‚Alles in hervorragender Bauqualität gebaut‘ mag es zwar darum gegangen sein, das Interesse von möglichen Käufern zu wecken. Insofern spricht viel dafür, derart allgemein gehaltene Äusserungen in einem Zeitungsinserat für sich allein nicht als verbindliche Zusicherung, sondern als unverbindliche Anpreisung zu qualifizieren. Anders verhält es sich jedoch, wenn in der anschliessenden Kaufsvereinbarung dem Käufer bestätigt wird: ‚Sie kaufen eine ausgezeichnete Immobilie mit einem sehr guten Baustandard‘. In dieser Phase der Vertragsverhandlungen geht es nicht mehr darum, das Interesse – durch Anpreisung – zu wecken, sondern den konkreten Vertragsinhalt – durch verbindliche Zusicherungen – zu definieren“ (BGer 4C.267/2004 E. 2.2).



zweitens von der Garantie (s. BGE 122 III 426): Zusicherungen sind Versprechen über Eigenschaften, die zum Zeitpunkt des Übergangs von Nutzen und Gefahr bereits vorhanden sind. Unselbständige Garantien sind Verspre-

2

chen, dass diese Eigenschaften für eine gewisse Zeit weiter bestehen bleiben. Der Verkäufer garantiert damit, dass die Kaufsache während einer bestimmten Zeit mängelfrei bleibt. Solche Garantien trifft man im täglichen Leben oft an. Beispiele sind die Garantien auf Notebooks, Fahrrädern, Möbeln usw. Selbständige Garantien schliesslich sind alle übrigen Versprechen über die Zukunft (also Versprechen über die Zukunft ausserhalb des Bereichs der unselbständigen Garantie). Oft kann der Verkäufer diese Entwicklungen nicht beeinflussen. Ein selbständiges Garantieversprechen ist z.B. die Garantie der künftigen Überbaubarkeit eines Grundstücks. Die Unterscheidung zwischen Zusicherung, unselbständiger Garantie und selbständiger Garantie ist wichtig insbesondere mit Blick auf die Rüge- und Verjährungsfristen: Abweichungen von zugesicherten Eigenschaften müssen innert der Frist von Art. 201 OR gerügt werden, und sie unterliegen der zweijährigen Verjährungsfrist von Art. 210 OR. Im Fall einer unselbständigen Garantie muss der Käufer die Rügefrist von Art. 201 OR nicht einhalten, und es gilt die Verjährungsfrist von Art. 210 OR. Im Fall einer selbständigen Garantie muss der Käufer ebenfalls keine Rügefrist einhalten, und es kommt überdies die zehnjährige Verjährungsfrist von Art. 127 OR zur Anwendung. „körperliche oder rechtliche Mängel“: Der Sachmangel im engen Sinn wird nach dem Wortlaut von Art. 197 OR als ein körperlicher oder rechtlicher (nicht aber wirtschaftlicher) Mangel definiert, welchen den Wert oder die Tauglichkeit der Sache zum vorausgesetzten Gebrauch aufhebt oder erheblich mindert. 











Entscheidend ist, wozu eine Sache verkauft wird. So kann eine körperlich einwandfreie Sache mangelhaft sein, wenn ihr bestimmte Eigenschaften fehlen (z.B. das Bild ist nicht echt). Umgekehrt können beschädigte Sachen mängelfrei sein, da sie ihrem Verwendungszweck dienen (z.B. ein Schrotthändler kauft beschädigte Fahrzeuge). Ein rechtlicher Mangel ist gegeben, wenn die Beschaffenheit bzw. Eigenschaften der Kaufsache gegen objektives Recht verstossen, insbesondere wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften den Gebrauch der Ware einschränken (z.B. Konsumentenschutz-, Produktesicherheits-, Baupolizei- oder Umweltbestimmungen). Das Kriterium der Erheblichkeit ist erfüllt, wenn der Käufer in Kenntnis des Mangels den Vertrag gar nicht oder nicht unter gleichen Bedingungen geschlossen hätte. Unerheblich sind z.B. ein Eselsohr in einem Buch oder kleinere Lackschäden am Wagen. Zur Beurteilung der Erheblichkeit werden u.a. folgende Kriterien herangezogen: Erkennbarkeit eines Mangels; Zeitund Geldaufwand zur Beseitigung. Im Fall eines Minderwerts liegt ein Sachmangel nur dann vor, wenn der Minderwert darauf beruht, dass der Sache bestimmte Eigenschaften fehlen. Bei Gattungsschulden steht gemäss Art. 71 OR das Recht zur Individualisierung („Konkretisierung“) dem Schuldner zu. Er kann die zu leistende Sache aus der Gattung auswählen. Ist vertraglich nichts anderes vereinbart, so präzisiert Art. 71 Abs. 2 OR die Auswahl dahingehend, dass der Schuldner eine Sache nicht unter „mittlerer Qualität“ liefern darf (der Gläubiger kann also mangels anderer Vereinbarung nicht Ware von bester Qualität fordern). Art. 219 Abs. 1 OR regelt einen besonderen Mangel bei Grundstücken: „Der Verkäufer eines Grundstückes hat unter Vorbehalt anderweitiger Abrede

Inhalt der Vertragspflichten

91

92

Kapitel III – Vertragserfüllung



dem Käufer Ersatz zu leisten, wenn das Grundstück nicht das Mass besitzt, das im Kaufvertrag angegeben ist.“ Werden Aktien eines Unternehmens gekauft, haftet der Verkäufer nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts nur für Bestand und Umfang der mit der Vertragsurkunde veräusserten Rechte, nicht aber für Mängel des Unternehmens (BGE 107 II 419). Wollen die Parteien eine Mängelhaftung für das Unternehmen vereinbaren, müssen sie entsprechende Zusicherungen in den Vertrag aufnehmen.

Zu den Folgen der Nicht- bzw. verspäteten Lieferung, IV/2.1.2 f. und IV/2.2.2; zu den Folgen der Lieferung eines mangelhaften Kaufgegenstands, IV/3.3. Zur Abgrenzung zwischen Nicht- und Schlechterfüllung, IV/3.1.

2.1.2

Pflicht des Verkäufers zur Verschaffung des unbelasteten Eigentums am Kaufgegenstand („und ihm das Eigentum daran zu verschaffen“)

Die zweite Hauptflicht des Verkäufers besteht darin, dem Käufer Eigentum am Kaufgegenstand zu verschaffen. Dieses Eigentum muss unbelastet sein. Die Erfüllung der Eigentumsverschaffungspflicht ist das Verfügungsgeschäft. Es ist je nach Art des Kaufgegenstands verschieden: 









Der Eigentumserwerb an beweglichen Sachen setzt Folgendes voraus: Ein gültiges Verpflichtungsgeschäft (causa: der Kaufvertrag) und die Besitzesübertragung (dazu soeben vorne). Das Eigentum an Grundstücken wird durch Eintragung des Käufers in das Grundbuch übertragen (Art. 656 Abs. 1 i.V.m. Art. 958 ff. ZGB). Die Eintragung erfolgt aufgrund des öffentlich beurkundeten Kaufvertrags sowie der sog. Eintragungsermächtigung des Verkäufers (Art. 963 Abs. 1 ZGB). Immaterialgüterrechte: Die Erfindung, das Kennzeichen, das Design, das Geheimnis und das Werk im urheberrechtlichen Sinn können formfrei durch übereinstimmende Willenseinigung übertragen werden. Das Verfügungsgeschäft besteht somit in der vertraglichen Verschaffung der Inhaberschaft. Die Übertragung des Patents (Art. 33 Abs. 2bis PatG), der eingetragenen Marke (Art. 17 Abs. 2 MSchG) oder des eingetragenen Designs (Art. 14 Abs. 2 DesG) bedarf hingegen der Schriftlichkeit. Bei der eingetragenen Marke und beim eingetragenen Design ist der Übergang gutgläubigen Dritten gegenüber erst wirksam, wenn er ins entsprechende Register eingetragen worden ist (Art. 17 Abs. 2 MSchG bzw. Art. 14 Abs. 2 DesG). Wird ein Unternehmen verkauft, werden ohne gegenteilige Abmachung auch seine Marken übertragen (Art. 17 Abs. 4 MSchG). Forderungen und sonstige Rechtsgüter: Eine Forderung wird durch Zession übertragen, welche zu ihrer Gültigkeit der schriftlichen Form bedarf (Art. 165 Abs. 1 OR). Sonstige Rechtsgüter oder wirtschaftliche Vorteile werden durch Verschaffung der tatsächlichen Vorteile übertragen (z.B. Zurverfügungstellen der Kundenkartei). Sach- und Rechtsgesamtheiten: Bei Sachgesamtheiten (z.B. Bibliothek) ist für jede einzelne Sache die jeweils erforderliche Verfügungshandlung vorzunehmen. Sachenrechtlich kann damit dem Käufer an der Sachgesamtheit als solche nicht Eigentum verschafft werden.

2

Besonders beim Unternehmenskauf, der als sog. asset deal abgewickelt wird, ist diese Regelung unpraktisch und teuer. Beim asset deal werden nicht die Aktien eines Unternehmens gekauft, sondern die Aktiven und Passiven des Unternehmens auf den Erwerber übertragen. Seit Inkrafttreten des FusG kann der asset deal durch Abschluss eines Vermögensübertragungsvertrags nach Art. 69 ff. FusG abgewickelt werden (vgl. Art. 181 Abs. 4 OR). In einem Inventar werden die zu übertragenden Gegenstände des Aktiv- und Passivvermögens bezeichnet, wobei Grundstücke, Wertpapiere und immaterielle Werte einzeln aufzuführen sind (Art. 71 Abs. 1 lit. b FusG). Mit Eintragung der Vermögensübertragung ins Handelsregister gehen alle im Inventar aufgeführten Aktiven und Passiven von Gesetzes wegen, ohne zusätzliche Verfügung der Parteien, auf den Erwerber über (Art. 73 Abs. 2 FusG). Das Eigentum, das der Verkäufer dem Käufer verschafft, muss unbelastet sein. Andernfalls ist die Eigentumsverschaffungspflicht (bzw. die Pflicht, dem Käufer die Verfügungsmöglichkeit an Forderungen und Rechten zu verschaffen) verletzt. „Der Verkäufer hat dafür Gewähr zu leisten, dass nicht ein Dritter aus Rechtsgründen, die schon zur Zeit des Vertragsabschlusses bestanden haben, den Kaufgegenstand dem Käufer ganz oder teilweise entziehe“ (Art. 192 Abs. 1 OR). Diese Haftung wird Rechtsgewährleistung genannt. Es handelt sich um eine verschuldensunabhängige Haftung des Verkäufers. Sie ist in Art. 192-196a OR geregelt. Beispiele: Bei der Kaufsache handelt es sich um Diebesgut, was der Käufer nicht wusste (ansonsten gälte Art. 192 Abs. 2 OR). Der rechtmässige Eigentümer verlangt die Sache nun heraus (vgl. Art. 934 Abs. 1 ZGB). Sophie leiht der Galerie E. ein Bild für eine Ausstellung. Neben dem Bild wird ein Schildchen „unverkäuflich, Privatbesitz“ angebracht. Trotzdem verkauft der Galerist das Bild an Peter, wobei er diesem die Lüge auftischt, er dürfe das Bild verkaufen, „wenn der Preis stimmt“. Peter hätte aber aufgrund der Umstände erkennen müssen, dass der Galerist nicht verfügungsberechtigt war. Deshalb kann Sophie das Bild von ihm gestützt auf Art. 936 Abs. 1 ZGB jederzeit herausverlangen, ohne ihm den bezahlten Preis erstatten zu müssen. Art. 192 ff. OR sind auf den Fahrnis-, Grundstücks- und den Forderungskauf anwendbar. Beim Forderungskauf ist allerdings Art. 171 OR zu beachten, welcher den kaufrechtlichen Bestimmungen vorgeht (BGE 90 II 490 E. 5). Danach haftet der abtretende Verkäufer für den Bestand (Verität) der Forderung (Art. 171 Abs. 1 OR), d.h. dafür, dass die abgetretene Forderung im Zeitpunkt der Abtretung mit den zugesicherten Vorzugs- und Nebenrechten besteht, klagbar und frei von Einreden und Einwendungen ist. Für die Zahlungsfähigkeit des Schuldners haftet der Abtretende allerdings nur, wenn er sich dazu verpflichtet hat (Art. 171 Abs. 2 OR). Beispiel: Die Alpha AG schuldet der Beta GmbH CHF 150 000 aus einer Warenlieferung. Um ihre Liquidität nicht zu gefährden, bietet sie der Beta GmbH an, ihr nicht CHF 150 000 zu bezahlen, sondern stattdessen (d.h. „an Zahlungs Statt“) ihre Forderung gegenüber der Omega AG im Umfang von CHF 175 000 abzutreten. Die Beta GmbH ist einverstanden. Wenig später geht die Omega AG überraschenderweise in Konkurs und sie kann der Beta GmbH die Forderung nicht

Inhalt der Vertragspflichten

93

Beachte: Im Gegensatz zum asset deal werden beim sog. share deal die Anteile (z.B. Aktien) des Unternehmens auf den Käufer übertragen, womit er die Kontrolle über die Gesellschaft ausüben kann. Dabei gilt es zu beachten, dass mangels Zusicherungen im Kaufvertrag der Verkäufer nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht für Mängel des Unternehmens haftet, sondern nur für Bestand und Umfang der mit der Vertragsurkunde veräusserten Rechte (BGE 107 II 419).

94

Kapitel III – Vertragserfüllung

bezahlen. Die Alpha AG haftet der Beta GmbH nicht für diesen Zahlungsausfall, da sie sich dazu nicht besonders verpflichtet hat. Der Verkäufer kann die Pflicht zur Rechtsgewährleistung vertraglich beschränken oder aufheben (Art. 192 Abs. 3 OR). Die Haftungsfreizeichnung ist jedoch ungültig, wenn er das bessere Recht des Dritten am Kaufgegenstand absichtlich verschwiegen hat.

2.1.3

Pflicht des Käufers, „dem Verkäufer den Kaufpreis zu bezahlen“

Der Käufer ist verpflichtet, den Kaufpreis in Geld zu bezahlen (Art. 184 Abs. 1, Art. 211 Abs. 1 OR). Im Grundsatz ist Barzahlung erforderlich. Allerdings können die Parteien auch die Erfüllung durch Buchgeld (z.B. Banküberweisung oder Kreditkarte) vereinbaren. Dies ist auch konkludent möglich (z.B. dadurch, dass der Verkäufer dem Käufer einen Einzahlungsschein schickt oder im Geschäft ein Kreditkartenterminal zur Verfügung stellt). Der Kaufpreis ist im Grundsatz frei verhandelbar. Es gibt keine Vorschrift, wonach der Kaufpreis fair oder angemessen zu sein hat. Schranken ergeben sich aus dem Verbot der Rechts- oder Sittenwidrigkeit gemäss Art. 19 ff. OR bzw. der Übervorteilung gemäss Art. 21 ff. OR oder aus öffentlich-rechtlichen Vorschriften (z.B. Art. 3 ff. UWG: Verbot, Waren wiederholt unter dem Einstandspreis anzubieten; Art. 12 ff. PÜG: Verbot des Preismissbrauchs).

2.1.4

Nebenpflichten des Verkäufers und des Käufers

Der Verkäufer trägt mangels anderer Abrede (z.B. mittels einer IncotermsKlausel, dazu sogleich hinten) oder Usanz u.a. die Kosten der Übergabe (Art. 188 OR: das Verpacken, Messen, Wägen und – beim Gattungskauf – Aussondern der Ware). Bei Frankolieferung trägt er vermutungsweise die Transportkosten (Art. 189 Abs. 2 und 3 OR). Beim Distanzkauf hat er die Ware zu versenden. Es steht den Parteien darüber hinaus frei, beliebige Pflichten vertraglich zu vereinbaren: Es ist etwa an Montage-, Unterhalts-, Finanzierungs- oder Versicherungspflichten zu denken. Der Käufer hat vorbehältlich einer anderen vertraglichen Regelung bzw. Übung gemäss Art. 188 OR die Nebenpflicht, die Kosten der Beurkundung und der Abnahme zu bezahlen. Beim Distanzkauf muss er die Transportkosten bezahlen (Art. 189 Abs. 1 OR), es sei denn, etwas anderes sei vereinbart (z.B. durch Frankolieferung: Art. 189 Abs. 2 OR) oder üblich. Beim Kauf auf Abruf hat er die Ware abzurufen. Darüber hinaus kann der Käufer vertraglich weitere Pflichten übernehmen (z.B. Tragung der Transportversicherungs- oder der Übergabekosten). Im Übrigen sind die Parteien nach allgemeinen Grundsätzen verpflichtet, alles zu unternehmen, um die vertragskonforme Durchführung zu sichern und alles zu unterlassen, was dem Verkäufer oder dessen Rechtsgütern schaden könnte (Obhuts- und Schutzpflichten, s. III/2).

2

2.1.5

Übergang von Nutzen und Gefahr

Der Übergang von Nutzen und Gefahr verteilt das Risiko, das der Kaufgegenstand durch Zufall beschädigt oder zerstört wird (also ohne dass eine der Parteien dafür verantwortlich ist), und regelt, wem die Früchte und sonstigen Vorteile eines Kaufgegenstands gehören. Normalerweise gehen Nutzen und Gefahr zusammen mit dem Zeitpunkt der vereinbarten Übergabe vom Schuldner auf den Gläubiger über, so etwa beim Grundstückkauf (Art. 220 OR) und bei Werkverträgen (Art. 376 OR). 



Wird die Sache vor diesem Zeitpunkt beschädigt oder zerstört, so bleibt der Schuldner zur vertragsgemässen Leistung verpflichtet (und der Gläubiger zur Gegenleistung). Ist die Leistung durch Umstände, die der Schuldner nicht zu vertreten hat, unmöglich geworden, werden beide Parteien von ihren Pflichten befreit (Art. 119 Abs. 1 f. OR). Wird die Sache erst nach dem Zeitpunkt des Gefahrübergangs beschädigt, so hat der Schuldner erfüllt und der Gläubiger muss die volle Gegenleistung erbringen (obwohl die Sache, die er erhält, beschädigt oder zerstört ist).

Für den Fahrniskauf sieht das OR aber eine besondere Regel vor: 



Nach Art. 185 Abs. 1 OR gehen Nutzen und Gefahr beim Stückkauf grundsätzlich mit dem Abschluss des Kaufvertrages auf den Käufer über, auch wenn die Übergabe bzw. der Eigentumsübergang noch nicht stattgefunden hat (Waren reisen auf Gefahr des Käufers). Wird also die Sache nach Abschluss des Kaufvertrags durch Zufall beschädigt oder zerstört, so schuldet der Käufer dem Verkäufer dennoch den vollen Kaufpreis. Dagegen unterscheidet man beim Gattungskauf zwischen Platz- und Distanzkauf (Art. 185 Abs. 2 OR). Beim Platzkauf gehen Nutzen und Gefahr mit der Ausscheidung (z.B. Abschneiden der 10m Seide vom Ballen) über, beim Distanzkauf (auch Versendungskauf genannt) jedoch erst mit der Übergabe der Sache zur Versendung.

Übergang der Gefahr beim Fahrniskauf (Art. 185 OR) Stückkauf

Vertragsschluss

beim Grundstückkauf (Art. 220 OR)

Gattungskauf Distanzkauf

Platzkauf

Übergabe der Sache zur Versendung

Aussonderung

Vertraglich vereinbarter Zeitpunkt des Besitzübergangs

Die Regelung der Gefahrtragung nach Art. 185 OR ist eine Belastung für den Käufer. Unter Umständen hat er nämlich die untergegangene Sache auch dann zu bezahlen, wenn er noch gar nicht deren Eigentümer geworden ist. Beispiel: Ruth hat eine chinesische Vase gekauft. Nach der Bezahlung lässt sie die Vase im Geschäft stehen. Später wird die Vase vom Kunden Ralf versehentlich be-

Inhalt der Vertragspflichten

95

96

Kapitel III – Vertragserfüllung

schädigt. Ruth kann den bezahlten Kaufpreis vom Geschäftsführer Rudolf nicht zurückverlangen, da Nutzen und Gefahr bereits mit dem Abschluss des Kaufvertrages auf Ruth übergegangen sind, auch wenn die Vase noch im Geschäft verblieben ist (zu prüfen wäre allerdings, ob Rudolf ein Verschulden trifft, weil er die Vase nicht sicher genug gelagert hat). Von der allgemeinen Regel in Art. 185 OR gelten folgende Ausnahmen:   



Bei Versendung einer Stückschuld wird Art. 185 Abs. 2 OR analog angewendet. Bei Verträgen mit aufschiebender Bedingung (Art. 185 Abs. 3 OR) gehen Nutzen und Gefahr erst mit Eintritt der Bedingung auf den Käufer über. Wurden spezielle Abmachungen getroffen, wie etwa die Vereinbarung eines Erfüllungsortes, gehen Nutzen und Gefahr erst dann auf den Käufer über, wenn die Sache am Erfüllungsort eingetroffen ist. Liegt es im Interesse des Verkäufers, dass der Kaufgegenstand vorerst in seinem Besitz verbleibt, so trägt er auch weiterhin die Gefahr (s. BGE 128 III 370). Beispiel: Galeristin Rita hat Rolf ein repräsentatives Bild einer aufstrebenden Künstlerin verkauft. Sie würde das Bild gerne mit der Bemerkung „Verkauft!“ in ihrer Ausstellung zeigen, die in der kommenden Woche beginnt. Damit will sie einerseits ihren Kunden zeigen, dass sie namhafte Künstlerinnen und Künstler vertritt, und andererseits den Künstlern beweisen, dass sie deren Bilder verkaufen kann. Rolf ist damit einverstanden, das Bild für die Dauer der Ausstellung bei Rita zu belassen. In der Nacht des zweiten Ausstellungstags brennt die Galerie nieder, und sämtliche Bilder werden zerstört. Da er Rita das Bild in ihrem Interesse überlassen hat, trägt Rita die Gefahr der Zerstörung. Rolf schuldet ihr also nicht den Kaufpreis für das Bild. Vielmehr gilt: Trägt Rita ein Verschulden, schuldet sie Rolf Schadenersatz nach Art. 97 OR; trägt sie keines, sind beide Parteien nach Art. 119 OR von ihrer Leistungspflicht befreit, d.h. das Bild muss nicht übereignet werden und Rolf muss es nicht bezahlen bzw. kann den bereits bezahlten Kaufpreis zurückverlangen.

Im internationalen Handelsverkehr werden häufig die verbreiteten „International Commercial Terms“ (Incoterms) vereinbart. Die Incoterms sind von der Internationalen Handelskammer (IHK) ursprünglich für den internationalen Schiffsgüterverkehr entwickelte Standardklauseln, mittels derer die Transportkosten, die Preisgefahr und weitere Nebenpunkte des Vertrags geregelt werden können. Einige der insgesamt elf Klauseln (Incoterms 2010) können für jede Transportart, einschliesslich des multimodalen Transports verwendet werden. Diese Klauseln regeln die Gefahrtragung von Art. 185 OR abweichend.

2.2

Mietvertrag

Durch den Mietvertrag verpflichtet sich der Vermieter, dem Mieter eine Sache auf bestimmte oder unbestimmte Zeit gegen Entgelt (Mietzins) zum Gebrauch zu überlassen (Art. 253 OR). Die Miete ist ein Dauervertrag (s. I/6.1.2). Als Mietobjekt kommen bewegliche oder unbewegliche Sachen in Frage. Anders als beim Kaufvertrag können Rechte oder andere Wirtschaftsgüter nicht Gegenstand eines Mietvertrags sein.

2

Beispiele: Miete einer Wohnung, eines Geschäftsgebäudes, eines möblierten Zimmers, eines Autos, eines Smokings, einer Ski- oder Filmausrüstung. Von besonderer praktischer Relevanz ist das Mietvertragsrecht auf dem Gebiet der Wohn- und Geschäftsraummiete. Angesichts der existenziellen Bedeutung des Wohnens und der Tatsache, dass in der Schweiz ungefähr 70% der Bevölkerung in Mietwohnungen leben, hat der Gesetzgeber zum Schutze der Wohnungsmieter – als der in der Regel wirtschaftlich schwächeren Vertragspartei – Sondervorschriften geschaffen. Diese Bestimmungen sind mehrheitlich zwingend, das heisst, sie dürfen durch vertragliche Abmachungen nicht geändert werden. Manche Bestimmungen sind teilzwingend: Sie dürfen nur zu Gunsten des Mieters abgeändert werden (z.B. Art. 266a Abs. 1 OR). Zwingendes Recht gibt es aber auch für die Miete beweglicher Sachen; hier dient es dem Konsumentenschutz: Der Mieter einer beweglichen Sache, welche ihm zum privaten Gebrauch dient, vom Vermieter aber im Rahmen seiner gewerblichen Tätigkeit vermietet wird, kann mit einer Frist von mindestens 30 Tagen auf Ende einer dreimonatigen Mietdauer kündigen, ohne dass der Vermieter daraus einen Entschädigungsanspruch ableiten kann (Art. 266k OR).

2.2.1

Pflichten des Vermieters

Die Hauptpflicht des Vermieters besteht in der Überlassung der Mietsache zum Gebrauch. Die Mietsache ist zum vereinbarten Zeitpunkt und in einem zum vorausgesetzten Gebrauch tauglichen Zustand zu übergeben und zu erhalten (Art. 256 OR). Daraus folgt die Mängelhaftung des Vermieters (Art. 258 ff. OR; dazu IV/3.3). „[E]in Mangel liegt […] vor, wenn die Sache eine vom Vermieter versprochene Eigenschaft nicht aufweist oder wenn sie eine Eigenschaft nicht aufweist, mit welcher der Mieter unter Bezugnahme auf den zum vereinbarten Gebrauch tauglichen Zustand rechnen konnte“ (BGE 135 III 347 Pra 2009 Nr. 135 E. 3.2). „Auch Mängel, die nicht in der Mietsache selbst begründet sind, sondern sich aus der Umwelt oder aus dem Verhalten Dritter ergeben, können einen Mangel der Mietsache darstellen“ (BGer 4C.39/2003 E. 4). Häufige Mängel sind z.B. Bauimmissionen. Sie können eine Mietzinsreduktion rechtfertigen, und zwar unabhängig davon, ob sie im Einflussbereich des Vermieters liegen oder nicht (s. z.B. BGer 4C.219/2005). Der Mieter hat Anspruch auf einen normalen Standard. Besondere Bedürfnisse des Mieters sind nur relevant, wenn sie zum Vertragsinhalt erklärt wurden. Beispiele: „Dass die Klägerin als Epileptikerin auf unbedingte Nachtruhe angewiesen ist, wie sie in der Berufung geltend macht, vermag daran nichts zu ändern, denn die Klägerin tut nicht dar, dass der Beklagte davon Kenntnis hatte und sich vertraglich zur Vermietung eines überdurchschnittlich ruhigen Objektes verpflichtet hätte“ (BGer 4C.291/2000 E. 4b).

Inhalt der Vertragspflichten

97

98

Kapitel III – Vertragserfüllung

„S'agissant plus précisément de locaux commerciaux, la présence d'un concurrent dans le voisinage ne peut être considérée comme un défaut que si le bailleur a promis qu'il n'y en aurait pas (qualité promise)“ (BGer 4C.1/2001). Es werden drei Arten von Mängeln unterschieden, die unterschiedliche Rechtsfolgen haben (dazu IV/3.3): 

Schwere Mängel sind solche, die „die Tauglichkeit zum vorausgesetzten Gebrauch ausschliessen oder erheblich beeinträchtigen“ (Art. 258 Abs. 1 OR). Dem Mieter ist der Gebrauch der Mietsache objektiv nicht mehr zumutbar. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn das Mietobjekt Mängel aufweist, welche die Gesundheit des Mieters oder seiner Familie in Gefahr bringen. Dabei genügt es, wenn wesentliche Räume des Mietobjekts unbenützbar werden. Ein schwerer Mangel ist demgegenüber grundsätzlich zu verneinen, wenn der Mieter ihn auf einfache und kostengünstige Weise zu Lasten des Vermieters gestützt auf Art. 259b lit. b OR selbst beheben lassen kann oder wenn die Beeinträchtigung nur von kurzer Dauer ist. Beispiel: Schwerer/erheblicher Mangel: Wegen einer undichten Decke eines Büros oder Verkaufsraumes fallen Staub und Schlacke herunter (BGer 4C.168/2001 E. 4b).



Mittlere Mängel sind solche, die „die Tauglichkeit zum vorausgesetzten Gebrauch zwar vermindern, aber weder ausschliessen noch erheblich beeinträchtigen“ (Art. 258 Abs. 3 lit. b OR; s. auch Art. 259b lit. b OR). Ein mittlerer Mangel liegt vor, wenn der Gebrauch der Sache um mindestens 5 % eingeschränkt wird. Auch Einschränkungen von 2 % genügen, wenn es sich um eine dauerhafte Beeinträchtigung handelt“ (vgl. BGE 135 III 347 Pra 2009 Nr. 135 E. 3.2). Beispiele: Der Mieter kann wegen Heizungsgeräuschen nicht schlafen (BGer 4C.65/2002 E. 3). Es zieht in beheizbaren Räumen (BGer 4C.66/2001 E. 2b). Heizung verursacht störende Geräusche, und es bestehen Schwierigkeiten mit der Temperaturregulierung (BGer 4C.291/2000 E. 4). Ungenügende Heizung von Wohnräumen (BGer 4A_174/2009 E. 4.2). Immissionen durch Umbau in der Wohnsiedlung (BGer 4C.39/2003 E. 4). Undichtes Vordach über einer Terrasse (BGer 4A_628/2010 E. 3.1). Mangelhafte Klimaanlage und Ventilation in einer Privatschule (BGE 130 III 504 ff.).



Einfache Mängel/Bagatellmängel sind solche, die der Mieter ohne weiteres selbst beheben kann. Dabei wird die Kostengrenze bei ca. CHF 150 gezogen. Beispiele: Bagatellmängel sind z.B. defekte Glühbirnen, Sicherungen oder Duschschläuche. Keine Bagatellmangel ist ein defekter Backofen oder eine defekte Heizung.

2

2.2.2

Pflichten des Mieters

Die Hauptflicht der Mieters besteht darin, den Mietzins zu bezahlen. Nach der Legaldefinition in Art. 257 OR ist der Mietzins „(…) das Entgelt, das der Mieter dem Vermieter für die Überlassung der Sache schuldet“. Bei Wohn- und Geschäftsräumen sind die Nebenkosten wie Heiz-, Warmwasser und ähnliche Betriebskosten nur dann vom Mieter zu übernehmen, wenn dies besonders vereinbart wurde. Beispiel: Mangels einer besonderen Vereinbarung sind die Nebenkosten im Nettomietzins inbegriffen. Eine allfällige Vereinbarung muss die tatsächlichen Aufwendungen, die als Nebenkosten zu bezahlen sind, einzeln auflisten (BGE 121 III 462). „Der Mieter muss den Mietzins und allenfalls die Nebenkosten am Ende jedes Monats, spätestens aber am Ende der Mietzeit bezahlen, wenn kein anderer Zeitpunkt vereinbart oder ortsüblich ist“ (Art. 257c OR). Bei Wohnungsmieten wird jedoch meistens eine Vorauszahlungspflicht des Vermieters vereinbart. Weitere Mieterpflichten: 





Der Mieter ist zum sorgfältigen Gebrauch der Mietsache verpflichtet. Bei Wohnungsmietern gehört dazu auch eine Rücksichtnahme auf Hausbewohner und Nachbarn (Art. 257f Abs. 1 und 2 OR). Lehre und Rechtsprechung dehnen die Pflicht zum sorgfältigen Gebrauch allgemein auf einen vertragsgemässen Gebrauch der Mietsache aus. Für Mängel, die der Mieter nicht selber zu beseitigen hat, besteht eine Meldepflicht (Art. 257g OR). Unterlässt der Mieter die Meldung, haftet er für den Schaden, der dem Vermieter daraus entsteht (Art. 257g Abs. 2 OR). Eine angemessene Duldungspflicht trifft den Mieter für Arbeiten, die der Beseitigung von Mängeln (Art. 257h OR) dienen. Das gilt auch bei Erneuerungen und Änderungen an der Mietsache (Art. 260 OR). Beispiel: Bemerkt der Wohnungsmieter, dass das Dach des Hauses nicht mehr dicht ist, muss er den Vermieter informieren. Der Mieter muss diesen Schaden nicht selber übernehmen. Die im Rahmen der Dachreparatur entstehenden Umtriebe muss der Mieter erdulden; allenfalls kann er eine Herabsetzung des Mietzinses oder Schadenersatz geltend machen (Art. 257h Abs. 3 OR).



Nach Beendigung des Mietverhältnisses muss der Mieter die Mietsache in dem Zustand übergeben, der sich aus dem vertragsgemässen Gebrauch ergibt (Art. 267 Abs. 1 OR). Wohnungen müssen gereinigt sein.

2.2.3

Untermiete

Nach Art. 262 OR ist es grundsätzlich zulässig, eine gemietete Sache weiter zu vermieten (sog. Untermiete). Der Vermieter muss der Untermiete zustimmen. Er darf die Zustimmung allerdings nur verweigern, wenn sich der Mieter weigert, die Bedingungen der Untermiete bekannt zu geben, dem Vermieter durch die Untermiete wesentliche Nachteile erwachsen oder der Mieter aus der Untermiete einen übermässigen Gewinn erzielt. Hat der Vermieter die Zustim-

Inhalt der Vertragspflichten

99

100

Kapitel III – Vertragserfüllung

mung (berechtigterweise) verweigert, so hat er einen ausserordentlichen Kündigungsgrund (vgl. Art. 266g OR), wenn der Mieter gleichwohl untervermietet. Zwischen Mieter und Untermieter besteht ein normales Mietverhältnis. Gegenüber dem (Haupt-)Vermieter haftet der (Haupt-)Mieter für etwaige durch den Untermieter verursachte Schäden an der Mietsache. Beispiel: Beat Hugentober ist seit dem 1. Januar Mieter einer Fünfzimmerwohnung der Firma „Schöner Wohnen“ mit einem monatlichen Mietzins von CHF 2 850. Er beabsichtigt, die Wohnung unterzuvermieten, will jedoch die Bedingungen der Untermiete nicht bekannt geben. „Schöner Wohnen“ verweigert die Zustimmung zur Untermiete. Dennoch vermietet Hugentobler die fünf Zimmer sogleich zu je CHF 900 an Studenten. Am 25. März erfährt „Schöner Wohnen“ davon und kann gestützt auf Art. 266g OR (ausserordentliche Kündigung aus wichtigen Gründen) das Mietverhältnis mit der gesetzlichen Dreimonatsfrist auf den 30. Juni kündigen. Hugentobler haftet gegenüber „Schöner Wohnen“ für allfällige durch die Untermieter verursachte Schäden. Der Untermietvertrag ist trotz verweigerter Zustimmung des Vermieters gültig. Die Untermieter können den Zins für die Untermiete als missbräuchlich anfechten (entweder Anfechtung des Anfangsmietzinses nach Art. 270 OR innert Frist oder Anfechtung während der Mietdauer nach Art. 270a OR).

2.2.4

Mieterschutz

Beim Eigentümerwechsel durch Verkauf, Schenkung, Tausch oder Zwangsvollstreckung geht das Mietverhältnis grundsätzlich mit allen Rechten und Pflichten auf den Erwerber über (Art. 261 Abs. 1 OR). Nach Art. 261 Abs. 2 OR kann der neue Eigentümer aber bei Wohn- und Geschäftsräumen das Mietverhältnis mit der gesetzlichen Frist auf den nächsten gesetzlichen Termin kündigen, wenn er einen dringenden Eigenbedarf für sich, für nahe Verwandte oder Verschwägerte geltend macht. Schutz vor missbräuchlichen Mietzinsen: Nur in sehr wenigen Fällen greift das Gesetz direkt in das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung ein (vgl. zur Übervorteilung II/5.6). Für die Miete von Wohn- und auch von Geschäftsräumen hat der Gesetzgeber dagegen eine Missbrauchsregelung geschaffen, mit der überhöhte Mietzinse bekämpft werden sollen. Das habe seinen Grund darin, dass am Mietwohnungsmarkt ein Nachfrageüberhang zu hohen Mietzinsen führe. Der Eingriff in die Vertragsautonomie der Parteien beschränkt sich aber auf Fälle, in denen die vereinbarten bzw. einseitig diktierten Mietzinse als missbräuchlich gelten. Das ist nach Art. 269 OR der Fall, wenn mit dem Mietzins ein übersetzter Ertrag aus der Mietsache erzielt wird oder wenn der Mietzins auf einem offensichtlich übersetzten Kaufpreis beruht. Die beiden sehr allgemeinen Definitionen des Missbrauchs wurden durch unzählige Gerichtsentscheidungen konkretisiert. Sozialpolitisch motiviert sind auch die Bestimmungen zum Kündigungsschutz beim Mieten von Wohn- und Geschäftsräumen. Die Kündigung eines Mietvertrags über Wohn- oder Geschäftsräume ist anfechtbar, wenn sie gegen Treu und Glauben verstösst (Art. 271 Abs. 1 OR). Das ist z.B. der Fall, wenn der Vermieter kündigt, weil der Mieter nach Treu und Glauben Ansprüche aus dem Mietverhältnis geltend macht (s. Art. 271a OR). Auf Verlangen muss die Kündigung begründet werden (Art. 271 Abs. 2 OR).

2

Beispiel: In die Wohnung von Kuno Müller zieht seine dunkelhäutige Freundin ein. Darauf spricht der Vermieter die Kündigung aus. Kuno Müller verlangt eine Begründung. Der Vermieter schreibt, er dulde keine Schwarzen in seinem Haus. Diese Kündigung ist anfechtbar. Nichtig ist die Kündigung, wenn sie die vorgeschriebene Form nicht einhält (Art. 266o OR). So ist z.B. die Kündigung durch einen Mieter nichtig, wenn der Ehegatte oder eingetragene Partner, der ebenfalls in der Wohnung lebt, nicht zugestimmt hat (Art. 266m OR). Schliesslich kann in besonderen Härtefällen das Mietverhältnis trotz Zeitablauf oder wirksamer Kündigung zu Gunsten des Mieters erstreckt werden; hierfür ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (Art. 272 Abs. 1 OR).

2.3

Werkvertrag

Beim Werkvertrag verpflichtet sich der Unternehmer gegenüber dem Besteller zur entgeltlichen Herstellung eines Werkes (Art. 363 OR). Der Unternehmer schuldet das Werk, der Besteller die Vergütung. Grundmerkmal des Werkvertrages bildet das Versprechen des Werkunternehmers, gegen Vergütung einen bestimmten Arbeitserfolg zu erbringen. Der Arbeitserfolg besteht in einem Werk. Der Werkbegriff ist weit zu verstehen und kann körperlicher oder unkörperlicher Natur sein. Demnach können sowohl die Herstellung von Bauwerken oder Reparaturarbeiten an einem Fahrzeug als auch ein Konzert, ein Vortrag oder ein Gutachten ein Werk darstellen. Das Werkvertragsrecht ist grundsätzlich dispositives Recht. Aus diesem Grund ist auch die Abgrenzung zum vorwiegend zwingenden Arbeitsrecht von Bedeutung (s. I/6.1.3). Insbesondere im Bereich des Bauwesens wird das dispositive Werkvertragsrecht teilweise durch die Richtlinien des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins, die sog. SIA-Normen, verdrängt. Die Abweichungen sind in der Regel zu Gunsten des Unternehmers. Trotz ihrer Verbreitung anerkennt das Bundesgericht die SIA-Normen nicht als regelbildende Übung bzw. als Ausdruck der Verkehrsauffassung oder -übung. Die SIA-Normen gelten somit nur dann, wenn sie ausdrücklich Teil des Vertrages geworden sind. Im Bauwesen spielen der Werkvertrag und die SIA-Normen eine überragende Rolle. Zwischen den verschiedenen an einem Bauwerk beteiligten Parteien werden eine ganze Reihe von Werkverträgen abgeschlossen, wobei zahlreiche Varianten werkvertraglicher Bindungen vorkommen (Bauherr – Werkunternehmer; Bauherr – Generalunternehmer – Subunternehmer 1 – Subsubunternehmer 2 usw.). Beispiel: Der Vertrag zwischen Totalunternehmer und Bauherr, der Totalunternehmervertrag, ist ein Werkvertrag (vgl. dazu BGE 117 II 274; 114 II 53 ff.). Gleiches gilt für den Generalunternehmervertrag (der Unterschied zum Totalunternehmervertrag liegt darin, dass der Totalunternehmer auch die Baupläne zu erstellen hat), den Vertrag mit dem Elektriker, dem Sanitär, dem Maurer usw. Zur Abgrenzung des Werkvertrags von anderen Verträgen, s. I/6.1.3.

Inhalt der Vertragspflichten

101

102

Kapitel III – Vertragserfüllung

2.3.1

Pflichten des Unternehmers

Die Hauptpflicht des Unternehmers besteht in der Herstellung (Art. 363 OR) und Ablieferung (Art. 367 OR) des vertraglich bestellten Werkes. Der Unternehmer muss das Werk persönlich herstellen, wenn es auf seine persönlichen Eigenschaften ankommt (Art. 364 Abs. 2 OR). Hilfsmittel, Geräte und Werkzeuge hat der Unternehmer selbst bereit zu stellen (Art. 364 Abs. 3 OR), sofern nichts anderes bestimmt wird. Das Werk muss mangelfrei sein. Ein Werkmangel liegt vor, wenn das Werk nach der Verkehrsauffassung fehlerhaft ist oder von der vertraglich geschuldeten Beschaffenheit abweicht (Art. 368 Abs. 1 und Abs. 2 OR); ob eine Sorgfaltspflicht verletzt wurde, ist unerheblich. Beim Werkvertrag besteht also, ähnlich wie beim Kaufvertrag, eine vom Verschulden unabhängige Mängelhaftung. Beispiel: Ein Kunde bestellt einen Bürostuhl auf Rollen mit einem grauen Stoffbezug in Einzelanfertigung. Sind die Rollen blockiert, liegt ein mangelhaftes Werk vor. Funktioniert der Stuhl einwandfrei, wird aber nicht wie vereinbart in grauer, sondern in roter Farbe geliefert, weicht das Werk von der vertraglich geschuldeten Beschaffenheit ab. Hat der Unternehmer die Lieferung des Stoffes übernommen, haftet er dem Besteller für die Güte desselben und hat Gewähr zu leisten wie ein Verkäufer (Art. 365 Abs. 1 OR). Obwohl der Unternehmer unabhängig von einer Sorgfaltspflichtverletzung für Werkmängel und von ihm gelieferten Stoff haftet, ist er verpflichtet, bei der Ausführung des Werkes und dessen Ablieferung sorgfältig vorzugehen (Art. 364 Abs. 1 OR i.V.m. Art. 321e OR). Zu den Sorgfaltspflichten des Unternehmers gehören u.a. folgende Pflichten: Merke: Bei allen Formen von Reparaturwerkverträgen (die auch Werkverträge sind) erfolgt die Lieferung des Stoffes (nämlich der zu reparierenden Sache) durch den Besteller.



Der Unternehmer muss das Material, das der Besteller liefert, mit Sorgfalt behandeln (Art. 365 Abs. 2 OR). Beispiel: Der Unternehmer muss angemessene Vorkehrungen zum Schutz vor Diebstahl des gelieferten Stoffs treffen (BGE 113 II 422 E. 2a: Garagist, der ein Fahrzeug draussen abgestellt hatte, aber ohne Nummernschilder und verschlossen, mit den Schlüsseln in der ebenfalls verschlossenen Garage, handelt nicht sorgfaltswidrig).



Den Unternehmer treffen sodann Anzeige- und Aufklärungspflichten. Er muss z.B. dem Besteller Mängel des (vom Besteller gelieferten) Materials oder des angewiesenen Baugrundes sofort melden. Unterlässt der Unternehmer dies, hat er die Folgen zu tragen (Art. 365 Abs. 3 OR). Beispiel: Rosa Müller (Bestellerin) lässt beim Sattler Carl Heller ein antikes Sofa neu überziehen. Während der Restaurationsarbeiten stellt sich heraus, dass das Sofa vom Holzwurm befallen ist und vor dem Neubezug eine Reparatur durch einen Antikschreiner notwendig ist. Carl Heller muss Rosa Müller über diesen Mangel am Material informieren. Zu den Aufklärungspflichten gehört auch die Pflicht des Unternehmers, gegen (falsche) Anweisungen des Bestellers rechtzeitig Einwände zu erheben

2

(Abmahnungspflicht, s. Art. 369 OR). Der Unternehmer muss sodann den Besteller über den sachgemässen Gebrauch des Werks aufklären. Beispiel: „Das Wasser als Wärmeübertragungsmittel bildet einen wesentlichen Bestandteil einer Heizanlage, worauf schon der erstinstanzliche Sachverständige mit Recht hingewiesen hat. Erfordert die normale Brauchbarkeit einer Heizanlage, dass das verwendete Wasser eine bestimmte Beschaffenheit aufweise, so ist deshalb die Erstellerin der Anlage dafür verantwortlich, dass diese mit geeignetem Wasser gefüllt wird. Daraus ergab sich für die Klägerin [die Erstellerin] die Pflicht, das Wasser auf seine Eignung hin zu prüfen oder prüfen zu lassen, sowie die Beklagte [die Bestellerin] über diesen Punkt aufzuklären und ihr genaue Weisungen zu geben, was für Wasser einzufüllen sei.“ (BGE 94 II 160). 

Der Unternehmer ist (wie jeder Vertragspartner) verpflichtet, auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils Rücksicht zu nehmen. Ihn treffen also vertragliche Obhuts- und Schutzpflichten. Beispiele: Vertragspflicht des Veranstalters, die Vorstellung ohne Schädigung der zahlenden Besucher durchzuführen (BGE 70 II 218, Bundesfeier mit musikalischer Darbietung und Feuerwerk). Der Unternehmer verletzte seine Sorgfaltspflicht, da er es unterlassen hatte, vor Beginn seiner Verputzarbeiten die Fenster der Bestellerin abzudecken, so dass Kalkspritzer auf diese fielen, bei deren Beseitigung durch die Arbeiter des Unternehmers die Scheiben verkratzt wurden. (BGE 89 II 237).



Die Sorgfaltspflicht des Unternehmers beeinflusst sodann die Höhe des geschuldeten Werklohns gemäss Art. 374 OR: „Der Werklohn bestimmt sich nicht nach dem tatsächlichen Aufwand, sondern nach der Arbeit, dem Stoff und dergleichen, die bei sorgfältigem Vorgehen des Unternehmers zur Ausführung des Werkes genügt hätten“ (BGE 96 II 61).

2.3.2

Pflichten des Bestellers

Die Hauptpflicht des Bestellers ist es, für die Herstellung des Werks eine Vergütung zu leisten (Art. 363 OR). Hinsichtlich der Höhe der Vergütung unterscheidet das Gesetz zwei Hauptfälle: die „Feste Übernahme“ des Werks (Art. 373 OR) und die Festsetzung nach dem Wert der Arbeit (Art. 374 OR). Unter den Tatbestand der „Festen Übernahme“ fallen der Pauschal- und der Einheitspreis: 



„Ein Pauschalpreis ist ein fester Preis in dem Sinne, dass er unabhängig von den tatsächlichen Erstellungskosten des Werkes, den ausgeführten Leistungsmengen, Aufwendungen und Arbeiten ist“ (BGer 4C.90/2005 E. 3.2). Der Unternehmer schuldet das Werk als Ganzes zu einem vertraglich fixierten Preis. Ebenfalls ein Pauschalpreis ist der „Globalpreis“, der einen Teuerungsvorbehalt enthält. Beim Globalpreis wird die pauschale Vergütung also an die Teuerung angepasst. Einheitspreis: Auch der Einheitspreis ist ein fester Preis im Sinne von Art. 373 OR. Er bezieht sich aber nicht auf das gesamte Werk, sondern nur auf bestimmte Leistungseinheiten. Der Werkpreis bestimmt sich je Einheit ei-

Inhalt der Vertragspflichten

103

104

Kapitel III – Vertragserfüllung

ner bestimmten Leistung (z.B. je Meter, Kubikmeter, Kilogramm, Stück). Die massgebende Menge von Leistungseinheiten wird entweder nach dem tatsächlichen oder dem planmässigen theoretischen Ausmass bestimmt. „Wurde die Vergütung zum voraus genau bestimmt, so ist der Unternehmer verpflichtet, das Werk um diese Summe fertigzustellen, und darf keine Erhöhung fordern, selbst wenn er mehr Arbeit oder grössere Auslagen gehabt hat, als vorgesehen war“ (Art. 373 Abs. 1 OR). Nach Art. 373 Abs. 1 OR trägt also grundsätzlich der Unternehmer die Preisgefahr. Der Unternehmer darf auch dann keine Erhöhung der Vergütung fordern, wenn er mehr Arbeit oder grössere Auslagen hatte. Andererseits muss der Besteller nach Art. 373 Abs. 3 OR auch dann den vollen Preis bezahlen, wenn der Unternehmer weniger Aufwand hatte als vorgesehen. Das Unternehmerrisiko wird durch Art. 373 Abs. 2 OR eingeschränkt. Bei Vorliegen ausserordentlicher Umstände kann der Richter eine Preiserhöhung oder die Vertragsauflösung bewilligen. Ob ein ausserordentliche Umstand voraussehbar war, „ist vom Standpunkt eines sachkundigen und sorgfältigen Unternehmers aus und nach einem eher strengen Massstabe zu beantworten“ (BGE 109 II 336). Beispiel: Bei der Erstellung eines Bauwerkes stellen sich die geologischen Verhältnisse völlig anders dar, als dies der Unternehmer durch die „nach allen Regeln der Kunst“ vorgenommenen Probebohrungen hat annehmen müssen und annehmen dürfen. Wenn nun die Bohrarbeiten länger dauern und dadurch Mehrkosten entstehen, kann der Richter den Werklohn angemessen erhöhen. Die Regeln über Festsetzung nach dem Wert der Arbeit kommen zur Anwendung, wenn „der Preis zum voraus entweder gar nicht oder nur ungefähr bestimmt worden“ ist (Art. 374 OR), oder schlicht immer dann, wenn die Parteien nichts anderes vereinbart haben. In diesen Fällen wird der Preis gemäss Art. 374 OR nach Massgabe des Wertes der Arbeit und der Aufwendungen des Unternehmers festgesetzt. Der Unternehmer hat zudem Anspruch auf einen angemessenen Gewinn. Die Preisformel lautet mit anderen Worten: „cost plus fee“. In vielen Fällen einigen sich die Parteien auf bestimmte Regieansätze, nach denen die Vergütung des Aufwands berechnet wird (z.B. pro Arbeitsstunde eines Poliers, pro Einsatzstunde einer Maschine, pro Kilo eines bestimmten aufgewendeten Materials). Dieser Preismechanismus unterschiedet sich vom Einheitspreis durch den unterschiedlichen Bezugspunkt: Der Preis bestimmt sich nach dem Aufwand, nicht nach der Leistung. Zusätzlich zur Hauptpflicht, eine Vergütung zu leisten, treffen den Besteller Nebenpflichten und Obliegenheiten (zur Obliegenheit I/4.1): 

Auch der Besteller ist verpflichtet, auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils Rücksicht zu nehmen (Obhuts- und Schutzpflichten). Dazu gehört es, dass er den Unternehmer auf Gefahren hinweist, die dem Besteller bekannt (oder mit zumutbarem Aufwand erkennbar), für den Unternehmer jedoch nur schwer erkennbar sind. Zudem kann der Vertrag weitere Nebenpflichten vorsehen. Beispiele: Schutzpflicht/Informationspflicht: „Nach zutreffender Auffassung der Vorinstanz umfasst die Nebenpflicht des Bestellers beim vorliegenden Maishäckslervertrag die Informationspflicht über grössere Hindernisse wie

2

Grenzsteine, Pfähle, Dolen und Schächte, nicht aber die Pflicht, das Feld nach kleinen Metallstücken abzusuchen. In der Tat wäre es unverhältnismässig und unzumutbar, vom Besteller zu verlangen, vor dem Maishäckslereinsatz das gesamte mit mehr als mannshohem Mais bewachsene Grundstück nach kleinen Metallteilen abzusuchen“ (BGer 4A_494/2010 E. 4.4). Mögliche Nebenpflichten gemäss Vertrag: Besteller muss eine Bankgarantie oder andere Sicherheit zu Gunsten des Unternehmers leisten oder eine Versicherung abschliessen; Besteller darf Unterlagen des Unternehmers nur im Rahmen des Vertrags verwenden; Besteller muss bestimmte Tatsachen geheim halten. 





2.4

Der Besteller muss das gehörig angebotene Werk annehmen; ansonsten gerät er in Annahmeverzug. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Rechtspflicht, sondern „lediglich“ um eine Obliegenheit. Von dieser Annahme des Werkes ist die Genehmigung des abgelieferten Werkes nach Art. 370 Abs. 1 OR zu unterscheiden. Mit der Genehmigung oder Abnahme entfallen alle Ansprüche des Bestellers, die bei ordnungsgemässer Prüfung hätten erkannt werden müssen. Nach Art. 370 Abs. 2 OR wird eine stillschweigende Genehmigung des Werkes dann angenommen, wenn der Besteller die gesetzlich vorgesehene Prüfung und Anzeige (Art. 367 OR) unterlässt. Falls die Mängel erst später entdeckt werden, muss die Anzeige sogleich erfolgen; andernfalls gilt das Werk als genehmigt (Art. 370 Abs. 3 OR). Die Prüfung des abgelieferten Werks und die Anzeige von Mängeln sind ebenfalls Obliegenheiten, nicht Pflichten. Auch bei den „Mitwirkungspflichten“ des Bestellers, wie z.B. dem persönlichen Erscheinen zur Anprobe, dem Einholen einer Baubewilligung, Planund Stofflieferungen oder Lieferung elektrischer Energie, handelt es sich grundsätzlich um Obliegenheiten. Massgebend ist aber letztlich immer die Vertragsauslegung. Sie kann ergeben, dass eine bestimmte Mitwirkungspflicht eine echte Verpflichtung ist.

Auftrag

Der einfache Auftrag ist in den Art. 394-406 OR geregelt. Gemäss Art. 394 OR verpflichtet sich der Beauftragte, die ihm übertragen Geschäfte im Interesse des Auftraggebers zu verrichten. Dabei kann sowohl die Vornahme eines Rechtsgeschäfts (Rechtshandlungsauftrag) als auch die Verrichtung einer Dienstleistung (Tathandlungsauftrag) als mögliches Geschäft in Frage kommen. Der Auftrag gehört zusammen mit dem Werkvertrag und dem Arbeitsvertrag zu den Verträgen über Arbeitsleistungen (zur Abgrenzung des Auftrags von anderen Verträgen, s. I/6.1.3). Spezielle Auftragsformen sind der Kreditbrief und der Kreditauftrag (Art. 407 bis 411 OR), der Mäklervertrag (Art. 412 bis 418 OR) und der Agenturvertrag (Art. 418a bis 418v OR). Für diese Verträge ist das Auftragsrecht ergänzend heranzuziehen. Ein Verweis auf die ergänzende Geltung des Auftragsrechts findet sich auch in den Bestimmungen zur Kommission (Art. 425 Abs. 2 OR) und beim Frachtvertrag (Art. 440 Abs. 2 OR). Als Inhalt eines Auftrages kommen in den Schranken der Vertragsfreiheit alle denkbaren „Geschäfte“ oder „Dienste“ (vgl. Art. 394 Abs. 1 OR) in Frage. Die Parteien bestimmen den Umfang des zu besorgenden Geschäftes. Bei Vertragslücken bestimmt sich gemäss Art. 396 Abs. 1 OR der Umfang nach „der Natur des zu besorgenden Geschäfts“. Für eine nähere Inhaltsbestimmung sind die

Inhalt der Vertragspflichten

105

106

Kapitel III – Vertragserfüllung

Interessen des Auftraggebers an der getreuen Erfüllung des Auftrages ebenso zu berücksichtigen wie allfällige besondere Fachkenntnisse des Auftragnehmers, die einen grösseren Ermessensspielraum rechtfertigen. Das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Auftraggeber und Beauftragtem ist beim Auftrag zentral. Dieses Vertrauensverhältnis kommt sowohl bei der Rechtsstellung des Auftraggebers als auch bei derjenigen des Beauftragten zum Ausdruck.

2.4.1

Pflichten des Beauftragten

Der Beauftragte schuldet eine Tätigkeit für den Auftraggeber gemäss Auftrag (Art. 394 Abs. 1 OR). Er haftet dem Auftraggeber für getreue und sorgfältige Ausführung des ihm übertragenen Geschäfts. Der Umfang der Sorgfaltspflicht entspricht gemäss Art. 398 Abs. 1 OR demjenigen des Arbeitnehmers. Tatsächlich aber ist Sorgfalt nach Auftragsrecht strikter. Der Sorgfaltsmassstab richtet sich daher nicht nach den konkreten Fähigkeiten, Fachkenntnissen und Eigenschaften des Beauftragten. Entscheidend ist die Sorgfalt, welche ein gewissenhafter Beauftragter in der gleichen Lage bei der Besorgung der ihm übertragenen Geschäfte anzuwenden pflegt. Beispiel: „Als Beauftragter schuldet der Anwalt Sorgfalt und Treue und wird daher seinem Auftraggeber ersatzpflichtig, wenn er ihn durch unsorgfältige oder treuwidrige Besorgung des Auftrags schädigt. Er hat jedoch nicht für den Erfolg seiner Tätigkeit Gewähr zu leisten, sondern für das kunstgerechte Tätigwerden“ (BGE 127 III 359). Ein Rechtsanwalt haftet gegenüber seinem Klienten, wenn er einen klar erkennbaren Irrtum in den Instruktionen des Klienten nicht berichtigt (BGE 117 II 568). Für bestimmte Berufsarten (Anwälte, Ärzte, Notare, Anbieter von Risikoaktivitäten etc.) lassen sich die Sorgfaltspflichten anhand öffentlich-rechtlicher Gesetzesvorschriften (auf Bundes- oder Kantonsebene) oder des Standesrechts eines bestimmten Berufs konkretisieren. Beispiele: Art. 12 Anwaltsgesetz oder Art. 2 des Bundesgesetzes über das Bergführerwesen und Anbieten weiterer Risikoaktivitäten. Die Treuepflicht schliesst die Pflicht ein, die Interessen des Auftraggebers in jeder Hinsicht zu wahren. So ist z.B. eine Interessenkollision (Kollision der Interessen des Auftraggebers mit eigenen Interessen des Beauftragten oder mit solchen anderer Mandanten) zu vermeiden.

Beispiel: Paula Roth will ihren innovativen Betrieb CLEVER AG verkaufen und nimmt in diesem Zusammenhang die Beratungsdienste des Treuhänders Kuno Moser in Anspruch. Dieser empfiehlt als Käufer die FUNY AG. Die FUNY AG lässt sich auch

2

durch Kuno Moser beraten. Im Auftragsverhältnis zwischen Paula Roth (Auftraggeber) und Kuno Moser (Auftragnehmer) verletzt Kuno Moser die Treuepflicht. Da er auch für die FUNY AG arbeitet, kommt es zur Interessenkollision. Die Treue- und Sorgfaltspflicht umfasst sodann die Geheimhaltungspflicht über Informationen, die dem Beauftragten anvertraut worden sind. Die Geheimhaltungspflichten werden für bestimmte Beauftragte durch aufsichts- und strafrechtliche Normen verstärkt (Anwaltsgeheimnis, Arztgeheimnis, Bankgeheimnis). Den Beauftragten trifft sodann eine Informations- und Aufklärungspflicht über alle Angaben, die für den Auftraggeber von Bedeutung sind. Beispiele: „Einen Anlageberater oder Anlagevermittler, der im Hinblick auf die Vermögensverwaltung oder in deren Rahmen tätig wird, treffen neben der erwähnten Aufklärungspflicht auch Beratungs- und Warnpflichten, deren gemeinsame Wurzel in der auftragsrechtlichen Sorgfalts- und Treuepflicht (Art. 398 Abs. 2 OR) liegt. Der Kunde ist hinsichtlich der Risiken der beabsichtigten Investitionen aufzuklären, nach Bedarf in bezug auf die einzelnen Anlagemöglichkeiten sachgerecht zu beraten und vor übereilten Entschlüssen zu warnen, wobei diese Pflichten inhaltlich durch den Wissensstand des Kunden einerseits und die Art des in Frage stehenden Anlagegeschäfts anderseits bestimmt werden“ (BGE 124 III 162). Hinsichtlich der vertragsrechtlichen Sorgfalts- und Treuepflicht der Bank bei der Abwicklung von Börsengeschäften für die Kundschaft wird nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zwischen drei verschiedenen Vertragsbeziehungen differenziert: der Vermögensverwaltung, der Anlageberatung und der blossen Konto-/Depot-Beziehung (BGE 133 III 102 mit Ausführungen). „Der Arzt muss den Patienten mit klaren und verständlichen Worten so umfassend wie möglich aufklären, und zwar über die Diagnose, die Therapie, die Aussichten, über die Alternativen zur vorgeschlagenen Behandlung, die Risiken der Operation, die Heilungschancen, über eine mögliche spontane Entwicklung der Krankheit und über die finanziellen Fragen, insbesondere in Bezug auf die Versicherung. Einschränkungen der Aufklärungspflicht des Arztes oder sogar Ausnahmen von derselben sind nur in genau umschriebenen Fällen zugelassen, beispielsweise dann, wenn es um alltägliche Handlungen geht, die keine besondere Gefahr und keine endgültige oder dauernde Beeinträchtigung der körperlichen Integrität mit sich bringen, wenn eine Dringlichkeit vorliegt, die an Notstand grenzt, oder wenn sich im Verlaufe einer Operation eine offensichtliche Notwendigkeit ergibt, eine weitere Operation vorzunehmen. Vom Arzt kann aber auch nicht verlangt werden, einen Patienten bis ins letzte Detail zu informieren, wenn dieser bereits eine oder mehrere ähnliche Operationen hinter sich hat. Der Patient hat jedoch ein Recht auf eine klare und umfassende Aufklärung, wenn es sich um eine besonders schwierige Operation sowohl in Bezug auf den Eingriff wie auch in Bezug auf die Folgen handelt.“ (BGE 133 III 121 Pra 2007 Nr. 105 E. 4.1.2). Nach Art. 397 Abs. 1 OR ist der Beauftragte an allfällige Weisungen des Auftraggebers gebunden. Auf Verlangen des Auftraggebers muss der Beauftragte jederzeit über seine Geschäftsführung Rechenschaft ablegen und alles erstatten, was ihm (dem Beauftragten) im Rahmen der Geschäftsführung aus irgendeinem Grunde zugekommen ist (Art. 400 Abs. 1 OR). Nach Art. 400 Abs. 2 OR hat der Beauftragte zudem Gelder, mit deren Ablieferung er sich in Rückstand befindet, zu verzin-

Inhalt der Vertragspflichten

107

108

Kapitel III – Vertragserfüllung

sen. Die Rechenschaftspflicht ist notwendige Voraussetzung für eine Erstattungspflicht. Je nach Art des Auftrages wird die auftragsrechtliche Rechenschaftspflicht durch spezialgesetzliche Normen ergänzt. Im privatrechtlichen Verhältnis Arzt-Patient bildet Art. 400 Abs. 1 OR eine Grundlage für das Führen einer vollständigen, wahrheitsgemässen und klaren Krankengeschichte. Auch die ärztlichen Standesordnungen sehen die Pflicht zur Führung von Krankengeschichten ausdrücklich vor. Der Patient kann gestützt auf das Auftragsverhältnis (Art. 400 Abs. 1 OR) von seinem Arzt Einsicht in die Krankengeschichte verlangen. Oft erhält der Arzt im Rahmen einer Behandlung Gutachten, Berichte anderer Ärzte, Austrittsberichte von Spitälern, Röntgenbilder usw. Gestützt auf Art. 400 Abs. 1 OR hat der Patient einen Anspruch auf Herausgabe dieser Unterlagen. Beispiel: Reto erlitt vor fünf Jahren einen schweren Unfall und liess sich während eines Monats in einem Privatspital und danach bei zahlreichen privaten Ärztinnen und Ärzten behandeln. Er will nun nach Paraguay auswandern und möchte im Hinblick auf eine allenfalls notwendige Fortsetzung der Behandlung wichtige Unterlagen mitnehmen. Reto Blaser kann gestützt auf Art. 400 Abs. 1 OR Einsicht in die jeweiligen Krankengeschichten verlangen. Nach Einsicht in die Unterlagen kann er die ihm geeignet scheinenden Unterlagen wie Röntgenbilder oder wichtige Berichte herausverlangen. Zur richtigen Erfüllung der Pflichten des Auftragnehmers gehört auch, dass der Beauftragte das Geschäft persönlich besorgt. Dazu darf er Hilfspersonen beiziehen. Unzulässig ist es jedoch, die Auftragsarbeiten an einen Dritten zur selbständigen Erledigung zu übertragen (sogenannte Substitution). Die Substitution ist nur zulässig, wenn der Beauftragte dazu ermächtigt oder durch die Umstände genötigt ist, oder wenn eine Vertretung übungsgemäss als zulässig betrachtet wird (Art. 398 Abs. 3 OR). Wie lässt sich der Substitut von der Hilfsperson abgrenzen? Die Frage ist nicht nur wichtig, weil der Beizug einer Hilfsperson grundsätzlich zulässig ist und die Übertragung an einen Substituten nur in gewissen Fällen, sondern auch, weil sich die Haftung für die Hilfsperson von der Haftung im Fall der befugten Substitution unterschiedet (IV/1.2). Entscheidend für die Abgrenzung sind folgende Fragen:  

Integriert der Beauftragte den Dritten in seine Erfüllungsorganisation? Der Angestellte des Beauftragten ist immer seine Hilfsperson. Ist der Dritte selbständig, kann die Unterscheidung schwierig sein. Zu fragen ist namentlich, in wessen Interesse der Beauftragte den Dritten bei zieht. Will der Beauftragte sein Geschäftsvolumen vergrössern (Hilfsperson) oder die optimale fachmännische Betreuung des Auftraggebers gewährleisten (Substitution)?

2.4.2

Pflichten des Auftraggebers

Der Auftraggeber hat gegenüber dem Beauftragten folgende zentralen Verpflichtungen:    

Leisten einer Vergütung (Art. 394 Abs. 3 OR); Ersatz von Auslagen (Art. 402 Abs. 1 OR); Befreiung von Verbindlichkeiten (Art. 402 Abs. 1 OR); Schadenersatz (Art. 402 Abs. 2 OR).

3

Modalitäten der Leistungserbringung

109

Nach Art. 394 Abs. 3 OR kann der Auftrag entgeltlich oder unentgeltlich sein. Bei berufsmässiger Dienstleistung ist der Auftrag in der Regel entgeltlich. Wurde eine Vergütung verabredet, aber kein konkreter Betrag festgesetzt, ist ein solcher nach allfälliger Übung oder im Streitfall durch den Richter nach allgemeinen Grundsätzen und nach den Umständen des Einzelfalls festzulegen. Die Vergütung ist auch dann geschuldet, wenn der Auftrag nicht erfolgreich war, wie z.B. wenn der Anwalt den Prozess verloren hat oder der medizinische Eingriff misslungen ist. Hat aber der Beauftragte den Auftrag unsorgfältig ausgeführt, schuldet der Auftraggeber nicht das volle Honorar. Ist die Leistung des Beauftragten völlig unbrauchbar und kommt sie einer Nichterfüllung des Auftrags gleich, so entfällt sein Honoraranspruch ganz. Von der Vergütung zu unterscheiden ist die Pflicht des Auftraggebers, Auslagen und Verwendungen des Beauftragten, die dem Beauftragten in korrekter Ausführung des Auftrages entstanden sind, zu ersetzen (Art. 402 OR). Musste der Beauftragte im Rahmen der Ausführung des Auftrages einen Kredit aufnehmen, sind auch die Zinsen zu ersetzen. Diese Verpflichtung ist auch dann wirksam, wenn eine Vergütung weder verabredet noch üblich ist. Zu beachten ist sodann: Aus der Ausführung des Auftrags können Pflichten des Auftraggebers gegenüber Dritten entstehen. Dies ist z.B. der Fall, wenn der Beauftragte als Vertreter des Auftraggebers (Art. 32 ff. OR, s. II/7) mit Dritten Verträge abschliesst.

3

Modalitäten der Leistungserbringung

Das OR stellt eine Reihe von Regeln zur Verfügung, die der näheren Bestimmung typischer Leistungsinhalte dienen. Zunächst fasst es in Art. 69-73 OR Regeln zum „Gegenstand der Erfüllung“ zusammen. Danach regelt es in Art. 74 OR den Ort der Erfüllung und in Art. 75-83 OR die Zeit der Erfüllung. Art. 84-90 OR enthalten schliesslich spezielle Regeln zur Zahlung von Geldschulden.

3.1

Gegenstand der Erfüllung

3.1.1

Der „Gegenstand der Erfüllung“ gemäss Art. 69-73 OR

Art. 69 OR gilt nicht nur für Zahlungen, sondern für Leistungen jeder Art (BGE 75 II 140). Art. 69 Abs. 1 OR bestimmt, dass ein Gläubiger eine Teilleistung nicht annehmen muss, wenn die gesamte Schuld feststeht und fällig ist. Die Tragweite dieser Regel ist jedoch beschränkt. Denn „Art. 69 Abs. 1 OR auferlegt dem Gläubiger, eine Teilleistung anzunehmen, wenn der Schuldner einen Teil der Forderung anerkennt und den von ihm verlangten Restbetrag bestreitet“ (BGE 133 III 598, Regeste). Zudem kann sich aus Treu und Glauben (Art. 2 ZGB) für den Gläubiger die Pflicht ergeben, einer Teilleistung zuzustimmen, z.B. wenn die Teilleistung lediglich eine minimale Differenz zur Gesamtleistung aufweist. Nach Art. 69 Abs. 2 OR (e contrario) kann der Gläubiger vom Schuldner eine Teilleistung verlangen. Der Schuldner kann in diesem Fall aber die gesamte Leistung anbieten, sofern die ganze Schuld erfüllbar ist.

Achtung: Ein unentgeltlicher Auftrag ist (aus der Perspektive des Auftraggebers) nicht notwendigerweise ein „Gratisauftrag“ (gratis ist nur die Arbeit).

110

Kapitel III – Vertragserfüllung

Art. 70 Abs. 1 OR regelt den Fall mehrerer Gläubiger einer unteilbaren Leistung und hält fest, dass der Schuldner an alle gemeinsam leisten muss, und jeder Gläubiger die Leistung an alle gemeinsam fordern kann. Art. 71 OR enthält Regeln zur Erfüllung von Gattungsschulden. Er bestimmt, dass das Recht zur Individualisierung („Konkretisierung“) dem Schuldner zusteht. Er kann die zu leistende Sache aus der Gattung auswählen. Art. 71 Abs. 2 OR präzisiert die Auswahl dahingehend, dass der Schuldner eine Sache nicht unter „mittlerer Qualität“ liefern darf, was aber nicht bedeutet, dass der Gläubiger berechtigt ist, Ware von bester Qualität zu fordern. Bei Gattungsschulden liegt also (mangels einer vertraglich vereinbarten Beschaffenheit der Gattung) eine Schlechtlieferung vor, wenn der Vertragsgegenstand ungünstig von der mittleren Qualität der Gattung abweicht. Bei der Schlechtlieferung von Gattungswaren kommen in der Regel die Normen über Mängelgewährleistung (Art. 197 ff. OR) zur Anwendung (dazu IV/3.3). Eine Wahlobligation im Sinne von Art. 72 OR liegt vor, wenn zwei oder mehrere Leistungen derart geschuldet sind, dass der Schuldner nur die eine oder andere Sache wahlweise zu erbringen hat. Art. 73 OR enthält eine Bestimmung für den Fall, dass ein Zins geschuldet ist (also eine Vergütung für die Entbehrung einer geschuldeten Geldsumme) und dessen Höhe nicht bestimmt ist, und zwar weder durch Vertrag, noch durch Gesetz (wie z.B. in Art. 104 oder Art. 314 OR) oder Übung. In diesem Fall beträgt der Zins 5% pro Jahr. Der Zins ist linear.

3.1.2

Leistung an Erfüllungs Statt und Leistung erfüllungshalber

Sofern keine entsprechende Vertragsabrede besteht, hat der Schuldner kein Recht, dem Gläubiger eine andere als die geschuldete Leistung zu erbringen. Wird diesem Grundsatz zuwider gehandelt, tritt grundsätzlich keine Erfüllung ein. Beispiel: BIT-Coins anstelle US Dollars. Dennoch kommt es in der Praxis vor, dass der Schuldner dem Gläubiger eine andere als die geschuldete Leistung in der Hoffnung anbietet, der Gläubiger nehme in seinem eigenen Interesse diese andere Leistung an Stelle der vereinbarten an. In solchen Fällen wird von einer Leistung an Erfüllungs Statt gesprochen, welche ebenfalls den Untergang der erfüllten Obligation bewirkt. Da es sich hierbei aber um eine vertragliche Modifikation handelt, ist eine entsprechende Vereinbarung zur Erreichung der gewünschten Wirkung erforderlich. Bietet der Schuldner dem Gläubiger an Stelle der vereinbarten eine andere Leistung an, kann er diese auch annehmen, ohne auf den ursprünglichen Erfüllungsanspruch zu verzichten. In solchen Fällen wird von der Leistung erfüllungshalber gesprochen. Bei der Leistung erfüllungshalber wird die ursprüngliche Forderung gestundet. Nur wenn der Gläubiger aus der erfüllungshalber erhaltenen Leistung tatsächlich Befriedigung erlangt, geht die ursprüngliche Forderung unter, ansonsten kann der Gläubiger auf die ursprüngliche Forderung zurückgreifen. Beispiel:

3

Modalitäten der Leistungserbringung

Zahlung mittels Kreditkarte, Ausstellung eines Checks: Verweigert die Bank die Einlösung eines Checks, kann der Gläubiger aus der ursprünglichen Forderung nach wie vor gegen den Schuldner vorgehen. Ergibt sich aus der Verwertung der erfüllungshalber erhaltenen Leistung im Vergleich zur ursprünglichen Forderung ein Überschuss, muss dieser an den Schuldner herausgegeben werden (Art. 400 OR analog); dies ist bei der Leistung an Erfüllungs Statt nicht der Fall.

3.2

Ort der Erfüllung

Als Erfüllungsort (Leistungsort) wird der Ort bezeichnet, wo der Schuldner seine Leistungshandlung vorzunehmen hat. Erfüllt der Schuldner nicht am richtigen Ort, gerät er gemäss Art. 102 OR in Schuldnerverzug. Umgekehrt tritt Gläubigerverzug nach Art. 91 OR ein, wenn der Gläubiger die gehörig angebotene Ware am Erfüllungsort nicht entgegennimmt. Man unterscheidet hinsichtlich des Erfüllungsortes folgende Schuldtypen: 

 

Holschuld: Bei der Holschuld ist es die Pflicht des Gläubigers, die Leistung am Sitz des Schuldners abzuholen. Der Schuldner muss nur die Leistung am Erfüllungsort bereitstellen und allenfalls dem Gläubiger Mitteilung hiervon machen. Bringschuld: Bei der Bringschuld obliegt es dem Schuldner, die vereinbarte Leistung am Sitz des Gläubigers zu erbringen. Schickschuld: Bei der Schickschuld hat der Schuldner die Nebenpflicht, die geschuldete Sache an den Gläubiger zu versenden, und zwar vom Erfüllungsort aus. Ein Anwendungsfall ist der Distanzkauf (Art. 189 Abs. 1 OR): Die verkaufte Sache muss an einen anderen als den Erfüllungsort versendet werden, wobei der Käufer die Versandkosten trägt, sofern nichts anderes vereinbart ist.

Sowohl bei der Holschuld als auch bei der Bringschuld fallen Leistungs- und Erfolgsort zusammen. Hingegen tritt bei der Schickschuld der Leistungserfolg nicht schon beim Versand ein, sondern erst, wenn die Ware beim Gläubiger eingetroffen ist. Dennoch hat der Schuldner den Vertrag bereits mit der Aufgabe der Ware zum Versand erfüllt. Der Erfüllungsort eines Vertrags bestimmt sich gemäss Art. 74 Abs. 1 OR primär nach dem Willen der Parteien. Der Parteiwille kann ausdrücklich sein oder sich aus den Umständen ergeben. Beispiel: Bei der Wohnungsmiete ist der Ort der Wohnungsübergabe vorgegeben. Die Vereinbarung eines Erfüllungsorts ist abzugrenzen: 

 

von der Vereinbarung einer Schickschuld: Die Schickschuld (wie z.B. der Distanzkauf) verändert den Erfüllungsort nicht, sondern regelt nur die Organisation des Transports; von einer Vereinbarung über die Tragung der Transportkosten („Frankoklausel“); von einer Vereinbarung über den Übergang der Gefahr.

111

112

Kapitel III – Vertragserfüllung

Ist der Erfüllungsort nicht durch den (ausdrücklichen oder sich aus den Umständen ergebenden) Parteiwillen bestimmt, kommen die dispositiven Gesetzesbestimmungen zur Anwendung. Art. 74 Abs. 2 OR enthält die allgemeinen Bestimmungen, die mangels einer Spezialbestimmung den Erfüllungsort regeln: 



Ziff. 1: Geldschulden sind Bringschulden. Der Schuldner hat an demjenigen Ort zu erfüllen, an dem der Gläubiger zur Zeit der Erfüllung seinen Sitz oder Wohnsitz hat. Bei bargeldloser Überweisung muss somit eine Gutschrift auf dem Konto des Verkäufers erfolgen. Ziff. 2: Speziesschulden sind grundsätzlich Holschulden, denn die Ware ist da zu übergeben, wo sie sich zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses befindet. Falls die Ware sich zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses jedoch an einem anderen Ort als am Wohn- oder Geschäftssitz des Schuldners befindet, gilt dieser Ort nur dann als Erfüllungsort, wenn beide Parteien zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses Kenntnis davon hatten. Beispiel: Die in St. Gallen wohnhafte Maria kauft an der art Basel von der Zürcher Galerie „löwenbräu einundzwanzig“ eine Collage von Beth Campbell, welche sich im Atelier der Künstlerin in Pontresina befindet. Erfüllungsort ist Pontresina.



Ziff. 3: Andere Verbindlichkeiten, vor allem Gattungsschulden, sind an dem Ort zu erfüllen, wo der Schuldner zur Zeit der Erfüllung seinen Wohnsitz hat. Es handelt sich hier also grundsätzlich um eine Holschuld, wenn keine anderen Bestimmungen vorgehen. Beispiele: Anna kauft einen Schrank bei IKEA Spreitenbach, welcher zerlegt in einer Schachtel im dortigen Selbstbedienungslager liegt. Erfüllungsort ist Spreitenbach. Moira kauft online einen Computer, der verschickt werden muss (Schickschuld). Gesetzlicher Erfüllungsort für Gattungsware ist der Sitz des Verkäufers (Art. 74 Abs. 2 Ziff. 3 OR), somit der Standort des Geschäfts.

Die Hauptbedeutung des Erfüllungsorts liegt wie erwähnt darin, dass an diesem Ort der Vertrag als erfüllt gilt. Der Erfüllungsort hat aber auch Nebenbedeutungen: Er beeinflusst z.B. die Bestimmung der relevanten Feiertage (Art. 78 OR) und der gewöhnlichen Geschäftszeit (Art. 79 OR) und ist massgebend für die Bestimmung des gewöhnlichen Markpreises (Art. 212 Abs. 1 OR).

3.3

Zeit der Erfüllung

Der Schuldner hat nur dann richtig erfüllt, wenn auch der Zeitpunkt der Leistungserbringung stimmt. Beim Begriff der Erfüllungszeit (Leistungszeit) ist zwischen der Erfüllbarkeit und der Fälligkeit einer Forderung zu unterscheiden: 

Fälligkeit: Der Gläubiger darf die Leistung einfordern und einklagen und der Schuldner muss daraufhin leisten. Der Zeitpunkt, an dem die Leistung gefordert werden kann, heisst Fälligkeitstermin. Ist die Fälligkeit der Forderung eingetreten und leistet der Schuldner nicht, so gerät er nach den übrigen Voraussetzungen von Art. 102 ff. OR in Schuldnerverzug.

3



Modalitäten der Leistungserbringung

Erfüllbarkeit: Ab diesem Zeitpunkt darf der Schuldner die Leistung (mit befreiender Wirkung) erbringen, Sobald die Erfüllbarkeit einer Schuld eintritt, trifft den Gläubiger die Obliegenheit, die gehörig angebotene Leistung anzunehmen. Verweigert der Gläubiger zu diesem Zeitpunkt die angebotene Leistung, gerät er gemäss Art. 91 OR in Gläubigerverzug.

Gemäss Art. 75 OR bestimmen sich Fälligkeit und Erfüllbarkeit in erster Linie nach dem Vertrag. Grundsätzlich haben die Parteien also die Möglichkeit, den Leistungszeitpunkt mit der Vereinbarung eines Termins oder einer Frist selbst festzulegen. Ein Termin hat die Bedeutung, dass man einen genauen Zeitpunkt vereinbart hat, bei dessen Erreichen Fälligkeit und Erfüllbarkeit zusammenfallen, wie z.B. „am 16. Juli 2001“ oder „am 25. Geburtstag des Gläubigers“. Bei einer Frist wird dem Schuldner die Möglichkeit gegeben, innerhalb eines vereinbarten Zeitraums zu leisten bzw. zu erfüllen, wie z.B. „zahlbar innert 20 Tagen nach Ablieferung“. Wird eine Frist vereinbart, hat der Schuldner die Möglichkeit, die Leistung schon mit deren Beginn zu erbringen, die Fälligkeit tritt jedoch erst mit Ablauf der Frist ein. Beispiel: A und B schliessen am 1. Mai einen Kaufvertrag. Vereinbaren sie „Lieferung bis 15. Mai“, so ist die Obligation ab sofort erfüllbar (A kann bereits am Folgetag liefern, und B muss die Lieferung annehmen), fällig ist sie erst am 15. Mai (erst dann kann A mahnen und das Verzugsprozedere in Gang setzen). Vereinbaren sie „Lieferung am 15. Mai“, so ist die Obligation erst am 15. Mai erfüllbar (liefert B vorher, muss er die Lieferung nicht annehmen) und zugleich auch fällig. Art. 76-78 OR enthalten Bestimmungen zu den Fristen. So bedeutet z.B. „Anfang Monat“ der erste Tag des Monats, „Mitte Monat“ der 15. Tag eines Monats und „Ende Monat“ der letzte Tag des Monats (Art. 76 OR). Art. 77 OR bestimmt u.a., dass eine Frist, die nach Tagen bestimmt ist, mit ihrem letzten Tag abläuft und dabei der Tag des Vertragsabschlusses nicht mitgezählt wird. Art. 78 OR regelt die Fälle, in denen das Ende der Frist auf einen Sonn- oder Feiertag fällt. Ist nichts konkret vereinbart worden, kann sich die Fälligkeit aus der Natur der Obligation ergeben, z.B. wenn eine Ware erst noch hergestellt werden muss (s. auch Art. 309 Abs. 1, Art. 476 Abs. 1 OR). Ansonsten kommen die dispositiven Gesetzesbestimmungen zur Anwendung. Nach Art. 75 OR sind die vertraglichen Forderungen mit Abschluss des Vertrags sofort erfüllbar und fällig. Im OR (und auch in anderen privatrechtlichen Erlassen) sind aber zahlreiche Sonderbestimmungen enthalten, die Art. 75 OR vorgehen, wie z.B. die folgenden: 



„Für den Kaufvertrag bestimmt Art. 213 Abs. 1 OR, dass der Kaufpreis mit dem Übergang des Kaufgegenstandes in den Besitz des Käufers fällig wird, falls kein anderer Zeitpunkt vereinbart ist. Diese Bestimmung ist richtig ausgelegt als Bestätigung des Grundsatzes zu verstehen, dass Verkäufer und Käufer ihre Leistungen gleichzeitig – Zug um Zug – zu erfüllen haben. Der Verkäufer ist somit nicht zur Vorleistung verpflichtet, um die Fälligkeit des Kaufpreises zu bewirken. Es genügt, wenn er seine Leistung anbietet“ (BGE 129 III 541). Art. 257c OR schiebt die Fälligkeit der Mietzinsforderung hinaus: „Der Mieter muss den Mietzins und allenfalls die Nebenkosten am Ende jedes Monats, spätestens aber am Ende der Mietzeit bezahlen, wenn kein anderer Zeitpunkt vereinbart oder ortsüblich ist.“ Der Vermieter ist also vorleis-

113

114

Kapitel III – Vertragserfüllung







3.4

tungspflichtig. Bei der Wohnungsmiete wird aber üblicherweise gerade das Gegenteil vereinbart, nämlich die Vorauszahlungspflicht des Mieters. Nach Art. 318 OR wird ein Darlehen, für dessen Rückzahlung weder ein bestimmter Termin noch eine Kündigungsfrist noch der Verfall auf beliebige Aufforderung hin (d.h. sofortige Fälligkeit ab Aufforderung) vereinbart wurde, sechs Wochen nach seiner Kündigung fällig. Der Arbeitgeber muss dem Arbeitnehmer den Lohn am Ende jedes Monats ausrichten (Art. 323 Abs. 1 OR). Der Arbeitnehmer ist also vorleistungspflichtig. Zur Fälligkeit von Provisionen und Anteilen am Geschäftsergebnis s. Art. 323 Abs. 2 und 3 OR. Art. 339 Abs. 1 OR bestimmt sodann, dass mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses alle Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis fällig werden. Gemäss Art. 372 OR wird der Werklohn mit Ablieferung des Werks fällig (Art. 372 Abs. 1 OR; also nicht bereits mit der Vollendung des Werks, aber auch nicht erst nach dessen Prüfung oder Genehmigung). Ist das Werk durch körperliche Übertragung abzuliefern, wird die Vergütung bereits fällig, wenn der Unternehmer die Ablieferung anbietet. Diese erfolgt sodann Zug um Zug gegen Bezahlung des Werklohns (Art. 82 OR). Da die Vergütung erst bei Ablieferung fällig wird, ist der Unternehmer vorleistungspflichtig und hat mangels anderer Vereinbarung kein Recht auf Voraus- oder Abschlagszahlungen. Abweichende Vereinbarungen über die Fälligkeit des Werklohnes und den Zeitpunkt von Zahlungen sind zulässig und in der Praxis auch üblich, insbesondere in der Baubranche (Verwendung der SIANorm 118). Verbreitet sind dort Akontozahlungen des Bestellers.

Besondere Regeln zur Erfüllung von Geldschulden

Gemäss Art. 84 Abs. 1 OR sind Geldschulden grundsätzlich in Landeswährung zu bezahlen. Wenn die Schuld auf eine ausländische Währung lautet, kann gemäss Art. 84 Abs. 2 OR dennoch die geschuldete Summe nach ihrem Wert zur Verfallzeit in Landeswährung beglichen werden. Der Schuldner hat also die Alternativermächtigung, den Kaufpreis in der vertraglich geschuldeten Währung oder in Schweizer Franken zu bezahlen. Demgegenüber steht dem Gläubiger ein solches Wahlrecht nicht zu. Die Alternativermächtigung des Schuldners ist gemäss Art. 84 Abs. 2 OR ausgeschlossen, sofern durch einen Zusatz – eine sogenannte „Effektivklausel“ – die wortgetreue Erfüllung des Vertrages ausbedungen ist. Heute herrscht in weiten Bereichen des Wirtschaftslebens der bargeldlose Zahlungsverkehr vor. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob im heutigen Wirtschaftsleben Zahlung auch durch Leistung von Buchgeld (statt Bargeld) erfolgen kann. Bei einer Überweisung handelt es sich nicht um eine Zahlung im Rechtssinne, sondern um eine Leistung an einen Dritten, also eigentlich eine Leistung an Erfüllungs Statt (dazu III/3.1.2). Auf Grund der Vorteile und der breiten Akzeptanz des bargeldlosen Zahlungsverkehrs ist diese Frage allerdings von geringer praktischer Bedeutung. Denn in den meisten Fällen wird (zumindest stillschweigend) vereinbart, dass der Schuldner auch mittels Überweisung erfüllen darf.

4

4

Bedingte Pflichten

115

Bedingte Pflichten

Die Vertragsparteien können gewisse Vertragspflichten oder auch den gesamten Vertrag vom Eintreten oder Ausbleiben einer zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch ungewissen Tatsache abhängig machen. „Bedingt ist ein Vertrag, wenn seine Wirksamkeit oder einzelne seiner Wirkungen von einem nach den Vorstellungen der Parteien ungewissen zukünftigen Ereignis abhängen, wenn die Verpflichtung des Schuldners im Grundsatz und nicht bloss hinsichtlich des Erfüllungszeitpunkts noch ungewiss ist“ (BGE 135 III 436). Beispiele: Grundstückkaufvertrag unter Vorbehalt einer Baubewilligung (BGE 93 II 527). Werklieferungsvertrag unter der Bedingung des Erwerbs eines geeigneten Baugrundstücks (BGE 117 II 275). Versicherungsvertrag mit Begünstigungsklausel: Bedingung der Versicherungsleistung ist der Tod des Versicherungsnehmers zusammen mit dem Überleben des Begünstigten (BGE 112 II 159). Kaufvertrag (abgeschlossen 1940) über 30 Tonnen Kakaobutter unter folgender Bedingung: „Voraussetzung für die Durchführung des Geschäfts ist in erster Linie die Erteilung eines Navicerts seitens der englischen Regierung“ (BGE 72 II 29). Vom Ehemann der Frau geschenkter, ererbter Familienschmuck ist von ihr zurückzugeben, wenn die Ehe aus ihrem Verschulden geschieden wird. Die Schenkung steht unter der stillschweigenden Bedingung, dass die Ehe nicht aufgelöst wird (BGE 71 II 255 – heute zweifelhaft). Grundsätzlich können alle Rechtsgeschäfte bedingt abgeschlossen werden. Eine Ausnahme bilden Gestaltungsrechte wie die Kündigung eines Vertrags, der Rücktritt von einem Vertrag, die Verrechnung oder das Wahlrecht zwischen den verschiedenen Mängelrechten im Kauf- oder Werkvertrag. Die Rechtssicherheit verlangt hier, dass solche Gestaltungsrechte ohne Bedingungen ausgeübt werden. Bedingungsfeindlich sind sodann z.B. zahlreiche Geschäfte des Familienrechts (wie die Eheschliessung oder die Adoption) oder Prozesshandlungen.

5

Fragen und Fälle zum Selbststudium

1.

Was unterscheidet die Fälligkeit von der Erfüllbarkeit?

2.

Ein berühmter Tenor ist für eine Galavorstellung in Zürich engagiert worden. Wegen einer unvorhersehbaren Terminkollision möchte er sich durch einen Kollegen vertreten lassen. Ist dies möglich?

3.

Wie heissen die Parteien eines Vertrags zu Gunsten Dritter? Welche Rechtsverhältnisse bestehen zwischen den Beteiligten?

4.

Wie entsteht eine Solidarschuldnerschaft?

5.

Z schuldet R CHF 250 000. Nach diversen Mahnungen, die unbeantwortet blieben, beschliesst R, die Forderung an die Intrakasso GmbH abzutreten. Die Intrakasso GmbH einigt sich mit R, für die abgetretene Forderung CHF 50 000 zu bezahlen, da man befürchten muss, dass Z ziemlich sicher Konkurs gehen würde.

Merke: Gegenstand einer Bedingung können nur zukünftige, objektiv ungewisse Tatsachen sein.

116

Kapitel III – Vertragserfüllung

a.

Wie sähen nun aber die Chancen für R aus, an die restlichen CHF 200 000 zu kommen, falls Z doch wieder liquide würde?

b.

Variante: Könnte die Intrakasso GmbH für die bezahlten CHF 50 000 auf R zurückgreifen, falls sie gegenüber Z leer ausgehen würde?

6.

Wann findet die Gefahrenübertragung bei einem Distanzkauf statt?

7.

Gilt der Mieterschutz für alle Mietverträge?

8.

Welche gesetzlichen Pflichten hat a.

der Vermieter,

b.

der Mieter beim Mietvertrag?

9.

Was ist unter einem Werk im Sinne des Werkvertrages zu verstehen? Was ist ein Werklieferungsvertrag?

10.

Welches sind die wichtigsten Pflichten des Werkunternehmers, welches die des Werkbestellers?

11.

Wie wird der Inhalt eines Auftrages bestimmt? Begründen Sie Ihre Antwort mit dem Gesetz.

12.

Wann muss der Beauftragte die versprochene Leistung persönlich erfüllen?

13.

Substitut und Hilfsperson a.

Worin besteht der Unterschied einer Haftung nach Art. 101 OR und Art. 399 Abs. 2 OR?

b.

Welche der beiden Haftungsarten ist für den Geschädigten vorteilhafter? Weshalb?

c.

Wann liegt eine befugte, wann eine unbefugte Substitution vor?

117

Kapitel IV – Vertragsverletzung Die beiden vorangehenden Kapitel haben gezeigt, wie ein Vertrag gültig zustande kommt und welche Rechte und Pflichten er für die Parteien schafft. Dieses Kapitel stellt dar, was geschieht, wenn eine Partei ihre Pflichten verletzt. Es behandelt also die Voraussetzungen und die Folgen der Vertragsverletzung. Verträge können auf verschiedene Weise verletzt werden: Es kann sein, dass der Schuldner gar nicht leistet: Entweder leistet er zu spät (Schuldnerverzug, Art. 102 ff. OR + Spezialregelungen im OR BT) oder er kann überhaupt nicht mehr leisten (Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit; Art. 97 ff. OR, Art. 119 OR). Es kann auch sein, dass der Schuldner seine Leistung zwar erbringt, diese aber nicht vertragskonform ist (Schlechterfüllung, Art. 97 ff. OR + Spezialregelungen im OR BT). Schliesslich ist möglich, dass der Schuldner seine Leistung nicht rechtzeitig erbringen kann, weil der Gläubiger sie nicht entgegennimmt oder bei der Erfüllung nicht mitwirkt (Gläubigerverzug, Art. 91 ff. OR). Das OR unterscheidet also nach den Ursachen der Vertragsverletzung. Demgegenüber baut das CISG auf einem Einheitstatbestand der Vertragsverletzung auf: Welche Rechtsbehelfe dem Gläubiger zur Verfügung stehen hängt im Grundsatz nicht von der Ursache der Leistungsstörung ab, sondern von deren Intensität. Indes muss auch das CISG danach unterscheiden, ob überhaupt nicht geleistet wurde oder ob die Leistung mangelhaft ist. Und umgekehrt spielt die Intensität der Vertragsverletzung auch im Schweizer Leistungsstörungsrecht eine Rolle (Wandlung/Kündigung ist nicht möglich bei geringfügigen Mängeln). Im Ergebnis sind die Unterschiede zwischen den beiden Systemen deshalb geringer, als ihre verschiedenen Ansätze vermuten liessen. Wird der Gläubiger durch die Vertragsverletzung in seiner Person oder seinem Eigentum verletzt, kann er seinen Anspruch auf Schadenersatz auf zwei Grundlagen stützen: auf den Vertrag und auf die unerlaubte Handlung (wobei er natürlich den Schadenersatz nur einmal erhält). Reine Vermögensschäden kann er dagegen in der Regel nur gestützt auf den Vertrag geltend machen, da das Vermögen deliktisch nur dann geschützt ist, wenn eine besondere Schutznorm vorliegt (s. zum Ganzen hinten, VI/1.1.4). Der vorliegende Teil ist wie folgt aufgebaut: Zunächst werden die Grundnormen der Vertragsverletzung behandelt (1): Die Verschuldenshaftung (Art. 97 OR) und die Hilfspersonenhaftung (Art. 101 OR). Danach werden die gesetzlichen Folgen der Nichterfüllung (2) und der Schlechterfüllung (3) beschrieben. Diesen Ausführungen folgt ein Kapitel über die Freizeichnung von der vertraglichen Haftung (4). Das Kapitel schliesst mit Erläuterungen über eine vertraglich vereinbarte Folge der Vertragsverletzung, die in der Praxis häufig vorkommt: die Konventionalstrafe (5).

118

Kapitel IV – Vertragsverletzung

1

Verschuldens- und Hilfspersonenhaftung

1.1

Verschuldenshaftung

Art. 97 OR ist der Grundtatbestand der Vertragsverletzung. Er regelt gemäss Rechtsprechung und Lehre entgegen seinem Wortlaut nicht nur die Nichterfüllung aufgrund von Unmöglichkeit, sondern auch die Schlechterfüllung, soweit der OR BT keine besonderen Bestimmungen enthält. Der Verzug ist im OR allerdings speziell geregelt (Art. 102-109 OR und Sonderbestimmungen im OR BT) und Art. 97 OR ist nicht anwendbar. Der Anwendungsbereich des Art. 97 OR ist somit der folgende:

Anwendungsbereich von Art. 97 OR

verschuldete Unmöglichkeit  

verschuldete Schlechterfüllung

Im Bereich der Unmöglichkeit ist nebst Art. 97 OR auch Art. 119 OR (nachträgliche unverschuldete Unmöglichkeit) zu beachten. Im Bereich der Schlechterfüllung gibt es Sonderbestimmungen zur Mängelhaftung, die Art. 97 OR verdrängen (s. insbesondere Art. 197 ff. OR, Art. 258 ff. OR und Art. 368 ff. OR).

Art. 97 OR gewährt Schadenersatz aus Vertragsverletzung. Die Voraussetzungen eines solchen Ersatzanspruches sind:   



Vertragsverletzung: Eine vertragliche Pflicht wird nicht gehörig erfüllt. Zum vertraglichen Pflichtenprogramm s. Kapitel III. Schädigung: finanzieller Nachteil Kausalzusammenhang zwischen Vertragsverletzung und Schädigung. Es muss sowohl der natürliche (die Vertragsverletzung ist condito sine qua non für die Schädigung, d.h. ohne Vertragsverletzung keine Schädigung) als auch der sogenannte adäquate Kausalzusammenhang (die Vertragsverletzung muss nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sein, die Schädigung herbeizuführen) vorliegen. Verschulden: Der Schuldner haftet für jedes Verschulden, also nicht nur für Vorsatz, sondern auch für leichte Fahrlässigkeit (Art. 99 Abs. 1 OR). Das Mass der Haftung wird aber milder beurteilt, wenn das Geschäft für den Schuldner keinerlei Vorteil bezweckt (also z.B. bei der Schenkung, s. Art. 99 Abs. 2 OR). Bei der Bestimmung des Verschuldens gilt ein objektiver Massstab: Massgebend ist, wie sich ein vernünftiger Dritter in derselben Situation verhalten hätte. Gemäss Art. 97 Abs. 1 OR wird das Verschulden vermutet. Es muss also nicht der Geschädigte das Verschulden des Schuldners beweisen, sondern dieser, dass ihn kein Verschulden trifft. Zu beachten ist allerdings, dass diese Beweislastumkehr dem Gläubiger überall dort nichts nützt, wo die Vertragsverletzung in der Verletzung einer Sorgfaltspflicht besteht (wie z.B. beim Auftrag). Denn die Kriterien der Sorgfaltspflichtverletzung und des objektivierten Verschuldens decken sich und es ist der Gläubiger, der die Vertrags- und damit die Sorgfaltspflichtverletzung beweisen muss. Umgekehrt kann sich der Schuldner kaum mehr exkulpieren, wenn ihm der Gläubiger eine Sorgfaltspflichtverletzung nachgewiesen hat. Der

1

Verschuldens- und Hilfspersonenhaftung

119

Exkulpationsbeweis ist ohnehin schwierig. Denn der Schuldner muss beweisen, dass die Vertragsverletzung auf ein Ereignis zurückzuführen ist, das er vernünftigerweise nicht erkennen und vermeiden konnte. Liegen die vier beschriebenen Voraussetzungen vor, so ist in einem nächsten Schritt zu bestimmen, wie hoch der Schadenersatzanspruch des Gläubigers ist. Dabei gelten gemäss Art. 99 Abs. 3 OR die Bestimmungen über die unerlaubten Handlungen. Gemeint sind Art. 42-51 OR (mit Ausnahme von Art. 45 Abs. 3 OR) und Art. 54 OR. Die Bestimmung des Ersatzanspruchs erfolgt in zwei Schritten: 



1.2

Zunächst ist der Schaden zu berechnen (Art. 42 OR). Dabei wird u.a. geprüft, ob dem Geschädigten nicht gewisse Massnahmen zumutbar gewesen wären, um den entstandenen Schaden zu mindern (z.B. indem er einen Deckungskauf tätigt, statt dass er zuwartet, während die Kaufsache immer teurer wird). Die Schadenspositionen, die der Geschädigte bei vernunftgemässen Verhalten hätte verhindern können, stellen keinen ersatzfähigen Schaden dar. In einem zweiten Schritt ist der Ersatz zu bemessen (Art. 43 f. OR). Dabei gilt es vor allem zu berücksichtigen, dass den Geschädigten eine Mitverantwortung am entstandenen Schaden treffen kann. In einem solchen Fall erhält er nicht seinen ganzen (gemäss erstem Schritt berechneten) Schaden ersetzt. Vielmehr ermässigt das Gericht die Ersatzpflicht oder entbindet gänzlich von ihr (Art. 99 Abs. 3 i.V.m. Art. 44 Abs. 1 OR).

Hilfspersonenhaftung und Haftung für den Substituten

Ein Schuldner haftet nicht nur für sein eigenes Verhalten. Vielmehr wird die Verschuldenshaftung aus Art. 97 OR um die Haftung für Hilfspersonen in Art. 101 OR ergänzt. Grundgedanke von Art. 101 OR ist, dass derjenige, der durch den Beizug von Hilfspersonen seinen Tätigkeitsbereich und damit auch seine Verdienstmöglichkeiten erweitert („Geschäftsherr“), auch für das fehlerhafte Verhalten derselben einzustehen hat. Die Hilfsperson im Sinne von Art. 101 OR ist eine Drittperson, die mit Wissen und Wollen einer Vertragspartei (des Geschäftsherren) beigezogen wird, um eine vertragliche Schuldpflicht zu erfüllen („Erfüllungsgehilfe“) oder um ein vertragliches Recht auszuüben („Ausübungsgehilfe“). Die Hilfsperson kann anstelle des Geschäftsherrn handeln (und zwar selbständig oder nach Weisung der Vertragspartei) oder neben dem Geschäftsherr. Ein Subordinationsverhältnis zwischen Geschäftsherr und Hilfsperson muss (im Vergleich zur Geschäftsherrenhaftung gemäss Art. 55 OR, s. VI/2) nicht vorliegen. Das Gesetz nennt in Art. 101 Abs. 1 OR exemplarisch Hausgenossen oder Arbeitnehmer. Hilfspersonen sind also primär die Arbeitnehmer einer Vertragspartei. Daneben gibt es aber zahlreiche weitere Hilfspersonen, wie die folgenden Beispiele zeigen: 

 

Verpflichtet sich ein Generalunternehmer zur Erstellung eines Hauses, dann sind alle beigezogenen Subunternehmen (Dachdecker, Aushubunternehmen, Elektrikergeschäft usw.) Hilfspersonen des Generalunternehmers. Die Bank, die von einem Schuldner mit der Ausführung einer Zahlung beauftragt wurde, ist dessen Hilfsperson (BGE 111 II 504 ff.). Betreibt eine Gemeinde ein öffentlich zugängliches Schwimmbad, haftet sie für das Verhalten des Bademeisters aus Art. 101 OR (BGE 113 II 424 ff.).

Beachte: Bei der Geschäftsherrenhaftung (s. VI/2) ist der Begriff der Hilfsperson enger definiert und umfasst bloss den Angestellten, nicht aber Selbständige oder andere Unternehmer.

120

Kapitel IV – Vertragsverletzung

 

Leitung und Personal eines Hotels sind Hilfspersonen (Erfüllungsgehilfen) des Reiseveranstalters gegenüber dem Konsumenten. Ein weiteres Beispiel für einen Ausübungsgehilfen findet sich in BGE 130 III 591: Ein Bauherr zieht einen Architekten als Bauherrenvertreter bei, der bei der Ausübung der Rechte des Bauherrn gegenüber den ausführenden Ingenieuren mitwirkt.

Nicht unter Art. 101 OR fallen demgegenüber:   

Maschinen, Apparate und Tiere, die der Geschäftsherr zur Erfüllung seiner Verpflichtungen einsetzt. Die Zulieferer des Geschäftsherrn (wobei z.T. die Ansicht vertreten wird, sie seien ebenfalls Hilfspersonen des Geschäftsherrn). Organe einer juristischen Person: Deren Verhalten ist direkt das Verhalten der juristischen Person. Dies gilt im vertraglichen wie auch im ausservertraglichen Bereich. Organe sind zum einen die gewählten oder ordnungsgemäss eingesetzten Organe (formelle Organe, z.B. Verwaltungsrat und Geschäftsleitung der AG, Vereinsvorstand). Zum andern gelten aber auch Personen als Organe, die Entscheidungen treffen, welche den formellen Organen vorbehalten sind (faktische oder materielle Organe, z.B. stiller Verwaltungsrat oder Muttergesellschaft im Konzern). Zum Organbegriff s. Band II, II/1.7.4. Da sich Organeigenschaft und Hilfspersoneneigenschaft gegenseitig ausschliessen, kann es nicht zu einer Überschneidung zwischen Art. 55 Abs. 2 ZGB und Art. 101 Abs. 1 OR kommen.

Nach Art. 101 Abs. 1 OR muss die Hilfsperson den Schaden „in Ausübung ihrer Verrichtungen“ verursacht haben. Erforderlich ist also ein funktioneller Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Hilfsperson und dem Vertrag in dem Sinne, dass die schädigende Handlung der Hilfsperson zugleich eine Nicht- oder Schlechterfüllung der Schuldpflicht des Schuldners aus seinem Vertrag mit dem Geschädigten darstellt. Strittig ist, ob der Schuldner für Handlungen der Hilfsperson, die diese bloss bei Gelegenheit der Verrichtung verübt, einzustehen hat. Durch eine weite Definition der Schutzpflichten des Schuldners aus dem Vertragsverhältnis lässt sich aber auch der Anwendungsbereich des funktionellen Zusammenhangs (und damit die Haftung des Geschäftsherrn) entsprechend ausdehnen. Beispiele: Der Malermeister Peter Müller hat für eine kleine Malerarbeit bei Familie Keller den Gehilfen Marcel eingesetzt. Folgende Ereignisse geschehen: a) Marcel hat bei der Verrichtung der Malerarbeiten den Teppich nicht sorgfältig abgedeckt und verschmutzt den Teppich mit wasserfester Farbe; b) Marcel lässt die grosse Farbrolle fallen und zerstört dabei eine wertvolle chinesische Vase der Familie Keller; c) Marcel gerät in einen verbalen Streit mit Frau Keller und gibt ihr in der Hitze des Gefechtes eine Ohrfeige. Im letzten Fall (c) ist der funktionelle Zusammenhang nicht gegeben, im ersten (a) schon, und im mittleren Fall (b) bejaht ihn die herrschende Lehre.

1

Verschuldens- und Hilfspersonenhaftung

Eine Haftung des Schuldners setzt voraus, dass die Handlung der Hilfsperson auch dem Schuldner vorgeworfen werden könnte, wenn er sie selbst vorgenommen hätte. Dieses Kriterium nennt man auch hypothetische Vorwerfbarkeit. Ausschlaggebend ist nicht, ob die Hilfsperson eine Sorgfaltspflicht verletzt hat, sondern ob der Schuldner sie verletzt hätte, wenn er sich wie die Hilfsperson verhalten hätte. Mit den Worten des Bundesgerichts: „Der Geschäftsherr haftet dann, wenn die Hilfsperson nicht die Sorgfalt angewendet hat, die von ihm selbst zu erwarten war“ (BGE 130 III 605). Durch die hypothetische Vorwerfbarkeit soll ausgeschlossen werden, dass der Gläubiger besser oder schlechter gestellt wird, als wenn der Schuldner persönlich erfüllt hätte. Im Auftragsrecht weicht die Haftung für Dritte in gewissen Konstellationen von der Haftung für Hilfspersonen (Art. 101 OR) ab. Es kann nämlich sein, dass der Beauftragte den Dritten nicht als Hilfsperson herbeizieht, sondern dass er dem Dritten das Geschäft oder einen Teil davon überträgt. Dann ist der Dritte ein Substitut und die Haftung des Beauftragten richtet sich danach, ob er zur Übertragung des Geschäfts auf den Substituten befugt war oder nicht (Art. 398 Abs. 3, Art. 399 OR). Das Prüfschema lautet wie folgt: 

  

Zunächst stellt sich die Frage, ob der Dritte Hilfsperson ist oder Substitut. Kriterien sind zum einen, ob der Dritte Angestellter des Beauftragten ist (dann ist der Dritte Hilfsperson) oder ob er selbständig arbeitet und zum andern, ob der Dritte im Interesse des Beauftragen beigezogen wird (dann wird auch ein selbständiger Dritter wie eine Hilfsperson behandelt) oder im Interesse des Auftraggebers (dann ist der Dritte Substitut). Ist der Dritte Hilfsperson, so haftet der Beauftragte dem Auftraggeber nach Art. 101 OR und der Dritte selbst nach Art. 41 OR. Ist der Dritte Substitut, so ist zu prüfen, ob der Beauftragte zur Übertragung der Geschäfte befugt war (s. dazu Art. 398 Abs. 3 OR). Hat der Beauftragte die Besorgung des Geschäftes unbefugterweise einem Dritten übertragen, so haftet er gemäss Art. 399 Abs. 1 OR für dessen Handlungen, wie wenn es seine eigenen wären. Diese Bestimmung ist missverständlich formuliert. Denn die unbefugte Übertragung auf einen Dritten ist bereits eine Vertragsverletzung und der Beauftragte haftet dafür nach Art. 97 OR.

War der Beauftragte zur Übertragung befugt, so haftet er nur für gehörige Sorgfalt bei der Wahl und Instruktion des Dritten (Art. 399 Abs. 2 OR). Beispiele: Eine Rechtsanwältin muss zur Bearbeitung eines Falles eine Steuerspezialistin konsultieren. Ist dieser Beizug im Interesse des Mandanten, haftet die Rechtsanwältin nur im Rahmen von Art. 399 Abs. 2 OR. Ist die Spezialistin sorgfältig ausgewählt und instruiert worden, besteht für Fehler der Spezialistin keine Haftung der Rechtsanwältin. Für den im gleichen Fall tätigen Anwaltspraktikanten der Rechtsanwältin besteht aber die „normale“ Hilfspersonenhaftung nach Art. 101 OR. Zieht die zur Schätzung des Wertes eines Kunstgegenstandes verpflichtete Spezialunternehmung einen Fachmann des Mutterhauses bei, so haftet sie für dessen fehlerhafte Schätzung nach Art. 101 OR (und nicht nach dem für den Beauftragten milderen Art. 399 Abs. 2 OR), da sich der Fachmann ähnlich einem Angestellten in der Geschäftssphäre des Beauftragten befindet (BGE 112 II 354). Gemäss Art. 399 Abs. 3 OR kann der Auftraggeber in Fällen der befugten wie der unbefugten Substitution die Ansprüche, die dem Beauftragten gegen den

121

Die Voraussetzungen der Hilfspersonenhaftung im Überblick: -

Der Geschäftsherr zieht eine Hilfsperson bei.

-

Diese schädigt den Vertragspartner.

-

Zwischen dem Verhalten der Hilfsperson und der Schädigung besteht ein funktioneller Zusammenhang.

-

Die Schädigung ist dem Geschäftsherrn hypothetisch vorwerfbar.

122

Kapitel IV – Vertragsverletzung

Dritten zustehen, unmittelbar gegen diesen geltend machen. Entgegen dem Wortlaut der Bestimmung ist der Direktanspruch des Auftraggebers gegen den Substituten aber nicht davon abhängig, ob dieser den Beauftragten durch sein Verhalten geschädigt hat. Vielmehr ist der Auftraggeber gegenüber dem Substituten weisungsberechtigt und hat im Schadenfall einen direkten Anspruch gegen ihn (BGE 121 III 315). Beispiel: Im vorne aufgeführten Beispiel hat die Rechtsanwältin eine Steuerspezialistin beauftragt. Der Mandant hat an sich keinen Vertrag mit der Steuerspezialistin. Aufgrund der Bestimmung in Art. 399 Abs. 3 OR kann er aber gleichwohl vertragliche Ansprüche gegen die Spezialistin geltend machen.

2

Nichterfüllung

Nichterfüllung bedeutet, dass der Schuldner seine Leistung zu spät oder gar nicht erbringt. Erfüllt der Schuldner nicht zum vertraglich vorgesehenen Zeitpunkt, so kann der Gläubiger zunächst seine eigene Leistung zurückhalten (Art. 82 OR). Zudem kann er auf Erfüllung klagen, falls er dem Schuldner seine eigene Leistung angeboten hat. Hat er dies noch nicht getan, kann der Schuldner seine Leistung ebenfalls zurückhalten. Hat der Gläubiger seine Leistung erbracht oder angeboten und erfüllt der Schuldner nicht, so kann der Gläubiger nicht nur auf Erfüllung klagen, sondern seinen Erfüllungsanspruch auch zwangsweise durchsetzen: Gestützt auf Art. 98 OR kann sich der Gläubiger vom Gericht ermächtigen lassen, die Leistung auf Kosten des Schuldners vorzunehmen oder den rechtswidrigen Zustand auf seine Kosten zu beseitigen. Er kann den Schuldner aber auch in Verzug setzen und nach abgelaufener Nachfrist gestützt auf Art. 107 Abs. 2 OR ohne richterliche Ermächtigung eine Ersatzvornahme tätigen und die Kosten als Schadenersatz geltend machen. Dieses Vorgehen ist effizienter. Art. 98 OR hat deshalb nur dort eine Bedeutung, wo der Schuldner die Vertragsverletzung nicht verschuldet hat und ein Schadenersatzanspruch gestützt auf Art. 107 OR deshalb ausgeschlossen ist. Welche Rechte eine Vertragspartei im Fall der Nichterfüllung hat und unter welchen Voraussetzungen sie bestehen, hängt davon ab, ob der Schuldner zu spät erfüllt (2.1) oder ob seine Leistung unmöglich oder unzumutbar geworden ist und er deshalb gar nicht mehr erfüllen kann (2.2).

2.1

Verzug

Der Schuldnerverzug ist eine Folge der Späterfüllung. Der Schuldnerverzug ist in Art. 102 ff. OR geregelt und wird für einige Verträge durch besondere Regeln ergänzt, wie z.B. Art. 190 und Art. 213 OR (Kaufvertrag), Art. 257d (Mietvertrag), Art. 366 OR (Werkvertrag), Art. 400 OR (Auftrag). Der Gläubigerverzug tritt ein, wenn der Gläubiger die gehörig angebotene Leistung nicht annimmt oder notwendige Erfüllungshandlungen verweigert. Er ist in Art. 91 ff. OR geregelt.

2

2.1.1

Nichterfüllung

123

Voraussetzungen des Schuldnerverzuges

Der Schuldner gerät in Verzug, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:   

Fälligkeit der Forderung; Mahnung oder bestimmter Verfalltag (ausser in gewissen Ausnahmefällen); Keine verzugsbeseitigenden oder -ausschliessenden Gründe.

Fälligkeit der Forderung: Eine Forderung ist fällig, wenn der Gläubiger die Leistung fordern kann und der Schuldner erfüllen muss. Eine Leistung kann vermutungsweise sogleich erbracht und gefordert werden (Art. 75 OR). Mangels anderer Vereinbarung wird jede Forderung also mit Ihrer Entstehung sogleich fällig. Oft wird jedoch ein Fälligkeitstermin vereinbart, z.B. „lieferbar in zwei Wochen“ oder „zahlbar innerhalb von 30 Tagen“. Eine Ausnahme vom Erfordernis der Fälligkeit findet sich im Werkvertragsrecht. Nach der besonderen Verzugsregel von Art. 366 OR kann nämlich der Besteller unter bestimmten Voraussetzungen bereits vor Eintritt der Fälligkeit (die mit dem „Lieferungstermin“ beginnt) vom Vertrag zurücktreten: „Beginnt der Unternehmer das Werk nicht rechtzeitig oder verzögert er die Ausführung in vertragswidriger Weise oder ist er damit ohne Schuld des Bestellers so sehr im Rückstande, dass die rechtzeitige Vollendung nicht mehr vorauszusehen ist, so kann der Besteller, ohne den Lieferungstermin abzuwarten, vom Vertrage zurücktreten.“ Mahnung oder Verfalltag: Ist eine Verbindlichkeit fällig, so wird der Schuldner durch Mahnung des Gläubigers in Verzug gesetzt (Art. 102 Abs. 1 OR). Wurde für die Erfüllung ein bestimmter Verfalltag verabredet, oder ergibt sich ein solcher infolge einer vorbehaltenen und gehörig vorgenommenen Kündigung, so kommt der Schuldner schon mit Ablauf dieses Tages in Verzug (Art. 102 Abs. 2 OR). 

„Die Mahnung ist eine an den Schuldner gerichtete Erklärung des Gläubigers, die zum Ausdruck bringt, dass er die Leistung ohne Säumnis verlangt. Mit der Mahnung muss die zu erbringende Leistung so genau bezeichnet werden, dass der Schuldner erkennt, was der Gläubiger fordern will. Geht es um eine Geldforderung, ist deren Höhe in der Regel zu beziffern. Auf eine Bezifferung in der Mahnung selbst kann jedoch zum Beispiel verzichtet werden, wenn damit auf eine früher zugestellte, den Geldbetrag enthaltende Rechnung verwiesen wird. Zu Recht wird sodann in der Lehre die Meinung vertreten, dass eine Bezifferung nicht erforderlich ist, wenn sie im Zeitpunkt der Fälligkeit der Forderung nicht möglich ist, weil deren genaue Höhe noch nicht feststeht“ (BGE 129 III 541). Die Mahnung kann formlos (auch konkludent) erfolgen, doch müssen dem Schuldner Zweck und Inhalt der Mahnung klar sein. Bei der Mahnung handelt es sich um eine empfangsbedürftige Willenserklärung. Deshalb befindet sich der Schuldner im Verzug, sobald die Mahnung bei ihm eintrifft (in Ausnahmefällen ist dem Schuldner eine angemessene Nacherfüllungszeit einzuräumen, bevor er in Verzug gerät). Der Gläubiger kann den Schuldner schon vor Eintritt der Fälligkeit mahnen, wenn der Fälligkeitstermin bereits feststeht. Der Verzug tritt aber erst mit der Fälligkeit ein. Beispiele: Die blosse Rechnungsstellung gilt nicht als Mahnung. Demgegenüber ist eine Rechnung mit Zahlungsaufforderung („Saldo netto zu bezahlen innert 30 Tagen“) eine Mahnung. Es handelt sich um eine be-

Merke: Grundsätzlich wird der Schuldner erst durch die Mahnung in Verzug gesetzt. Der Eintritt der Fälligkeit der Forderung allein bewirkt im Regelfall noch keinen Verzug.

124

Kapitel IV – Vertragsverletzung

fristete Mahnung. Der Verzug beginnt also nicht mit Eintreffen der Mahnung beim Schuldner, sondern erst mit Ende der 30-tägigen Zahlungsfrist. Die Zustellung eines Zahlungsbefehls gilt als Mahnung. 

Ein verabredeter Verfalltag gilt als bestimmt, wenn der Vertrag sein Datum nennt oder wenn er sich anhand des Vertragsinhalts ermitteln lässt. Beispiele: Die Vereinbarungen „zahlbar bis 30.4.“ oder „Mietzins jeweils zahlbar am ersten Tag des Monats“ genügen den Anforderungen an einen bestimmten Verfalltag. Dasselbe gilt für Klauseln, wonach eine Verbindlichkeit „30 Tage nach Vertragsschluss“, „in 20 Tagen“, „in zwei Wochen“, „bis Mitte des nächsten Monats“ oder „bis Ostern nächsten Jahres“ zu erfüllen ist. Anhand des Datums des Vertragsschlusses lässt sich in Verbindung mit Art. 77 OR der Verfalltag bestimmen. Vereinbaren die Parteien, die Leistung müsse „im Verlaufe des Monats August“ erfolgen, so ist der 31. August Verfalltag. Keine Verfalltagsabreden sind Vereinbarungen, wonach die Leistung „sofort nach Erhalt der Rechnung“, „in ca. 20 Tagen“, „in ungefähr zwei Wochen“, „in 4-6 Wochen“, „sobald als möglich“ oder „demnächst“ zu erfolgen habe.



Ein bestimmter Verfalltag kann sich auch aus einer Kündigung ergeben. Ungeachtet des Wortlauts von Art. 102 Abs. 2 (der nur von der „vorbehaltenen“ Kündigung spricht) ist unerheblich, ob sich die Kündigungsmöglichkeit aus dem Vertrag oder aus dem Gesetz ergibt. Beispiel: Ein Darlehen wird gekündigt. Nach Ablauf der vertraglichen Kündigungsfrist ist das Darlehen zur Rückzahlung fällig und der Schuldner befindet sich ohne Mahnung in Verzug. Sieht der Vertrag keine Kündigungsfrist vor, so ist der Schuldner nach Ablauf der Sechswochenfrist von Art. 318 OR in Verzug.

Neben den in Art. 102 Abs. 2 OR genannten Fällen kann es noch weitere Konstellationen geben, in denen der Schuldner ohne Mahnung in Verzug kommt. Relevant ist namentlich der Fall, in dem eine Mahnung zwecklos erscheint oder dem Gläubiger nicht zumutbar ist (Art. 108 OR analog). Beispiel: Der Schuldner verweigert die Erfüllung des Vertrages ernsthaft und endgültig oder verhindert den Zugang der Mahnung. Keine verzugsbeseitigenden oder -ausschliessenden Gründe: Insbesondere folgende Fälle führen zum Nichteintritt oder zur Beendigung des Verzugs:  





Falls der Schuldner einen Grund hat, seine Leistung zurückzuhalten (s. dazu Art. 82 oder Art. 83 OR), gerät er nicht in Verzug. Erfüllt der Schuldner nachträglich, ist der Verzug beendet. Allerdings muss seine nachträgliche Leistung auch die Verzugsfolgen (z.B. die Verzugszinsen) abdecken. Bietet der Schuldner dem Gläubiger die Leistung gehörig an und verweigert dieser die Annahme oder nimmt der Gläubiger eine notwendige Erfüllungshandlung nicht vor, gerät der Gläubiger in Gläubigerverzug. Gläubigerverzug schliesst Schuldnerverzug aus. Erhebt der Schuldner die Einrede der Verrechnung, ist der Verzug beendet (Umstritten ist allerdings ab wann: ab dem Zeitpunkt, an dem die Einrede

2







der Forderung gegenüberstand oder ab dem Zeitpunkt, an dem der Schuldner die Einrede erhebt?). Der Vertragszweck kann nicht mehr erfüllt werden (Unmöglichkeit). War der Schuldner noch nicht im Verzug, so tritt der Verzug nicht ein, aber der Schuldner haftet für die Unmöglichkeit, wenn er sie nach Art. 97 oder Art. 101 OR zu vertreten hat. War der Schuldner bereits im Verzug, so ist der Verzug mit Eintritt der Unmöglichkeit beendet, aber der Schuldner haftet sowohl für die Unmöglichkeit, die er zu vertreten hat (Art. 97 und Art. 101 OR) als auch für die Unmöglichkeit, die durch Zufall eintritt (Art. 97 i.V.m. Art. 103 OR, dazu sogleich hinten). Er haftet also nur dann nicht, wenn der Gläubiger die Unmöglichkeit zu vertreten hat (dazu IV/2.2, Unmöglichkeit). Wird die Leistung des Schuldners vor Eintritt des Verzugs durch eine unverschuldete gravierende Äquivalenzstörung unzumutbar, kann sich der Schuldner auf die clausula rebus sic stantibus berufen (ein Teil der Lehre teilt diese Fälle ebenfalls bei der Unmöglichkeit ein, unter dem Titel der „wirtschaftlichen Unmöglichkeit“). Der Verzug tritt nicht ein, aber der Schuldner haftet für die Unzumutbarkeit, wenn er sie nach Art. 97 oder Art. 101 OR zu vertreten hat. War der Schuldner bereits im Verzug, so ist der Verzug mit Eintritt der Unzumutbarkeit beendet (da es widersprüchlich wäre, wenn der Gläubiger eine unzumutbare Leistung fordern kann), aber der Schuldner haftet sowohl für die Unzumutbarkeit, die er zu vertreten hat (Art. 97 und Art. 101 OR) als auch für die Unzumutbarkeit, die durch Zufall eintritt (Art. 97 i.V.m. Art. 103 OR, dazu sogleich hinten). Der Schuldner muss also zwar die unzumutbare Leistung nicht mehr erbringen, dafür aber Schadenersatz leisten. Erlässt oder stundet der Gläubiger dem Schuldner die Schuld, so ist der Verzug beendet. Dasselbe gilt, wenn die Parteien einen Vergleich schliessen.

2.1.2

Rechtsfolgen des Schuldnerverzugs

Die Rechtsfolgen des Schuldnerverzugs sind in den Art. 103 ff. OR geregelt. Der Verzug verändert weder den Inhalt noch die Erfüllbarkeit der Forderung, d.h. der Schuldner darf nach wie vor leisten und der Gläubiger kann Erfüllung verlangen und diese nötigenfalls einklagen. Daneben hat der Verzug jedoch weitere Wirkungen:   





Der Schuldner haftet für den Zufall, falls er nicht beweisen kann, dass ihn kein Verschulden trifft (Art. 103 OR). Der Schuldner muss Verzugszinse bezahlen (Art. 104 f. OR). Der Schuldner muss den weiteren Schaden bezahlen, der durch die verspätete Erfüllung entstanden ist, falls er nicht beweisen kann, dass ihn kein Verschulden trifft (Art. 103, Art. 106 OR). Der Gläubiger kann statt auf Erfüllung zu klagen auch (grundsätzlich unter Ansetzung einer Nachfrist, in manchen Fällen jedoch auch ohne Fristansetzung) auf die nachträgliche Leistung des Schuldners verzichten und – falls sich der Schuldner nicht exkulpieren kann – Ersatz des aus der Nichterfüllung entstandenen Schadens verlangen (Art. 107 f. OR). Der Gläubiger kann aber auch auf die Leistung des Schuldners verzichten und vom Vertrage zurücktreten und – falls sich der Schuldner nicht exkulpieren kann – Ersatz des Schadens aus dem Dahinfallen des Vertrags fordern (Art. 107-109 OR).

Nichterfüllung

125

126

Kapitel IV – Vertragsverletzung

Diese Rechtsfolgen des Verzugs werden nachfolgend im Einzelnen dargestellt. Der Schuldner haftet grundsätzlich für den Zufall (Art. 103 Abs. 1 OR). Wird also die Leistung durch Zufall unmöglich, wird der Schuldner grundsätzlich nicht befreit. Vielmehr muss er für die Nichterfüllung einstehen. Es liegt eine vom Schuldner zu verantwortende Unmöglichkeit vor (wie gemäss Art. 97 Abs. 1 oder Art. 101 OR, aber ohne Exkulpationsmöglichkeit). Art. 103 OR kommt auch zur Anwendung, wenn der Zufall die Leistung nicht verunmöglicht, sondern bloss beeinträchtigt. Beispiel: Anton verkauft Bea ein Bild. Nach Vertragsschluss wir das Bild aufgrund eines Brandes beschädigt. Es sind aufwändige Reparaturen nötig und das Bild hat an Wert verloren. Grundsätzlich gehen bei Kaufverträgen über Speziessachen Nutzen und Gefahr mit Abschluss des Kaufvertrags auf den Käufer über (Art. 185 OR). Befand sich Anton zur Zeit des Brandes jedoch im Verzug (weil er das Bild nicht am vereinbarten Tag geliefert hat), trägt er das Risiko. Der Schuldner hat gemäss Art. 103 Abs. 2 OR zwei Möglichkeiten, sich von der Haftung für den Zufall zu entlasten:  

Er kann einerseits beweisen, dass ihn am Verzug kein Verschulden trifft. Andererseits kann er beweisen, dass der Zufall auch bei rechtzeitiger Erfüllung den Gegenstand der Leistung zum Nachteile des Gläubigers betroffen hätte. Der Verzug darf mit andern Worten nicht kausal gewesen sein für die Beeinträchtigung durch den Zufall (nicht einmal als Teilursache). Der Schuldner muss also beweisen, dass sich auch ohne Verzug derselbe Zufall gleich auf die Leistung ausgewirkt hätte (in der Lehre ist umstritten, ob auch der Beweis genügt, dass ein anderer Zufall die Leistung beeinträchtigt hätte).

Fällt der Gläubiger seinerseits in Gläubigerverzug, ist der Schuldnerverzug beendet und die Haftung für den Zufall geht auf den Gläubiger über. Weiter muss der Schuldner ab dem Zeitpunkt, an dem er mit einer Geldleistung in Verzug gerät, dem Gläubiger Verzugszinsen leisten (Art. 104 Abs. 1 OR). Die Pflicht zur Leistung von Verzugszinsen besteht unabhängig davon, ob der Schuldner den Verzug verschuldet hat oder ob der Gläubiger einen Schaden erlitten hat. Der Zins beträgt mindestens 5% p.a. (Art. 104 Abs. 1 OR). Die Parteien haben die Möglichkeit, einen höheren Zinssatz zu vereinbaren. Zudem können Kaufleute gemäss Art. 104 Abs. 3 OR einen höheren Zinssatz verlangen, wenn der Bankdiskontsatz am Zahlungsort 5% übersteigt. Der Zins ist zwingend linear, denn von Verzugszinsen dürfen gemäss Art. 105 Abs. 3 OR keine Verzugszinsen berechnet werden (wobei abweichende Vereinbarungen zulässig sind). Entsprechend darf auch auf dem bis zum Urteilstag aufgelaufene Schadenszins kein Verzugszins erhoben werden (BGE 131 III 21 ff.). Der Sinn dieser Zinszahlungspflicht bei Verzug liegt im Zinsverlust des Gläubigers, da er den Betrag noch nicht erhalten hat, und im Zinsgewinn des Schuldners, da er unberechtigterweise immer noch über den Betrag verfügen kann. Die Pflicht zur Zahlung von Verzugszinsen endet mit der verspäteten Zahlung des Schuldners oder mit Untergang der Forderung. Der Schuldner muss dem Gläubiger den Verspätungsschaden ersetzen, falls der Schuldner nicht beweisen kann, dass ihn kein Verschulden trifft (Art. 103 OR). Ein Teil des Verspätungsschadens wird durch die Verzugszinsen abgedeckt. „Hat der Gläubiger einen grösseren Schaden erlitten, als ihm durch die Verzugszinse

2

vergütet wird, so ist der Schuldner zum Ersatze auch dieses Schadens verpflichtet, wenn er nicht beweist, dass ihm keinerlei Verschulden zur Last falle“ (Art. 106 Abs. 1 OR). Beispiele: Der Gläubiger kann wegen der verspäteten Leistung des Schuldners seine eigenen Verpflichtungen einem andern Gläubiger gegenüber nicht erfüllen und muss diesem deshalb eine Schadenersatz bezahlen. Der Schuldner liefert oder repariert eine Maschine zu spät, und der Gläubiger erleidet deswegen einen Produktionsausfall. Variante: Er erleidet eine Kosteneinbusse, weil er eine Ersatzmaschine mieten muss. Eintritt eines Währungsschadens oder einer Wertverminderung (z.B. Kursverlust) während des Verzugs, falls der Gläubiger bei rechtzeitiger Erfüllung die Währung umgetauscht oder die Leistung zu einem besseren Preis weiterveräussert hätte. Dazu BGE 123 III 243: „So hat ein Gläubiger, wenn er geltend macht, durch die verspätete Leistung des Schuldners Währungsverluste erlitten zu haben, den Beweis zu erbringen, dass er den fraglichen Betrag bei rechtzeitiger Erfüllung umgehend in eine andere Währung umgewandelt hätte. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist in solchen Fällen indes nach der allgemeinen Lebenserfahrung und dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu vermuten, dass der Gläubiger das Geld in die gesetzliche Währung seines Wohn- oder Geschäftssitzes konvertiert hätte.“ Der Gläubiger muss zu einem höheren Zins einen Kredit aufnehmen. Der Gläubiger hätte das Geld gewinnbringend angelegt. Dazu noch einmal BGE 123 III 244: „Die kantonalen Gerichte gingen davon aus, dass eine Versicherungsgesellschaft wie die Klägerin Beträge im allgemeinen zinsbringend anlegt. Eine solche typisierende Betrachtungsweise wird in der Literatur namentlich dort befürwortet, wo es sich beim Gläubiger um eine Bank oder ein anderes Finanzinstitut handelt. Auch bei Versicherungen wie der Klägerin kann im allgemeinen davon ausgegangen werden, dass eingehende Geldbeträge, die nicht für den laufenden Geschäftsbetrieb erforderlich sind, nicht nutzlos verwahrt, sondern gewinnbringend angelegt werden.“ Der Gläubiger ist nicht darauf beschränkt, vom Schuldner Erfüllung samt Ersatz des Verspätungsschadens fordern. Vielmehr räumen im Art. 107-109 OR die Möglichkeit ein, auf die Leistung des Schuldners zu verzichten und entweder Schadenersatz aus der Nichterfüllung des Vertrags zu verlangen oder vom Vertrag zurückzutreten und Schadenersatz aus dem Dahinfallen des Vertrags zu fordern. Bevor der Gläubiger diese Wahlrechte ausüben kann, muss er aber dem Schuldner eine letzte Möglichkeit einräumen, den Vertrag zu erfüllen: Er muss ihm eine Nachfrist ansetzen (Art. 107 Abs. 1 OR). Eine Nachfrist ist auch unter Art. 258 OR und Art. 366 Abs. 1 OR erforderlich. In manchen Fällen kann jedoch der Gläubiger seine Wahlrechte auch ohne Nachfrist ausüben (Art. 108 OR).

Nichterfüllung

127

128

Kapitel IV – Vertragsverletzung

Zu beachten ist: Eine Rechnung mit einer Zahlungsfrist („Saldo netto zu bezahlen innert 30 Tagen“) ist vermutungsweise keine Mahnung mit Nachfristsetzung. Vielmehr handelt es um eine befristete Mahnung. Der Verzug tritt also nicht mit Zugang der Mahnung, sondern erst mit Ende der Zahlungsfrist ein.

Die Nachfristsetzung ist eine ultimative Aufforderung an den Schuldner, seiner Pflicht vollumfänglich (inkl. Verspätungsschaden) nachzukommen. Der Gläubiger ist nicht verpflichtet, auf die Konsequenzen einer verpassten Nachfrist hinzuweisen (anders aber der Vermieter, Art. 257d OR). Wie die Mahnung ist auch die Nachfristsetzung empfangsbedürftig und an keine besondere Form gebunden (s. aber Art. 257d OR). Die Nachfrist kann mit der Mahnung verbunden werden. „Das versteht sich schon deshalb, weil auch in der Fristansetzung eine Mahnung liegt und der Gläubiger den Schuldner im einen wie im andern Fall zur Erfüllung anhalten will, also den gleichen Zweck verfolgt. Die beiden Rechtsbehelfe können nicht bloss zeitlich zusammenfallen, sondern der Fälligkeit sogar vorausgehen, wenn deren Termin bereits feststeht“ (BGE 103 II 105). Der Gläubiger kann dem Schuldner also auch eine Nachfrist setzen, wenn der Schuldner noch gar nicht im Verzug ist. Die angesetzte Nachfrist muss angemessen sein. Die Angemessenheit bestimmt sich vor allem durch die Interessen der Parteien und die Art bzw. den Umfang der Leistung. Beispiele: Kürzere Dauer bei Geldleistungen, längerer Zeitraum bei umfangreicheren Sachoder Dienstleistungen, die vom Schuldner vorbereitet werden müssen. Ist die vom Gläubiger angesetzte Nachfrist objektiv zu kurz, muss der Schuldner widersprechen, anderenfalls gilt die Frist als akzeptiert (BGE 116 II 440). In manchen Fällen regelt das Gesetz die Dauer der Nachfrist, z.B. im Mietrecht bei Zahlungsrückstand des Mieters (Art. 257d OR: 10/30 Tage). In manchen Fällen ist jedoch nicht erforderlich, dass der Gläubiger dem Schuldner eine Nachfrist setzt: 

Eine Nachfrist ist nicht erforderlich, wenn aus dem Verhalten des Schuldners hervorgeht, dass sie sich als unnütz erweisen würde (Art. 108 Ziff. 1 OR). Beispiele: Der Schuldner gibt klar und ernsthaft zu verstehen, dass er nicht leisten kann oder will, d.h. er verweigert die Leistung endgültig. Der Schuldner befindet sich mit seiner Leistung dermassen im Rückstand, dass er auch innerhalb einer angemessenen Nachfrist nicht erfüllen könnte.



Eine Nachfrist ist nicht erforderlich, wenn infolge Verzuges des Schuldners die Leistung für den Gläubiger nutzlos geworden ist (Art. 108 Ziff. 2 OR). Beispiele: Geburtstagstorte, Musikkapelle für ein Fest, Hochzeitskleid, Ballkleid, Saisonartikel, Taxi zum Flughafen.



Eine Nachfrist ist nicht erforderlich, wenn sich aus dem Vertrag die Absicht der Parteien ergibt, dass die Leistung genau zu einer bestimmten oder bis zu einer bestimmten Zeit erfolgen soll (Art. 108 Ziff. 3 OR). Die Anforderungen an ein solches „relatives Fixgeschäft“ sind strenger als bei der Abrede eines bestimmten Verfalltages. Während für ein Verfalltagsgeschäft genügt, dass die Leistung bis zum vereinbarten Zeitpunkt erbracht werden soll, muss für ein Fixgeschäft aus der Vereinbarung zusätzlich hervorgehen, dass

2

der Gläubiger bei einer Verspätung nicht mehr an das Geschäft gebunden sein will. Beispiele: Indizien für das Vorliegen eines relativen Fixgeschäftes sind etwa Klauseln wie „genau am“, „spätestens bis zum“, „nicht später als“. 





Eine Nachfrist ist nicht erforderlich, wenn es sich beim Vertrag zwischen den Parteien um ein sogenanntes „absolutes Fixgeschäft“ handelt, also um einen Vertrag, bei dem Termin und Leistungserbringung untrennbar miteinander verknüpft sind. In einem solchen Fall führt die Terminüberschreitung zum Zweckfortfall und damit zur Unmöglichkeit der Leistung. Da Unmöglichkeit den Verzug ausschliesst bzw. beendet, werden diese Fälle gemäss h.L. nach den Regeln über die Unmöglichkeit (Art. 97 OR) behandelt. Es ist jedoch augenfällig, dass sie auch zu Art. 108 Ziff. 2 oder 3 OR passen würden. Die Abgrenzung zwischen diesen Tatbeständen ist infolgedessen oft schwierig, teilweise sogar unmöglich. Wo man das absolute Fixgeschäft einteilt, ist im Ergebnis aber nicht sehr relevant, da die h.L. zu Recht auch im Fall der Unmöglichkeit nicht bloss Schadenersatz wegen Nichterfüllung, sondern auch ein Rücktrittsrecht gemäss Art. 107 Abs. 2 OR gewährt. Somit kann der Gläubiger sowohl unter dem Titel der Unmöglichkeit als auch des Verzugs ohne Ansetzen einer Nachfrist seine Wahlrechte nach Art. 107-109 OR ausüben. Eine Nachfrist ist nicht erforderlich im Fall eines bestimmten Liefertermins im kaufmännischen Verkehr (Art. 190 Abs. 1 OR). Kommt der Verkäufer im kaufmännischen Verkehr (d.h. bei Käufen, die im Hinblick auf einen gewinnträchtigen Weiterverkauf erfolgen, BGE 120 II 299) in Verzug, so wird vermutet, dass der Käufer auf die Lieferung verzichte und Schadenersatz wegen Nichterfüllung beanspruche. Er kann gemäss herrschender Lehre stattdessen auch vom Vertrag zurücktreten und Schadenersatz wegen Dahinfallens des Vertrags fordern (obwohl davon in Art. 190 Abs. 1 OR nichts steht). Der Verkäufer kann diese Rechte ausüben, ohne dass er dem Verkäufer eine Nachfrist ansetzen muss. Eine Nachfrist ist nicht erforderlich, wenn sich der Käufer mit der Zahlung des Kaufpreises im Verzug befindet. In diesen Fällen hat der Verkäufer das Recht, ohne weiteres vom Vertrag zurückzutreten. Gemeint ist damit, dass der Verkäufer auf die Leistung verzichten kann und sodann das Wahlrecht gemäss Art. 107 Abs. 2 OR zwischen Nichterfüllungsersatz und Rücktritt hat. Er muss den Verzicht allerdings sofort erklären (Art. 214 Abs. 1 und 2 OR; tut er das nicht, muss er eine Nachfrist setzen, um das Wahlrecht ausüben zu können). Im Fall des Kreditkaufs sind die Wahlrechte des Verkäufers eingeschränkt (Art. 214 Abs. 3 OR). Art. 214 OR gilt gemäss herrschender Lehre für sämtliche Fahrniskaufverträge (also nicht nur im kaufmännischen Verkehr) und ist zudem auch auf Grundstückkäufe anwendbar.

Nach Ablauf der Nachfrist, hat der Gläubiger mit Bezug auf die Rechtsfolgen gemäss Art. 107-109 OR folgende Wahlmöglichkeiten (Gläubigerwahlrechte): 



Er kann an seinem Erfüllungsanspruch festhalten und dem Schuldner eine weitere Nachfrist setzen (nach deren Verstreichen er immer noch zu den anderen Rechtsbehelfen greifen kann) oder er kann auf die Leistung des Schuldners verzichten (1. Wahlrecht). Verzichtet er auf die Leistung des Schuldners kann er entweder den Vertrag aufrechterhalten und das Erfüllungsinteresse fordern oder vom Vertrag zu-

Nichterfüllung

129

130

Kapitel IV – Vertragsverletzung

rücktreten und Ersatz aus dem Dahinfallen des Vertrags verlangen (2. Wahlrecht). Beachte: Die Ausübung des Verzichts ist ein Gestaltungsrecht. Der Verzicht ist deshalb bedingungsfeindlich und grundsätzlich unwiderruflich.

Verzichtet der Gläubiger auf die Vertragserfüllung, so muss er dies dem Schuldner unverzüglich mitteilen, damit die Parteien Klarheit über das weitere Schicksal des Vertrages haben. Im Fall des Käufers im kaufmännischen Verkehr gilt das Umgekehrte: Er muss dem Verkäufer unverzüglich anzeigen, wenn er nicht auf die Leistung verzichten will (ansonsten gilt die Vermutung, dass der Käufer auf die Lieferung verzichte und Schadenersatz wegen Nichterfüllung beanspruche, s. Art. 190 OR). Ob es auch in den Fällen von Art. 108 Ziff. 1 und Ziff. 3 OR einer Verzichtserklärung bedarf, ist umstritten. Im Hinblick auf die Rechtssicherheit ist dem Gläubiger zu empfehlen, auch in diesen Fällen den Verzicht zu erklären. Wie die Mahnung und die Nachfristansetzung ist die Verzichtserklärung empfangsbedürftig und unterliegt keiner besonderen Formvorschrift. Der Gläubiger muss gemäss Art. 107 Abs. 2 OR unverzüglich nach Ablauf der Nachfrist auf die Vertragserfüllung verzichten. Was unverzüglich ist, bestimmt sich anhand der Umstände. Oft wird der Gläubiger am selben oder am nächsten Tag verzichten müssen. Verzichtet der Gläubiger nicht unverzüglich, so hat er vorerst nur Anspruch auf Erfüllung und Verspätungsschaden. Will er auf die Leistung verzichten, muss er dem Schuldner eine neue Nachfrist setzen. Die Verzichtserklärung kann mit der Mahnung und der Nachfristansetzung kombiniert werden (BGE 103 II 106). In diesem Fall sollte der Gläubiger dem Schuldner gleichzeitig auch mitteilen, ob er nach Ablauf der Nachfrist Schadenersatz wegen Nichterfüllung geltend macht oder vom Vertrag zurücktritt. Gemäss Art. 107 Abs. 2 OR kann der Gläubiger Schadenersatz wegen Nichterfüllung verlangen, unter Aufrechterhaltung des Vertrags. Für die Berechnung des Schadenersatzes gelten dieselben Regeln wie bei Art. 97 Abs. 1 OR. Der Schadenersatz wegen Nichterfüllung soll den Gläubiger so stellen, wie wenn der Vertrag ordnungsgemäss erfüllt worden wäre (sog. Erfüllungsschaden oder positives Vertragsinteresse; die Bezeichnung „positiv“ ist unglücklich, hat sich aber eingebürgert). Beispiel: Ein Textilhändler hat für CHF 25 000 ein Stoffsortiment bestellt, das nicht geliefert wird. Nun muss er sich anderswo mit gleichwertiger Ware eindecken, was ihn CHF 30 000 kostet. Macht er den Erfüllungsschaden geltend, ist er vermögensmässig so zu stellen, als wäre der Vertrag über die ursprüngliche Bestellung erfüllt worden, d.h., als hätte er die Ware zum vereinbarten Preis erhalten – ihm sind die Mehrkosten von CHF 5 000 zu ersetzen. Da der Vertrag nach wie vor Bestand hat, wäre der Gläubiger an sich weiterhin zur Leistung verpflichtet. Er kann aber verlangen, dass er seine Leistung nicht mehr in natura erbringen muss, sondern dass ihr Wert von der Schadenersatzforderung abgezogen wird. Diese so genannte „Differenztheorie“ ist im Kaufvertragsrecht in Art. 191 und Art. 215 OR ausdrücklich vorgesehen (Käufer und Verkäufer können die Differenz zwischen Vertragspreis und Ersatzgeschäft verlangen und zwar – falls die Ware einen Markt- oder Börsenpreis hat – sogar unabhängig davon, ob sie das Ersatzgeschäft tatsächlich tätigen). Sie gilt aber auch ausserhalb dieser Bestimmungen (vgl. BGE 65 II 171). Beispiel: Der erwähnte Textilhändler muss also nicht den Kaufpreis von CHF 25 000 bezahlen und vom Verkäufer CHF 30 000 als Schadenersatz verlangen. Er kann die

2

Kaufpreisforderung vom Schadenersatz abziehen und die Differenz von CHF 5 000 verlangen. Für den Anspruch auf Schadenersatz ist erforderlich, dass sich der Schuldner nicht exkulpieren kann. Was aber geschieht, wenn ihm das gelingt? Dann müsste der Gläubiger seine Leistung weiterhin erbringen, der Schuldner aber weder seine Leistung erbringen (darauf hat der Gläubiger verzichtet), noch Schadenersatz bezahlen (mangels Verschulden). Diese Rechtsfolge wäre nicht sachgerecht. Der Gläubiger hat sich für eine Möglichkeit entschieden, die es aufgrund der Exkulpation des Schuldners gar nicht gibt. Deshalb lebt mit dem Exkulpationsbeweis das Wahlrecht des Gläubigers wieder auf und er kann entweder weiterhin die Erfüllung fordern oder vom Vertrag zurücktreten. In beiden Fällen erhält er jedoch keinen Schadenersatz. In den meisten Fällen wird sich der Schuldner jedoch nicht exkulpieren können. Dann schuldet er dem Gläubiger Schadenersatz für die Nichterfüllung des Vertrags. Verzichtet der Gläubiger auf die Leistung, muss er nicht am Vertrag festhalten und Ersatz des Erfüllungsschadens fordern. Er kann stattdessen auch vom Vertrag zurücktreten und alsdann die versprochene Gegenleistung verweigern und das bereits Geleistete zurückfordern (Art. 107 Abs. 2 und Art. 109 Abs. 1 OR). Der Rücktritt vom Vertrag erfolgt per sofort. Beim Mietvertrag über Wohn- und Geschäftsräume kann der Vermieter allerdings nicht fristlos kündigen, sondern nur mit einer Frist von mindestens 30 Tagen auf Ende eines Monats (Art. 257d Abs. 2 OR). Der Vertrag wird durch den Rücktritt nicht aufgelöst, sondern in ein vertragliches Abwicklungs- oder Liquidationsverhältnis umgewandelt. Herzustellen ist der Zustand ex tunc, also die Situation vor Vertragsabschluss. Bei Dauerverträgen, die zum Zeitpunkt des Rücktritts bereits während einer gewissen Zeit erfüllt wurden, tritt aber an die Stelle des Rücktritts grundsätzlich die Kündigung ex nunc. Diese Verträge werden also nur für die Zukunft aufgelöst und der Gläubiger schuldet für die bereits erbrachte Leistung eine verhältnismässige Entschädigung. Der Rücktritt des Gläubigers vom Vertrag zieht nebst der Umwandlung des Vertrags in ein Rückabwicklungsverhältnis noch eine zweite Rechtsfolge nach sich: Der Gläubiger kann Ersatz des aus dem Dahinfallen des Vertrages erwachsenen Schadens fordern, sofern der Schuldner nicht nachweist, dass ihm keinerlei Verschulden zur Last falle (Art. 107 Abs. 2 und Art. 109 Abs. 2 OR). Dieser Schaden wird auch Vertrauensschaden oder negatives Vertragsinteresse genannt. Der Gläubiger ist in seinem Vermögen so zu stellen, als ob er den Vertrag nie geschlossen hätte. Schadensposten sind deshalb z.B. die Auslagen, die im Zusammenhang mit dem Vertragsschluss und im Hinblick auf die Erfüllung getätigt worden sind. Beispiel: Derselbe Textilhändler ist, um das bestellte Sortiment zu begutachten, zum Hersteller gereist und hat bereits Werbematerial mit Bildern der Textilien vorbereiten lassen, was ihn insgesamt CHF 3 000 gekostet hat. Tritt er vom Vertrag zurück, ist er vermögensmässig so zu stellen, als ob er den Vertrag über die ursprüngliche Bestellung gar nicht geschlossen hätte. Er hätte dann weder die Reise zum Hersteller gemacht noch Werbematerial vorbereitet, weswegen ihm diese Kosten zu ersetzen sind.

Nichterfüllung

131

132

Kapitel IV – Vertragsverletzung

Merke: Hält der Gläubiger am Vertrag fest und fordert er Schadenersatz wegen Nichterfüllung, ist ihm der Erfüllungsschaden (das positive Vertragsinteresse) zu ersetzen. Sofern er jedoch unverzüglich seinen Rücktritt vom Vertrag erklärt, ist er so zu stellen, als ob er den Vertrag nie geschlossen hätte (Vertrauensschaden bzw. negatives Vertragsinteresse). Das positive Vertragsinteresse ist in der Regel grösser als das negative.

In der Praxis ist das Rücktrittsrecht nur in wenigen Fällen interessant. Denn der Gläubiger kann sich stets für den Ersatz des positiven Interesses unter Anwendung der Differenztheorie entscheiden. Da der Gläubiger in diesem Fall seine Leistung nicht in natura erbringen muss, ist diese Möglichkeit im Ergebnis nichts anderes als ein „Rücktritt“ mit Schadenersatz auf das Erfüllungsinteresse. Und das Erfüllungsinteresse ist meistens grösser als das Vertrauensinteresse. Der Gläubiger wird deshalb nur in folgenden Fällen den Rücktritt wählen: 





Das Vertrauensinteresse ist ausnahmsweise grösser als das Erfüllungsinteresse (z.B. weil der Gläubiger nachweisen kann, dass er ein anderes – lukratives – Geschäft hätte abschliessen können). Der Gläubiger hat bereits geleistet und er will seine Leistung zurück (was er oft deshalb will, weil die ausgebliebene Vertragsleistung (z.B. die Kaufsache) in der Zwischenzeit günstiger wurde und deshalb das Vertrauensinteresse grösser ist als das Erfüllungsinteresse). Der Schuldner befindet sich ohne Verschulden im Verzug, weshalb er keinen Schadenersatz schuldet.

2.1.3

Übersicht über Voraussetzungen und Folgen des Schuldnerverzugs Voraussetzungen Fälligkeit + Mahnung oder Verfalltag + Keine Gründe, die Verzug ausschliessen/beseitigen

Verzugsfolgen Haftung für Zufall + Verzugszinse + Haftung für Verspätungsschaden (falls keine Exkulpation) Nachfrist (Art. 107 Abs. 1 OR) Ausnahmen: Art. 108, 190, 214 OR 1. Wahlrecht des Gläubigers (Art. 107 Abs. 1 OR)

Verzicht auf die Leistung

2. Wahlrecht des Gläubigers (Art. 107 Abs. 2 OR)

Festhalten an der Leistung: Klage auf Erfüllung und Ersatz des Verspätungsschadens (Art. 105 ff. OR)

Festhalten am Vertrag und Ersatz des positiven Interesses Art. 107 Abs. 2 OR)

Rücktritt vom Vertrag und Ersatz des negativen Interesses (Art. 107 Abs. 2/Art. 109 OR)

2

2.1.4

Gläubigerverzug

Wirkt der Gläubiger trotz Bereitschaft des Schuldners bei der Erfüllung nicht oder nicht gehörig mit, so kann er gemäss Art. 91 bis 95 OR in Gläubigerverzug (Annahmeverzug) geraten. Die „Pflicht“ des Gläubigers zur Annahme der gehörig angebotenen Leistung und zur Vornahme etwaiger Vorbereitungshandlungen ist keine Rechtspflicht, sondern „nur“ eine Obliegenheit (dazu I/4.1). Der Schuldner hat also keinen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf Abnahme durch den Gläubiger, dafür sieht die Rechtsordnung andere Sanktionen für den Fall des Gläubigerverzugs vor. Ausnahmsweise besteht aber eine echte Pflicht des Gläubigers zur Annahme. Er ist zur Annahme und Mitwirkung verpflichtet, wenn der Schuldner ein erkennbares besonderes Interesse an der Annahme oder Mitwirkung hat. Gläubigerverzug liegt vor, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind: 





Erfüllbarkeit: Der Schuldner muss zur Leistung berechtigt und imstande sein bzw. bereit sein, diese gehörig zu erbringen. Die Fälligkeit der Leistung wird nicht vorausgesetzt, Erfüllbarkeit genügt. Unmöglichkeit beendet den Gläubigerverzug (Beispiel: Der Fluggast erscheint nicht am Flughafen. Mit Abflug der Maschine liegt nicht mehr Gläubigerverzug, sondern Unmöglichkeit vor; zur Unmöglichkeit s. sogleich hinten, IV/2.2). Leistungsangebot des Schuldners: Der Schuldner muss die vertragsgemässe Leistung am richtigen Ort und zur richtigen Zeit anbieten. Teilleistungen braucht der Gläubiger in der Regel nicht zu akzeptieren (Art. 69 Abs. 1 OR). Ungerechtfertigte Verweigerung der Mitwirkung durch den Gläubiger: Gemäss Art. 91 OR kommt der Gläubiger mit der Annahmeverweigerung der gehörig angebotenen Leistung des Schuldners in Verzug. Diese Annahmeverweigerung kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen. Unterlässt der Gläubiger von ihm durchzuführende Vorbereitungshandlungen, wird dies einer Annahmeverweigerung gleichgestellt. Die Verweigerung der Annahme der Leistung bzw. die Vornahme von Vorbereitungshandlungen muss ungerechtfertigt sein. Ein Verschulden des Gläubigers ist jedoch nicht Voraussetzung. Beispiele: Ungerechtfertigt ist die Annahmeverweigerung, wenn der Gläubiger sich auf das vertragswidrige Verhalten eines andern Vertragspartners (z.B. seines Kunden, welcher die vom Gläubiger bestellte Ware oder Leistung nicht mehr will) beruft. Gleiches gilt, wenn er geltend macht, er habe keinen Bedarf mehr an der Sache (allenfalls kann sich der Gläubiger aufgrund eines Zweckfortfalls auf die Unmöglichkeit bzw. clausula rebus sic stantibus berufen). Gerechtfertigt ist die Annahmeverweigerung, wenn ihn der Schuldner vor Fälligkeit der Forderung mit einem Angebot überrascht und der Gläubiger keine Dispositionen für die Annahme treffen kann; wenn am Erfüllungsort ein Einfuhrverbot erlassen wird (BGE 44 II 409); wenn er sich durch die Annahme einer Anfechtungsklage nach Art. 287 SchKG aussetzen würde.



Exkurs: Andere Verhinderung der Erfüllung (Art. 96 OR): Der Art. 96 OR stellt dem Gläubigerverzug den Fall gleich, dass die Erfüllung aus anderen in der Person des Gläubigers liegenden Gründen oder infolge einer unverschuldeten Ungewissheit über die Person des Gläubigers nicht gehörig er-

Nichterfüllung

133

134

Kapitel IV – Vertragsverletzung

folgen kann. Bei den „anderen in der Person des Gläubigers liegenden Gründen“ ist an rechtliche oder physische Gründe zu denken, z.B. wenn der Aufenthaltsort des Gläubigers unbekannt ist. „Ungewissheit über die Person des Gläubigers“ ist gegeben, wenn der Schuldner nicht genau weiss, wer Gläubiger der zu erbringenden Leistung ist. Die Ungewissheit darf jedoch nicht dem Verschulden des Schuldners zuzuschreiben sein. Rechtsfolgen (Art. 92 bis 95 OR): Gerät der Gläubiger in Verzug, so muss der Schuldner weiterhin leisten, aber seine Rechtsstellung wird in verschiedenen Punkten erleichtert: 







Gläubigerverzug schliesst Schuldnerverzug grundsätzlich aus. Der Schuldner darf die Leistung verweigern. Befand er sich zum Zeitpunkt des Eintritts des Gläubigerverzugs seinerseits schon im Schuldnerverzug, endet dieser mit Beginn des Gläubigerverzugs. Die herrschende Lehre befürwortet beim Annahmeverzug einen Übergang der Gefahr des zufälligen Untergangs auf den Gläubiger. Das bedeutet, dass der Gläubiger seinerseits zur Gegenleistung verpflichtet bleibt (Gegenleistungs- oder Preisgefahr) und die Leistung des Schuldners nicht mehr verlangen kann (Leistungsgefahr). Dies wird in Analogie zu den Bestimmungen im Arbeits- und Werkvertragsrecht (Art. 324 Abs. 1 und Art. 376 Abs. 1 OR) hergeleitet. Nach überwiegender Auffassung wird mit Eintritt des Gläubigerverzugs das Mass der Haftung des Schuldners milder beurteilt (Art. 99 Abs. 2 OR): Er haftet nur noch für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. Bei Sachleistungen hat der Schuldner das Recht zur Hinterlegung (Art. 92 und Art. 94 OR) oder zum Selbsthilfeverkauf (Art. 93 OR): Der Schuldner kann sich gemäss Art. 92 OR durch Hinterlegung von seiner Leistungspflicht befreien, womit die Forderung des Gläubigers erlischt. Jedoch muss die Sache zur Hinterlegung geeignet sein, d.h. Hinterlegung kommt nur für bewegliche Waren, die nicht dem Verderb ausgesetzt sind oder erhebliche Aufbewahrungskosten verursachen, in Betracht. Der Hinterlegungsort wird gemäss Art. 92 Abs. 2 OR vom Richter des Erfüllungsortes bestimmt, jedoch können hinterlegungsfähige Waren auch ohne richterliche Bestimmung in einem Lagerhaus hinterlegt werden. Die Hinterlegung erfolgt meist auf Grund eines Hinterlegungsvertrags (Art. 472 ff. OR) zwischen Schuldner und Aufbewahrer zu Gunsten des Gläubigers. Der Gläubiger hat dann die Möglichkeit, gegen Erbringung der Gegenleistung und Zahlung der Kosten die Ware heraus zu verlangen. Mit der ordnungsgemässen Hinterlegung geht auch die Gefahr des zufälligen Untergangs der Sache auf den Gläubiger über, jedoch hat der Schuldner nach Art. 94 Abs. 1 OR die Möglichkeit, die hinterlegte Sache zurückzunehmen, solange der Gläubiger nicht deren Annahme erklärt hat. Handelt es sich um nicht hinterlegungsfähige Sachen, kann der Schuldner gemäss Art. 93 OR die Ware auf dem Wege des Selbsthilfeverkaufs veräussern. Der erzielte Erlös kann nun entweder nach Art. 92 OR hinterlegt oder allenfalls mit einer gegen den Gläubiger bestehenden Gegenforderung verrechnet werden (Art. 120 ff. OR). Der Selbsthilfeverkauf muss vorgängig dem Gläubiger angedroht und vom Gericht am Erfüllungsort bewilligt werden und darf grundsätzlich nur auf dem Wege einer öffentlichen Versteigerung erfolgen. Wenn die Sache einen Börsen- oder Marktpreis oder einen geringen Wert besitzt, kann gemäss Art. 93 Abs. 2 OR auf eine Androhung und eine öffentliche Versteigerung verzichtet werden. Im kaufmännischen Verkehr kann der Verkäufer die Sache regelmässig auch ohne richterliche Bewilligung veräussern, wenn der Käufer die Ware nicht

2



Nichterfüllung

abnimmt. Eine Pflicht des Schuldners zum Selbsthilfeverkauf kann sich auch aus dem Gebot von Treu und Glauben im Geschäftsverkehr ergeben, wenn eine Unterlassung desselben den Gläubiger erheblich schädigen würde. Bei anderen Leistungen als Sachleistungen sind Hinterlegung und Selbsthilfeverkauf nicht möglich. Deshalb gewährt Art. 95 OR dem Schuldner ein Rücktrittsrecht. Die Vorgehensweise bestimmt sich nach den Bestimmungen über den Schuldnerverzug (Art. 107-109 OR).

Gläubigerverzug Sachleistung

Zur Hinterlegung geeignet

andere Leistung

Nicht zur Hinterlegung geeignet

ohne Markt-/Börsenwert

Wahlrechte nach Art. 107 Abs. 2 OR

Androhung und richterliche Bewilligung des Verkaufs

Verzicht auf die Erfüllung

mit Markt-/Börsenwert

Hinterlegung der Sache

2.2

Nachfrist

Verkauf und Hinterlegung des Erlöses

öffentliche Versteigerung und Hinterlegung des Erlöses

Festhalten am Vertrag und Klage auf Ersatz des positiven Interesses

Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit

Wie zu Beginn des 4. Kapitels erwähnt, besteht die Leistungsstörung der Nichterfüllung aus zwei Kategorien: In der Regel erfüllt der Schuldner zu spät und gerät deshalb in Verzug. Es kann aber auch sein, dass seine Leistung unmöglich oder unzumutbar geworden ist und er deshalb nicht mehr erfüllen kann. Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit einerseits und Verzug andererseits schliessen sich aus, denn der Schuldnerverzug setzt voraus, dass die Leistungserfüllung noch möglich und zumutbar ist (s. bereits IV/2.1.1). Die folgenden Ausführungen erläutern die Unmöglichkeit und die Unzumutbarkeit näher. Sie erklären zunächst, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist und zeigen sodann, unter welchen Voraussetzungen die Unmöglichkeit und die Unzumutbarkeit Vertragsverletzungen sind.

2.2.1

Begriff der Unmöglichkeit und der Unzumutbarkeit

Unmöglichkeit bedeutet, dass der Schuldner seine Leistung nicht mehr erbringen kann. Unzumutbarkeit bedeutet, dass der Schuldner zwar noch leisten könnte, die Leistung aber wirtschaftlich unsinnig oder unerschwinglich oder moralisch/ethisch nicht mehr zumutbar geworden ist.

Rücktritt vom Vertrag und Klage auf Ersatz des negativen Interesses

135

136

Kapitel IV – Vertragsverletzung

Die Unmöglichkeit lässt sich in verschiedene Kategorien unterteilen: Merke: Geldmangel hat nie eine Leistungsunmöglichkeit im rechtlichen Sinne zur Folge („Geld hat man zu haben“).









Objektive und subjektive Unmöglichkeit: Objektive Unmöglichkeit liegt vor, wenn es generell unmöglich ist, die vereinbarte Leistung (noch) zu erbringen, d.h. wenn niemand auf der Welt in der Lage ist, die Leistung zu erbringen. Wenn nur der konkrete Schuldner dazu nicht in der Lage ist, liegt ein Fall subjektiver Unmöglichkeit oder blossen Unvermögens vor. Anfängliche und nachträgliche Unmöglichkeit: Die Unterscheidung dieser Begriffe bezieht sich auf den Zeitpunkt der Unmöglichkeit in Relation zum Vertragsschluss. Anfängliche Unmöglichkeit liegt bereits im Zeitpunkt des Vertragsschlusses vor, während nachträgliche Unmöglichkeit erst nach dem Vertragsschluss eintritt. Vorübergehende und dauernde Unmöglichkeit: Eine vorübergehende Unmöglichkeit bedeutet, dass im Augenblick die Leistung nicht möglich ist, diese jedoch zu einem späteren Zeitpunkt erbracht werden kann. Bei der dauernden Unmöglichkeit wird die Leistungsmöglichkeit für immer ausgeschlossen. Für die Abgrenzung sind der Vertragszweck und die Interessen des Gläubigers an der Leistungserbringung zu berücksichtigen. Tatsächliche, rechtliche und wirtschaftliche Unmöglichkeit: Hier wird nach dem Grund der Unmöglichkeit unterschieden. Tatsächliche Unmöglichkeit liegt vor, wenn der Vertragszweck aus tatsächlichen Gründen nicht erreicht werden kann, z.B. weil der Vertragsgegenstand zerstört oder untergegangen ist oder eine Leistung nicht zum vereinbarten Zeitpunkt erbracht wird, der für den Vertragsabschluss absolut wesentlich war (sog. absolutes Fixgeschäft). Dasselbe muss auch gelten, wenn der Vertragszweck aus anderen tatsächlichen Gründen nicht erreicht werden kann. Beispiele: Anton bestellt einen Abschleppdienst. Kurz vor dessen Ankunft springt sein Wagen jedoch wieder an. Ein absolutes Fixgeschäft stellt die für den Hochzeitsabend bestellte Hochzeitstorte dar. Wird sie nicht zum vereinbarten Zeitpunkt geliefert, ist die Leistung für das frisch vermählte Ehepaar nutzlos geworden. Rechtliche Unmöglichkeit liegt vor, wenn ein Vertrag auf eine gesetzlich nicht zugelassene Rechtsfolge gerichtet ist. Beispiel: Kaufvertrag über eine Sache, die vom Staat beschlagnahmt wurde. Die Kategorie der wirtschaftlichen Unmöglichkeit erfasst diejenigen Fälle, in denen die Leistung dem Schuldner nicht mehr zumutbar ist. Dazu gehören auch Fälle moralischer oder ethischer Unmöglichkeit der Leistungserbringung. Beispiele: Der Reiseveranstalter Berggenuss hat Antonia eine Fahrt zum Jungfraujoch mit anschliessender geführter Wanderung verkauft. Am Tag der Reise laufen jedoch die Jungfraubahnen nicht. Zum Jungfraujoch würde man einzig per Helikopter gelangen. Diese Mehrkosten sind für die Berggenuss unzumutbar.

2

Dem Popsänger, dessen Sohn kurz vor dem Auftritt einen tödlichen Unfall erleidet, kann nicht zugemutet werden, am vereinbarten Abend zu singen (moralischer Grund). Umgekehrt darf die Genfer Oper, die um die Gesundheit ihrer schwangeren Opernsängerin besorgt ist, deren Leistung verweigern (BGE 126 III 75 ff.). Es handelt sich bei den Fällen der wirtschaftlichen Unmöglichkeit genau genommen also nicht um Fälle der Unmöglichkeit, sondern um Fälle der Unzumutbarkeit. Diese Fälle kann man auch unter dem Titel der clausula rebus sic stantibus behandeln (die Unmöglichkeit ist ohnehin nur ein Spezialfall der clausula rebus sic stantibus; zur clausula s. vorne, II/3.2). Aufgrund der sehr ähnlichen Rechtsfolgen (Aufhebung des Vertrags, Anpassung des Vertrags bzw. Teilunmöglichkeit, Rolle des Verschuldens) kommt der Frage, ob man die Unzumutbarkeit bei der clausula oder der Unmöglichkeit einteilt, keine grosse Bedeutung zu. Viel wichtiger sind in diesen Fällen die Fragen nach dem Verschulden, der vertraglichen Risikoverteilung und dem hypothetischen Parteiwillen.

2.2.2

Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit als Vertragsverletzung oder Befreiungsgrund

Ist die Leistung des Schuldners unmöglich oder unzumutbar, verletzt der Schuldner den Vertrag, wenn er die Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit zu verantworten hat. Dies ist der Fall 

 

wenn er die Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit verschuldet hat oder bereits bei Vertragsabschluss davon hätte wissen müssen (Art. 97 OR, culpa in contrahendo); wenn er sich das schuldhafte Verhalten seiner Hilfsperson anrechnen lassen muss (Art. 101 OR); wenn die Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit durch Zufall eingetreten ist, der Schuldner sich aber zu diesem Zeitpunkt im Verzug befand und nicht beweisen kann, dass entweder er am Verzug kein Verschulden trägt oder dass der Zufall auch ohne Verzug eingetreten wäre (Art. 103 OR). Dann haftet er für den Zufall, als hätte er ihn verschuldet.

In diesen Fällen schuldet der Schuldner zwar nicht mehr seine ursprüngliche Leistung, er ist dem Gläubiger aber zu Schadenersatz verpflichtet. Der Gläubiger kann nach Art. 97 OR Ersatz des Erfüllungsinteresses fordern. Die Lehre gesteht dem Schuldner zudem das Recht zu, vom Vertrag zurückzutreten und den Schaden aus dem Dahinfallen des Vertrags geltend zu machen. Davon wird in der Praxis bei verschuldeter Unmöglichkeit nur selten Gebrauch gemacht, da das positive bzw. Erfüllungsinteresse meist grösser als das negative Interesse ist. Hat der Schuldner die Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit seiner Leistung nicht zu verantworten, gilt seine Forderung gemäss Art. 119 Abs. 1 OR als erloschen. Er ist also von seiner Leistungspflicht befreit und schuldet auch keinen Schadenersatz. Hat aber der Gläubiger bereits geleistet, so muss ihm der Schuldner die Leistung zurückerstatten oder ihren Wert ausgleichen. Erhält der Schuldner auf Grund der Leistungsunmöglichkeit von einem Dritten Ersatz, so kann der Gläubiger diese Ersatzleistung (das „stellvertretende commodum“) beanspruchen (z.B. eine Versicherungssumme, die der Schuldner infolge Untergangs oder Beschädigung des Vertragsgegenstands erhält).

Nichterfüllung

137

138

Kapitel IV – Vertragsverletzung

Ist der Schuldner nach Art. 119 Abs. 1 OR von seiner Leistungspflicht befreit, so erlischt nach Art. 119 Abs. 2 OR grundsätzlich auch die Leistungspflicht seines Vertragspartners. Ausgenommen sind folgende Fälle: 



zum einen die Fälle, „in denen die Gefahr nach Gesetzesvorschrift oder nach dem Inhalt des Vertrages vor der Erfüllung auf den Gläubiger übergeht“ (Art. 119 Abs. 3 OR). Beispiele für vertragliche Risikoübernahmen sind Zusicherungen und Garantien (Art. 111 OR) oder Risikoverlagerungsklauseln in AGB; Beispiele für die gesetzliche Risikozuweisung sind die Gefahrtragungsregelungen in Art. 185 OR (Kaufvertrag) und Art. 324a OR (Arbeitsvertrag); zum andern die Fälle, in denen der Gläubiger die Unmöglichkeit zu vertreten hat. Diese Konstellation ist in Art. 97 und Art. 119 OR nicht ausdrücklich geregelt. Im OR BT finden sich Sonderbestimmungen, z.B. Art. 324 (Arbeitsvertrag), Art. 376 Abs. 3 und Art. 378 OR (Werkvertrag). In Analogie zu Art. 324 OR wird der Schuldner so gestellt, als ob er ordnungsgemäss erfüllt hätte. Er wird also von seiner Leistungspflicht befreit, behält aber den Anspruch auf die Gegenleistung des Gläubigers abzüglich des Betrages, den er durch das Unterbleiben seiner eigenen Leistung erspart. Beispiel: Der Gast trifft im gebuchten Hotel nicht ein.

Nichterfüllung zum vereinbarten Zeitpunkt

Leistung nachholbar

Schuldnerverzug (Art. 102 ff. OR)

Leistung nicht nachholbar: Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit

Verschulden des Schuldners

Kein Verschulden des Schuldners

Schadenersatz nach Art. 97 Abs. 1 OR

Erlöschen oder Anpassung der Leistungspflichten (Art. 119 OR, clausula rebus sic stantibus)

Beispiele: Eine beidseits unverschuldete Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit einer Leistung liegt z.B. vor, wenn -

die Lieferung von Pflastersteinen aus einem bestimmten Steinbruch (begrenzte Gattungsschuld) durch unvorhergesehene geologische Verhältnisse unverhältnismässig erschwert wird;

-

die Vertragserfüllung auf Grund von Kriegsereignissen unmöglich oder unzumutbar geworden ist (nicht aber bei blosser Erschwerung der Leistung infolge kriegswirtschaftlicher Massnahmen).

3

Hier sind Art. 119 Abs. 1 und 2 OR anwendbar und der Vertrag wird aufgehoben. Dasselbe gilt, wenn der Pianist, der für ein Geburtstagsfest engagiert wurde, kurz zuvor ohne jegliches Eigenverschulden verunfallt. Anton schliesst mit dem Autohaus Feelgood einen Kaufvertrag über einen Oldtimer-Ferrari ab. Dieses Model ist eine Rarität (Speziesschuld). Im Kaufvertrag wird vereinbart, dass Anton den Ferrari in genau zwei Monaten abholen kann. Beim Autohaus Feelgood entsteht ein Brand und dabei wird auch der Ferrari zerstört. Die Leistung der Feelgood ist nachträglich unmöglich geworden. -

Hat die Feelgood diese Unmöglichkeit zu vertreten (z.B. weil ein Angestellter den Brand verursacht hat), muss die Feelgood nach Art. 97 OR Schadenersatz leisten (z.B. weil Anton den Ferrari mit Gewinn weiterverkauft hätte).

-

Hat die Feelgood den Untergang der Kaufsache nicht zu vertreten, wird sie nach Art. 119 Abs. 1 OR von ihrer Leistungspflicht befreit. Anton hingegen wird von seiner Leistungspflicht nicht befreit. Er muss den Kaufpreis bezahlen. Denn Art. 185 OR weist das Risiko, dass die Kaufsache nach Abschluss des Vertrags zufällig untergeht, dem Käufer zu (dazu III/2.1.5, Übergang von Nutzen und Gefahr). Ersetzt eine Versicherung der Feelgood den Wert des verbrannten Fahrzeugs, hat Anton Anspruch auf die entsprechende Versicherungsleistung für den Ferrari.

Fall Jolieville (BGE 127 III 300): Eine Partei räumte der andern ein hundertjähriges Baurecht an einem Grundstück ein. Dieses wurde jedoch nach Vertragsabschluss von der Bauzone in die Reservezone zugewiesen. Unmöglichkeit lag gemäss Bundesgericht nicht vor, denn „[d]ie Grundeigentümer haben periodisch – frühestens nach acht Jahren seit der Zuweisung – einen gesetzlichen Anspruch auf Überprüfung des Bauverbotes. Bezogen auf die hundertjährige Vertragsdauer ist die Dauer des Bauverbotes daher nicht unabsehbar“ (E. 4, nicht publiziert). Das Bundesgericht hielt aber die Voraussetzungen der clausula rebus sic stantibus für gegeben (zur clausula s. II/3.2). Die Auszonung der Baurechtsgrundstücke sei nicht vorhersehbar gewesen. „Die laufenden Planungsmassnahmen zielten vielmehr gerade in die gegenteilige Richtung, sollten damit doch die Grundlagen für die Verwirklichung des Projektes ‚Jolieville‘ und damit den Bau einer Satellitenstadt geschaffen werden.“ (E. 5 b cc). Zu den Rechtsfolgen führte das Bundesgericht aus: „Als Hauptfolgen richterlicher Vertragsanpassung kommen die vorzeitige Vertragsauflösung einerseits und eine Modifikation der vertraglichen Leistungspflichten anderseits in Betracht“ (E. 6b). Der Vertrag wurde dahingehend angepasst, dass er mit einer Frist von sechs Monaten gekündigt werden durfte.

3

Schlechterfüllung

Neben den Tatbeständen von Verzug und Unmöglichkeit erfasst Art. 97 OR auch jede andere fehlerhafte Vertragserfüllung (z.B. Schlechtleistung, Leistung in nicht vertragsgemässer Qualität, Verletzung von Aufklärungspflichten). Die Lehre bezeichnet solche Fälle etwas unglücklich als „positive Vertragsverletzungen“. Die Rechtsfolgen der Schlechterfüllung sind oft im BT des OR bei den einzelnen Vertragstypen speziell geregelt. Ist dies nicht der Fall, kommt die allgemeine Bestimmung in Art. 97 OR zum Zuge. Im Wesentlichen können zwei Fallgruppen von positiver Vertragsverletzung unterschieden werden: 

Schlechterfüllung einer Hauptleistungspflicht: Die Schlechterfüllung einer Hauptleistungspflicht liegt immer dann vor, wenn eine wesentliche Ver-

Schlechterfüllung

139

140

Kapitel IV – Vertragsverletzung



tragspflicht nicht vertragsgemäss erfüllt wird, d.h. nicht den vertraglichen Erfordernissen entspricht. Wurde aber die Hauptleistung überhaupt nicht oder zu spät erbracht, liegt Unmöglichkeit bzw. Verzug vor. Zur Abgrenzung zwischen Nicht- und Schlechterfüllung s. hinten IV/3.1. Verletzung von Nebenpflichten: Eine Schlechtleistung kann auch vorliegen, wenn die Hauptleistungspflicht richtig erfüllt wurde, jedoch eine aus dem Vertrag resultierende Nebenleistungspflicht verletzt wurde und der Gläubiger daraus einen Schaden erlitten hat. Nebenpflichten sind z.B.: die Obhuts- und Schutzpflichten, die den Gläubiger vor Beeinträchtigung der körperlichen Integrität oder des Eigentums schützen; leistungsbezogene Nebenpflichten, die den Eintritt des angestrebten Vertragszieles sichern (wie Aufklärungs-, Beratungs- oder Rechenschaftspflichten; s. zum Ganzen auch vorne, III/2). Beispiele: Ordnungsgemässes Verpacken durch den Versender. Pistensicherung als Nebenpflicht zum Transportvertrag: Pflicht zur Sicherung einzelner Masten und Bäume am Pistenrand, wenn sie eine besondere Gefahrenquelle darstellen (BGE 121 III 362). Obhuts- und Schutzpflichten der Partei, die ein Schwimmbad betreibt (BGE 113 II 426). Haftung des Arbeitgebers, der seiner Verpflichtung zum Abschluss einer Kollektivversicherung mit den zugesicherten Leistungen nicht nachkommt, für den dem Arbeitnehmer daraus entstehenden Schaden (BGE 127 III 326). Die Bank muss den Kleinkunden über Risiken bei Spekulationsgeschäften aufklären. Ein Arzt hat den Patienten darüber zu informieren, dass die Krankenkasse die Kosten für die geplante Operation nicht übernimmt (BGE 119 II 456).

Nachfolgend werden die Voraussetzungen und die Rechtsfolgen dieser Vertragsverletzungen näher dargestellt.

3.1

Vorliegen einer Schlechterfüllung

3.1.1

Erfüllung oder Erfüllungshandlung

Der Schuldner muss erfüllt oder mit der Erfüllung begonnen haben. Hat er noch keine Erfüllungshandlung vorgenommen, so kann er auch nicht schlecht erfüllen. Dann liegt vielmehr ein Fall der Nichterfüllung vor. Wie weit der Vertrag erfüllt sein muss, hängt vom Schlechterfüllungsanspruch ab, den der Gläubiger geltend machen will (zu den verschiedenen Rechtsbehelfen s. hinten, IV/3.3): 

Für Schadenersatzansprüche aus der Verletzung einer Nebenpflicht genügt, dass die Vertragserfüllung begonnen hat. Beispiel: Ein Bauarbeiter lässt kurz nachdem er das erste Mal die künftige Baustelle betreten hat, einen Ziegelstein auf den Fuss des Bauherrn fallen.

3



Dasselbe gilt für die Ansprüche aus der Verletzung einer Hauptleistungspflicht zu sorgfältigem Tätigwerden. Es genügt, dass der Schuldner tätig geworden ist. Beispiel: Der Arzt beginnt, am falschen Bein zu operieren. Der Anwalt verpasst gleich zu Beginn des Mandats eine Frist.



Demgegenüber ist für die Gewährleistungsrechte aus Kauf- Miet- oder Werkvertrag erforderlich, dass der Schuldner die Kauf- oder Mietsache übergeben bzw. das Werk abgeliefert hat (Art. 192 Abs. 1, Art. 201, Art. 258, Art. 367 OR). Vor diesem Zeitpunkt haften der Verkäufer, Vermieter oder Unternehmer nach Art. 97 ff. OR (bzw. Art. 102 ff. OR). Eine Ausnahme bildet Art. 366 Abs. 2 OR, der den Fall regelt, in dem sich bereits während der Ausführung des Werkes eine verschuldete Schlechterfüllung bestimmt voraussehen lässt.

Auf diese Weise lässt sich im Grundsatz die Schlechterfüllung von der Nichterfüllung trennen: Hat der Schuldner mit der Vertragsausführung noch gar nicht begonnen oder hat er im Kauf-, Miet- oder Werkvertrag nicht übergeben oder abgeliefert, liegt Nichterfüllung vor. Hat er hingegen erfüllt, stellt sich die Frage nach der Schlechterfüllung. Nun gibt es aber im Bereich des Kauf- und des Werkvertrags Situationen, in denen der Verkäufer oder Unternehmer eine Leistung erbringt und dennoch so behandelt wird, als hätte er nicht erfüllt. Bei diesen Verträgen wird die Schlechtlieferung („peius“) wie folgt von der Nichtlieferung („aliud“) abgegrenzt: 



Beim Spezieskauf liegt Nichtlieferung vor, wenn die vereinbarte individuelle Kaufsache (z.B. Occasions-Fahrzeug) nicht geliefert wird (sondern z.B. eine andere Sache derselben Gattung). Schlechtlieferung (Sachmangel) liegt vor, wenn die vereinbarte Kaufsache geliefert wird und nicht vertragsgemäss ist. Beim Gattungskauf liegt Nichtlieferung vor, wenn die gelieferte Kaufsache einer andern Gattung angehört als vereinbart. Das ist der Fall, wenn die gelieferte Sache nicht alle vereinbarten Gattungsmerkmale aufweist. Schlechtlieferung liegt vor, wenn die gelieferte Sache zwar der vereinbarten Gattung angehört, aber von der vertragsgemässen Beschaffenheit der Gattung abweicht. Mangels spezifischer vertraglicher Regelungen ist dies der Fall, wenn die gelieferten Kaufsachen unter der „mittleren Qualität“ der Gattung liegen (Art. 71 Abs. 2 OR). Beispiele: Ein Koch bestellt beim Metzger zehn gerupfte Enten (Gattungskauf). Der Metzger liefert gerupfte Gänse. Es handelt sich um Nichterfüllung. „In einem schriftlichen Kaufvertrag vom 30. Oktober 1991 verpflichtete sich H., gegen Bezahlung von CHF 28 000 innert ca. zwei Wochen einen gebrauchten Hubstapler des Typs TCM an M. zu liefern. Der Kaufgegenstand sollte gemäss der vertraglichen Umschreibung unter anderem einen Wandler, d.h. ein Automatikgetriebe, aufweisen. Am 20. November 1991 lieferte H. einen Hubstapler des vereinbarten Typs, welcher aber kein Automatik sondern ein Handschaltgetriebe aufwies“ (BGE 121 III 453 ff.). Es handelte sich um einen Gattungskauf. Der Stapler wies nicht alle vereinbarten Gat-

Schlechterfüllung

141

142

Kapitel IV – Vertragsverletzung

tungsmerkmale auf. Das Bundesgericht entschied deshalb auf Nichtlieferung. Variante: H liefert einen gebrauchten Hubstapler des Typs TCM mit Wandler. Jedoch schaltet das Getriebe nicht sauber. Es liegt eine Schlechtlieferung bzw. ein Sachmangel vor. Variante: M testet bei H einen gebrauchten Hubstapler des Typs TCM mit Automatik. Er ist damit sehr zufrieden und teilt H mit, dass er den Stapler kaufe (Spezieskauf). H liefert ihm einen anderen gebrauchten Hubstapler des Typs TCM mit Automatik. Es liegt eine Nichtlieferung vor. 

Bei Quantitätsmängeln ist zu unterscheiden: Wird von einer bestimmten Gattung zu wenig geliefert, handelt es sich um teilweise Nichterfüllung. Der Gläubiger muss aber eine Teillieferung nicht annehmen (Art. 69 Abs. 1 OR, der trotz Wortlaut nicht nur für Teilzahlungen gilt) und kann den Schuldner somit auch mit der gesamten Lieferung in Verzug setzen. Ist demgegenüber die angegebene Grösse Vertragsinhalt geworden und für den Verwendungszweck entscheidend, liegt ein Mangel vor. Beispiele für Mängel aufgrund falscher Quantität: Ein Kühltisch weist nicht die vereinbarte Länge auf (BGE 57 II 290); abgepackte Ware, die zum Weiterverkauf bestimmt ist, hat zu wenig Inhalt.



Beim Werkvertrag liegt eine aliud-Lieferung vor, wenn der Unternehmer dem Besteller ein völlig anderes Werk abliefert (z.B. eine Kirche statt einer Turnhalle). Die Abgrenzung zwischen Nicht- und Schlechtlieferung ist anhand des Vertragszwecks und der Verkehrsauffassung vorzunehmen. Dabei wird man nicht gleich schnell wie beim Kaufvertrag auf eine aliud-Lieferung erkennen können. So wurde z.B. eine Küche, deren Frontseiten nicht wie vereinbart aus massivem Eichenholz gefertigt wurden, sondern aus furnierten Spanplatten, als „mangelhaft“ bezeichnet. Es lag also Schlechterfüllung vor.

Die Abgrenzung zwischen Nicht- und Schlechtlieferung kann schwierig sein. Sie ist mit erheblichen Konsequenzen verbunden, denn im Fall der Nichtlieferung unterliegt der Käufer oder Besteller nicht der Rügefrist gemäss Art. 201 OR oder Art. 370 OR und die Verjährung beträgt zehn Jahre und nicht zwei bzw. fünf wie gemäss Art. 210 und Art. 371 OR. Immer wenn eine Unterscheidung erhebliche Konsequenzen zeitigt und gleichzeitig schwierig ist, muss sie kritisch hinterfragt werden. Dies geschieht in der Lehre auch zunehmend, und zwar zu Recht. Denn wenn man die Unterscheidung zwischen Nicht- und Schlechterfüllung überhaupt aufrechterhalten will (was z.B. das CISG nicht tut), muss man sie im Bereich der Kauf- und Werkverträge anders abgrenzen. Man sollte nur noch danach unterschieden, ob überhaupt etwas geliefert wird oder nicht. Diese Lösung gilt nun in Deutschland. Das deutsche BGB wurde nämlich dahingehend geändert, dass eine Nichtlieferung nur dann vorliegt, wenn gar nichts geliefert wird. Liefert der Verkäufer demgegenüber eine andere Sache, wird der Fall so behandelt, als wäre die gelieferte Sache mangelhaft (§ 434 Abs. 3 BGB). Dasselbe gilt gemäss § 633 Abs. 2 BGB für den Werkvertrag. Die Unterscheidung zwischen Nicht- und Schlechterfüllung wird damit einfach: Liefert der Verkäufer oder Unternehmer nichts, liegt Nichterfüllung vor. Liefert er (irgend)etwas, liegt Schlechterfüllung vor. Gegen diese Lösung wird z.T. eingewandt, es wirke seltsam, wenn eine komplett andere Sache wie eine mangelhafte Sache behandelt werde, also z.B. eine Gans

3

Schlechterfüllung

143

als mangelhafte Ente gilt (oder eine Anzugsjacke als Anzugshose). Doch ist bei solchen Beispielen Vorsicht angebracht und ein Zweifaches zu beachten: Erstens wirkt es auch seltsam, wenn der Verkäufer einer Gattungssache, die nur im kleinsten Detail von der vertraglichen Spezifikation abweicht, so behandelt wird, als hätte er überhaupt keine Leistung erbracht. Zweitens kommen „völlig falsche“ Erfüllungen viel seltener vor als knapp abweichende. Es werden kaum je Gänse statt Enten geliefert und kaum je Kirchen statt Turnhallen gebaut. Viel eher hat ein Auto den falschen Farbton, ein Hubstapler kein Automatikgetriebe oder ein Swimmingpool nicht die gewünschte Länge. Im Geschäftsalltag macht also die Fiktion des deutschen BGB Sinn. Wenn der Lieferant des Hubstaplers ohne Automatikgetriebe so behandelt wird, als habe er einen mangelhaften Hubstapler geliefert, so ist das keineswegs seltsam. Beim Mietvertrag wird die Grenze zwischen den Rechtsbehelfen der Nichterfüllung und der Schlechterfüllung wie folgt gezogen: Übergibt der Vermieter die Mietsache nicht zum vereinbarten Zeitpunkt, liegt Nichterfüllung vor. Übergibt er eine mangelhafte Sache, so ist entscheidend, ob diese gebrauchstauglich ist oder nicht. Hat sie Mängel, welche die Tauglichkeit zum vorausgesetzten Gebrauch ausschliessen oder erheblich beeinträchtigen, so kann der Mieter wählen, ob er die Rechtsbehelfe der Nichterfüllung oder der Schlechterfüllung geltend machen will. Sind die Mängel minder erheblich, stehen dem Mieter die Ansprüche aus Schlechterfüllung zur Verfügung (Art. 258 OR). Beispiel: Rosa Arens schliesst per 1. November 2000 einen Mietvertrag für eine 3Zimmer-Dachwohnung in Zürich ab. Als sie die Wohnung übernehmen will, sind die vertraglich zugesicherten umfangreichen Renovationsarbeiten in Küche und Bad noch nicht ausgeführt, der Parkettboden im Wohnzimmer trägt noch immer die Folgen eines Wasserschadens, der Balkon ist wegen Einsturzgefahr nicht betretbar und die Heizung funktioniert nicht. Der Vermieter vertröstet Rosa Arens auf den kommenden Frühling. In einem solchen Fall ist die Wohnung zum Bewohnen nicht tauglich und Rosa Arens kann die Übernahme der Wohnung verweigern und nach den Art. 107 bis 109 OR vorgehen. Sie kann die Wohnung aber auch übernehmen und Ansprüche aus Schlechterfüllung gemäss Art. 258 ff. OR geltend machen.

3.1.2

Mangelhafte Leistung

Zweite Voraussetzung eines vertraglichen Anspruchs aus Schlechterfüllung ist, dass die Erfüllung, die der Schuldner vorgenommen hat, mangelhaft ist. Ob dies zutrifft, bestimmt sich anhand des Vertrags zwischen den Parteien. Zusammen mit dem anwendbaren dispositiven Recht definiert er das Pflichtenheft der Vertragsparteien. Diese Pflichten sind unter Titel 3.2 beschrieben, auf den hier verwiesen wird. Im Sinn einer kurzen Zusammenfassung sei aber noch einmal auf den zentralen Unterschied zwischen „obligations de moyen“ und obligations de résultat“ hingewiesen: 

Bei Dienstleistungs- und Arbeitsverträgen ist regelmässig ein sorgfältiges Tätigwerden geschuldet („obligation de moyen“). Der Vertrag ist somit schlecht erfüllt, wenn der Arbeitnehmer oder Beauftragte gegen eine Sorgfaltspflicht verstösst. Beim Auftrag stellt zudem die unbefugte Substitution eine Vertragsverletzung dar (s. vorne, IV/1.2).

Merke: Eine Schlechterfüllung liegt vor, wenn: - eine Erfüllung vorliegt bzw. mit der Erfüllung begonnen wurde und - die Erfüllung mangelhaft erfolgt.

144

Kapitel IV – Vertragsverletzung



Bei Verträgen auf Sach- und Werkleistungen wie dem Kauf-, Miet- oder Werkvertrag wird dagegen nicht nur das sorgfältige Tätigwerden geschuldet, sondern auch ein Erfolg („obligation de résultat“). Die Leistung ist mangelhaft, wenn ein Dritter Anspruch auf die Leistung erhebt, die sich mit den vertraglichen Rechten des Gläubigers nicht vertragen (Rechtsmangel: Art. 192 ff. OR für den Kauf; Art. 259f OR für die Miete; Art. 365 Abs. 1 OR für den Werkvertrag) oder wenn die Leistung von der vertraglich geschuldeten Beschaffenheit abweicht oder zum vorausgesetzten Gebrauch nicht taugt (Sachmangel: Art. 197 ff. OR für den Kauf; Art. 258 ff. OR für die Miete; Art. 368 ff. OR für den Werkvertrag). Der Schuldner haftet dafür, dass seine Leistung nicht mangelhaft ist, und zwar unabhängig davon, ob er eine Sorgfaltspflicht verletzt oder nicht. Er schuldet eben den Erfolg, nicht (nur) die Sorgfalt.

Bei jedem Vertrag kann die Schlechterfüllung auch darin liegen, dass der Schuldner eine Nebenpflicht verletzt (s. zu den Nebenpflichten auch vorne, III/2).

3.2

Voraussetzungen für Schlechterfüllungsansprüche

Hauptvoraussetzung für Ansprüche aus Schlechterfüllung ist natürlich, dass der Vertrag schlecht erfüllt wurde (dazu soeben IV/3.1). Daneben gibt es eine Reihe weiterer Voraussetzungen, die nachfolgend erläutert werden.

3.2.1

Keine Freizeichnung

Der Schuldner, der schlecht erfüllt hat, haftet nicht dafür, wenn er diese Haftung gültig ausgeschlossen hat. Beispiele für Freizeichnungsklauseln: „Gekauft wie besehen“; „Jede Nachwährschaft ist ausgeschlossen“; „Keine Haftung für Farbechtheit des verkauften Stoffes“; konkludent, z.B. niedriger Preis eines gebrauchten Fahrrads; Modifikation der Rechtsbehelfe: z.B. Substitution aller gesetzlichen Ansprüche durch Nachbesserung; summenmässige Begrenzung der Haftung (z.B. Haftung bis zum Warenwert). Zum Umfang und den Grenzen der Freizeichnung s. hinten, IV/4.

3.2.2

Keine Kenntnis des Mangels

Der Verkäufer haftet nicht für Mängel, die der Käufer zur Zeit des Kaufes gekannt hat. Für Mängel, die der Käufer bei Anwendung gewöhnlicher Aufmerksamkeit hätte kennen sollen, haftet der Verkäufer nur dann, wenn er deren Nichtvorhandensein zugesichert hat (Art. 200 OR). Im Mietrecht findet sich keine solche Bestimmung. Die Kenntnis des Mangels beeinflusst aber die Frage, worin der vorausgesetzte Gebrauch i.S.v. Art. 256 und Art. 258 OR besteht und welchen Zustand der Mietsache die Mieter erwarten dürfen. So hat das Bundesgericht ausgeführt, wenn der Mieter die Sache vor Abschluss des Vertrags gesehen habe, sei davon auszugehen, dass sie dem vorausgesetzten Gebrauch entspreche. Davon ausgenommen seien nur Mängel,

3

Schlechterfüllung

145

von denen der Mieter nach Treu und Glauben erwarten darf, dass sie noch behoben werden (BGE 104 II 270). Keine Rolle spielt die Frage der Kenntnis des Mangels beim Werkvertrag und beim Auftrag. Bei diesen Verträgen können die Mängel zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch gar nicht bekannt sein, da der Unternehmer oder der Beauftragte mit ihrer Dienstleistung noch gar nicht begonnen haben.

3.2.3

Rechtzeitige Geltendmachung des Mangels

Diese Voraussetzung betrifft vor allem den Kauf- und den Werkvertrag. Beide Verträge kennen Prüf- und Rügefristen. Verpassen der Käufer oder der Besteller die Rügefrist, so sind ihre Ansprüche verwirkt. Die Rügeobliegenheit des Käufers ist in Art. 201 OR geregelt. Nach dieser Bestimmung soll der Käufer, sobald es nach dem üblichen Geschäftsgange tunlich ist, die Beschaffenheit der empfangenen Sache prüfen und, falls sich Mängel ergeben, für die der Verkäufer Gewähr zu leisten hat, diesem sofort Anzeige machen (Abs. 1). Die Prüfungsobliegenheit hat keine selbständige Bedeutung. Massgebend ist, ob der Käufer rechtzeitig rügt. Was rechtzeitig ist, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Handelt es sich um einen Konsumentenkauf oder um einen Vertrag des kaufmännischen Verkehrs (d.h. um einen Kauf mit der Absicht gewinnträchtigen Wiederverkaufs)? Gibt es bestimmte branchenabhängige Gebräuche am Ablieferungsort? Auch Art, Beschaffenheit und Umfang der Ware sowie die Art des in Frage stehenden Mangels sind zu beachten. Ein Rasenmäher muss z.B. nicht bereits im Winter auf seine Funktionsfähigkeit geprüft werden, sondern es reicht eine Überprüfung im Frühling. Beispiele: Verderbliche Ware ist innert kürzester Zeit zu untersuchen (u.U. Stunden); im Weinhandel gelten acht bis zehn Tage, damit der Wein nach der Lieferung ruhen kann (BGE 26 II 791 E. 4); bei Maschinen und technischen Gerätschaften gelten längere Fristen, da Probeläufe durchgeführt werden müssen, die je nach Umständen erst nach einer gewissen Zeit möglich sind (z.B. Test einer im Frühjahr angeschafften Dreschmaschine erst bei Ingebrauchnahme im Sommer). Zum notwendigen Inhalt der Mängelrüge s. BGer 4C.395/2001 E. 2.1.1: Die Mahnung soll dem Verkäufer die Art, den Umfang und die Gründe der Beanstandung zur Kenntnis bringen, damit er entscheiden kann, wie er sich im Hinblick auf die in Aussicht stehende Haftung verhalten will. Welche Angaben zu diesem Zweck erforderlich sind, hängt von den Umständen ab: „Notwendiger Inhalt der Anzeige der Mängel bildet die Angabe, inwieweit die Kaufsache als mangelhaft betrachtet wird, d.h. inwieweit sie den vertraglich vorausgesetzten oder zugesicherten Eigenschaften nicht entspricht. Es genügt nicht, wenn der Käufer allgemein seine Unzufriedenheit äussert, ohne konkret die Mängel zu benennen. Hingegen reicht die blosse Angabe der ungünstigen Wirkungen, wie zum Beispiel ‚Ware ist so schlecht, dass sie nicht verarbeitet werden kann‘.“ Versäumt es der Käufer, rechtzeitig zu prüfen und Anzeige zu machen, so gilt die gekaufte Sache nach Art. 201 Abs. 2 OR als genehmigt. Mit Ablauf der Rügefrist verwirken also die Gewährleistungsansprüche des Käufers. Dies gilt allerdings nur, soweit es sich um Mängel handelt, die bei der übungsgemässen Untersuchung erkennbar waren (Art. 201 Abs. 2 OR). Der Käufer braucht nicht nach versteckten Mängeln zu fahnden. Ohne Verdachtsmomente muss er kei-

Merke: Je nach Vertragstyp ist es für die Ansprüche wegen Schlechterfüllung bedeutsam, ob der Mangel bekannt war und ob er rechtzeitig gerügt wurde.

Merke: Der Käufer hat die Untersuchungskosten zu tragen (Art. 188 OR). Er kann sie vom Verkäufer als Schadenersatz (Art. 208 Abs. 2 OR) zurückfordern, wenn er erfolgreich Gewährleistungsansprüche gegen diesen geltend machen kann. Merke: Die Mängelrüge sollte aus Beweisgründen schriftlich erfolgen und muss inhaltlich so konkret sein, dass der Verkäufer nach Treu und Glauben ohne weitere Zusatzinformationen Art, Inhalt und Umfang des Mangels erkennen und entscheiden kann, wie er sich im Hinblick auf die mögliche Haftung verhalten soll.

146

Kapitel IV – Vertragsverletzung

nen Experten beiziehen, es sei denn, dies sei branchenüblich. Bei grösseren Lieferungen genügen Stichproben. Führt die ordnungsgemässe Untersuchung den Mangel nicht zu Tage oder kann der Käufer nachweisen, dass der Mangel durch eine solche Untersuchung nicht entdeckt worden wäre, gilt der Mangel als versteckt (BGE 67 II 132 E. 2). Versteckte Mängel kann der Käufer bis zum Ablauf der Verjährungsfrist von Art. 210 OR rügen. Entdeckt der Käufer einen versteckten Mangel, muss er ihn dem Verkäufer sofort anzeigen, widrigenfalls die Sache auch rücksichtlich dieser Mängel als genehmigt gilt (Art. 201 Abs. 3 OR). Ein Mangel ist entdeckt, wenn er zweifelsfrei festgestellt wird (BGE 117 II 427). Die Ware gilt trotz unterlassener Rüge nicht als genehmigt, wenn der Verkäufer absichtlich Mängel verschweigt oder falsche Eigenschaften vorspiegelt (Art. 203 OR; BGE 131 III 145 E. 8). Die Regelung in Art. 201 OR ist dispositiver Natur; sie kann demgemäss vertraglich ausgeschlossen oder abgeändert werden. So kann z.B. in der Garantie, die der Verkäufer für eine bestimmte Frist gewährt, der Verzicht auf eine sofortige Rüge liegen. Die Obliegenheit zur Mängelrüge besteht auch im Werkvertrag. Der Besteller muss das Werk bei Ablieferung auf allfällige Mängel prüfen und offensichtliche Mängel dem Unternehmer melden (Art. 367 Abs. 1 OR). Gemäss Art. 367 Abs. 2 OR ist jede Partei berechtigt, das Werk auf ihre Kosten durch Sachverständige prüfen zu lassen. Rügt der Besteller erkennbare Mängel nicht rechtzeitig, so ist der Unternehmer von der Mängelhaftung befreit (Art. 370 Abs. 1 und 2 OR). Versteckte Mängel müssen sofort nach ihrer Entdeckung gerügt werden (Art. 370 Abs. 3 OR; zur Unterscheidung offener und versteckter Mängel s. soeben beim Kaufvertrag). Ob eine Rüge rechtzeitig erfolgt ist, bestimmt sich wie beim Kaufvertrag anhand der Umstände des Einzelfalls. Art. 367-370 OR sind dispositiv, können also von den Parteien geändert werden (z.B. in Bausachen wird oft die SIA-Norm 118 vereinbart). Beispiel: Die Ausbildungsstätte Cleverlearn AG bestellt von der EDV-Firma Supersolution AG eine spezielle Weblösung für eine Lernplattform. Die Ablieferung des Werkes erfolgt mit der Installation der Plattform. Variante a): Die Verantwortlichen der Cleverlearn AG prüfen die Anwendung, stellen erhebliche Mängel fest und informieren die Supersolution AG (Art. 367 Abs. 1 OR). Variante b): Die Verantwortlichen der Cleverlearn AG vertrauen den Äusserungen der Supersolution AG, beim Test habe alles funktioniert, und verzichten ausdrücklich auf eine Prüfung. Das Werk gilt als genehmigt (Art. 370 Abs. 1 OR). Es zeigt sich aber, dass die Applikation überhaupt nicht funktioniert. Da die Mängel bei einer ordnungsgemässen Prüfung erkennbar gewesen wären, ist das Werk trotzdem genehmigt. Anders wäre zu entscheiden, wenn die Supersolution AG den Mangel arglistig verschwiegen hätte. Variante c): Die Cleverlearn AG genehmigt nach einer Prüfung das Werk, das anfänglich auch gut funktionierte. Nach wenigen Tagen zeigen sich aber schwere Störungen. Die Cleverlearn AG muss die Supersolution AG sofort über die (zu Beginn versteckten) Mängel informieren (Art. 370 Abs. 3 OR). Anders als der Käufer oder Besteller behält der Mieter seine Mängelrechte, auch wenn er einen Mangel nicht sofort rügt. Zu beachten ist aber Art. 257c OR.

3

Nach dieser Bestimmung muss der Mieter Mängel, die er nicht selbst zu beseitigen hat, dem Vermieter melden. Tut er dies nicht rechtzeitig, so zu haftet er für den Schaden, der dem Vermieter daraus entsteht. Auch das Auftragsrecht kennt keine Rügefrist.

3.2.4

Vorliegen eines Verschuldens

Erfüllt der Schuldner schlecht, kann dies verschiedene Rechtsfolgen nach sich ziehen (s. im Einzelnen sogleich hinten IV/3.3):     

Der Gläubiger kann seine eigene Leistung verweigern. Der Gläubiger kann verlangen, dass der Schuldner seine Leistung verbessert oder dass er die Kosten der Verbesserung trägt. Der Gläubiger kann mindern, mithin seine eigene Leistung herabsetzen. Der Gläubiger kann den Vertrag beenden. Der Gläubiger kann Schadenersatz verlangen.

Dabei setzt einzig der Anspruch auf Schadenersatz voraus, dass ein Verschulden des Schuldners oder einer Hilfsperson vorliegt. Die übrigen Ansprüche kann der Gläubiger auch geltend machen, wenn kein Verschulden besteht. Vom Grundsatz, dass der vertragliche Anspruch auf Schadenersatz ein Verschulden voraussetzt, gibt es zwei Ausnahmen. Beide befinden sich im Kaufvertragsrecht: 



Die erste Ausnahme ist der Anspruch des Käufers auf Ersatz des unmittelbaren Schadens bei Wandlung des Kaufvertrags gemäss Art. 208 Abs. 2 OR. Wann aber ist ein Schaden unmittelbar? Zu dieser Frage hat sich das Bundesgericht im „Papageien-Fall“ (BGE 133 III 257) geäussert. Es ging dabei um den Kauf von Papageien, welche die andern Vögel des Käufers mit einer Krankheit ansteckten, wobei der Verkäufer nichts von dieser Krankheit wusste (und die verkauften Vögel vor dem Verkauf vorschriftsgemäss in Quarantäne gehalten hatte). Das Bundesgericht hielt fest, ein unmittelbarer Schaden sei ein Schaden „der innerhalb der Kausalkette direkt durch die Lieferung fehlerhafter Ware und nicht erst durch das Hinzutreten weiterer Schadensursachen verursacht wurde. Wo im Einzelfall die Abgrenzung vorzunehmen ist, beurteilt sich nach richterlichem Ermessen“. Sodann führte es aus: „Im vorliegenden Fall hat sich die Krankheit der gekauften Papageien direkt auf den Vogelbestand des Käufers übertragen, weshalb insoweit ein unmittelbarer Kausalzusammenhang vorliegt.“ Der vom Bundesgericht definierte Begriff des unmittelbaren Schadens ist also eher weit gefasst. Er erfasst zahlreiche Mangelfolgeschäden. Zudem ist die Abgrenzung zwischen dem unmittelbaren Schaden nach Art. 208 Abs. 2 OR und dem weiteren Schaden nach Art. 208 Abs. 3 OR schwierig. Gleichzeitig ist sie wichtig. Denn der Schuldner muss den unmittelbaren Schaden auch dann ersetzen, wenn ihn kein Verschulden trifft, den weiteren Schaden hingegen nur, wenn er sich nicht exkulpieren kann. Die zweite Ausnahme vom Grundsatz, dass der vertragliche Schadenersatz ein Verschulden voraussetzt, ist der Anspruch des Käufers auf Ersatz des durch die Entwehrung unmittelbar verursachten Schadens (Art. 195 Abs. 1 Ziff. 4 OR, dessen Beschränkung der Kausalhaftung auf den unmittelbaren Schaden analog auf für Art. 196 Abs. 1 OR gilt). Darunter fallen die Kosten des Vertragsschlusses und der Übernahme der Sache (wie Kosten der Beurkundung, Gebühren, Frachtkosten, Zölle) und der Kursverlust bei einer

Schlechterfüllung

147

148

Kapitel IV – Vertragsverletzung

Fremdwährungsschuld. Demgegenüber zählt der entgangene Gewinn zum weiteren Schaden, der nach Art. 195 Abs. 2 OR nur bei Verschulden zu ersetzten ist. Zu beachten ist, dass die Regel des Art. 208 Abs. 2 OR auf die Wandlung beschränkt ist. Wählt der Käufer die Minderung oder die Ersatzlieferung und will er daneben Schadenersatz geltend machen, so verweist ihn das Bundesgericht dafür auf Art. 97 OR, so dass sich der Verkäufer exkulpieren und damit von seiner Schadenersatzpflicht befreien kann (BGE 133 III 335). Der Schadenersatzanspruch des Käufers nach Art. 97 OR setzt voraus, dass der Käufer die Rügefrist von Art. 201 OR eingehalten hat und der Anspruch nicht nach Art. 210 OR verjährt ist. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts vermag nicht zu überzeugen. Es ist eine grundlegende Wertung des Vertragsrechts, dass Schadenersatz Verschulden voraussetzt. Die Ausnahme von Art. 208 Abs. 2 OR steht dazu in einem Wertungswiderspruch und sollte deshalb eng ausgelegt werden. Sie ist auf die Kosten der Wandlung zu beschränken (Transportkosten, Prozesskosten, Kosten für die Prüfung der Sache; vgl. auch Art. 195 f. OR) sowie auf den Schaden, der aufgrund eines sogenannten „weiterfressenden Mangels“ an der mangelhaften Sache selbst entsteht. Beispiele für weiterfressende Mängel: Aufgrund defekter Bremsen wird der Wagen beschädigt; aufgrund eines mangelhaften Thermostats erleidet die Maschine einen Schaden. Unter den unmittelbaren Schaden fällt sodann ein Kursverlust der Kaufpreiswährung. Demgegenüber sollten Mangelfolgeschäden – also Schäden an anderen Rechtsgütern des Käufers – nach richtiger Ansicht stets unter Art. 208 Abs. 3 OR fallen.

3.3

Rechtsfolgen der Schlechterfüllung

Je nach Verletzung und Vertrag stehen dem Gläubiger die nachfolgend dargestellten Rechtsbehelfe zur Verfügung. Dabei sind im Kauf- und Werkvertrag die Ansprüche auf Minderung, Ersatzleistung bzw. Nachbesserung und Beendigung des Vertrags alternativ, d.h. der Gläubiger muss sich zwischen ihnen entscheiden. Im Mietvertrag stehen dem Mieter demgegenüber alle Mängelrechte kumulativ zur Verfügung (Art. 259a OR). Diese sogenannten Gewährleistungsrechte setzen kein Verschulden voraus. Zusätzlich zu den Gewährleistungsrechten kann jeweils auch Schadenersatz gefordert werden, welcher jedoch ein Verschulden voraussetzt (zu den Ausnahmen im Kaufvertrag s. vorstehend IV/3.2.4).

3.3.1

Verweigerung der eigenen Leistung

Ist die Leistung des Schuldners nicht vertragskonform, darf der Gläubiger gestützt auf Art. 82 OR die eigene Leistung verweigern, solange sich das Zug-umZug-Prinzip noch durchsetzen lässt (d.h. falls noch eine Leistung des Schuldners aussteht). Macht also der Gläubiger einen Anspruch auf Ersatzleistung bzw. Nachbesserung geltend, darf er sein Geld zurückbehalten, bis der Schuldner nachgeliefert (Art. 206 OR) oder repariert hat (Art. 368 OR). Macht der Gläubi-

3

ger demgegenüber die Minderung geltend, muss er den unbestrittenen Teil seiner Schuld bezahlen. Macht der Gläubiger die Wandlung geltend, ist eine Berufung auf Art. 82 OR hinfällig, da der Gläubiger ohnehin die Rückabwicklung des Vertrags verlangt. Im Mietrecht darf der Mieter bei anfänglichen schweren Mängeln seine Leistung zurückhalten (vgl. Art. 258 Abs. 1 OR: eine derart mangelhafte Erfüllung ist der Nichterfüllung gleichgestellt). Bei anfänglichen Mängeln, die den Gebrauch nicht ausschliessen, sowie bei nachträglichen Mängeln hat der Mieter einer unbeweglichen Sache ein besonderes Recht, das sich für den Vermieter wie eine Leistungsverweigerung anfühlt: Der Mieter kann nach Ablauf einer angemessenen Frist zur Beseitigung des Mangels den Mietzins hinterlegen. Mit der Hinterlegung gelten die Mietzinse als bezahlt (Art. 259g OR). Ob im Mietvertragsrecht neben den Regeln über die Hinterlegung auch Art. 82 OR anwendbar ist, ist umstritten, praktisch aber kaum relevant. Denn der Mieter dürfte nach Art. 82 OR bei Mängeln des Mietobjekts ohnehin nur einen verhältnismässigen Teil der Leistung zurückhalten, womit er im Ergebnis bei der Herabsetzung des Mietzinses landet (dazu hinten, IV/3.3.3). Sodann hat der Gläubiger im Ergebnis ein „Leistungsverweigerungsrecht“, wenn er dem Schuldner die Geldzahlung noch schuldet und gleichzeitig ihm gegenüber einen Anspruch auf Schadenersatz aus Schlechterfüllung des Vertrags hat. Dann kann er nämlich seinen Schadenersatzanspruch mit der Geldforderung des Schuldners verrechnen und muss in diesem Umfang nicht bezahlen.

3.3.2

Verbesserung der Leistung

Der Gläubiger kann den Schuldner dazu anhalten, die schlecht erbrachte Leistung zu verbessern. Denkbar sind je nach Vertrag und Sachverhalt das Recht auf Ersatzlieferung, auf Nachbesserung oder auf Übernahme der Kosten für die Ersatzvornahme. Das Kaufvertragsrecht kennt mangels anderer Vereinbarung keinen Nachbesserungsanspruch des Käufers. Auch sieht es kein Nachbesserungsrecht des Verkäufers vor, ausser es handle sich um kleine Mängel, die der Verkäufer leicht beheben kann. Dann wäre es rechtsmissbräuchlich, wenn sich der Käufer der Nachbesserung widersetzen würde. Geht aber der Kauf auf die Lieferung einer bestimmten Menge vertretbarer Sachen, so sieht das Gesetz ein Verbesserungsrecht vor. In diesen Fällen kann nämlich der Käufer Ersatzlieferung verlangen (Art. 206 Abs. 1 OR). Gleichzeitig kann sich auch der Verkäufer durch Ersatzlieferung von jedem weiteren Anspruch des Käufers befreien, sofern er sofort leistet (Art. 206 Abs. 2 OR). Zu Recht gewährt die h.L. dem Verkäufer das Nachlieferungsrecht entgegen dem Gesetzeswortlaut auch beim Distanzkauf. Im Mietvertragsrecht bestehen Nachbesserungsrechte zugunsten des Mieters: Entstehen an der Sache Mängel, die der Mieter weder zu verantworten noch auf eigene Kosten zu beseitigen hat, oder wird der Mieter im vertragsgemässen Gebrauch der Sache gestört, so kann er verlangen, dass der Vermieter den Mangel beseitigt (Art. 259a Abs. 1 lit. a OR). Tut er dies nicht innert angemessener Frist, so bestimmt sich die Rechtsfolge nach der Schwere des Mangels (s. Art. 259b OR: kleinere Mängel kann er auf Kosten des Mieters beseitigen lassen; bei erheblichen Mängeln muss er sich vom Richter zur Ersatzvornahme ermächtigen lassen (Art. 98 OR), sofern er den Vertrag nicht fristlos kündigen will).

Schlechterfüllung

149

150

Kapitel IV – Vertragsverletzung

Dem Anspruch des Mieters auf Nachbesserung (und allfälliger Ersatzvornahme) steht ein Recht des Vermieters auf Verbesserung der Leistung gegenüber: Leistet der Vermieter für die mangelhafte Sache innert angemessener Frist vollwertigen Ersatz, so hat der Mieter keinen Anspruch auf Beseitigung des Mangels (Art. 259c OR). Im Werkvertragsrecht kann der Besteller vom Unternehmer verlangen, dass er das mangelhafte Werk unentgeltlich verbessert, sofern dies dem Unternehmer keine übermässigen Kosten verursacht (Art. 368 Abs. 2 OR). Übermässig sind die Kosten, wenn sie unverhältnismässig sind (also in einem Missverhältnis zum Nutzen der Nachbesserung stehen). Bessert der Unternehmer nicht nach, kann ihn der Besteller in Verzug setzen und Schadenersatz wegen Nichterfüllung verlangen (Art. 107 OR). Darunter fallen auch die Kosten einer Ersatzvornahme. Alternativ könnte der Besteller nach Art. 98 Abs. 1 OR vorgehen. Im Gegensatz zum Besteller hat der Unternehmer kein Nachbesserungsrecht (mit Ausnahme der Fälle kleiner, leicht behebbarer Mängel, in denen es rechtsmissbräuchlich wäre, wenn sich der Besteller der Nachbesserung widersetzte). Im Auftragsrecht gibt es kein eigentliches Nachbesserungsrecht. Hat aber der Beauftragte schlecht erfüllt und ist eine vertragskonforme Erfüllung noch möglich, kann der Auftraggeber nochmalige Erfüllung fordern.

3.3.3

Minderung

Erfüllt der Schuldner schlecht, kann der Gläubiger seine eigene Leistung herabsetzen. Für den Kaufvertrag ist das Minderungsrecht in Art. 205 OR geregelt. Liegt ein Fall der Gewährleistung wegen Mängel der Sache vor, so hat der Käufer die Wahl, mit der Wandelungsklage den Kauf rückgängig zu machen oder mit der Minderungsklage Ersatz des Minderwertes der Sache zu fordern (Art. 205 Abs. 1 OR). Erreicht aber der geforderte Minderwert den Betrag des Kaufpreises, so kann der Käufer nur die Wandelung verlangen (Art. 205 Abs. 3 OR). Die Minderung wird nach der sogenannten „relativen Methode“ berechnet, damit das vereinbarte Verhältnis von Leistung und Gegenleistung gewahrt werden kann: „Gemäss der relativen Methode entspricht das Verhältnis zwischen dem herabgesetzten Preis und dem vereinbarten Preis dem Verhältnis zwischen dem objektiven Wert des Kaufgegenstandes mit Mangel und seinem Wert ohne Mangel“ (BGE 111 II 162). objektiver Wert des vereinbarter Kaufpreis mängelfreien Kaufgegenstandes = objektiver Wert des Kaufgegenstandes herabgesetzter Preis im tatsächlichen Zustand Dies führt zu: objektiver Wert des Kaufgegenstandes × vereinbarter Kaufpreis im tatsächlichen Zustand herabgesetzter Preis = objektiver Wert des mängelfreien Kaufgegenstandes

3

Beispiel: Objektiver Wert des Autos mit vereinbartem Kilometerstand von 20 000 km: CHF 18 000. Objektiver Wert des Autos mit tatsächlichem Kilometerstand von 50 000 km: CHF 12 000. Vereinbarter Preis = CHF 15 000 Herabgesetzter Preis = CHF 12 000 x CHF 15 000 / CHF 18 000 = CHF 10 000 Die Minderung beträgt CHF 5 000 (vereinbarter Preis abzüglich des herabgesetzten Preises). Die Minderung wird dadurch vereinfacht, dass gemäss Bundesgericht der vereinbarte Preis vermutungsweise dem objektiven Wert der Sache ohne Mängel entspricht, Beweis des Gegenteils vorbehalten. Überdies gilt die Vermutung, der Minderwert entspreche den Kosten für die Behebung des Mangels (BGE 111 II 162). Der Mieter hat ebenfalls ein Minderungsrecht. Wird die Tauglichkeit der Sache zum vorausgesetzten Gebrauch beeinträchtigt oder vermindert, so kann der Mieter vom Vermieter verlangen, dass er den Mietzins vom Zeitpunkt, in dem er vom Mangel erfahren hat, bis zur Behebung des Mangels entsprechend herabsetzt (Art. 259d OR; s. auch Art. 259a Abs. 1 lit. b OR). Dieses Recht hat der Mieter selbst dann, wenn der Vermieter auf die Mängel keinen Einfluss nehmen kann, wie z.B. im Fall von Immissionen aufgrund der Umleitung des Flugverkehrs oder aus dem Betrieb einer ausgebauten Bahnstrecke. Der Umfang der Minderung berechnet sich wie beim Kaufrecht nach der relativen Methode. Die Erklärung des Mieters muss das Mass der Herabsetzung entsprechend der Schwere des Mangels ausdrücklich nennen. Beispiele: Unzureichende Beheizung: 17%; Schlafstörung durch Heizungsgeräusche: 15%; starke Zunahme des Fluglärms nach Umleitung des Flugverkehrs: 30%; Lärm und Staub aufgrund benachbarter Baustelle: 25%; Eingeschränkte Benützung eines Zimmers (von 4.5) wegen Pilzbefalls: 10%; Ausfall des Lifts für Mieter im 4. Stock: 10%; massive Störung durch Nachbarn: 25%. Im Werkvertragsrecht kann der Besteller, der ein mangelhaftes Werk erhält, einen dem Minderwerte des Werkes entsprechenden Abzug am Lohne machen (Art. 368 Abs. 2 OR). Der Umfang der Minderung berechnet sich ebenfalls nach der relativen Methode. Auch das Auftragsrecht kennt die Möglichkeit der Honorarminderung (BGE 124 III 423). Führt der Beauftragte den Auftrag mangelhaft aus, hat er nur Anspruch auf ein Honorar für die Tätigkeit, die er vertragskonform ausgeführt hat. Kommt die mangelhafte Erfüllung des Auftrages einer vollständigen Nichterfüllung gleich und ist sie nutzlos oder unbrauchbar, kann der Beauftragte seinen Anspruch auf Vergütung ganz verlieren.

3.3.4

Beendigung des Vertrags

Der Käufer kann im Fall einer Schlechterfüllung unter folgenden Voraussetzungen vom Vertrag zurücktreten:

Schlechterfüllung

151

152

Kapitel IV – Vertragsverletzung







Liegt ein Sachmangel vor, so kann der Käufer mit der Wandelungsklage den Kauf rückgängig machen (Art. 205 Abs. 1 OR). Rechtfertigen es aber die Umstände nicht, den Kauf rückgängig zu machen, kann der Richter statt der Wandelung die Minderung zusprechen (Art. 205 Abs. 2 OR). Der Mangel muss also eine bestimmte Schwere erreichen, damit er die Aufhebung des Vertrags rechtfertigt. Trifft den Verkäufer ein Verschulden, wird das Gericht dem Käufer die Wandelung nur unter ganz besonderen Umständen versagen. Kann der Verkäufer dem Käufer kein Eigentum an der Sache verschaffen, weil diese einem andern gehört, so gilt der Vertrag als aufgehoben (vgl. Art. 195 Abs. 1 OR). Neben der Möglichkeit, den Vertrag gestützt auf Art. 192 ff. oder Art. 205 ff. OR zu wandeln, kann der Verkäufer auch Grundlagenirrtum (Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR) geltend machen, um den Kaufvertrag rückgängig zu machen. Diese Möglichkeit ist in der Lehre umstritten, vom Bundesgericht aber seit bald 100 Jahren anerkannt. Das Bundesgericht hat diese Möglichkeit u.a. rechtspolitisch begründet, s. BGE 114 II 138 (Picasso-Fall): „Zu bedenken ist ferner, dass Bedeutung und Funktionen des einfachen Kaufvertrages mit der technischen Entwicklung und der allgemeinen Tendenz zum Massenvertrag sich gewandelt haben, weshalb der Käufer mehr denn je als der schutzwürdigere Teil erscheint, wenn er schlecht bedient worden ist. Das spricht ebenfalls dafür, dem Käufer, der die Sache nicht rechtzeitig geprüft oder die Klagefrist gemäss Art. 210 OR verpasst hat, nicht auch noch die Berufung auf Willensmängel zu versagen. Dazu gehört auch, dass die als Begründung für die kurzen Fristen angeführten Verkehrsbedürfnisse in Wirklichkeit einseitig den Verkäufer begünstigen und die Interessen des Käufers ausser acht lassen. Schliesslich ist auch in diesem Zusammenhang zu beachten, dass die Verschiedenheit der Interessenlage und deren Ursachen nicht gegen, sondern für die wahlweise Zulassung der beiden Rechtsbehelfe sprechen.“ Eine alternative Berufung auf den Grundlagenirrtum ist aber nicht mehr möglich, wenn der Käufer Ansprüche gestützt auf Sachgewährleistung geltend gemacht hat, da der Käufer mit der Wahl der Gewährleistung den Vertrag nach Ansicht des Bundesgerichts gemäss Art. 31 OR konkludent genehmigt hat (BGE 127 III 83 E. 1b). Weiter ist zu beachten, dass der Käufer gestützt auf Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR keinen Schadenersatz verlangen kann. Ersatz seines Schadens erhält er nur über das Haftpflichtrecht, sofern die Voraussetzungen von Art. 41 OR erfüllt sind (dazu VI/1.1.4). Deshalb gilt: „Der Käufer wird sich vernünftigerweise erst dann auf Irrtum berufen, wenn er den besonderen Erfordernissen des Gewährleistungsrechts nicht genügt und seine Ansprüche aus dem Kaufrecht deswegen verloren hat“ (BGE 114 II 136).

Auch das Mietvertragsrecht sieht Möglichkeiten vor, im Fall der Schlechterfüllung vom Vertrag zurückzutreten: 



Leidet die Mietsache bei ihrer Übergabe bereits unter Mängeln, welche die Tauglichkeit der Mietsache zum vorausgesetzten Gebrauch ausschliessen oder erheblich beeinträchtigen (schwerer Mangel), so kann der Mieter die Annahme verweigern und nach den Regeln des Verzugs vom Vertrag zurücktreten (Art. 258 Abs. 1 OR). Tritt während der Mietdauer ein schwerer Mangel ein, so kann der Mieter fristlos kündigen, wenn der Vermieter den Mangel nicht innert angemesse-

3



ner Frist beseitigt oder vollwertigen Ersatz leistet (Art. 259b lit. a und Art. 259c OR). Wie im Kaufrecht sind auch im Mietrecht neben den Gewährleistungsregeln Art. 23 ff. OR anwendbar. Der Mieter kann also in Fällen von Mängeln an der Mietsache den Vertrag gestützt auf Grundlagenirrtum anfechten. Zu beachten ist allerdings, dass der angefochtene Vertrag nicht rückwirkend (ex tunc) dahinfällt, sondern nur für die Zukunft (ex nunc) als aufgehoben gilt. Denn die Miete ist ein Dauerschuldverhältnis und bei ganz oder teilweise abgewickelten Dauerschuldverhältnissen ist die Folge einer Vertragsanfechtung wegen Willensmängeln die Kündigung ex nunc (BGE 129 III 320, Klärschlamm-Fall).

Der Besteller kann Wandlung des Werkvertrags verlangen, wenn das Werk an so erheblichen Mängeln leidet oder sonst so sehr vom Vertrage abweicht, dass es für den Besteller unbrauchbar ist oder dass ihm die Annahme billigerweise nicht zugemutet werden kann (Art. 368 Abs. 1 OR). Beispiel: Eine Kundin lässt bei der Schreinerin Berta AG einen Küchentisch anfertigen. Die Länge des Tisches weicht um 20 cm von der vertraglich geschuldeten ab (zu lang). Der Tisch passt somit nicht an den vorgesehenen Ort. Die Annahme dieses Werkes ist für die Kundin unzumutbar. Sie kann ihr Wandelungsrecht geltend machen. Sind die Mängel oder die Abweichungen vom Vertrage minder erheblich oder ist das Werk auf dem Grund und Boden des Bestellers errichtet und kann es nur mit unverhältnismässigen Nachteilen entfernt werden, so kann der Besteller nicht wandeln, sondern bloss die Minderung oder die Nachbesserung wählen (Art. 368 Abs. 2 und 3 OR). Anders als beim Kauf- und Mietvertrag ist im Fall eines mangelhaften Werks die Berufung auf den Grundlagenirrtum ausgeschlossen. Im Kauf-, Miet- und Werkvertragsrecht kann also der Gläubiger vom Vertrag zurücktreten, wenn der Mangel eine gewisse Schwere erreicht. Nach Ansicht der Lehre soll dieses Prinzip allgemein gelten: In allen Fällen der nichtgehörigen Erfüllung besteht ein Rücktrittsrecht, wenn die Pflichtverletzung schwerwiegend ist. Art. 97 OR ist also gemäss der herrschenden Lehre entsprechend zu ergänzen. Diese Lösung ist sachgerecht. Das Auftragsrecht kennt kein besonderes Rücktrittsrecht aufgrund von Schlechterfüllung. Vielmehr kann der Auftrag von jedem Teil jederzeit widerrufen oder gekündigt werden (Art. 404 Abs. 1 OR). Erfolgt dies zur Unzeit, so ist der zurücktretende Teil zum Ersatze des dem anderen verursachten Schadens verpflichtet (Art. 404 Abs. 2 OR). Er muss aber nur das negative Interesse ersetzen, nicht auch das positive (s. hinten, V/2.4).

3.3.5

Schadenersatz

Erfüllt der Schuldner schlecht, hat der Gläubiger Anspruch auf Ersatz des Schadens, den er aufgrund dieser Schlechterfüllung erleidet. Die Ansprüche des Käufers beruhen auf folgenden Grundlagen: 

Der Anspruch auf Ersatz des Schadens, der aus einem Sachmangel entsteht, ist in Art. 205 ff. OR geregelt. Wählt der Käufer die Minderung oder die Er-

Schlechterfüllung

153

154

Kapitel IV – Vertragsverletzung





satzlieferung, kann er daneben auch Schadenersatz fordern. Sein Anspruch richtet sich gemäss Bundesgericht in diesen Fällen nach Art. 97 OR, ergänzt um die Rügefrist nach Art. 201 OR (die der Käufer einhalten muss) und die Verjährung gemäss Art. 210 OR. Der Verkäufer muss also in diesen beiden Fällen den Schaden ersetzen, sofern er nicht beweisen kann, dass ihn kein Verschulden trifft und sofern der Käufer die Rüge- und die Verjährungsfrist eingehalten hat. Wählt der Käufer die Wandelung, so richtet sich sein Ersatzanspruch nach Art. 208 OR. Der Verkäufer haftet deshalb für den unmittelbaren Schaden ohne Verschulden (Art. 208 Abs. 2 OR) und für den weiteren Schaden bloss dann, wenn er nicht beweisen kann, dass ihn kein Verschulden trifft (Art. 208 Abs. 3 OR; zur Abgrenzung zwischen dem unmittelbaren und dem weiteren Schaden, s. vorne, IV/3.2.4, Vorliegen eines Verschuldens). Der Anspruch auf Ersatz des Schadens, der aus einem Rechtsmangel entsteht, ist in Art. 195 f. OR geregelt. Der Verkäufer haftet kausal für den unmittelbaren Schaden, d.h. er muss für den unmittelbaren Schaden auch dann einstehen, wenn ihn kein Verschulden trifft. Den weiteren Schaden muss er ersetzen, sofern er nicht beweist, dass ihm keinerlei Verschulden zur Last falle. Für den Schaden aufgrund einer andern Schlechterfüllung als der Rechtsund Sachmängel gemäss Art. 192 ff. und Art. 197 ff. OR haftet der Verkäufer nach Art. 97 OR. Als Beispiel sei insbesondere die Verletzung einer Nebenpflicht hervorgehoben.

Die Ansprüche des Mieters auf Schadenersatz aus Mängeln an der Mietsache richten sich nach Art. 258 Abs. 1 i.V.m. Art. 107-109 OR (bei anfänglichen Mängeln) und Art. 259e OR (bei Mängeln während der Mietdauer). Der Ersatz anderer Schäden richtet sich nach Art. 97 OR. In allen Fällen setzt der Schadenersatzanspruch voraus, dass sich der Vermieter nicht exkulpieren kann. Die Ersatzansprüche des Bestellers für Mangelfolgeschäden richten sich nach Art. 368 ff. OR: Der Besteller muss rechtzeitig rügen und die Verjährungsfrist gemäss Art. 371 OR einhalten. Zudem setzt der Schadenersatzanspruch ein Verschulden des Unternehmers voraus, doch liegt auch hier die Beweislast beim Unternehmer: Er muss beweisen, dass ihn kein Verschulden trifft. Der Ersatz anderer Schäden als derjenigen, die durch einen Werkmangel verursacht wurden, richtet sich nach Art. 97 OR. Beispiele: BGE 89 II 232 S. 238: „In Bezug auf die verkratzten Fensterscheiben ist die rechtliche Ausgangslage anders. Die Fensterscheiben waren nicht von der Klägerin zu liefern. Sie bildeten nicht Bestandteil des von ihr zu erstellenden Werkes. Wie sich aus den Akten ergibt, wurden jedoch die Scheiben zum Teil durch Arbeiter der Klägerin beschädigt. Diese hatten es nämlich unterlassen, vor Beginn der äusseren Verputzarbeiten die Fenster abzudecken, so dass Kalkspritzer auf diese fielen, bei deren Beseitigung durch die Arbeiter der Klägerin die Scheiben verkratzt wurden. In rechtlicher Beziehung hat man es daher hier nicht mit einem Werkmangel zu tun, sondern mit einer schadenstiftenden Handlung der Arbeiter der Klägerin, die gemäss Art. 364, 328, 97 und 101 OR einen Schadenersatzanspruch der Beklagten zur Entstehung brachte.“ Gemäss BGE 113 II 422 fallen Tatbestände der Schlechterfüllung, die sich vor Ablieferung des Werks ereignen, unter Art. 97 OR, wie z.B. die Haftung des Unternehmers, wenn die Sache des Bestellers gestohlen wird.

4

Die Schadenersatzpflicht nach Auftragsrecht setzt eine Sorgfaltspflichtverletzung voraus (Art. 398 OR). Die Beweislast ist theoretisch wie folgt verteilt: Der Auftraggeber muss beweisen, dass der Beauftragte eine Sorgfaltspflicht verletzt hat. Danach muss der Beauftragte beweisen, dass ihn kein Verschulden trifft. Da jedoch das Verschulden objektiviert ist, besteht zwischen der Sorgfaltspflicht und dem Verschulden kein Unterschied mehr: Die Pflichtverletzung ist identisch mit der objektivierten Fahrlässigkeit. Der Auftraggeber profitiert deshalb im Ergebnis nicht von der Beweislastverteilung gemäss Art. 97 OR. Er muss die aufwendige Arbeit leisten, dem Beauftragten eine Pflichtverletzung nachzuweisen. Gelingt ihm dies, kann sich der Beauftragte nicht mehr exkulpieren. Die Berechnung des Schadens richtet sich nach Art. 42 OR, die Ersatzbemessung nach Art. 43 f. OR. Diese Bestimmungen sind gemäss Art. 99 Abs. 3 OR auch auf das Vertragsrecht anwendbar.

4

Freizeichnung

Die Parteien dürfen grundsätzlich ihre Haftung vertraglich beschränken oder ausschliessen (sie aber auch verschärfen). Als Wegbedingung der Haftung gelten auch mittelbare Haftungsbeschränkungen wie z.B. die Einschränkung der Leistungspflichten durch Leistungsbeschreib, Risikoverteilungsklauseln (BGE 132 III 452) oder die Erschwerung der Rechtsverfolgung. Freizeichnungsklauseln gelten sowohl für die vertragliche Haftung als auch für konkurrierende ausservertragliche Ansprüche (BGE 120 II 61, BGE 107 II 161, BGE 64 II 202). Haftungsausschlüsse sind aber nicht unbeschränkt zulässig. Die bedeutendsten Grenzen sind folgende: 







Die Haftung für Körperschäden darf zum Voraus nicht ausgeschlossen oder beschränkt werden. Eine solche Freizeichnung ist sittenwidrig und damit nichtig nach Art. 19 und Art. 20 OR. Es ist unzulässig, die Haftung für eigene Absicht oder Grobfahrlässigkeit zum Voraus auszuschliessen. Solche Vereinbarungen sind nichtig (Art. 100 Abs. 1 OR). Nach Eintritt des schädigenden Ereignisses können die Parteien eine solche Vereinbarung treffen. Es handelt sich dann um eine Aufhebung durch Übereinkunft gemäss Art. 115 OR. Demgegenüber kann die Haftung für Hilfspersonen auch in Fällen ausgeschlossen werden, in denen die Hilfsperson vorsätzlich oder grobfahrlässig handelt (Art. 101 Abs. 2 OR). Die Haftung für Schädigungen durch die eigenen Angestellten kann somit vollumfänglich ausgeschlossen werden (ausser eben für Körperschäden). Freizeichnungsklauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) unterliegen zusätzlich der Geltungs-, Auslegungs- und Inhaltskontrolle von AGB (s. dazu vorne II/2.1, II/3.1 und II/5.7). Für die Wegbedingung der Gewährleistung kommt im Kaufvertrag vor allem Art. 199 OR zur Anwendung (s. auch Art. 192 Abs. 3 OR). Danach ist eine Vereinbarung über Aufhebung oder Beschränkung der Gewährspflicht ungültig, wenn der Verkäufer dem Käufer das Recht des Dritten bzw. die Gewährsmängel arglistig verschwiegen hat. Dies ist zu bejahen, wenn der Verkäufer den Mangel kennt oder kennen muss und den Käufer hätte informieren müssen. Eine solche Aufklärungspflicht wird angenommen, wenn der Verkäufer annehmen muss, der Mangel können den vom Käufer vorausgesetzten Verwendungszweck vereiteln oder erheblich beeinträchtigen. Das Verhältnis von Art. 199 OR (der Arglist verlangt) zu Art. 100 OR

Freizeichnung

155

156

Kapitel IV – Vertragsverletzung



 



(wo grobe Fahrlässigkeit genügt) ist ungeklärt (BGE 126 III 67, BGE 107 III 161). Die praktische Bedeutung dieser Frage wird aber dadurch entschärft, dass das Bundesgericht die Wegbedingung der kaufrechtlichen Gewährleistung einheitlich über die Auslegung kontrolliert: Die Freizeichnung erfasst alle Mängel, mit deren Art und Ausmass der Käufer rechnen musste (BGE 130 III 686). Wird zudem im Kaufvertrag die Gewährleistung ausgeschlossen, so ist auch die Berufung auf den Grundlagenirrtum verwehrt (BGE 126 III 59). Im Mietrecht steht Art. 256 OR einer Wegbedingung der Vermieterpflichten weitgehend entgegen (ebenso im Pachtrecht Art. 288 OR): Für Wohn- oder Geschäftsräume ist jede Freizeichnung unzulässig. In den übrigen Mietverträgen ist die Freizeichnung nichtig, wenn sie in AGB enthalten ist. Im Bereich des Werkvertrags gelten für die Freizeichnung die allgemeinen Einschränkungen von Art. 100 f. OR. Im Auftragsrecht ist die Freizeichnung von der Haftung nicht nur für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit unzulässig, sondern auch für mittlere und leichte Fahrlässigkeit (oder ein Leistungsbeschreib mit derselben Wirkung). Denn nach Auftrag ist gerade die getreue und sorgfältige Ausführung vertraglich geschuldet. Es ist aber möglich, die Haftung summenmässig zu beschränken oder einzelne Schadensfolgen (z.B. den entgangenen Gewinn) auszuschliessen, solange diese Regelungen nicht zu einer Umgehung von Art. 100 OR führen. Sodann finden sich in Sondergesetzen Bestimmungen, die Haftungsbeschränkungen und -ausschlüsse verbieten oder einschränken, wie z.B. Art. 8 PrHG, Art. 87 Abs. 1 SVG und Art. 16 Pauschalreisegesetz.

Verstösst eine Freizeichnungsklausel gegen das Gesetz, so stellt sich die Frage, was mit ihr geschieht: Wird sie auf das gesetzlich gerade noch erlaubte Mass reduziert (sogenannte „geltungserhaltende Reduktion“) oder ist die Klausel insgesamt nichtig? Während früher überwiegend der geltungserhaltende Reduktion das Wort geredet wurde, vertritt die herrschende Lehre nun zu Recht die Ansicht, dass rechtswidrige Freizeichnungsklauseln in AGB als ganze nichtig sind (so nun auch BGer 4A_404/2008, in dem es um einen Leasingvertrag ging). Für diese Ansicht sprechen die folgenden Argumente: 



Die geltungserhaltende Reduktion setzt beim AGB-Verwender die falschen Anreize, da für ihn die Verwendung missbräuchlicher Klauseln keine rechtlichen Nachteile hat. Er kann seinem Vertragspartner gegenüber auf der rechtswidrigen Bestimmungen beharren in der Hoffnung, dass er sich dagegen nicht zur Wehr setzt. Sollte es im Einzelfall dennoch zu einer gerichtlichen Überprüfung kommen, so würde die Klausel lediglich auf das gesetzlich zulässige Mass reduziert. Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt: Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, eine rechtswidrige AGB-Klausel durch eine andere zu ersetzen, die rechtlich gerade noch zulässig und damit für den Verwender möglichst vorteilhaft ist. Das Gericht ist nicht Sachwalter der Interessen des AGB-Verwenders.

Aus denselben Gründen wird z.T. die geltungserhaltende Reduktion auch ausserhalb der AGB-Kontrolle abgelehnt, nämlich immer dann, wenn eine Vertragsbestimmung gegen eine Norm zum Schutze der sozial schwächeren Partei verstösst. In solchen Fällen müsse es der schwächeren Partei überlassen werden, ob sie die Voll- oder die Teilnichtigkeit der widerrechtlichen Vertragsbestimmung geltend macht.

5

5

Konventionalstrafe

Oft sehen Verträge für den Fall ihrer Nicht- oder Schlechterfüllung Konventionalstrafen vor. Die Konventionalstrafe ist in Art. 160-163 OR geregelt. „Als Konventionalstrafe kann sowohl eine positive Leistung als auch ein Rechtsverlust vereinbart werden, z.B. die Reduktion einer Kaufpreisforderung“ (BGE 135 III 433). Meist besteht sie darin, dass der Schuldner dem Gläubiger Geld bezahlen muss, wenn er den Vertrag nicht erfüllt oder die Leistung zu spät oder schlecht erbringt. Die Funktion der Konventionalstrafe besteht primär darin, den Schuldner in verstärktem Masse zur Vertragstreue anzuhalten und so das Interesse des Gläubigers an der Vertragsdurchführung zu sichern. Zudem verbessert die Konventionalstrafe die Rechtsstellung des Gläubigers. Er wird nämlich vom Schadensnachweis befreit, da die Konventionalstrafe auch dann verfällt, wenn dem Gläubiger kein Schaden entsteht (s. Art. 161 Abs. 1 OR). Die Konventionalstrafe kann von den Parteien in beliebiger Höhe bestimmt werden (Art. 163 Abs. 1 OR). Übermässig hohe Konventionalstrafen muss der Richter aber nach seinem Ermessen herabsetzen (Art. 163 Abs. 3 OR).

6 1.

Fragen und Fälle zum Selbststudium Liegt in den folgenden Fällen Schlechterfüllung oder Aliud- bzw. Falschlieferung vor? a.

Bauer Hugentobler bestellt bei der Chriesi AG 100 kg rote Kirschen, es werden ihm jedoch schwarze Kirschen geliefert.

b.

Es werden dem Bauern faule rote Kirschen geliefert.

c.

Der Kunstliebhaber Anton schloss mit einem privaten Sammler einen Kaufvertrag über einen Picasso ab, der in einem speziellen Goldrahmen geliefert werden sollte. Anton wird aber nun ein Rembrandt zugestellt.

d.

Der vereinbarte Picasso wird nicht in dem Goldrahmen geliefert und zudem hat sich der Zustand des Bildes durch unvorsichtige Behandlung des privaten Sammlers verschlechtert.

2.

Sie kaufen beim TicketCorner ein Ticket für das nächste Konzert von Bon Jovi. Das Ticket wird Ihnen am nächsten Tag per Post zugestellt. In der Zwischenzeit ist in allen Medien die Nachricht zu hören, dass Bon Jovi am vergangenen Samstag verstorben ist. Welche Art der Vertragsstörung liegt vor?

3.

Können die Verzugswirkungen auch ohne vorangehende Mahnung eintreten?

4.

Welche allgemeinen Verzugswirkungen kennen Sie? Inwiefern ist es bezüglich der allgemeinen Verzugsfolgen von Bedeutung, ob der Schuldner den Verzug verschuldet hat?

5.

Welche speziellen Verzugsfolgen gibt es? Wo sind sie geregelt? Welche Gläubigerwahlrechte können unterschieden werden?

6.

Welches sind die Rechtsfolgen a.

der anfänglichen objektiven Unmöglichkeit?

Konventionalstrafe

157

158

Kapitel IV – Vertragsverletzung

b.

der anfänglichen subjektiven Unmöglichkeit?

c.

der nachträglichen objektiven oder subjektiven Unmöglichkeit?

7.

P hat bei der Weinhandlung Bonvin 10 Flaschen Wein bestellt. Nach einigen Tagen wird der Wein geliefert. Die beiliegende Rechnung setzt eine Zahlungsfrist bis zum 30. des nächsten Monats. P bezahlt jedoch nicht. Was kann die Weinhandlung tun?

8.

Welche Arten von Kaufverträgen gibt es?

9.

Nachdem Frau Kunz beim Antiquitätenhändler einen Biedermeiertisch und einen Spiegel in einem wertvollen Art-Deco-Rahmen lange besichtigt hat, entschliesst sie sich zum Kauf. Den Kaufpreis von je CHF 10 000 für Tisch und Spiegel begleicht sie nicht sofort; sie soll dafür eine Rechnung erhalten. Die Möbel sollen von einem Angestellten des Händlers transportsicher verpackt und anderntags durch einen von Frau Kunz beauftragten Spediteur abgeholt werden. Über Nacht tropft bei einem völlig zufälligen Rohrbruch Wasser auf den Tisch, der aufquillt und sich verbiegt. Er ist nur durch eine CHF 1 000 teure Reparatur zu retten. Der Spiegel wird vom Spediteur überbracht. Der Angestellte des Händlers hatte den Spiegel aber nur lose eingewickelt; die Verpackung hat sich beim Transport gleich wieder gelöst. Infolge dessen hat der Spiegel durch einen Stoss beim Transport einen Sprung erhalten. Der sehr viel wertvollere Rahmen ist unbeschädigt; der Spiegel muss ersetzt werden. Wie ist die Rechtslage?

10.

Down-Hill-Spezialistin Antonia Rast bestellt bei der „Bike Explorer“ ein Mountainbike auf Mass. Am 30.06.2002 wird das Bike termingerecht geliefert und von Antonia Rast zugleich auf Herz und Nieren überprüft. Es sind keine Mängel ersichtlich. Eine Woche später stürzt Antonia Rast beim Training schwer und zieht sich erhebliche Verletzungen zu. Es entstehen Behandlungskosten von mehreren Tausend Franken. Zudem ist Antonia vier Monate arbeitsunfähig. Das Bike erleidet einen Totalschaden. Antonia Rast bringt, nachdem sie wieder einigermassen gehen kann, das Bike empört zurück. Es stellt sich heraus, dass der Unfall auf ein Versagen der Bremsen zurückzuführen ist. Welche Rechte stehen Antonia Rast zu?

159

Kapitel V – Beendigung der Leistungspflicht Dieses Kapitel behandelt die Fälle, in denen der Schuldner eine vereinbarte Leistung nicht mehr erbringen muss bzw. der Gläubiger die Leistung nicht mehr fordern kann. Dabei wird zwischen dem Erlöschen einer Forderung (1), der Beendigung des gesamten Vertrags (2) und der Verjährung (3) unterschieden. Das Erlöschen einer Forderung hat in der Regel nicht zur Folge, dass der gesamte Vertrag beendet wird. Übereignet z.B. der Verkäufer dem Käufer den Kaufgegenstand, so erlischt nur der Anspruch des Käufers auf Erfüllung. Der Kaufvertrag besteht weiterhin und der Verkäufer hat einen vertraglichen Anspruch auf Bezahlung des Kaufpreises. In Fällen der unverschuldeten Unmöglichkeit einer Forderung erlischt aber auch die Gegenforderung und die bereits erbrachten Leistungen sind (nach Bereicherungs- und Eigentumsrecht) zurück zu erstatten (Art. 119 OR, dazu hinten). Umgekehrt entfallen mit dem Ende des Vertrags die vertraglichen Hauptleistungspflichten. Das bedeutet aber nicht, dass mit dem Ende des Vertrags zwischen den Parteien keine Forderungen mehr bestünden. Es kann nämlich sein, 

  



dass ein Vertragspartner dem andern gegenüber noch ausstehende Forderungen aus dem beendeten Vertrag hat, z.B. noch nicht bezahlte Mietzinse oder Honorare/Löhne; dass ein Vertragspartner dem andern Eigentum zurückgeben muss, z.B. die Mietwohnung (Art. 267 OR) oder Arbeitsausrüstung (Art. 339a OR); dass ein Vertragspartner Anspruch auf Ersatz seiner Auslagen hat, z.B. bei einem Werkvertrag oder Auftrag; dass nachwirkende Pflichten bestehen, z.B. ein Konkurrenzverbot des Arbeitnehmers nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder die Pflicht des Anwalts, die Geheimnisse seines Klienten zu wahren; dass Schadenersatz- oder Gewährleistungsansprüche geltend gemacht werden können.

Die Verjährung einer Forderung hat zur Folge, dass die Forderung entkräftet wird. Die Forderung erlischt zwar nicht (bleibt also weiterhin bestehen), doch der Schuldner kann sich dem Gläubiger gegenüber darauf berufen, die Forderung sei verjährt. Der Gläubiger kann dann seine Forderung nicht mehr durchsetzen.

1

Erlöschen der Forderung

Überblick über die nachfolgend dargestellten Erlöschungsgründe einer Forderung:    

Erfüllung (Art. 68 ff. OR, s. oben, III/3.1–3.4); Verrechnung (Art. 120–126 OR) Verwirkung (nicht aber Verjährung); Unmöglichkeit (Art. 119 OR);

160

Kapitel V – Beendigung der Leistungspflicht



Weitere Arten des Erlöschens von Forderungen: Erlassvertrag (Art. 115 OR), Neuerung (Art. 116 f. OR), Vereinigung (Art. 118 OR).

1.1

Erfüllung

Die Erfüllung ist der normale und wichtigste Erlöschungsgrund einer Forderung. Die Forderung des Gläubigers gegen den Schuldner erlischt mit ihrer vertragskonformen Erfüllung (dazu Kapitel III; die Leistung ist nach Person, Inhalt, Gegenstand, Ort und Zeit richtig zu erfüllen). Mit der Erfüllung wird der Zweck des Schuldverhältnisses erreicht, da der Gläubiger erhält, was er zu fordern berechtigt ist. Durch die Erfüllung gehen sowohl die Obligation als auch deren Nebenrechte, wie z.B. Bürgschaften, Pfandrechte, Zinsen und Retentionsrecht, unter (vgl. Art. 114 Abs. 1 OR).

1.2

Verrechnung

Schulden zwei Personen einander gegenständlich gleichartige Leistungen, kann jede Partei ihre Schuld bei Fälligkeit beider Forderungen mit ihrer Forderung verrechnen (Art. 120 Abs. 1 OR). Der wirtschaftliche Zweck der Verrechnung besteht grundsätzlich in der Vereinfachung des Zahlungsverkehrs. Die Verrechnung kann auf einem Vertrag zwischen den beteiligten Parteien beruhen (namentlich bei Bankverträgen). Die Verrechnung kann aber auch dann eintreten, wenn nur eine der beiden Parteien eine entsprechende Erklärung abgibt (Art. 124 Abs. 1 OR). Zu beachten ist, dass die Forderungen, die miteinander verrechnet werden sollen, unter denselben Parteien bestehen müssen, d.h. jede Partei muss Gläubiger und Schuldner der anderen Partei sein. Sodann müssen die gegenseitigen Forderungen gleichartig sein. Durch das Erfordernis der Gleichartigkeit wird die Verrechnung faktisch auf Geldforderungen beschränkt.

1.3

Verwirkung

Gewisse Rechte und Forderungen müssen aus Gesetz oder Vertrag innerhalb bestimmter Fristen geltend gemacht werden. Werden diese Fristen nicht eingehalten, gehen die entsprechenden Rechte bzw. Forderungen durch Verwirkung unter. Beispiele: Frist für die Vertragsanfechtung aufgrund von Willensmängeln, Art. 31 OR; Rügefrist im Kauf- und Werkvertragsrecht, Art. 210 und Art. 370 OR (wird sie nicht eingehalten, gehen die Ansprüche aus Sachgewährleistung unter); Widerrufsrecht des Schenkers (Art. 251 OR – entgegen der Marginalie handelt es sich nicht um eine Verjährungsfrist); Frist zur Anfechtung eines Generalversammlungsbeschlusses (Art. 706a Abs. 1 OR) oder zur Anfechtung von Beschlüssen der Vereinsversammlung (Art. 75 ZGB). Die Verwirkung unterscheidet sich von der Verjährung (dazu V/3) wie folgt:

1

 



Verwirkungsfristen können im Gegensatz zu Verjährungsfristen weder unterbrochen noch gehemmt werden. Im Gegensatz zur Verjährung zieht die Verwirkung den Untergang des betroffenen Rechts mit sich und führt nicht nur zum Verlust der Durchsetzbarkeit. Die Verwirkung ist von Amtes wegen zu beachten, die Verjährung nur auf Einrede hin.

Die Verwirkung ist also strenger als die Verjährung. Dabei ist aber zu beachten: Die Gründe, die zur Unterbrechung der Verjährung führen, genügen, um die Verwirkungsfrist zu wahren. Ist eine Verwirkungsfrist einmal gewahrt, so beginnt sie nicht mehr von neuem. Unter Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs (Art. 2 Abs. 2 ZGB) gilt: Einmal gewahrt, immer gewahrt.

1.4

Unmöglichkeit

Wird eine Leistung unmöglich, kann dies dazu führen, dass die entsprechende Forderung erlischt. Da in diesem Fall auch die Gegenforderung entfällt und damit der Vertrag sein Ende findet, wird die Unmöglichkeit (zusammen mit verwandten Tatbeständen) unter dem Titel der Beendigung des Vertrags behandelt (s. V/2).

1.5

Weitere Arten des Erlöschens von Forderungen

Erlassvertrag: Eine Forderung kann durch Übereinkunft ganz oder teilweise aufgehoben werden (Art. 115 OR). Ein solcher Erlassvertrag bringt gemäss Art. 114 Abs. 1 OR die betreffende Forderung und die damit verbundenen Nebenrechte zum Erlöschen. Der Erlassvertrag bedarf der Zustimmung beider Parteien, kann aber in allen Fällen formfrei geschlossen werden (Art. 115 OR). Das OR kennt also keinen einseitigen Verzicht auf Forderungen. Aber der Verzicht des Gläubigers liegt im Interesse des Schuldners, so dass die Annahme nach Art. 6 OR („besondere Art des Geschäfts“) auch stillschweigend erfolgen kann (dazu II/2.2). Neuerung (Novation): Die Parteien eines Schuldverhältnisses können – durch einen neuen Vertrag – die ältere Forderung samt aller Einreden (z.B. eines Gewährleistungsanspruchs) und Nebenrechten (z.B. einer Bürgschaft) untergehen lassen und an ihrer Stelle eine neue Obligation begründen (sog. Neuerung oder Novation, Art. 116, 117 OR). Die Tilgung einer alten Schuld durch Begründung einer neuen wird allerdings nicht vermutet (Art. 116 Abs. 1 OR). Vereinigung (Konfusion): Wenn die Eigenschaften des Gläubigers und des Schuldners in einer Person zusammentreffen (Personalunion), geht die Schuld ebenfalls unter (sog. Vereinigung oder Konfusion, Art. 118 Abs. 1 OR). Beispiel: Anton hat von seinem Vater Beat ein Darlehen von CHF 10 000 erhalten. Nach dem Tod von Beat ist Anton Alleinerbe. In diesem Fall treffen die Eigenschaften des Gläubigers und des Schuldners in der Person von Anton zusammen.

Erlöschen der Forderung

161

162

Kapitel V – Beendigung der Leistungspflicht

2

Beendigung des Vertrags

Nach einer Übersicht über die allgemeinen Beendigungsgründe werden Besonderheiten der Beendigung bestimmter Verträge vorgestellt: die Kündigung des Mietvertrags, die Beendigung des Werkvertrags und die Beendigung des Auftrags.

2.1

Allgemeine Beendigungsgründe

Manche Schuldverhältnisse erschöpfen sich im Austausch einzelner Leistungen (z.B. Übereignung einer Sache und Bezahlung beim Kauf; Werkherstellung und Bezahlung beim Werkvertrag). In diesen Fällen ist der Vertrag durch seine Erfüllung beendet. Demgegenüber gehen Dauerschuldverhältnisse nicht durch Erfüllung unter. Vielmehr wird der Vertrag laufend erfüllt und dauert an. Der Umfang der gegenseitigen Leistungspflichten bestimmt sich nach der Dauer des Vertrags. In diesen Fällen wird der Vertrag durch Zeitablauf beendigt (falls er befristet war) oder durch die Kündigung (falls er unbefristet war). Ein Vertrag kann auch dadurch sein Ende finden, dass eine Partei ihn verletzt. Dies kann nämlich der andern Partei das Recht geben, vom Vertrag zurückzutreten (s. z.B. Art. 107-109 OR) oder – was im Ergebnis dasselbe ist – ihn zu wandeln (für den Kaufvertrag s. Art. 205 und 208 OR, für den Werkvertrag Art. 368 OR). Weiter kann eine Veränderung der Umstände nach Vertragsabschluss dazu führen, dass der Vertrag aufgelöst wird oder eine Partei das Recht erhält, ihn zu kündigen. Die anwendbaren Rechtsfiguren sind die clausula rebus sic stantibus, die nachträgliche Unmöglichkeit und das Recht zur Kündigung aus wichtigem Grund: 



Die nachträgliche Unmöglichkeit (der Vertragszweck kann nicht mehr erfüllt werden) ist ein Spezialfall der clausula rebus sic stantibus (dazu auch vorne II/3.2). Das OR regelt nur die nachträgliche Unmöglichkeit ausdrücklich (Art. 119 OR), während die clausula rebus sic stantibus auf der Rechtsprechung des Bundesgerichts beruht (mit Ausnahme der Spezialregelung von Art. 373 Abs. 2 OR). Unabhängig von der genauen Abgrenzung zwischen diesen Rechtsfiguren ist in den Fällen veränderter Umstände vor allem die Frage entscheidend, ob eine der Parteien das eingetretene Risiko tragen muss. Die Gründe für eine solche Risikozuweisung können sein: Die Parteien haben das so vereinbart (z.B. durch eine Garantie oder eine Freizeichnungsklausel); das Gesetz weist einer Partei das Risiko zu (wie z.B. Art. 185 OR); eine Partei hat die Veränderung der Umstände verschuldet (Art. 97 OR) oder ihr Vertragsbruch hat das Risiko mitverursacht (s. z.B. Art. 103 OR); die Partei muss für das Verhalten ihrer Hilfsperson einstehen (Art. 101 OR). S. dazu die Beispiele am Ende von IV/1.2. Verschiedene Bestimmungen räumen einer Partei das Recht ein, den Vertrag aus wichtigen Gründen zu kündigen, z.B. Art. 266g, 297, 337, 418r OR. Das Bundesgericht anerkennt dieses Recht für alle Dauerschuldverhältnisse: Sie können aus wichtigen Gründen, die die Vertragserfüllung unzumutbar machen, vorzeitig beendet werden.

2



Beendigung des Vertrags

163

Sodann gilt das Prinzip, dass ein Vertrag nicht auf "ewige Zeiten" abgeschlossen oder aufrechterhalten werden kann. Vielmehr steht den Parteien ein angemessenes Kündigungsrecht zu. Beispiel: „Nach Treu und Glauben ist eine Gemeinde, die mit einer andern Gemeinde einen privatrechtlichen Vertrag über dauernde Wasserlieferung abgeschlossen hat, berechtigt, diesen Vertrag zu kündigen, ohne eine Entschädigung bezahlen zu müssen, wenn sie ihn während mehr als 63 Jahren eingehalten hat und die von der Gegenpartei getätigten Investitionen seit mehr als 22 Jahren amortisiert sind“ (BGE 113 II 209, Regeste).

2.2

Kündigung des Mietvertrags

Das Mietverhältnis ist ein Dauerschuldverhältnis. Es kann befristet oder unbefristet eingegangen werden. Das befristete Mietverhältnis endet ohne Kündigung mit Ablauf der vertraglich vereinbarten Dauer (Art. 266 OR). Setzen die Parteien aber das Mietverhältnis stillschweigend fort, gilt es als unbefristetes Mietverhältnis und es gelten die entsprechenden Kündigungsfristen und Termine (Art. 266a bis 266k OR). Bei Wohnungen beträgt die ordentliche Kündigungsfrist drei Monate auf einen ortsüblichen Kündigungstermin. Gibt es keine Ortsüblichkeit, kann das Mietverhältnis auf das Ende einer dreimonatigen Mietdauer gekündigt werden. Beispiel: Am 1. Januar 2001 wurde ein unbefristetes Mietverhältnis begründet. Es fragt sich, wann erstmals eine Kündigung möglich ist. Angenommen, die ortsüblichen Kündigungstermine wären 31. März und 30. September, kann bis am 30. Juni (Beginn der Dreimonatsfrist) auf den 30. September (Ortsüblicher Termin) gekündigt werden. Bei der Miete möblierter Zimmer und beweglicher Sachen gelten kürzere Kündigungsfristen: zwei Wochen bei möblierten Zimmern (Art. 266e OR) drei Tage bei beweglichen Sachen (Art. 266f OR). Nach Art. 264 OR kann der Mieter das Mietobjekt, sei es eine Wohnung oder eine bewegliche Sache, ohne Einhalten einer Kündigungsfrist oder eines Kündigungstermins zurückgeben, wenn er einen für den Vermieter zumutbaren neuen Mieter vorschlägt. Der neue Mieter muss bereit und in der Lage sein, den Mietvertrag zu den gleichen Bedingungen zu übernehmen. Beispiel: Der Vermieter ist nicht verpflichtet, einen Ersatzmieter zu akzeptieren, dessen Zahlungsfähigkeit mit jener des aktuellen Mieters überhaupt nicht vergleichbar ist. Dem blossen Verhältnis zwischen Mietzins und Einkommen des Ersatzmieters ist jedoch nicht übermässige Bedeutung beizumessen (BGE 119 II 38).

2.3

Beendigung des Werkvertrags

Das Werkvertragsrecht enthält besondere Regeln zur Beendigung des Vertrags aufgrund der Überschreitung des Kostenansatzes (Art. 373-375 OR), bei Unter-

Merke: Zwischen Kündigungstermin und Kündigungsfrist muss strikt unterschieden werden. Kündigungsfrist bezeichnet die Mindestzeit zwischen Abgabe der Kündigungserklärung und dem Vertragsablauf. Beim Kündigungstermin handelt es sich um das in der Kündigungserklärung angegebene Datum des Vertragsablaufs.

164

Kapitel V – Beendigung der Leistungspflicht

gang des Werks (Art. 376 OR) und bei Unmöglichkeit (Art. 378 f. OR). Sodann gibt es im Werkvertragsrecht ein jederzeitiges Rücktrittsrecht des Bestellers gegen Schadloshaltung (Art. 377 OR). Überschreitet der Unternehmer seinen Kostenansatz, ist danach zu unterscheiden, ob es sich um einen festen Voranschlag handelt (Art. 373 OR, Fixpreis) oder um einen ungefähren Kostenvoranschlag (Art. 375 OR). 



Haben die Parteien einen Fixpreises vereinbart, muss der Unternehmer das Werk zu diesem Preis erstellen, auch wenn sein Aufwand grösser ist als gedacht (Art. 373 Abs. 1 OR). Nur in Ausnahmefällen kann er verlangen, dass das Gericht den Vertrag auflöst (Art. 373 Abs. 2 OR; s. auch III/2.3.2, Pflichten des Bestellers). Anders liegen die Dinge im Fall, in dem der Unternehmer einen ungefähren Kostenvoranschlag überschreitet. Dabei handelt es sich um eine unverbindliche Auskunft des Unternehmers über den Preis, den das Werk den Besteller kosten wird. In diesem Fall bestimmt sich der Preis, den der Besteller dem Unternehmer schuldet, nach dem angemessenen Aufwand des Unternehmers (Art. 374 OR). Es kann also sein, dass der Besteller mehr bezahlen muss, als der Unternehmer veranschlagt hat. Wird aber der ungefähre Ansatz unverhältnismässig (d.h. um mehr als 10%) überschritten, kann der Besteller gemäss Art. 375 OR vom Vertrag zurücktreten.

Art. 376 OR regelt die Folgen des Untergangs des Werks vor seiner Übergabe (d.h. vor seiner Ablieferung). Sie bestimmt, dass der Untergang des Werks nicht zur Beendigung des Vertrags führt. Der Unternehmer ist weiterhin verpflichtet, das Werk rechtzeitig zu erstellen und der Besteller schuldet dafür weiterhin die vereinbarte Vergütung. Hat der Besteller den Untergang des Werks zu vertreten, muss er den Unternehmer für seine bisherigen Arbeiten und Aufwendungen entschädigen. Nach Ablieferung des Werks liegt die Gefahr seines Untergangs beim Besteller, unter Vorbehalt seiner Mängelrechte (falls der Untergang auf einen Mangel zurückzuführen ist, der bei Ablieferung bereits im Keime vorhanden war). Nach Art. 377 OR kann der Besteller jederzeit vom Vertrag zurücktreten, solange das Werk noch unvollendet ist. Der Besteller muss aber die bereits geleistete Arbeit vergüten und den Unternehmer schadlos halten. Das bedeutet, dass der Werkunternehmer Ersatz des positiven Vertragsinteresses fordern kann. Er wird also so gestellt, wie wenn beiden Seiten den Vertrag erfüllt hätten.

2.4

Beendigung des Auftrags

Für die Beendigung des Auftragsverhältnisses gelten die üblichen Regeln über den Untergang der Obligation. Eine auftragsrechtliche Besonderheit stellt aber Art. 404 OR dar, wonach der Auftrag von jeder Partei jederzeit widerrufen oder gekündigt werden kann. Gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts ist diese Bestimmung zwingend. Das freie Widerrufs- und Kündigungsrecht darf also vertraglich weder ausgeschlossen noch beschränkt werden. In der Rechtsprechung und einem Teil der Lehre wird der zwingende Charakter von Art. 404 OR mit der besonderen Vertrauensstellung zwischen dem Beauftragten und dem Auftraggeber begründet. Bei einem zerstörten oder gestörten Vertrauensverhältnis ist die Aufrechterhaltung des Vertrages nicht mehr sinnvoll. Das jederzeitige Widerrufs- und Kündigungsrecht gilt sowohl für den reinen Auftrag als auch für gemischte Verträge, für welche hinsichtlich der zeitlichen Bindung der

3

Parteien die Bestimmungen des Auftragsrechts als sachgerecht erscheinen (BGE 115 II 464). Die Folgen des jederzeitigen Widerrufsrechts werden in Art. 404 Abs. 2 OR insoweit gemildert, als die Vertragspartei, die den Auftrag widerruft oder kündigt, gegenüber der anderen Partei schadenersatzpflichtig wird, wenn der Widerruf oder die Kündigung zur Unzeit erfolgt ist. Unzeitig ist ein Widerruf oder eine Kündigung ohne Vorliegen wichtiger Gründe in einem für die andere Partei ungünstigen Zeitpunkt, wie z.B. wenn der Auftraggeber aus zeitlichen Gründen keine anderen Dispositionen (Wahl eines anderen Beauftragten) mehr treffen kann. Der Schadenersatz umfasst allerdings nur diejenigen Nachteile, die gerade deswegen entstanden, weil die Kündigung zur Unzeit erfolgte. Die Bestimmung gibt insbesondere keinen Anspruch auf Ersatz des positiven Interesses; dies im Gegensatz zum jederzeitigen Kündigungsrecht des Bestellers nach Art. 377 OR (s. soeben vorne), das nur über volle Schadloshaltung des Unternehmers zu haben ist. Beispiele: BGE 134 III 306 E. 5: „Schliesslich hat das Kantonsgericht der Beschwerdegegnerin Schadenersatz im Umfang von 10 800 Franken zugesprochen, weil der Beschwerdeführer dieser den mündlich erteilten Auftrag, die Kehrichtabfuhr einstweilig bis zum Abschluss des neuen Vertrags weiter zu besorgen, zur Unzeit entzogen habe. Den Schaden sah sie in den Lohnzahlungen für Angestellte, deren Arbeitsverhältnisse die Beschwerdegegnerin nicht kurzfristig kündigen konnte.“ Unzeitig ist der Widerruf des Bauherrn, wenn der Architekt zum Widerruf keinen begründeten Anlass gegeben hat und die Vertragsauflösung hinsichtlich des Zeitpunkts und der vom Architekten getroffenen Dispositionen für diesen besonders nachteilig ist (BGE 110 II 383).

3

Verjährung

Verjährung bedeutet, dass eine Forderung durch Zeitablauf entkräftet wird. Nach Ablauf der Verjährungsfrist kann der Schuldner seine Leistung verweigern und der Gläubiger somit seine Forderung nicht mehr gegen den Willen des Schuldners zwangsweise durchsetzen. Die Verjährung bezweckt insbesondere den Schutz der öffentlichen Ordnung, der Rechtssicherheit und des gesellschaftlichen Friedens. Durch die Verjährung soll der Schuldner davor bewahrt werden, seine Belege während unbeschränkter Zeit aufbewahren zu müssen, und der Gläubiger angespornt werden, seine Forderungen innert vernünftiger Frist geltend zu machen. Die Verjährung ist in der Praxis ausserordentlich wichtig. Die Verjährung ist nicht ganz einfach zu verstehen. Das liegt u.a. daran, dass es zahlreiche verschiedene Verjährungsfristen gibt, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu laufen beginnen. Die nachfolgende Tabelle bietet einen Überblick über die wichtigsten Verjährungsfristen des OR und einiger Nebengesetze. Im Anschluss an diese Tabelle werden einige wichtige Punkte zur Verjährung erläutert.

Verjährung

165

166

Kapitel V – Beendigung der Leistungspflicht

Bestimmung

Dauer der Verjährungsfrist

Beginn der Verjährungsfrist

1 Jahr (relative Frist)

Ab Kenntnis des Schadens und Person des Ersatzpflichtigen

OR Art. 60 Abs. 1

Gilt auch für Ansprüche aus c.i.c. Art. 60 Abs. 1

10 Jahre (absolute Frist)

Ab dem Tag der schädigenden Handlung (und nicht ab dem Tag des Eintritts des Schadens; diese Tage können weit auseinanderliegen, z.B. in Asbestfällen) Gilt auch für Ansprüche aus c.i.c.

Art. 67 Abs. 1

1 Jahre (relative Frist)

Ab Kenntnis des Anspruchs

Art. 67 Abs. 1

10 Jahre (absolute Frist)

Ab Entstehung des Anspruchs

Art. 127

10 Jahre

Art. 128

5 Jahre

Ab Fälligkeit der Forderung, Art. 130 OR

Art. 210 Abs. 1 und 2

2 bzw. 5 Jahre

Ab Ablieferung der Kaufsache an den Käufer

Art. 210 Abs. 3

1 Jahr

Ab Entdeckung des Mangels

Art. 210 Abs. 3

30 Jahre

Ab Vertragsabschluss

Art. 219 Abs. 3

5 Jahre

Ab Erwerb des Eigentums

Art. 371 Abs. 1

2 bzw. 5 Jahre

Ab Abnahme des Werks

Art. 371 Abs. 2

5 Jahre

Ab Abnahme des Werks

Versicherungsvertragsgesetz (VVG) Art. 46

2 Jahre

Ab Eintritt der Tatsache, welche die Leistungspflicht begründet

Produktehaftpflichtgesetz (PrHG) Art. 9

3 Jahre (relative Frist)

Ab Kenntnis des Schadens, des Fehlers und des Herstellers

Strassenverkehrsgesetz (SVG) Art. 83

2 Jahre (relative Frist)

Ab Kenntnis des Schadens und des Ersatzpflichtigen

Art. 83

10 Jahre (absolute Frist)

Ab Unfalltag

„Bei der Berechnung der Frist ist der Tag, von dem an die Verjährung läuft, nicht mitzurechnen und die Verjährung erst dann als beendigt zu betrachten, wenn der letzte Tag unbenützt verstrichen ist.“ (Art. 132 Abs. 1 OR). Im Übrigen gelten Art. 77 ff. OR (Art. 132 Abs. 2 OR). Die Verjährung kann durch die in Art. 135 Abs. 1 Ziff. 1 OR aufgezählten Handlungen des Schuldners oder durch die in Ziff. 2 aufgeführten Handlungen des Gläubigers unterbrochen werden. „Mit der Unterbrechung beginnt die Verjährung von neuem“ (Art. 137 Abs. 1 OR). S. Art. 137 f. OR zum Beginn der neuen Frist.

3

Beispiel: Zwischen Anton und Beat besteht ein Kaufvertrag. Die Ware, die Beat geliefert hat ist mangelhaft und Anton hat dies rechtzeitig gerügt. Nun muss er die zweijährige Verjährungsfrist wahren. Anerkennt Beat Antons Forderung (z.B. stellschweigend durch Vornahme eines Reparaturversuchs) oder so ist die Verjährung unterbrochen und es beginnt eine neue Frist von zwei Jahren zu laufen (Art. 137 Abs. 1 OR). Betreibt Anton Beat, so ist die Verjährung unterbrochen. Es beginnt eine neue Frist von zwei Jahren zu laufen (Art. 137 Abs. 1 OR), und zwar mit jedem Betreibungsakt (Art. 138 Abs. 2 OR). Hat Beat Antons Forderung durch Ausstellung einer Urkunde anerkannt (mithin die Forderung schriftlich beziffert und das Dokument unterzeichnet), so beginnt eine neue Frist von zehn Jahren zu laufen (Art. 137 Abs. 2 OR). Reicht Anton eine Klage ein, so beginnt die Verjährung erst dann von neuem zu laufen, wenn der Rechtsstreit vor der befassten Instanz abgeschlossen ist (Art. 138 Abs. 1 OR), also mit Eintritt der Rechtskraft des Urteils (oder nach einem Teil der Lehre bereits mit dessen Eröffnung). Wird das Urteil rechtskräftig, beginnt eine neue, zehnjährige Frist (Art. 137 Abs. 2 OR). Art. 134 OR enthält die Hemmungsgründe der Verjährung. Tritt ein solcher Grund ein, beginnt die Verjährungsfrist nicht zu laufen oder sie steht still, falls sie schon begonnen hat. Fällt der Hemmungsgrund weg, läuft die Verjährung nicht von neuem. Vielmehr „nimmt die Verjährung ihren Anfang oder, falls sie begonnen hatte, ihren Fortgang“ (Art. 134 Abs. 2 OR). Beispiel: Art. 134 Abs. 1 Ziff. 3 OR sieht den Stillstand der Verjährung für Forderungen zwischen den Ehegatten während der Dauer der Ehe vor. Dies bedeutet, dass die Verjährung für Forderungen zwischen den Ehegatten, die während der Ehe entstehen, erst nach dem Ende der Ehe (Tod eines Ehegatten, Scheidung) zu laufen beginnt. Bei Forderungen, die vor der Ehe entstanden sind, zählt die Dauer der Ehe für die Berechnung der verstrichenen Verjährung nicht mit. Mit dieser Regelung soll verhindert werden, dass die Ehegatten Unterbrechungshandlungen gegeneinander vornehmen müssen, wenn sie die Durchsetzbarkeit ihrer Forderungen nicht gefährden wollen. Verzichtet der Schuldner während der laufenden Verjährungsfrist auf die Einrede der Verjährung, so beginnt die Frist nicht von neuem zu laufen, sondern sie verlängert sich nach Massgabe der von den Parteien vereinbarten Fristverlängerung (BGer 9C_104/2007 E. 8.2.1). Der Verjährungseinredeverzicht eröffnet daher abweichend von der Verjährungsunterbrechungsregel von Art. 137 Abs. 1 OR die (unterbrochene) Verjährungsfrist nicht neu, sondern verlängert sie nur nach Massgabe der von den Parteien vereinbarten Fristverlängerung. Im Bereich des Vertragsrechts sind zur Verjährung insbesondere folgende Punkte zu beachten: 

Die allgemeinen vertraglichen Verjährungsfristen beginnen nach Art. 130 Abs. 1 OR grundsätzlich mit der Fälligkeit der Forderung zu laufen. Dabei werden Forderungen auf Schadenersatz und Genugtuung aus vertragswidriger Körperverletzung nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sogleich mit der Verletzung der vertraglichen Pflicht fällig, und nicht erst mit Eintritt des Schadens (BGE 137 III 16).

Verjährung

167

168

Kapitel V – Beendigung der Leistungspflicht

Beispiel: Arbeitnehmer Anton hat für die Beta AG gearbeitet und während dieser Zeit Asbeststaub eingeatmet. 30 Jahre später erkrankt er daran. Sein Anspruch gegen die Beta AG ist verjährt: Die zehnjährige Verjährungsfrist läuft nicht ab Ausbruch der Krankheit, sondern begann bereits mit dem letzten Tag zu laufen, an dem Anton als Angestellter der Beta AG Asbeststaub einatmete. 



Der Kaufvertrag kennt ein besonderes Verjährungsregime für Ansprüche aus Sachgewährleistung: Klagen wegen Mängel der Sache verjähren mit Ablauf von zwei Jahren nach deren Ablieferung an den Käufer (Art. 210 Abs. 1 OR). Wurde die Kaufsache bestimmungsgemäss in ein unbewegliches Werk integriert, beträgt die Verjährungsfrist fünf Jahre (Art. 210 Abs. 2 OR). Im Falle einer absichtlichen Täuschung tritt die Verjährung erst nach 10 Jahren ein (Art. 210 Abs. 6 i.V.m. Art. 127 OR). Art. 210 Abs. 4 OR beschränkt zum Schutz des Konsumenten die Möglichkeiten der Parteien, die Verjährungsfristen zu verkürzen. Die Verjährungsfrist gemäss Art. 210 OR ist strikte von der Verwirkungsfrist gemäss Art. 201 OR zu trennen. Der Käufer muss beide Fristen einhalten: Als erstes muss er die Verwirkungsfrist gemäss Art. 201 OR wahren, indem er Mängel sofort rügt. Hat er dies getan und damit seine Forderung vor dem Erlöschen bewahrt, muss er in einem zweiten Schritt verhindern, dass die Forderung durch Verjährung entkräftet wird. Dazu muss er innerhalb der Verjährungsfrist von Art. 210 Abs. 1 OR die Verjährung unterbrechen (Art. 135 OR) oder einen Verjährungseinredeverzicht des Verkäufers einholen. Bei alledem ist zu beachten: Art. 210 Abs. 1 OR bezieht sich nur auf die Ansprüche des Käufers aus Sachgewährleistung (Art. 205 ff. OR). Für seine Ansprüche aus Rechtsgewährleistung (Art. 192 ff. OR) und für seine Ansprüche aus Nichterfüllung (Art. 102 ff. OR) oder Verletzung einer Nebenpflicht (Art. 97 OR) gilt die ordentliche zehnjährige Verjährungsfrist von Art. 127 OR. Auch Ansprüche des Käufers aus einer selbständigen Garantie des Verkäufers (zur Abgrenzung der selbständigen Garantie von der unselbständigen Garantie und der Zusicherung s. vorne III/2.1.1) verjähren erst nach zehn Jahren. Die Ansprüche des Verkäufers auf Kaufpreiszahlung verjähren gemäss Art. 127 f. OR (d.h. grundsätzlich nach zehn Jahren, in den Ausnahmefällen von Art. 128 Ziff. 2 und 3 OR nach fünf Jahren). Auch die Bestimmungen zum Werkvertrag enthalten besondere Verjährungsregeln. Die Ansprüche des Bestellers wegen Mängeln des Werkes verjähren mit Ablauf von zwei Jahren nach dessen Abnahme (Art. 371 Abs. 1 OR). Die Ansprüche des Bestellers eines unbeweglichen Werkes wegen allfälliger Mängel des Werkes verjähren gegen den Unternehmer (sowie den Architekten und Ingenieur) mit Ablauf von fünf Jahren seit Abnahme des Werkes (Art. 371 Abs. 2 OR). Ebenfalls nach fünf Jahren verjähren Ansprüche wegen Mängeln eines beweglichen Werks, das in ein unbewegliches Werk integriert wurde (Art. 371 Abs. 1 OR). Diese Bestimmung bezweckt vor allem den Schutz des Unternehmers, der zur Herstellung eines unbeweglichen Werks bei Subunternehmern bewegliche Werke bestellt. Auch im Werkvertrag sind Verkürzungen dieser Verjährungsfristen nur eingeschränkt möglich (Art. 371 Abs. 3 i.V.m. Art. 210 Abs. 4 OR). Wie im Kaufrecht ist auch im Werkvertragsrecht strikt zwischen der Verwirkungsfrist (Art. 370 OR) und der Verjährungsfrist (Art. 371 OR) zu unterscheiden, die der Besteller beide einhalten muss. Schliesslich ist auch hier zu beachten: Die Verjährungsfristen von Art. 371 OR beschränken sich auf Ansprüche des

4







4

Fragen und Fälle zum Selbststudium

Bestellers aus Werkmängeln. Die übrigen werkvertraglichen Ansprüche unterliegen den ordentlichen Verjährungsfristen von Art. 127 f. OR, so z.B. die Ansprüche des Unternehmers gegen den Besteller (wobei Art. 128 OR Ziff. 3 zu beachten ist) sowie die Ansprüche des Bestellers gegen den Unternehmer aus einer selbständigen Garantie des Unternehmers, aus Verzug (Art. 102 ff.) oder auf Ersatz des Schadens, der nicht durch einen Werkmangel verursacht wurde (Art. 97 OR). Die Bestimmungen zum Mietvertrag einhalten keine besonderen Regeln zur Verjährung. Damit unterliegen die Forderungen des Mieters gegen den Vermieter der Frist von Art. 127 OR. Dasselbe gilt im Grundsatz für die Forderungen des Vermieters gegen den Mieter, wobei aber Art. 128 Ziff. 1 OR eine gewichtige Ausnahme enthält: Mietzinse, die periodisch entrichtet werden müssen, verjähren bereits nach Ablauf von fünf Jahren. Auch im Auftragsrecht gelten die allgemeinen Verjährungsregeln von Art. 127 ff. OR. Die Forderungen des Auftraggebers und des Beauftragten verjähren also nach zehn Jahren. Eine Ausnahme gilt für Ärzte und Anwälte, die ihre Honorare innert fünf Jahren geltend machen müssen (Art. 128 Ziff. 3 OR). Im Arbeitsvertrag verjähren die Forderungen des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers nach zehn Jahren (Art. 127 OR). Einzig der Lohnanspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber verjährt bereits nach fünf Jahren (Art. 128 Ziff. 3 OR).

Fragen und Fälle zum Selbststudium

1.

Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit eine Verrechnung zulässig ist?

2.

Vermieter V schreibt dem Mieter M einen eingeschriebenen Brief, in welchem er ihm die fristgerechte Kündigung mitteilt. Als der Briefträger kommt, ist M nicht zu Hause. In der Folge wird der Brief auf der Post von M nicht abgeholt, so dass das Kündigungsschreiben wieder bei V eintrifft, mit dem Vermerk: „Nicht abgeholt“. Ist die Kündigung wirksam, auch wenn M davon keine Kenntnis hat?

3.

Was verstehen Sie unter Verjährung? Was ist Verwirkung?

169

171

Kapitel VI – Haftung für Produkte 1

Überblick über das Haftpflichtrecht

1.1

Haftungsgründe, Haftungsarten, Haftungsvoraussetzungen

1.1.1

Haftungsgründe

Es gibt vielerlei Gründe, weshalb die physische oder psychische Gesundheit oder die finanzielle Situation einer Person sich verschlechtern kann: so etwa bei Unfällen, Krankheiten, Beschädigung oder Zerstörung von Gütern, geschäftlichen Gewinneinbrüchen, Wertschriftenverlusten, irrtümlichen Zahlungen an Dritte und dergleichen mehr. Als Grundsatz gilt: Jeder trägt seine Einbussen selber („casum sentit dominus“; „the loss lies where it falls“). Bei Unfällen und Krankheiten gilt dies heutzutage nicht mehr. Vielmehr lautet der Grundsatz in diesen Fällen, dass die finanziellen Folgen (zumindest teilweise) durch Sozialversicherungen gedeckt werden. Der Grundsatz, wonach jeder seine Einbussen, namentlich seinen erlittenen Schaden, selber zu tragen hat, kommt dann nicht zum Zuge, wenn der Betroffene aufgrund einer Rechtsnorm oder eines Vertrages Ansprüche gegen einen Dritten geltend machen kann. Führt die Verletzung vertraglicher Pflichten zur Schädigung, können vertragliche Ansprüche (insbesondere Schadenersatz und Gewährleistungsansprüche; s. vorne, IV/3.3) geltend gemacht werden. Ansonsten kommen bloss gesetzliche Ansprüche in Betracht: Das Obligationenrecht unterscheidet diesbezüglich im Allgemeinen Teil (d.h. in den Bestimmungen Art. 1–183 OR) die unerlaubte Handlung (Art. 41 ff. OR) und die ungerechtfertigte Bereicherung (Art. 62 ff. OR).

Haftungsrecht

Vertragsrecht Art. 97 OR Art. 197 ff. OR Art. 365 OR usw.

Haftpflichtrecht (Haftung aus unerlaubter Handlung) Art. 41 ff. OR Art. 28, 333, 679 ZGB Art. 58 SVG Art. 1 ff. PrHG usw.

Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer Grundlagen, die Schuldverhältnisse bzw. Ansprüche gegen Dritte begründen können. Am bedeutsamsten sind die in Sondergesetzen enthaltenen Haftungstatbestände, namentlich die im Strassen-

172

Kapitel VI – Haftung für Produkte

verkehrsgesetz vorgesehene Gefährdungshaftung in Art. 58 SVG. Sodann handelt es sich auch bei der Geschäftsführung ohne Auftrag um einen gesetzlichen Anspruch, wenngleich das OR die Geschäftsführung ohne Auftrag bei den einzelnen Vertragsverhältnissen (Art. 419 ff. OR) regelt. Auch die Haftung infolge vorvertraglicher Schädigung (culpa in contrahendo; s. vorne II/1.1) ist ein gesetzlicher Anspruch. Verschiedene gesetzliche Haftungstatbestände finden sich überdies im Gesellschaftsrecht (wesentlich sind namentlich die aktienrechtlichen Verantwortlichkeitsansprüche in Art. 752 ff. OR) und im ZGB (z.B. Art. 28 ff., 333 oder 679 ZGB), sodann in den wettbewerbsrechtlichen und immaterialgüterrechtlichen Erlassen (z.B. Art. 12 Abs. 1 lit. b KG, Art. 9 Abs. 3 UWG, Art. 73 PatG) sowie im öffentlichen Recht. Die erwähnten Tatbestände gehören zu den Schuldverhältnissen („Obligationen“). Unter dem Haftungsrecht versteht man indessen bloss die vertragliche und die ausservertragliche Haftung (nicht also z.B. die ungerechtfertigte Bereicherung).

1.1.2

Verhältnis der Haftung aus Vertrag zur Haftung aus unerlaubter Handlung

Vertragliche Ansprüche können grundsätzlich nur gegen denjenigen geltend gemacht werden, mit dem man in einer vertraglichen Verbindung steht (Ausnahme etwa bei einem echten Vertrag zugunsten Dritter, Art. 112 OR). Ausservertragliche (also deliktische) Ansprüche können gegen vertragsfremde Dritte, aber auch gegen Vertragspartner geltend gemacht werden. Verletzt die unerlaubte Handlung zugleich einen Vertrag, besteht zwischen der vertraglichen und der ausservertraglichen/deliktischen Haftung „Anspruchskonkurrenz“: Der Geschädigte kann seinen Anspruch auf beide Grundlagen stützen. Bei Erfüllung des einen Anspruchs geht der andere unter, so dass der Geschädigte den Schadenersatz nicht doppelt erhält. Ausservertragliche Ansprüche beziehen sich in den meisten Fällen auf Unfälle, also auf Personenverletzungen und Sachbeschädigungen. Vermögenseinbussen, die nicht Folge von Personenverletzungen oder Sachbeschädigungen sind (sog. reine oder primäre Vermögensschäden), werden dagegen im Allgemeinen durch das Haftpflichtrecht nicht geschützt. Ein haftpflichtrechtlicher Anspruch besteht bei solchen Schädigungen bloss ausnahmsweise: einerseits bei Verstössen gegen Schutzgesetze, andererseits in wenigen durch die Gerichte anerkannten Fallkonstellationen. Die vertragliche Haftung ihrerseits richtet sich zwar typischerweise auf Vermögensschädigungen und Gewährleistungsansprüche wegen Mängel der gelieferten oder hergestellten Sache. Führt die Vertragsverletzung zu einer Personenverletzung (etwa bei ärztlichen Tätigkeiten, Personentransporten, Freizeitangeboten usw.), können jedoch neben vertraglichen auch ausservertragliche Ansprüche geltend gemacht werden. Der Geschädigte kann sich auf beide Haftungsgrundlagen berufen. Führt die Verletzung einer vertraglichen Hauptpflicht zu einer Personenverletzung oder Sachbeschädigung, ist dies unbestritten. Der vertragliche Schutz bei Personenverletzungen und Sachbeschädigungen wird jedoch dadurch erweitert, dass vielfältige vertragliche Nebenpflichten zum Schutz und zur Obhut gegenüber dem Vertragspartner anerkannt sind. Ein Verstoss gegen diese Neben-

1

pflichten, der eine Personenverletzung oder eine Sachbeschädigung zur Folge hat, begründet ebenfalls vertragliche Schadenersatzansprüche. Beispiele: Bloss ein vertraglicher Anspruch kann geltend gemacht werden, wenn eine ausstehende Schuld nicht bezahlt wird, das gekaufte Fahrzeug funktionsuntüchtig ist, der Maler die Wand im falschen Farbton bemalt, der Arzt den Patienten unrichtig über die Kostenübernahme durch die Krankenversicherung informiert, ein Transportunternehmen das Transportgut am falschen Ort abliefert, der beauftragte Anwalt eine Frist verpasst, ein Skifahrer mit einer Wochenkarte die Skilifte nach dem ersten Tag nicht mehr benützen kann, weil sämtliche Anlagen infolge eines technischen Defekts für den Rest der Woche stillgelegt werden, usw. Bloss ein ausservertraglicher Anspruch kann geltend gemacht werden, wenn ein Fahrzeug in einem Unfall beschädigt wird, ein Handwerker auf einem Baugerüst einen Farbeimer ausleert und einen Spaziergänger beschmutzt, ein Wanderer von einem fremden Hund gebissen wird, ein morscher Ast auf ein parkiertes Fahrzeug fällt, ein Tourenskifahrer für die Talfahrt die Skipiste benützt und in einen ungesicherten Mast mitten in der Skipiste fährt, ein Dieb den Geldbeutel stiehlt usw. Sowohl ein vertraglicher als auch ein ausservertraglicher Anspruch kann geltend gemacht werden, wenn die Bremsen des gekauften Fahrzeuges versagen und der Käufer sich verletzt, der Handwerker einen Farbeimer ausleert und den Teppich des Kunden beschädigt, in einer Zirkusvorstellung ein Zuschauer durch ein Tier verletzt wird, ein morscher Ast eines Baumes auf dem Grundstück des Vermieters auf ein parkiertes Fahrzeug des Mieters fällt, ein Transportgut (das dem Versender gehört) beschädigt wird, ein Skifahrer mit einer Tageskarte in einen ungesicherten Mast, der mitten in der Skipiste steht, fährt, ein Angestellter Geld veruntreut usw.

1.1.3

Haftungsarten der Haftung aus unerlaubter Handlung

Das Schweizer Haftpflichtrecht unterscheidet zwischen drei Haftungsarten:  



der allgemeinen Verschuldenshaftung; dabei handelt es sich um den allgemeinen Haftungstatbestand in Art. 41 OR; den speziellen Verschuldenshaftungen; diese werden auch einfache, gewöhnliche oder milde Kausalhaftungen genannt; dazu gehören die Geschäftsherrenhaftung (Art. 55 OR), die Tierhalterhaftung (Art. 56 OR), die Werkeigentümerhaftung (Art. 58 OR), die Haftung des Familienhauptes (Art. 333 ZGB), die Grundeigentümerhaftung (Art. 679 ZGB); den Gefährdungshaftungen: diese werden auch strenge oder scharfe Kausalhaftungen genannt; dazu gehören etwa die Haftung des Fahrzeughalters (Art. 58 SVG), die Haftung gemäss Eisenbahngesetz (Art. 40b f. EBG) oder die Haftung gemäss Elektrizitätsgesetz (Art. 27 f. EleG).

Die Verschuldenshaftung setzt ein Verschulden des Haftpflichtigen voraus, Gefährdungshaftungen dagegen nicht. Während man bei Letzteren unabhängig von jeglichem Fehlverhalten haftpflichtig werden kann, ist bei der Verschuldenshaftung eine Sorgfaltspflichtverletzung (und sei sie bloss geringfügig) notwendig.

Überblick über das Haftpflichtrecht

173

174

Kapitel VI – Haftung für Produkte

Beispiele: Ein vorsichtig fahrender Fahrradfahrer verletzt ein plötzlich auf den Fahrradweg springendes Kind. Die Haftung richtet sich nach Art. 41 Abs. 1 OR: Der Fahrradfahrer ist nicht haftbar. Ein vorsichtig fahrender Fahrzeuglenker verletzt ein plötzlich auf die Strasse springendes Kind. Die Haftung richtet sich nach Art. 58 SVG: Der Fahrzeughalter ist haftbar. Bei den speziellen Verschuldenshaftungen handelt es sich um Unterarten der Verschuldenshaftung. Das vorausgesetzte Fehlverhalten, das die Haftung begründet, unterscheidet sich bei den einzelnen Arten der speziellen Verschuldenshaftungen: 



Bei einigen sieht das Gesetz eine Sorgfaltspflicht im Zusammenhang mit einem bestimmten Sachverhalt vor (z.B. als Geschäftsherr, der geschäftliche Verrichtungen durch Hilfspersonen ausführen lässt, als Tierhalter, als Familienhaupt). Bei diesen Haftungstatbeständen kann der Verantwortliche eine Haftung vermeiden, indem er nachweist, die notwendige Sorgfalt aufgewendet zu haben. Anders als bei der Verschuldenshaftung nach Art. 41 Abs. 1 OR wird die Sorgfaltspflichtverletzung vermutet (Beweislastumkehr in Bezug auf die Sorgfaltspflichtverletzung). Etwas anders gelagert sind die Werkeigentümer- und Grundeigentümerhaftung. Bei Ersterer ist ein Werkmangel, bei Letzterer wird eine Überschreitung des Eigentumsrechts vorausgesetzt. Letztlich ist aber auch bei diesen beiden Tatbeständen in irgendeiner Form ein Fehlverhalten (bzw. eine Unterlassung) notwendig. Bei Art. 58 OR liegt das Fehlverhalten darin, dass ein Werk mangelhaft erstellt bzw. der Mangel nicht behoben wird oder dass ein Werk mangelhaft unterhalten wird. Bei Art. 679 ZGB liegt das Fehlverhalten in der „unrechtmässigen“ Überschreitung des Grundeigentums.

1

1.1.4

Allgemeine Haftungsvoraussetzungen

Grundsätzlich setzt eine Haftung folgendes voraus: Die rechtswidrige Handlung muss zu einer Verletzung eines Rechtsgutes geführt haben, und das Verhalten muss dem Handelnden vorwerfbar (d.h. es muss verschuldet) sein. 







Rechtswidrigkeit (= Widerrechtlichkeit): „Wider dem Recht“ handelt, wer die ihm obliegenden Pflichten verletzt. Dies kann durch aktives Tun oder durch ein Unterlassen erfolgen. Neben den gesetzlich festgeschriebenen Pflichten gibt es zahlreiche ungeschriebene Verhaltenspflichten, deren Verletzung ebenfalls rechtswidrig ist. Rechtsgutverletzung (= Schädigung): Es handelt sich dabei um die Verletzung rechtlich geschützter Rechtspositionen – Rechte, Güter, Interessen. Das Recht anerkennt verschiedene Rechtsgüter. Die wesentlichsten sind die persönlichen (Leben, Gesundheit, Ehre usw.) und die dinglichen Rechte (Eigentum, Immaterialgüterrechte). Diese werden auch als „absolut geschützte Rechtsgüter“ bezeichnet. Dazu gehören allgemeiner Auffassung nach auch die Mitgliedschaftsrechte (z.B. an einer Gesellschaft). Das Vermögen als solches (Geld, Guthaben, Erwerb, Gewinn usw.) stellt dagegen kein absolut geschütztes Rechtsgut, dar. Zu seinem Schutz bedarf es besonderer Schutznormen (wie z.B. Art. 146 StGB, Schutz des Vermögens vor Schädigung durch Betrug). Juristischer Kausalzusammenhang: Gemeint ist der rechtlich relevante Kausalzusammenhang zwischen dem rechtswidrigen Verhalten des Schädigers und der Rechtsgutverletzung. Beim Verschulden muss einerseits die Urteilsfähigkeit des Schädigers geprüft werden. Sodann ist zwischen den verschiedenen Verschuldensgraden (leichte Fahrlässigkeit, grobe Fahrlässigkeit, Vorsatz) zu unterscheiden.

Sofern die Haftungsvoraussetzungen erfüllt sind, besteht Anspruch auf Schadenersatz und/oder Genugtuung:  

1.2

Schaden: Es handelt sich um die finanziellen Folgen einer Schädigung. Genugtuung: Im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet man oft den Begriff „Schmerzensgeld“. Das Geld versetzt den Berechtigten in die Lage, sich ein Gefühl des Wohlbefindens zu verschaffen bzw. sich etwas zu leisten, das am ehesten die erlittenen Beeinträchtigungen wettmachen kann.

Ziele und Funktionen des Haftpflichtrechts

Für das Haftpflichtrecht kommen allgemeiner Ansicht nach zwei Zielsetzungen in Betracht: Zum einen kann es das Ziel sein, einen Schadensausgleich zu schaffen, d.h., dem Geschädigten einen Ersatzanspruch für den erlittenen Schaden zu gewähren (sog. Ausgleichsfunktion). Zum anderen kann die Vermeidung zukünftiger Schädigungen bezweckt sein (sog. Präventionsfunktion). Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ist im Hinblick auf die konkrete Schädigung unerheblich, ob der Geschädigte die Einbusse zu tragen hat oder ob diese durch den Schädiger ausgeglichen wird. Es wäre daher zu überlegen, ob niemand haften soll, dafür alle gegen Schadensfolgen versichert wären („Versicherung statt Haftpflicht“). Auf die Gesamtheit der Schadensfälle bezogen kann jedoch die Ausgleichspflicht dazu beitragen, künftige Schädigungen zu verhüten und so

Überblick über das Haftpflichtrecht

175

176

Kapitel VI – Haftung für Produkte

das Schädigungsvolumen insgesamt zu verringern. Der im älteren Schrifttum vorherrschende Präventionsgedanke wurde in neuerer Zeit namentlich von Vertretern der Ökonomischen Analyse des Rechts wieder in den Mittelpunkt gerückt. Dagegen wird eingewandt, der Schädiger sei, zumal bei verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftungen, oftmals gar nicht in der Lage, das Risiko eines Schadenseintritts zu vermindern, selbst wenn er mehr als pflichtgemässe Vorkehrungen zur Schadensverhütung trifft. Überdies versage die Prävention, wenn die Ersatzpflicht durch eine Haftpflichtversicherung abgedeckt ist. Diese Einwände vermögen nicht zu überzeugen. Das Versicherungsargument ist nur bedingt gültig, weil sich die erwünschte Verhaltenssteuerung, wenngleich mit erheblich schwächerer Wirkung, auch durch Selbstbehalte und BonusMalus-Systeme herbeiführen lässt; so verringern sich z.B. FahrzeugVersicherungsprämien, wenn der Versicherte einige Jahre keine Leistungen beansprucht. Überdies ist gemäss den Vertretern der Ökonomischen Analyse des Rechts unerheblich, ob der Einzelne oder alle Prämienzahler als Gruppe die Kosten der Schädigungen tragen; wesentlich ist einzig, dass die Kosten internalisiert (d.h. von den Verursachern einzeln oder gemeinsam getragen) werden. Was die Gefährdungshaftungen anbelangt, so wird von den Kritikern des Präventionsgedankens unterstellt, dass die Haftpflichtigen die Wahrscheinlichkeit der Drittschädigung nicht oder nur unwesentlich beeinflussen können. Dieser Ansicht ist entgegenzuhalten, dass der Erfindungsreichtum bei der Verhütung von Schädigungen nicht unterschätzt werden darf. Das Auffinden schadensvermindernder Vorkehrungen ist freilich mit Kosten verbunden, die im Regelfall nur aufgewandt werden, wenn sich dies im Vergleich zu den ansonsten zu erwartenden Schadenersatzansprüchen auszahlt. Insgesamt spricht vieles dafür, dass das Schadenersatzrecht – wenngleich bloss in beschränktem Umfang – in den Dienst einer gesamtgesellschaftlich erwünschten Verringerung des Schädigungspotentials gestellt werden kann. Es gibt verschiedene weitere Konzepte der ökonomischen Analyse des Haftungsrechts. Zu erwähnen sind namentlich folgende: 





„cheapest cost avoider“: Der Schaden soll jener Partei aufgebürdet werden, welche diesen mit dem geringsten Aufwand hätte vermeiden können (vorausgesetzt, die Schädigung lässt sich vermeiden). „cheapest insurer“: Der Schaden soll jener Partei aufgebürdet werden, welche diesen am günstigsten versichern kann (vorausgesetzt, der Schaden lässt sich versichern). „superior risk bearer“: Der Schaden soll jener Partei aufgebürdet werden, welche die Kosten am ehesten tragen kann (sind beide Parteien in ähnlichem Umfang in der Lage, den Schaden zu tragen, sollte der Schaden zwischen ihnen aufgeteilt werden).

Allgemeiner Auffassung nach hat das Haftpflichtrecht in der Schweiz (anders als in den USA) keinen pönalen Charakter. Ersetzt werden höchstens der finanzielle Verlust sowie eine Genugtuungssumme für immaterielle Schädigungen. Eine darüber hinausgehende Zusprache eines Strafschadenersatzes, also sog. „punitive damages“, ist dagegen nicht zulässig. Beispiel: Eines der bekanntesten amerikanischen Urteile, welche einen Strafschadenersatz gewähren, ist der „Ford Pinto“-Fall aus dem Jahre 1981 (Grimshaw v. Ford

1

Motor Company, 174 Cal. Rep. 348 [1981]). Bei diesem Fahrzeugtyp war der Benzintank im hinteren Teil des Fahrzeugs integriert, was bei Auffahrunfällen zu Explosionen führen konnte. Die Verantwortlichen beim Fahrzeughersteller Ford wussten um die Gefahren, doch nahmen sie die möglichen Ersatzansprüche in Kauf, da die Kosten einer Konstruktionsänderung gemäss einer internen KostenNutzen-Analyse über den befürchteten Schadenersatzansprüchen lagen. Konkret hätte die Änderung etwa USD 11 je Wagen gekostet, was bei 12.5 Mio. Fahrzeugen Gesamtkosten von USD 137 Mio. verursacht. Nach den internen Berechnungen bei Ford hätte die Änderung bezüglich des Benzintanks zur Vermeidung von ca. 180 Todesfällen und noch einmal so vielen Verletzten geführt. Je Todesfall rechnete man mit Ersatzansprüchen in der Höhe von USD 200 000 und je Verletzten von USD 67 000, insgesamt also USD 49.5 Mio. Man entschied deshalb, die Konstruktionsänderung nicht vorzunehmen. Die Geschworenen, denen diese unternehmensinternen schriftlichen Erwägungen vorlagen, sprachen dem Geschädigten infolgedessen einen über die Einsparungen hinausgehenden Betrag von USD 125 Mio. als „punitive damages“ zu. Das Gericht reduzierte diesen Betrag dann aber auf USD 3.5 Mio.

1.3

Haftpflichtrecht und andere Rechtsgebiete

1.3.1

Haftpflichtrecht und Versicherung

Bei einer Personenverletzung kommt in der Regel nicht bloss der Haftpflichtige für den Schaden (sowie die Genugtuung) auf (Anspruch A). Zu einem Teil werden die Einbussen bei Körperverletzungen und Tötungen auch durch die Sozialversicherungen, namentlich die Unfallversicherung, die Krankenversicherung, die Invalidenversicherung, die Alters- und Hinterbliebenenversicherung und die berufliche Vorsorgeeinrichtung, bei Straftaten überdies die Opferhilfe, ersetzt. Bei Sachbeschädigungen decken oftmals Privatversicherungen, namentlich die Hausrats-, Kasko- oder Feuerversicherung, den entstandenen Schaden (Anspruch B). Ersetzt eine Sozial- oder Privatversicherung den Schaden des Geschädigten, stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang die Versicherungen Rückgriff („Regress“) auf den Schädiger nehmen können (Anspruch C). Namentlich bei Personenverletzungen können die Schadenersatzforderungen rasch einmal die finanziellen Möglichkeiten des Schädigers übersteigen. Nun übernimmt aber in zahlreichen Fällen eine Haftpflichtversicherung die Ersatzpflicht des Schädigers (Anspruch D). Dies gilt namentlich im (zahlenmässig bedeutsamen) Bereich der Strassenverkehrsunfälle, wo der Geschädigte von Gesetzes wegen sogar einen direkten Anspruch (E) gegen die Haftpflichtversicherung des Ersatzpflichtigen geltend machen kann (Art. 65 SVG). Dies gilt auch für die Versicherung des Geschädigten (Anspruch F). Die haftpflichtrechtliche Auseinandersetzung findet infolgedessen in vielen Fällen nicht (oder nicht ausschliesslich) zwischen dem Geschädigten und dem Schädiger, sondern zwischen den Versicherungen statt. Man spricht daher schon seit längerem davon, dass das Haftpflichtrecht (jedenfalls im Bereich des Unfallrechts) zu einem „Recht der Regressvoraussetzungen“ zwischen verschiedenen Versicherungen geworden ist.

Überblick über das Haftpflichtrecht

177

178

Kapitel VI – Haftung für Produkte

Die Haftungsfrage ist in solchen Fällen gleichwohl wesentlich. Sie entscheidet darüber, ob die Ersatzleistung durch die Sozialversicherungen (primär bei Personenverletzungen) bzw. Privatversicherungen (primär bei Sachbeschädigungen oder Vermögenseinbussen) zu tragen ist oder ob die leistenden Versicherungen auf den Haftpflichtigen bzw. auf dessen Haftpflichtversicherung zurückgreifen können.

1.3.2

Haftpflichtrecht und Strafrecht

Im Zusammenhang mit Unfällen sowie vorsätzlichen Sachbeschädigungen und Vermögensdelikten kommt es oftmals nicht nur zu Haftungsansprüchen, sondern auch zu einer strafrechtlichen Untersuchung. Im Strafrechtsverfahren stehen dem Schädiger grundsätzlich die staatlichen Untersuchungsbehörden gegenüber. Im Gegensatz zum Geschädigten können diese Zwangsmittel zur Aufklärung des Sachverhalts einsetzen (z.B. Hausdurchsuchung, Beschlagnahmung von Gegenständen, Einvernahme des Schädigers und von Auskunftspersonen). Der Geschädigte hat die Möglichkeit, sich am strafrechtlichen Verfahren zu beteiligen, indem er z.B. bei Befragungen durch die Untersuchungsbehörden Zusatzfragen stellen kann sowie ein Akteneinsichtsrecht hat. Aufgrund dieser Vorteile kommt es bei Unfällen oftmals auch dann zu strafrechtlichen Anzeigen, wenn der Geschädigte an einer Bestrafung des Verursachers im Grunde nicht interessiert ist. Der Ausgang des Strafrechtsverfahrens ist für das Gericht, das die zivilrechtliche Haftpflicht zu beurteilen hat, nicht bindend (Art. 53 OR). Eine strafrechtliche Verurteilung dürfte aber immer auch zu einer Bejahung der zivilrechtlichen Haftung führen: Zum einen wird das Verschulden subjektiv (also auf die Fähigkeiten des Betreffenden bezogen), und nicht wie im Haftpflichtrecht objektiv (also nach dem strengeren Massgabe eines umsichtigen Dritten) beurteilt; zum anderen sind die Voraussetzungen in Bezug auf den Verschuldensvorwurf in der Regel höher, da die meisten Strafdelikte eine vorsätzliche Handlung voraussetzen. Aus diesen Gründen gilt umgekehrt nicht das Gleiche: Ein strafrechtlicher Freispruch präjudiziert das zivilrechtliche Urteil im Allgemeinen nicht.

2 Sorgfaltspflichtverletzung Art. 55 OR Konstruktionsfehler Fabrikationsfehler (nicht aber Ausreisser) Instruktionsfehler Beobachtungsfehler

Die Produzentenhaftung gemäss Art. 55 OR

Die Produzentenhaftung basiert auf den durch die Rechtsprechung entwickelten Organisationspflichten des Geschäftsherrn; der Sache nach geht es um Sorgfaltspflichten des Warenherstellers. Danach hat der Produzent dafür zu sorgen, dass seine Produkte bei Dritten keine Schädigung bewirken. Er muss entweder durch eine (End-)Kontrolle der Ware oder, wenn dies nicht möglich ist, durch eine sichere Konstruktionsart gewährleisten, dass Produkte keine Schädigungen verursachen. Beispiel: Die wohl bekannteste Entscheidung im Bereich der Geschäftsherrenhaftung ist der „Schachtrahmen-Fall“ (BGE 110 II 456). Es ging dabei um einen Bauarbeiter, der verletzt wurde, weil eine in einem Schachtrahmen einbetonierte Aufhängeschlaufe sich löste und der Rahmen auf seinen Fuss fiel. Nach Auffassung des Bundesgerichtes lag ein Organisationsverschulden vor. Ein Produzent, der Wa-

2

Die Produzentenhaftung gemäss Art. 55 OR

ren durch Hilfspersonen herstellen lässt, müsse für eine zweckmässige Arbeitsorganisation und nötigenfalls für eine Endkontrolle der hergestellten Sachen sorgen. Ist eine solche Qualitätssicherung nicht möglich, habe er „eine sicherere Konstruktion zu wählen“ (a.a.O. 465). Mit seiner Rechtsprechung zu Verletzung der Organisationspflicht des Geschäftsherrn hat das Bundesgericht im Ergebnis bereits vor Inkrafttreten des PrHG im Jahr 1994 eine Haftung für Produkte eingeführt (zum PrHG s. VI/3). Aspekte einer zweckmässigen Organisation der Arbeitsabläufe sind die gebotene Sorgfalt bei Konstruktion und Herstellung der Produkte sowie die Informationspflicht; hinzu kommt auch die Produktebeobachtungspflicht. Infolgedessen unterscheidet man üblicherweise zwischen Konstruktions-, Fabrikations-, Instruktions- und Produktebeobachtungsfehlern.

2.1

Konstruktionsfehler

Die Sorgfaltspflichten des Herstellers beginnen bereits bei der Konzeption und Entwicklung eines Produktes. Genügt er diesen Pflichten nicht, spricht man von einem Konstruktionsfehler. Beispiele kennt man vor allem aus der Fahrzeugproduktion. Beispiel: Zu denken ist etwa an den amerikanischen „Ford Pinto-Fall“ (s. vorne). Der Konstruktionsfehler liegt im Einbau des Benzintanks gleich hinter der Stossstange. Bekannt geworden sind auch Konstruktionsfehler bei europäischen Fahrzeugtypen, welche sich in Kurven überschlagen (Mercedes A-Klasse) oder beim Abbremsen aus grösseren Geschwindigkeiten seitlich „ausbrechen“(Audi TT). Kein Konstruktionsfehler besteht bei Mängeln, welche nach dem Stand der Technik und Wissenschaft im Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produktes nicht erkennbar waren. Beispiel: Als Beispiel seien die tragischen Fälle der AIDS-verseuchten Blutkonserven angeführt. In den ersten Jahren nach Auftreten dieser Krankheit standen eben keine geeigneten Testverfahren zur Verfügung.

2.2

Fabrikationsfehler

Ein Fabrikationsfehler liegt vor, wenn das Konzept des Produktes selbst fehlerfrei, ein Produkt aber gleichwohl fehlerhaft ist, was mangels genügender Warenendkontrolle nicht bemerkt wird. Im Fahrzeugbereich spricht man diesbezüglich von einem „Montagsauto“, womit der Umstand angesprochen wird, dass anfangs und am Ende einer Arbeitswoche die Fehlerquote bei der Herstellung über dem Durchschnitt liegt. Beispiel: Berühmt ist der englische „Ginger Beer-Fall“: Die Klägerin bestellte in einem Gasthaus ein Ginger Beer, und nachdem sie die Flasche zum Teil ausgetrunken hatte, entdeckte sie am Flaschenboden die verwesenden Reste einer Schnecke, worauf sie einen Schock erlitt. Immer wieder kommt es auch im Zusammen-

179

180

Kapitel VI – Haftung für Produkte

hang mit explodierenden Mineralwasserflaschen zu Schädigungen, so etwa bei einer Flasche mit einem feinen Haarriss oder bei einer über zwanzig Jahre alten Mehrwegflasche, die aufgrund zahlreicher abnützungsbedingter Oberflächenschäden eine geringere Festigkeit aufweist. Die entscheidende Frage ist, ob auch eine Haftung für sog. „Ausreisser“ besteht. Es geht dabei um in sehr grossen Mengen hergestellte Güter, bei denen nur Stichproben möglich sind, weshalb einmal ein „Ausreisser“, d.h. ein fehlerhaftes Produkt, unbemerkt bleiben kann. Im „Schachtrahmen-Fall“ hat das Bundesgericht noch vorsichtig formuliert, dass die Entscheidung „nicht ohne weiteres“ auf grosse Produktionsbetriebe übertragen werden könne (BGE 110 II 465); „Ausreisser“ dürften daher nicht unter die Produzentenhaftung fallen, wohl aber unter das PrHG.

2.3

Instruktionsfehler

Zu den Sorgfaltspflichten des Herstellers gehört ferner die Produkteinformation. Dem Endabnehmer sind die Eigenschaften des Produktes zu erläutern, damit eine Gefährdung durch fehlerhaften Gebrauch verhindert werden kann, insbesondere muss er vor nicht offensichtlichen Gefahren gewarnt werden. Die Anforderungen an die Hinweis- und Warnpflichten richten sich nach der von einem Produkt ausgehenden Gefahr. Bei Arzneimitteln, giftigen oder explosiven Substanzen usw. ist daher an auffälliger Stelle deutlich auf die Gefahr hinzuweisen. Die Kritik an den Auswüchsen der Produktehaftung („Anspruchsmentalität“) richtet sich vor allem gegen die Informationspflicht. Hier besteht in der Tat die Gefahr, dass die Rechtsprechung das Fehlen eines Konstruktionsfehlers durch überspannte Anforderungen an die sachgerechte Information überspielt. Beispiele gibt es in der ausländischen Rechtsprechung zuhauf. Beispiele: So hat etwa in Deutschland ein Gericht einen Informationsfehler darin erblickt, dass bei der Bedienungsanleitung einer Schusswaffe nicht auf das Risiko der Schussauslösung beim Fallenlassen der ungesicherten Waffe hingewiesen wurde. Grosse Aufmerksamkeit wurde auch den „Kindertee-Fällen I–III“ zuteil: Der für Säuglinge und Kleinkinder gedachte gesüsste Tee verursachte bei langandauernder Verabreichung erhebliche Kariesschäden. Die Haftung des Herstellers wurde bejaht, weil dieser nicht genügend auffällig gestaltete Warnhinweise gegeben hatte, dass süsser Tee in Plastiktrinkflaschen, aus denen die Säuglinge täglich stundenlang trinken und dies während eines langen Zeitraumes (konkret waren es über drei Jahre), für die Zähne schädlich ist. Sehr weit gegangen ist gelegentlich auch die amerikanische Rechtsprechung; jedem europäischen Besucher dürfte die Anhäufung von Warnhinweisen auffallen (etwa bei den Kunststoffeinkaufstaschen, die man nicht über den Kopf stülpen soll, da ansonsten die Sauerstoffzufuhr unterbrochen werden kann). Die Fehlentwicklungen der amerikanischen Produzentenhaftung werden hierzulande oftmals überzeichnet. So handelt es sich etwa bei dem oft erwähnten Fall, wonach der Hersteller für den fehlenden Hinweis, dass Haustiere nicht im Mikrowellenherd getrocknet werden dürfen, haftbar sei, um ein modernes Märchen (vgl. dazu und zu weiteren Legenden www.snopes.com). Die Funktion solcher Geschichten, welche die Anforderungen der italienischen Redewendung

3

„se non è vero è ben trovato“ erfüllen, kann lediglich darin liegen, den Unterhaltungswert des Rechtsgebietes Haftpflichtrecht zu erhöhen.

2.4

Produktebeobachtungsfehler

Anders als beim Produktehaftpflichtgesetz (dazu hinten, VI/3) erschöpfen sich die Sorgfaltspflichten gemäss der Produzentenhaftung nicht schon mit dem Inverkehrbringen eines einwandfreien Produkts. Vielmehr hat der Hersteller auch nach der Markteinführung des Produkts zu beobachten, ob sich Risiken offenbaren, die zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts nach dem Stand von Wissenschaft und Technik nicht erkennbar waren. Zu den Pflichten des Herstellers gehört nicht nur die Beobachtung der Bewährung seiner eigenen Produkte auf dem Markt, sondern auch die Beobachtung und Prüfung ergriffener Gefahrenabwendungsmassnahmen konkurrierender Anbieter. Des Weiteren erstreckt sich die Produktebeobachtungspflicht auch auf das Produktverhalten in Kombination mit der Verwendung eines Fremdproduktes (sog. Schnittstellenproblematik). Zur Produktebeobachtungspflicht des Herstellers sind beispielsweise der regelmässige Besuch von Fachveranstaltungen sowie die interne Auswertung von publizierten Testberichten zur Verwendung seiner Produkte zu zählen. Treffen Schadensmeldungen ein, hat der Hersteller zu prüfen, ob das Ereignis auf einen eigentlichen Produktefehler oder auf bewusste Fehlanwendungen zurückzuführen ist; gegebenenfalls hat er mit geeigneten Abwehrmassnahmen zu reagieren. Zu denken ist etwa an die öffentliche Bekanntmachung entsprechender Gebrauchs- oder Warnhinweise sowie „Rückrufaktionen“. Zu beachten ist, dass wirtschaftliche Erwägungen bei der Gefahrenabwendungspflicht des Herstellers in den Hintergrund zu treten haben, wenn eine Gefährdung des Lebens und der Gesundheit der Benutzer oder der Allgemeinheit zu befürchten ist. Mit dem Inkrafttreten des PrSG am 1. Juli 2010 wurde die Produktbeobachtungspflicht von Hersteller und Importeur gesetzlich statuiert und deren Anwendungsbereich ausgeweitet (zum PrSG s. hinten, VI/3.4). Hersteller und Importeure von Produkten sind gemäss PrSG 8 II nun auch nach Inverkehrbringen ihrer Produkte dazu verpflichtet, angemessene Massnahmen zwecks Gefahrerkennung und gegebenenfalls -abwendung zu ergreifen.

3

Produktehaftung

3.1

Begriff

Unter dem Begriff der Produktehaftpflicht versteht man die Verantwortlichkeit des Herstellers für Rechtsgutverletzungen, die durch ein fehlerhaftes Produkt verursacht werden. Sie ist im PrHG geregelt, das 1994 in Kraft trat. Die Haftung für fehlerhafte Produkte nach PrHG ist im Grundsatz eine spezielle Verschuldenshaftung (zu den Arten der ausservertraglichen Haftung s. vorne, VI/1.1). Denn der Produktefehler ist regelmässig auf eine Sorgfaltspflichtverletzung des Herstellers zurückzuführen: Entweder ist die Entwicklung, Konstrukti-

Produktehaftung

181

182

Kapitel VI – Haftung für Produkte

on oder Fabrikation des Produktes fehlerhaft oder die Produkteinformation ungenügend. Insofern liegt nichts anderes als eine gesetzlich besonders geregelte Haftung für die Verletzung einer Sorgfaltspflicht vor. Eine Ausnahme ist bloss für den sog. „Ausreisser“ zu machen. Bei der Massenproduktion von Gütern lässt es sich nicht vermeiden, dass vereinzelt Produkte fehlerhaft sind. Gleichwohl haftet der Hersteller auch in diesen Fällen nach dem PrHG, was mit der Haftung für Sorgfaltspflichtverletzungen nicht zu vereinbaren ist.

Sorgfaltspflichtverletzung PrHG Konstruktionsfehler Fabrikationsfehler (inkl. Ausreisser) Instruktionsfehler Beobachtungsfehler

Aufgrund des Ausgeführten stellt das PrHG eine gesetzliche Ausprägung der Haftung für Sorgfaltspflichtverletzungen dar, welche in Bezug auf die Haftung für Ausreisser ein Element der Gefährdungshaftung innehat. Zu beachten ist freilich, dass solche Einordnungsversuche von geringem Erkenntniswert sind. Wesentlicher ist der dieser Haftung zugrundeliegende Gedanke, dass derjenige, der aus der Güterproduktion einen Nutzen zieht, auch für die davon ausgehenden Risiken einstehen soll. Überdies ist der Hersteller in der Regel auch am ehesten in der Lage, die Gefahren eines Produktes zu entdecken und abzuwenden. Ein Anspruch aufgrund des PrHG setzt den Nachweis voraus, dass ein Produkt fehlerhaft ist und infolgedessen in adäquat kausaler Weise eine Rechtsgutverletzung verursacht hat. In Art. 1 Abs. 1 PrHG ist ausdrücklich festgehalten, dass ein Anspruch nur bei Personenverletzungen oder Sachbeschädigungen gegeben ist. Für primäre („reine“) Vermögensschädigungen sieht das Gesetz dagegen keine Haftung vor. Sodann ist zu beachten, dass das PrHG bei Sachbeschädigungen (nicht aber bei Personenverletzungen) nur Anwendung findet, wenn die Sachen für den privaten Gebrauch oder Verbrauch bestimmt und hauptsächlich zu diesem Zweck verwendet worden sind (Art. 1 Abs. 1 lit. b PrHG). Verletzt sich also etwa der Fahrer eines Fahrzeugs wegen eines Produktefehlers, so ist das PrHG anwendbar; verursacht er aber bloss einen Sachschaden (indem er etwa gegen ein anderes Fahrzeug fährt) kommt das PrHG nur bei einem Privat-, nicht aber bei einem Geschäftsfahrzeug zum Zuge. Die Haftung bezieht sich ferner nur auf die durch das fehlerhafte Produkt verursachten weiteren Sachbeschädigungen, nicht aber auf das mangelhafte Produkt selbst (im angeführten Beispiel also auf die Beschädigung des anderen, nicht aber des eigenen Fahrzeuges); die Entschädigung für Mängel am Produkt selbst gehört in den Aufgabenbereich des Vertragsrechts. Im Übrigen besteht für Sachschäden ein Selbstbehalt von CHF 900 (Art. 6 PrHG).

3.2

Spezielle Haftungsvoraussetzungen

3.2.1

Produkt

Ein Produkt im Sinne von Art. 3 PrHG ist „jede bewegliche Sache, auch wenn sie einen Teil einer anderen beweglichen Sache oder einer unbeweglichen Sache bildet“.

3

3.2.2

Produktefehler im Allgemeinen

Ein Produkt ist gemäss Art. 4 PrHG dann fehlerhaft, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die man unter Berücksichtigung aller Umstände zu erwarten berechtigt ist. Damit unterscheidet sich der objektivierte Fehlerbegriff des PrHG vom Fehlerbegriff des vertraglichen Gewährleistungsrechts (welches auf zugesicherte Eigenschaften und auf die zum vorausgesetzten Gebrauch der Sache notwendigen Eigenschaften abstellt, vgl. Art. 197 Abs. 1 OR). Ziel der Produktehaftung ist es, die Allgemeinheit vor Gesundheits- bzw. Sachschäden zu schützen. Bei der Definition der Fehlerhaftigkeit von Produkten ist daher auf die Sicherheitserwartungen eines durchschnittlichen Benutzers abzustellen; gegebenenfalls sind auch besondere Gefahren für einen bestimmten Benutzerkreis (z.B. Jugendliche oder Schwangere) zu berücksichtigen.

3.2.3

Berechtigte Sicherheitserwartung

Weist ein Produkt durch seine Konstruktion eine Eigenschaft auf, die es für den Benutzer untauglich oder gefährlich macht, so ist es fehlerhaft. Bei der Konkretisierung des haftungsrechtlichen Sicherheitsniveaus ist das Gefährdungspotential des einzelnen Produktes zu berücksichtigen. In Fällen, in denen Leben und Gesundheit der Konsumenten beeinträchtigt werden können, sind höhere Anforderungen an die berechtigten Sicherheitserwartungen bzw. Konstruktionsverfahren zu stellen. So dürften z.B. die Sicherheitsanforderungen an ein Möbelstück geringer sein als an elektrische Schneidmaschinen. Hinsichtlich der berechtigten Sicherheitserwartung ist von der Person des durchschnittlichen Benutzers auszugehen; gegebenenfalls ist auch das überbzw. unterdurchschnittliche Erkenntnis- und Erfahrungswissen einer bestimmten Zielgruppe mit zu berücksichtigen. So ist etwa zu unterscheiden, ob es sich um ein Produkt handelt, das nur von Fachpersonen bedient werden kann, oder ob das Produkt für den Laien oder gar für Kinder bestimmt ist. Sodann ist zu beachten, dass im Zusammenhang mit der rasanten Entwicklung der Technologie auch die Sicherheitserwartungen der Benutzer gegenüber dem Hersteller ständig wachsen. Die offene Gestaltung des Tatbestandsmerkmals „Sicherheitserwartung“ ermöglicht insofern eine an die technischen Entwicklungen angepasste Anwendung des Gesetzes.

3.2.4

Produktpräsentation

Die Darbietung oder Produktpräsentation gemäss Art. 4 Abs. 1 lit. a PrHG umfasst jede Art der Vorstellung des Produkts gegenüber dem potentiellen Nutzer. Neben Informationen zum Produkt selbst können auch Hinweise bezüglich vorhandener und nicht vorhandener Eigenschaften oder Funktionsweisen mitgeteilt werden. Nicht nur das Produkt an sich, sondern auch die Produktinformation wirkt sich massgeblich auf die Sicherheitserwartungen aus, die beim Erwerber erweckt werden. Die Produktpräsentation kann in Form einer Produktbeschreibung, einer Werbeaussage oder einer Verkaufsberatung erfolgen. Denkbar ist es, dass dem Hersteller auch Beratungen durch autorisierte Verkaufsstellen zugerechnet werden, falls aus der Perspektive des Konsumenten die Aussagen dem Herstel-

Produktehaftung

183

184

Kapitel VI – Haftung für Produkte

ler zuzurechnen sind. Grundsätzlich macht es keinen Unterschied, ob die Präsentation in Form eines Einzelgesprächs (z.B. Beratungsgespräch beim Erwerb des Produktes) oder durch Gebrauchshinweise im Handbuch oder in sonstigen schriftlichen Produktinformationen erfolgt. Inhaltlich soll die Produktbeschreibung den Benutzer über den sachgerechten Gebrauch informieren sowie auf mögliche Gefahrenquellen und einen naheliegenden Fehlgebrauch hinweisen. Der Hersteller haftet auch dann, wenn das Produkt entsprechend der Anweisung zum Einsatz kommt und es gerade dadurch zu einer Schädigung kommt, da diesfalls die Sicherheitserwartungen, hervorgerufen durch entsprechende Darbietung, enttäuscht wurden (Art. 4 Abs. 1 lit. a PrHG). Zu den Aufgaben der Informationspflichten gehört eben auch, den Benutzer des Produkts auf Risiken hinzuweisen, die selbst bei korrekter Konstruktion und Produktion nicht zu vermeiden sind. Der Hinweis in der Gebrauchsanweisung auf Gefahren des Produkts bei gewöhnlichem Gebrauch entbindet den Hersteller aber nicht davon, sichere Produkte herzustellen. Der Hersteller seinerseits kann davon ausgehen, dass der Benutzer vor der Verwendung des Produktes die Instruktion zur Kenntnis nimmt oder sich zumindest um ein Verstehen der Anleitung bemüht. Auch hier hat der Hersteller die Informationen dem Verständnishorizont des Anwenders anzupassen. Bei Produkten für Fachleute sind infolgedessen Angaben in der üblichen Fachterminologie ausreichend; zumindest bei Produkten der Hochtechnologie können diese wohl auch in englischer Sprache sein. Anderes gilt dann, wenn die Produkte für das allgemeine Publikum bestimmt sind.

3.2.5

Zeitpunkt des Inverkehrbringens

Da die Sicherheitserwartungen der Allgemeinheit keine konstante Referenz bilden, muss ein zeitlicher Bezugspunkt für deren Beurteilung fixiert werden. Gemäss Art. 4 Abs. 1 lit. c PrHG ist auf diejenigen Sicherheitserwartungen abzustellen, die im Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produktes vorherrschten. Hat also der Hersteller die im Zeitraum vor der Inverkehrbringung gebotenen Sicherheitsmassnahmen und Informationspflichten beachtet, so ist er nicht haftbar, auch wenn sich in der Zwischenzeit die rechtlichen Anforderungen erhöht haben. Allein die Tatsache, dass eine neues, verbessertes Produkt erhältlich ist, lässt das vorangegangene Modell nicht als fehlerhaft im Sinne des PrHG erscheinen (Art. 4 Abs. 2 PrHG). Werden hingegen Produkte serienmässig über längere Zeit unverändert hergestellt, so muss der Hersteller darauf achten, die dem jeweiligen Zeitpunkt des Inverkehrbringens entsprechenden Sicherheitserwartungen zu erfüllen, was unter Umständen eine Anpassung des Produktes erfordern kann. Art. 5 PrHG führt verschiedene Entlastungsmöglichkeiten des Herstellers auf; so kann sich dieser etwa dadurch von der Haftung befreien, indem er nachweist, dass das Produkt im Zeitpunkt des Inverkehrbringens fehlerfrei war (Art. 5 Abs. 1 lit. b PrHG). Eine Sonderstellung kommt den sog. Entwicklungsrisiken zu (Art. 5 Abs. 1 lit. e PrHG): Technische Fehler, die im Zeitpunkt des Inverkehrbringens noch nicht erkennbar waren, sind keine haftungsbegründenden Konstruktionsfehler. Die Erkennbarkeit eines solchen Fehlers bestimmt sich nach dem Stand der Wissenschaft und Technik, wobei alle Erkenntnisse zu berücksichtigen sind, welche objektiv anerkannt sind. Weist das betreffende Produkt hingegen Gefahren für Mensch oder Umwelt auf, so sind auch abweichende Meinungen zu berücksichtigen (BGE 137 III 233). Die Anforderungen an den Entlastungsbeweis

3

des Herstellers sind hoch. Bedeutsam ist die Entlastungsmöglichkeit aufgrund eines Entwicklungsrisikos bei Medikamenten.

3.3

Einzelfragen

3.3.1

Passivlegitimation

Haftpflichtig ist der Hersteller des fehlerhaften Produktes. Der Herstellerbegriff ist weit gefasst: Darunter fällt zunächst einmal der tatsächliche Hersteller, wobei unerheblich ist, ob er Hersteller des Endproduktes, eines Grundstoffes oder eines Teilproduktes ist (Art. 2 Abs. 1 lit. a PrHG). Dem Hersteller gleichgestellt ist der sog. Quasihersteller, der als Hersteller auftritt, indem er seinen Namen, sein Warenzeichen oder dergleichen auf dem Produkt anbringt (Art. 2 Abs. 1 lit. b PrHG). Gleiches gilt für den Importeur, der das Produkt in die Schweiz einführt (Art. 2 Abs. 1 lit. c PrHG). Ist der Hersteller nicht feststellbar, so gilt ersatzweise auch der Lieferant als Hersteller, sofern dieser dem Geschädigten auf Aufforderung hin nicht innerhalb angemessener Frist seinen Vorlieferanten oder den Hersteller nennt (Art. 2 Abs. 2 PrHG; vgl. auch die Präzisierung in Art. 2 Abs. 3 PrHG). Bezeichnet der Lieferant den Vorlieferanten oder den Hersteller verspätet, so hat er dem Geschädigten die daraus entstehenden Kosten und Nachteile zu ersetzen. Sind mehrere Personen haftpflichtig, so haften sie gemäss Art. 7 PrHG solidarisch. Das Innenverhältnis der Ersatzpflichtigen richtet sich nach den allgemeinen Bestimmungen in Art. 50 f. OR.

3.3.2

Haftungsausschluss

Die Haftung des Herstellers gegenüber dem Geschädigten kann nicht durch vertragliche Vereinbarung ausgeschlossen oder begrenzt werden (PrHG 8). Ein solcher Ausschluss kommt ohnehin bloss dann in Betracht, wenn der Hersteller zugleich der Vertragspartner des Geschädigten ist. Ein Hinweis auf die Haftungsbeschränkung, der auf dem Produkt aufgedruckt oder diesem beigelegt ist, genügt regelmässig den vertragsrechtlichen Erfordernissen einer rechtsgültigen Einbeziehung solcher Klauseln nicht. Im Übrigen wäre ein solcher Hinweis wegen Art. 8 PrHG nichtig.

3.3.3

Verjährung

Der Ersatzanspruch des Geschädigten verjährt nach Ablauf einer Frist von drei Jahren ab dem Tage, an dem der Geschädigte vom Schaden, vom Fehler und von der Identität des Herstellers Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen müssen (Art. 9 PrHG; sog. relative Verjährungsfrist). Die relative Verjährungsfrist in OR 60 I beträgt dagegen bloss ein Jahr. Unabhängig davon, ob der Geschädigte Kenntnis von den genannten Umständen erhält, geht der Anspruch zehn Jahre nach Inverkehrbringen des Produktes unter (sog. „Verwirkungsfrist“). Die Frist gilt gemäss Art. 1 Abs. 2 PrHG als gewahrt, wenn innerhalb der Frist geklagt wird. Die absolute Frist in Art. 60 Abs. 1

Produktehaftung

185

186

Kapitel VI – Haftung für Produkte

OR beträgt ebenfalls zehn Jahre, ist aber eine Verjährungsfrist und beginnt im Zeitpunkt der schädigenden Handlung zu laufen.

3.3.4

Konkurrierende Ansprüche

Nach Art. 11 Abs. 2 PrHG kann der Geschädigte neben den Regeln des PrHG auch Ansprüche aufgrund anderer Gesetzesgrundlagen, insbesondere des OR, geltend machen; es besteht Anspruchskonkurrenz. Bedeutsam sind konkurrierende Ansprüche aus Vertrag (Kauf- oder Werkvertrag) einerseits und aus der Produzentenhaftung gemäss Art. 55 OR andererseits (zur Produzentenhaftung s. vorne, VI/2). Eine vertragliche Haftung kommt bloss in Betracht, wenn der Hersteller (bzw. Importeur) zugleich Endvertreiber ist (oder bei der subsidiären Händlerhaftung). Bei der Gewährleistungshaftung aus Kauf- oder Werkvertrag beträgt die Verjährungsfrist (für bewegliche Produkte) zwei Jahre (Art. 210 Abs. 1 bzw. Art. 371 Abs. 1 OR; s. aber die Verwirkungsfristen für die Mängelrüge gemäss Art. 201 bzw. 367 OR). Ein konkurrierender Anspruch aufgrund der Produzentenhaftung (Art. 55 OR) ist dagegen in den meisten Fällen möglich. Denn die Sorgfaltspflichten im Rahmen der Produzentenhaftung hinsichtlich der auszuliefernden Produkte entsprechen weitgehend den Pflichten des Herstellers nach PrHG. Unterschiede bestehen lediglich in Bezug auf Produktefehler, die als „Ausreisser“ zu bezeichnen sind, sowie in Bezug auf Ansprüche gegen den Importeur oder Händler (in diesen Fällen fehlt jeweils die bei der Produzentenhaftung vorausgesetzte Sorgfaltspflichtverletzung). In verschiedener Hinsicht geht die Produzentenhaftung weiter als das PrHG. Während das PrHG bei Sachschäden nur Produkte erfasst, die gewöhnlich zum privaten Gebrauch oder Verbrauch bestimmt sind und vom Geschädigten hauptsächlich privat verwendet werden und zudem Schäden am Produkt selbst ausschliesst (Art. 1 PrHG), kennt die Produzentenhaftung diesbezüglich keine Einschränkungen. Das PrHG sieht sodann im Gegensatz zu der Produzentenhaftung einen Selbstbehalt bei Sachschäden in der Höhe von CHF 900 vor (Art. 6 PrHG). Aus den genannten Gründen, insbesondere den geringen Vorteilen des PrHG gegenüber der Produzentenhaftung, werden Ansprüche aufgrund fehlerhafter Produkte nach wie vor primär aufgrund des Obligationenrechts gewährt. Dieser Befund trifft auch für die Verhältnisse in den anderen europäischen Ländern, in denen die Produktehaftungsrichtlinie umgesetzt wurde, zu.

3.4

Das Produktesicherheitsgesetz (PrSG)

Am 1. Juli 2010 trat das Produktesicherheitsgesetz (PrSG) in Kraft. Es bezweckt, die Sicherheit von Produkten zu gewährleisten und den grenzüberschreitenden freien Warenverkehr zu erleichtern (Art. 1 Abs. 1 PrSG). Gemäss Art. 3 Abs. 1 PrSG dürfen Produkte nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie bei normaler oder bei vernünftigerweise vorhersehbarer Verwendung die Sicherheit und die Gesundheit der Verwender und Dritter nicht oder nur geringfügig gefährden. Das PrSG verlangt von Herstellern und Importeuren, die Produkte in Verkehr bringen, die Einhaltung mehrerer Nachmarktpflichten. So wird eine aktive Pro-

3

duktbeobachtung (Art. 8 Abs. 2 lit. a PrSG), das Ergreifen von angemessenen Massnahmen zwecks Gefahrerkennung, Gefahrabwehr (Art. 8 Abs. 2 lit. a und b PrSG) und Rückverfolgbarkeit gewisser Produktlieferungen (Art. 8 Abs. 2 lit. c PrSG) gefordert. Selbst der Umgang mit Reklamationen, die sich auf die Sicherheit des Produkts beziehen, ist gesetzlich geregelt (Art. 8 Abs. 3 PrSG). Geht von einem Produkt eine Gefahr für die Sicherheit oder Gesundheit der Verwender oder Dritter aus oder ist zumindest mit grosser Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, so besteht eine umfassende Meldepflicht gegenüber der zuständigen Behörde (Art. 8 Abs. 5 PrSG). Dem PrSG ist nicht zu entnehmen, welche Massnahmen konkret vom Hersteller oder Importeur im Falle einer solchen Gefahrenlage zu treffen sind. Je nach Sachlage dürften Warnungen, Rücknahme- oder Rückrufpflichten angemessen erscheinen. Das PrSG ist ein verwaltungsrechtlicher Erlass. Vollzugsorgane werden zur Überwachung und zu Kontrollen ermächtigt (Art. 9 ff. PrSG). Das PrSG sieht zudem Strafbestimmungen vor (Art. 16 f. PrSG). Aus zivilrechtlicher Sicht stellen die Sicherheitsvorschriften des PrSG Schutznormen dar (ihre Verletzung begründet somit die Haftungsvoraussetzung der Rechtswidrigkeit, vgl. Art. 41 OR). Eine ausführlichere Darstellung des PrSG findet sich in Band III der Einführung in das Wirtschaftsrecht.

Produktehaftung

187

189

Anhang I – Antworten zu den Fragen und Fällen zum Selbststudium Fragen und Fälle zur Einführung in das Vertragsrecht 1.

ZGB und OR bilden materiell eine Einheit. Formell ist das OR der fünfte Teil des ZGB, es hat aber eine eigene Nummerierung. Art. 7 ZGB bestimmt, dass die allgemeinen Bestimmungen des OR auch auf andere zivilrechtliche Verhältnisse Anwendung finden. Die Auslegung von Art. 7 ZGB ergibt aber, dass der Wortlaut zu eng gefasst ist und alle Bestimmungen des Allgemeinen Teils des OR sich auf die Verhältnisse des ZGB anwenden lassen. Diese Übernahme darf allerdings nur sinngemäss, d.h. analog erfolgen. Regelungen allgemeiner Natur des ZGB (z.B. Art. 1-10, Art. 13-16, Art. 27/28, Art. 52-59) finden unmittelbare Anwendung auf die obligationenrechtlichen Verhältnisse.

2.

Fehlendes Unrechtsbewusstsein.

3.

Vater Poppen soll die Sache auf sich beruhen zu lassen. Zwar ist Paulina unmündig und somit beschränkt handlungsunfähig (ihre Urteilsfähigkeit kann hier angenommen werden), doch kann sie über einen Teil ihres Vermögens verfügen. Dazu gehört neben ihrem Taschengeld und kleineren Geldgeschenken auch ihr Lehrlingslohn. Ihre finanziellen Verpflichtungen müssen aber im Rahmen ihres Arbeitsverdienstes stehen. Für Ausgaben, die diesen Rahmen sprengen, ist die ausdrückliche Zustimmung der Eltern nötig. Paulinas iPad befindet sich wohl innerhalb dieses Rahmens. Anders hätte es ausgesehen, wenn sie sich für ein paar tausend Franken ein Heimkino gekauft hätte. In einem solchen Fall wäre die Zustimmung der Eltern nötig gewesen.

4.

Nach dem ZGB hat notwendig jedermann einen Wohnsitz (im Rechtssinn). Das Gesetz bestimmt in Art. 23 f. ZGB, welcher das ist.

5.

Der Wohnsitz bestimmt sich nach zwei Komponenten, einer subjektiven und einer objektiven, und beide müssen gegen aussen in Erscheinung treten und für Dritte erkennbar sein. Massgebend ist nicht die tatsächliche Absicht einer Person, wo sich ihr Wohnsitz befinden soll, sondern das, was die Umwelt als „Mittel- oder Schwerpunkt der Lebensbeziehungen“ jener Person zu erkennen glaubt. Dazu werden folgende Kriterien herangezogen:     

Selbstzweck des Aufenthaltes an einem bestimmten Ort (vgl. Art. 26 ZGB betreffend die Sonderzwecke); Besitz einer geeigneten Wohngelegenheit; regelmässige Rückkehr dorthin; Angehörige oder Freunde; Verkehr mit den Behörden (Steuern, Ausübung politischer Rechte, Hinterlegung der Papiere).

Achtung: Alle diese Kriterien sind nur Indizien, die zusammen ein Gesamtbild ergeben, keines der Kriterien ist für sich allein entscheidend.

190

Anhang I – Antworten zu den Fragen und Fällen zum Selbststudium

6.

Ist eine bestimmte Rechtsfrage im Besonderen Teil nicht geregelt, so gelten die Bestimmungen des Allgemeinen Teils. Ist eine Rechtsfrage sowohl im AT als auch im BT geregelt, stellen sich z.T. schwierige Abgrenzungsfragen. Je nachdem, welche Normen sich gegenüberstehen, ist die Frage nach ihrem Verhältnis anders zu beantworten. So verdrängen z.B. die Regeln zur kaufrechtlichen Gewährleistung die Bestimmung des Art. 97 OR weitgehend, während Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR (Grundlagenirrtum) neben dem Gewährleistungsrecht alternativ anwendbar ist.

7.

Während die Obligation ein relatives Recht darstellt und nur Rechte verleiht, die gegenüber dem jeweiligen Vertragspartner geltend gemacht werden können, gelten absolute Rechte gegenüber jedermann. Es gilt somit: Obligatorische (relative) Rechte „kleben“ an der Person, dingliche (absolute) Rechte „kleben“ an der Sache.

8.

Der Einwand von V, dass er den Vertrag mit dem Hersteller verletze, wenn er K das Auto zu einem so tiefen Preis verkaufe, ist nicht stichhaltig. Der Vertrag zwischen V und dem Hersteller begründet lediglich relative Rechte und Pflichten, sie gelten also nur zwischen den Vertragspartnern und können im konkreten Fall dem K (der am Vertrag nicht beteiligt ist) nicht entgegengehalten werden. Zudem hätte V die Verpflichtung, den Wagen nicht zu einem so tiefen Preis zu verkaufen, bereits bei Abschluss des Kaufvertrages mit K und nicht erst bei dessen Erfüllung beachten müssen.

9.

Die wichtigsten Entstehungsgründe sind (in absteigender Reihenfolge der praktischen Relevanz) Vertrag (Art. 1 bis 40 OR), unerlaubte Handlung (Art. 41 bis 61 OR) und ungerechtfertigte Bereicherung (Art. 62 bis 67 OR). Daneben gibt es zahlreiche andere Entstehungsgründe von Obligationen: aus Rechtsgeschäft z.B. Beschlüsse, einseitige Rechtsgeschäfte wie Testament, Ausübung eines Gestaltungsrechts; aus Gesetzesvorschrift z.B. Geschäftsführung ohne Auftrag und gesetzliche Schuldverhältnisse aus dem Familien- und Erbrecht. Durch Richterrecht wurde zudem die vorvertragliche Haftung aus culpa in contrahendo und die Vertrauenshaftung entwickelt, welche allerdings in der Praxis nur selten greifen.

10.

Prüfung eines Anspruchs aus Vertrag: Der Mieter hat die Pflicht, die gemietete Sache sorgfältig zu gebrauchen (Art. 257f. OR). Im vorliegenden Fall hat der Mieter gegen diese Vorschrift verstossen und wird darum ersatzpflichtig (Schlechterfüllung des Vertrags, Verletzung einer Nebenpflicht). Prüfung eines Anspruchs aus unerlaubter Handlung: Verstoss gegen Verhaltenspflichten (Rechtswidrigkeit), Rechtsgutverletzung, Kausalität, Verschulden Die Voraussetzungen beider Anspruchsgrundlagen sind erfüllt. Gemäss Bundesgericht herrscht stets Anspruchskonkurrenz, wenn durch die Verletzung einer vertraglichen Pflicht eine unerlaubte Handlung begangen wurde. Der Vermieter kann also beide Anspruchsgrundlagen gleichzeitig geltend machen; bei der Erfüllung eines Anspruchs geht der andere jedoch unter. Insbesondere mit Bezug auf die Beweislastverteilung ist es für den Vermieter in der Regel günstiger, den vertraglichen Anspruch geltend zu

Fragen und Fälle zur Einführung in das Vertragsrecht

machen, denn bei einer Vertragsverletzung wird das Verschulden im Gegensatz zur unerlaubten Handlung vermutet. 11.

Der Tatbestand der unerlaubten Handlung ist grundsätzlich in Art. 41 ff. OR geregelt. Es können die Hauptgruppen Verschuldenshaftung und Gefährdungshaftung unterschieden werden: Die Verschuldenshaftung basiert darauf, dass man einer Person das schadensstiftende Ereignis persönlich vorwerfen kann (Verschulden). Bei der sog. einfachen oder „milden“ Kausalhaftung handelt es sich letztlich nicht um eine „kausale“ (d.h. verschuldensunabhängige Haftung), wie die Bezeichnung vermuten liesse, sondern lediglich um eine Verschuldenshaftung mit Beweislastumkehr: Während bei der normalen Verschuldenshaftung der Geschädigte das Verschulden des Schädigers beweisen muss, wird bei der einfachen Kausalhaftung das Verschulden vermutet, der Schädiger kann aber durch den Sorgfaltsbeweis diese Vermutung widerlegen und sich so von der Haftung befreien. Anders ist die Lage bei den Gefährdungshaftungen: Hier besteht keine Entlastungsmöglichkeit, der Schädiger haftet verschuldensunabhängig. Diese Rechtsfolge ist für Tätigkeiten bzw. Anlagen mit hoher Schadenshäufigkeit (z.B. Autofahren) oder grosser Schadensintensität (z.B. Atomkraftwerk) gerechtfertigt, weil der Betreiber durch die Tätigkeit bzw. den Betrieb der Anlage i.d.R. einen (meist wirtschaftlichen) Vorteil erhält und daher im Gegenzug von ihm verlangt werden kann, dass er für die Risiken, die er damit in die Welt setzt, auch geradesteht.

12.

Unter Qualifikation ist ganz allgemein die Zuordnung eines bestimmten Lebenssachverhaltes zu einem bestimmten Vertragstypus zu verstehen. Beispiel: A und B beschliessen, dass A bei Schnellfall jeweils beim Haus von B den Schnee räumt und B dafür A ein Entgelt ausrichtet. Bald entstehen Ungereimtheiten über den Zeitpunkt der Schneeräumung (A ist Langschläfer und räumt den Schnee nie vor 15.00 Uhr weg, was B nicht leiden mag). Es kommt zum Streit und es fragt sich, welchem Vertragstypus dieser „Schneeräumvertrag“ zuzuordnen ist. Der Richter wird den Vertrag auf Grund der konkreten Umstände qualifizieren. In Frage kommen Auftragsrecht, Arbeitsvertragsrecht oder Werkvertragsrecht. Auch ein Vertrag sui generis mit Elementen des Auftrags-, Arbeits- und/oder Werkvertragsrecht kommt in Frage.

13.

Ausser der Miete gehören auch die Pacht (Art. 375 bis 304 OR), die Leihe (Art. 305 bis 311 OR) und das Darlehen (Art. 312 bis 318 OR) dazu.

14.

Unter dem Begriff „Vertrag sui generis“ ist ein Vertrag „eigener Art“ zu verstehen. Gemeint ist damit ein Vertrag, der Elemente eines im OR BT geregelten Vertrages enthalten kann, aber zusätzlich oder allein von Elementen bestimmt wird, die nicht im OR BT geregelt sind. Der Vertrag sui generis gehört mit dem gemischten Vertrag zu den Innominatverträgen. Eine mögliche Einteilung der Verträge: Nominatverträge

Innominatverträge

Zusammengesetzte Verträge

Verträge der 2. Abteilung des Obligationenrechts (Kaufvertrag, Mietvertrag usw.

Sui generis

(Auch Vertragsverbindungen) sind mehrere selbstständige Verträge, die nach dem Parteiwillen so miteinan-

Gemischte Verträge

191

192

Anhang I – Antworten zu den Fragen und Fällen zum Selbststudium

Spezialgesetzliche geregelte Verträge wie der Versicherungsvertrag (VVG)

der verbunden sind, dass sie voneinander abhängen, ähnlich wie Leistung und Gegenleistung beim Austauschvertrag

15.

Der deutsche Bundesgerichtshof entschied, dass ein Fertighausvertrag über den Bau eines Hauses mit vorfabrizierten Bauelementen ein Werkvertrag sei, da die für den Werkvertrag typische Schöpfung eines Werks im Mittelpunkt der vertraglichen Beziehungen stehe. Dieses Argument dürfte auch nach Schweizer Recht entscheidend sein. Es handelt sich beim Fertighausvertrag deshalb um einen Werkvertrag.

16.

Im Einzelfall kann diese Abgrenzung heikel sein. Als Grundsatz gilt: Im Gegensatz zum Mieter (oder auch zum Pächter) erhält der Leasingnehmer ein vollumfängliches Gebrauchs- und Nutzungsrecht am Leasinggegenstand. Seine Stellung ist derjenigen eines Eigentümers ähnlich. Der Leasingnehmer trägt – anderes als den Mieter – das volle Erhaltungsrisiko des Leasinggegenstands. Ihn trifft die Gefahr des zufälligen Untergangs des Gegenstands und er muss den Gegenstand auf eigene Kosten instand halten. S. z.B. BGer 4A_404/2008 E. 4.

17.

Entscheidendes Abgrenzungskriterium ist das Mass der Weisungsgebundenheit des Dienstleistenden. S. dazu BGer 4C.276/2006 E. 4.1 und 4.3: 4.1 Die Tätigkeit des Klägers für die Beklagte bestand im Vermitteln von Geschäften zum Verkauf von Finanzprodukten. Damit war Vertragsgegenstand eine Arbeitsleistung, welche - wie das Kantonsgericht zutreffend festhielt - sowohl Inhalt eines Arbeitsvertrages wie auch eines Agenturvertrages oder Auftrages sein kann. Mangels gegenständlicher Unterscheidung lässt sich der Arbeitsvertrag vom Agenturvertrag nur auf Grund der Subordination im weiteren Sinne unterscheiden. Es kommt einerseits auf die Selbständigkeit der Tätigkeit und andererseits auf die Tragung des Geschäftsrisikos an. (…) 4.3 4.3.1 Notwendige Voraussetzung für das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses ist die Subordination des Arbeitnehmers. Darunter wird die rechtliche Unterordnung in persönlicher, betrieblicher und wirtschaftlicher Hinsicht verstanden (Staehelin, a.a.O., N. 27 ff. Zu Art. 319 OR; Manfred Rehbinder, Berner Kommentar, N. 42 ff. zu Art. 319 OR; Streiff/von Kaenel, a.a.O., N. 6 ff. zu Art. 319 OR; Wolfgang S. Harder, Freie Mitarbeit und ähnliche Formen freier Zusammenarbeit, Diss. Zürich 2000, S. 80 ff.; Urteil des Bundesgerichts 4C.460/1995 vom 24. Februar 1997, E. 2a, abgedruckt in JAR 1998, S. 104). Entscheidend ist, dass der Arbeitnehmer in eine fremde Arbeitsorganisation eingegliedert ist und damit von bestimmten Vorgesetzten Weisungen erhält. Er wird in eine hierarchische Struktur eingebettet. Die Schwierigkeit liegt allerdings darin, dass auch bei anderen Verträgen auf Arbeitsleistung, zum Beispiel beim Auftrag, ein Weisungsrecht besteht. Es kommt deshalb auf das Mass der Weisungsgebundenheit an (Simon Gerber, Die Scheinselbständigkeit im Rahmen des Einzelarbeitsvertrages, Diss. St. Gallen 2002, S. 125 ff.). Dabei wird nicht vorausgesetzt, dass die Arbeitgeberin dem Arbeitnehmer Fachanweisungen gibt (Streiff/von Kaenel, a.a.O., N. 6 zu Art. 319 OR). Erfordert die Tätigkeit des Arbeitnehmers besondere Fachkenntnisse, ist es sehr wohl möglich, dass diese ausschliesslich beim Arbeitnehmer, nicht aber bei der Arbeitgeberin vorhanden sind. 4.3.2 Die Vorinstanz hat das Kriterium der Subordination eingehend geprüft. Sie hat dazu in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, dass dem Kläger ein hohes Mass an Selbständigkeit in der Ausführung seiner Arbeit zugekommen ist. Er hatte allerdings regelmässige Besprechungen mit der Geschäftsführung der Beklagten an deren Sitz. Zudem wird im angefoch-

Fragen und Fälle zur Vertragsentstehung

tenen Urteil festgehalten, dass der Kläger verpflichtet war, sämtliche Arbeitsunterlagen der Beklagten zur Verfügung zu halten, damit diese ein einheitliches Auftreten kontrollieren konnte. Schliesslich bestanden nach den Feststellungen der Vorinstanz seitens der Beklagten klare Weisungen bezüglich des Datenschutzes und der Vorkehren gegen Geldwäscherei. Beides ergab sich indessen zwingend aus der Art der Geschäfte und den dafür geltenden gesetzlichen Bestimmungen. Zusammenfassend kann demnach festgehalten werden, dass der Kläger bei der Ausübung seiner Tätigkeit für die Beklagte weitgehend selbständig handeln konnte. Soweit Weisungen der Beklagten bestanden, dienten diese der nachträglichen Kontrolle oder waren zwangsläufig mit der Tätigkeit des Klägers verbunden, so dass sie nicht als Indiz für eine Weisungsgebundenheit gelten können, wie sie für den Arbeitsvertrag charakteristisch ist.

Fragen und Fälle zur Vertragsentstehung 1.

Die Entscheidung, (a) ob man einen Vertrag abschliessen will oder nicht, (b) mit wem man den Vertrag eingehen möchte, (c) welches der Inhalt sein soll und (d) in welcher Form der Vertrag geschlossen werden soll, ist nach dem Grundsatz der Vertragsfreiheit Sache der jeweiligen en - (a) Abschlussfreiheit; (b) Partnerwahlfreiheit; (c) Inhaltsfreiheit und (d) Formfreiheit. - Die Vertragsfreiheit gilt aber nur im Grundsatz, also nicht uneingeschränkt: So können z.B. zum Schutz der schwächeren Vertragspartei bestimmte Vertragsinhalte zwingend vorgeschrieben oder aber auch verboten werden, oder die Einhaltung bestimmter Formvorschriften kann geboten sein. Abgesehen von gewissen Einschränkungen kann der Staat gerade mit Bezug auf die Vertragsfreiheit weder Inhalt noch Form oder Partner eines Vertrags vorschreiben.

2.

Gemäss Art. 335c Abs. 2 OR kann die Kündigungsfrist durch die Parteien auf minimal einen Monat reduziert werden. Die Kündigung ist eine einseitige Willenserklärung zur Beendigung eines Vertrages, d.h. sie ist ohne Einverständnis der Gegenpartei gültig. Im vorliegenden Fall handelt es sich aber um einen Aufhebungsvertrag (Auflösung des Vertrages durch gegenseitige Willenserklärung). Wenn beide Parteien mit der Vertragsauflösung einverstanden sind, müssen die Parteien für die Auflösung des Vertrags keine Kündigungsfristen beachten. Eine solche Übereinkunft ist auch im Arbeitsrecht jederzeit möglich, was zwar nicht ausdrücklich im Gesetz vorgesehen ist, sich aber aus dem Grundsatz der Vertragsfreiheit ergibt.

3.

Vorweg ist für jeden Streitpunkt zu entscheiden, ob es sich um einen objektiv wesentlichen Vertragspunkt handelt. Falls ja, ist kein Vertrag zustande gekommen. Andernfalls ist in einem zweiten Schritt nach dem Vertrauensprinzip zu ermitteln, ob es sich für eine oder beide Parteien um einen subjektiv wesentlichen Vertragspunkt handelt. Bei allen vier hier genannten Punkten handelt es sich um objektiv unwesentliche Vertragspunkte (wesentlich für den Mietvertrag sind Mietsache und Mietzins). Wäre dennoch für eine der Parteien einer dieser Nebenpunkte unabdingbare Voraussetzung für den Vertragsschluss – also für sie ein subjektiv wesentlicher Vertragspunkt –, so ist das nur beachtlich, wenn sie dies bei der Einigung zu erkennen gegeben hat. Andernfalls ist der Vertrag gültig zustande gekommen.

193

194

Anhang I – Antworten zu den Fragen und Fällen zum Selbststudium

4.

Grundsätzlich bedeutet Schweigen auf ein Angebot keine Annahme; dies gilt auch dann, wenn einen der Absender zu einer Antwort auffordert. Eine Ausnahme von dieser Grundregel bilden lediglich die beiden in Art. 6 OR beschriebenen Fälle:  

„besondere Natur des Geschäftes“ (z.B. Schenkungsangebot); „besondere Umstände“ (z.B. auf Grund des Vertrauensverhältnisses im Rahmen einer bestehenden Geschäftsverbindung).

Im vorliegenden Fall trifft keine dieser Ausnahmen zu, folglich werden Sie durch Schweigen nicht vertraglich gebunden. 5.

Ein Widerruf einer Annahme ist grundsätzlich möglich, wenn (Art. 9 OR):  

der Widerruf vor der Annahme eintrifft oder der Widerruf beim Empfängers zwar später eintrifft als die Annahme, dieser aber von der Annahme noch keine Kenntnis hat.

Eingetroffen (Zugegangen) ist dabei eine Willenserklärung dann, wenn sie in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, also auch z.B. wenn sie im Briefkasten liegt, bei einer Hausgenossin oder an der Empfangsloge abgegeben wurde.

6.

a.

Der Widerruf ist gültig. Die Annahme ist noch nicht eingetroffen.

b.

Der Widerruf ist ungültig, weil er zu spät erfolgt.

c.

Der Widerruf ist gültig, weil die Annahme zwar angekommen ist, aber der Verkäufer noch keine Kenntnis von der Annahme hatte.

d.

Der Widerruf ist gültig. Dass der Widerruf nicht weitergeleitet wurde, muss sich der Verkäufer anrechnen lassen. Dem Erklärenden soll aus einer mangelhaften internen Organisation des Adressaten kein Nachteil erwachsen.

e.

Der Widerruf ist grundsätzlich „angekommen“, d.h. in den Machtbereich des Empfängers gelangt; der Empfänger hatte die Möglichkeit zur Kenntnisnahme. Der Widerruf ist somit gültig.

f.

Der Widerruf ist gültig.

g.

Der Widerruf ist ebenfalls gültig. Die schriftliche Zustimmung entspricht zwar der abgemachten Form, jedoch nicht dem Willen des Erklärenden. Wegen des Telefonanrufs kann sich der Juwelier nicht gutgläubig auf den Inhalt des schriftlichen Bescheids berufen, da ihm der abweichende Willen von Alfons bekannt ist.

Ungewöhnlichkeitsregel: Eine Bestimmung der AGB ist dann ungültig, wenn sie einen ungewöhnlichen Inhalt aufweist, mit der die Gegenpartei zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses nicht rechnen musste. Zu beachten ist: Die Ungewöhnlichkeitsregel kommt nur im Falle einer Globalübernahme von AGB zur Anwendung, nicht bei allen Vertragstexten. Unklarheitsregel: Ist eine Vertragsbestimmung mehrdeutig, so gilt jene Bedeutung, die für den Verfasser der auszulegenden Bestimmung ungünstiger ist („in dubio contra stipulatorem“). Diese Auslegungsregel kommt sowohl bei AGB als auch bei allen anderen Verträgen zum Zug.

7.

Der Vertragsabschluss erfolgt am Telefon. Der Zusatz, dass die AGB Vertragsbestandteil sind, ist nur gültig, wenn dies bei Vertragsabschluss (also am Telefon) verabredet wurde. Andernfalls wurde der Vertrag ohne

Fragen und Fälle zur Vertragsentstehung

den Einbezug der AGB abgeschlossen, und dieser nachträgliche Hinweis auf die AGB ist als eine einseitige Vertragsänderung bzw. ein Antrag zur Vertragsänderung zu qualifizieren. Sofern Z damit nicht einverstanden ist, erlangen die AGB für diesen Vertrag keine Geltung. Auch die Tatsache, dass das Reisebüro nur Verträge mit ihren AGB abschliessen will, ändert nichts an der Rechtslage. 8.

Grundsätzlich können Verträge formfrei geschlossen werden (Art. 11 Abs. 1 OR), also auch mündlich. Es steht den Parteien aber frei, eine andere Form zu wählen (Art. 16 Abs. 1 OR) und sich somit aus freiem Willen eigene Formvorschriften aufzuerlegen.

9.

Der Lehrvertrag bedarf zur Gültigkeit grundsätzlich der schriftlichen Form (Art. 344a OR). Gemäss Art. 355 OR sind auf den Lehrvertrag die Bestimmungen des Einzelarbeitsvertrages ergänzend anwendbar.

10.

11.

a.

Gemäss Art. 320 Abs. 3 OR haben Lehrling und Arbeitgeber die vertraglichen Verpflichtungen so zu erfüllen, wie wenn ein gültiger Vertrag bestünde. Bei Dauerschuldverhältnissen ist die Nichtigkeit in ihrer Wirkung auf die Zukunft zu beschränken (ex nunc). Für die Vergangenheit kann zwischen Arbeitgeber und Lehrling von einem faktischen Vertragsverhältnis gesprochen werden.

b.

Aus Art. 320 Abs. 3 OR ergibt sich, dass auch der Lohn geschuldet ist.

c.

Auch die Schutznormen zu Gunsten des Lehrlings sind anzuwenden.

Ein Vertrag ist nichtig, wenn dessen Inhalt widerrechtlich ist (Art. 19 f. OR). a.

Wenn der Vertrag explizit zu diesem Zweck geschlossen wurde (d.h. der Darlehensgeber wusste um die Absicht des Darlehensnehmers), ist der Vertragszweck widerrechtlich und damit auch der Vertrag.

b.

Dieser Vertrag verstösst gegen das Betäubungsmittelgesetz (Art. 19 BetmG) und ist damit widerrechtlich und nichtig (Art. 20 OR).

c.

Der Dealer, sowie ev. die Bank, erfüllen den Tatbestand der bis Geldwäscherei (Art. 305 StGB). Der Sparvertrag ist widerrechtlich und nichtig (Art. 20 OR).

Es wird primär zwischen dem Erklärungsirrtum (Art. 24 Abs. 1 Ziff. 1-3 OR) und dem Grundlagenirrtum (wesentlicher Motivirrtum; Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR) unterschieden. Beim Erklärungsirrtum werden 3 Untergruppen gebildet: 





Error in negotio: Irrtum in der Art des Vertrages (Art. 24 Abs. 1 Ziff. 1 OR). Beispiel: F wollte das Fahrrad mieten, schliesst aber einen Kaufvertrag ab. Error in corpore oder persona: Irrtum in der Sache oder in der Person (Art. 24 Abs. 1 Ziff. 2 OR). Beispiel: F wollte den Vertrag mit Meier sen. abschliessen, schloss ihn stattdessen mit Meier jun. Error in quantitate: Irrtum im Umfang (Art. 24 Abs. 1 Ziff. 3 OR). Beispiel: F vereinbarte einen Kaufpreis von Euro 100 für eine Flasche Wein. Gemeint waren aber CHF 100.

195

196

Anhang I – Antworten zu den Fragen und Fällen zum Selbststudium

12.

Die allgemeinen Bestimmungen des OR (Art. 1 bis 183 OR) sind auch auf zivilrechtliche Verhältnisse analog anwendbar (Art. 7 ZGB). Demnach kann ein Unterhaltsvertrag nach den obligationenrechtlichen Regeln über die Willensmängel (Art. 23 f. OR) angefochten werden. T kann den Unterhaltsvertrag wegen absichtlicher Täuschung (Art. 28 OR) oder wegen Grundlagenirrtums (Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR) anfechten. Es besteht also die Möglichkeit, den im ZGB geregelten Unterhaltsvertrag nach den Regeln des OR anzufechten. Ob allerdings der Vater tatsächlich verpflichtet ist, ihr den ganzen Unterhalt zu finanzieren, ist eine Frage, die nach Kindesrecht (Art. 276 ff. ZGB) zu beurteilen wäre.

13.

Bei der Stellvertretung handelt ein Vertreter im Namen des Vertretenen gegenüber einem Dritten. Der Vertretene erteilt dem Vertreter die Vollmacht (Rechtsbeziehung zwischen Vertretenem und Vertreter). Der vom Vertreter abgeschlossene Vertrag kommt direkt zwischen dem Vertretenen und dem Dritten zustande. Zwischen dem Vertreter und dem Dritten besteht folglich kein Rechtsverhältnis. Je nach Umfang der Vollmacht unterscheidet man zwischen Spezial- und Generalvollmacht: Eine Generalvollmacht ermöglicht dem Vertreter, alle üblicherweise anfallenden Rechtsgeschäfte für den Vertretenen zu übernehmen. Bei einer Spezialvollmacht wird der Kreis der möglichen Rechtshandlungen durch den Vertretenen eingeschränkt. Einen Spezialfall stellt die Substitutionsvollmacht dar: Der primäre Vertreter wird ermächtigt, gegebenenfalls einen sekundären Vertreter zu bestimmen, der an seiner Stelle für den Vertretenen tätig wird (Bsp.: Ein Anwalt ist bevollmächtigt, einen anderen Anwalt mit seinem Mandat zu betrauen).

14.

B hat seine Vollmacht überschritten, und zwar sowohl bezüglich der Anzahl der maximal zu kaufenden Aktien als auch bezüglich des maximalen Gesamtpreises. Vollmacht Kauf

Anzahl Aktien 50 55

Preis pro Stück Max. CHF 1 000 CHF 950

Gesamtpreis Max. CHF 50 000 CHF 52 250

Gemäss Art. 38 OR kann A somit den Vertrag ablehnen. B wird in diesem Fall gegenüber dem Verkäufer aus Dahinfallen des Vertrages schadenersatzpflichtig (Art. 39 OR). Genehmigt A den Vertrag, so gilt er wie von B stellvertretend abgeschlossen. 15.

Die Abgrenzung ist im konkreten Einzelfall vorzunehmen. Entscheidend ist insbesondere, ob bei den beteiligten Parteien ein Rechtbindungswillen erkennbar ist.

Fragen und Fälle zur Vertragserfüllung 1.

Die Erfüllbarkeit beschreibt den Zeitpunkt, an bzw. ab dem der Schuldner die Leistung erbringen darf. Vor der Erfüllbarkeit ist der Gläubiger nicht verpflichtet, die vom Schuldner angebotene Leistung anzunehmen. Mit Fälligkeit wird der Zeitpunkt bezeichnet, an dem der Schuldner die Leistung erbringen muss. Bei Fälligkeit darf Gläubiger die Leistung auch einfordern und einklagen. Weil die Erfüllbarkeit in der Regel vor der Fällig-

Fragen und Fälle zur Vertragserfüllung

keit eintritt, kann Schuldner meist die Erfüllung auch schon vor Eintritt der Fälligkeit anbieten. 2.

Der Schuldner muss den Vertrag persönlich erfüllen, wenn es bei der Erfüllung auf seine Persönlichkeit ankommt (Art. 68 OR). Bei einer Operngala kommt es sehr wohl auf die Persönlichkeit des Tenors an. Ohne Zustimmung des Gläubigers kann er sich nicht vertreten lassen. Tut er dies trotzdem, so wird er dem Gläubiger wegen Nichterfüllung schadenersatzpflichtig (Art. 97 OR).

3.

Die Parteien eines Vertrags zu Gunsten Dritter heissen: Gläubiger der Leistung (Promissar), Schuldner der Leistung (Promittent), Begünstigter Dritter. Zwischen Promissar und Promittent besteht das sog. Deckungsverhältnis, die rechtliche Beziehung zwischen Promissar und begünstigtem Dritten nennt man Valutaverhältnis.

4.

Die Solidarschuldnerschaft ist eine Erscheinungsform der Einzelschuldnerschaft. Jeder Schuldner ist grundsätzlich gleich verpflichtet. Der Gläubiger kann von jedem Schuldner unter den gleichen Voraussetzungen die ganze Leistung verlangen. Leistet ein Schuldner, ist die Forderung erfüllt, der andere Schuldner kann vom Gläubiger nicht mehr belangt werden. Eine Solidarschuld entsteht entweder von Gesetzes wegen oder aus Vertrag. Die wichtigsten Beispiele für die Entstehung von Solidarschuldnerschaft von Gesetzes wegen sind:     

5.

Solidarhaft mehrerer Schadensverursacher für den Schaden aus unerlaubter Handlung (Art. 50 OR). Solidarhaft für den von mehreren Personen verursachten Schaden aus verschiedenen Rechtsgründen (Art. 51 OR). Solidarhaft der Personengesellschafter für Gesellschaftsverbindlichkeiten (Art. 544 Abs. 3 OR). Solidarhaft der Erben für die Schulden des Erblassers (Art. 603 Abs. 1 ZGB). Solidarhaft gemäss SVG: Zwischen mehreren Schädigern (Art. 60 SVG), mehreren Haltern (Art. 61 Abs. 3 SVG).

R hat die ganze Forderung abgetreten. Die Intrakasso ist gegenüber Dritten unbeschränkte Inhaberin aller Rechte. Sie kann daher die Forderung in vollem Umfange einziehen. R hat somit kein Recht, nach erfolgter Abtretung seiner ursprünglichen Forderung den Restbetrag einzufordern. Wirtschaftlich gesehen hat R die unsichere Forderung gegenüber Z gegen einen sicheren (aber niedrigere) Geldzufluss durch Intrakasso getauscht, also Chance und Risiko der Intrakasso „verkauft“. Variante: Der Zedent (R) haftet grundsätzlich nur für den Bestand der Forderung (sog. Verität), aber nicht für die Zahlungsfähigkeit des Schuldners (sog. Bonität). Selbst bei Entgeltlichkeit der Abtretung müsste eine solche Haftung ausdrücklich vereinbart werden. Ohne solche Vereinbarung kann R also nicht für Zahlungsausfälle belangt werden (vgl. Art. 171 OR). Wirtschaftlich gesehen wurde ja das Risiko der Zahlungsunfähigkeit bereits mit dem Abschlag abgegolten.

6.

Grundsätzlich trägt der Eigentümer einer Sache das Risiko für deren zufälligen Untergang (die Gefahr). Nutzen und Gefahr gehen also prinzipiell mit der Eigentumsübertragung auf den Erwerber über. Im Kaufrecht gilt diese Regelung jedoch nicht absolut: Nach Art. 185 Abs. 1 OR gehen Nutzen und Gefahr beim Stückkauf grundsätzlich mit dem Abschluss des

197

198

Anhang I – Antworten zu den Fragen und Fällen zum Selbststudium

Kaufvertrages auf den Käufer über, auch wenn die Übergabe bzw. der Eigentumsübergang noch nicht stattgefunden hat („Waren reisen auf Gefahr des Käufers“). Ist jedoch bei einem Stückkauf Versendung vereinbart, wird Art. 185 Abs. 2 OR analog angewendet. Beim Gattungskauf unterscheidet man zwischen Platzkauf und Distanzkauf (auch Versendungskauf genannt; Art. 185 Abs. 2 OR). Beim Platzkauf geht die Gefahr (wie auch der Nutzen) mit der Ausscheidung über, beim Distanzkauf jedoch erst mit der Übergabe der Sache zur Versendung. 7.

Nur Mieter von Wohn- und Geschäftsräumen sind in den Art. 269 bis 270e OR gegen missbräuchliche Mietzinse und andere missbräuchliche Forderungen geschützt und können sich nach Art. 271 bis 274g OR auf einen eingeschränkten Kündigungsschutz berufen. Nach Art. 253b Abs. 2 OR finden die genannten Mieterschutzbestimmungen keine Anwendung für die Miete von luxuriösen Wohnungen und Einfamilienhäusern mit sechs oder mehr Wohnräumen. Eine weitere Mieterschutzbestimmungen ist die Nichtigkeit von Koppelungsgeschäften im Zusammenhang mit der Miete von Wohn- und Geschäftsräumen (Art. 254 OR). Diese Norm gilt ohne Einschränkung, also auch bei luxuriösen Wohnungen. Eine Mieterschutzbestimmungen für die Miete beweglicher Sachen ist Art. 266k OR, der ein vorzeitiges Rückgaberecht stipuliert.

8.

Pflichten gemäss Mietvertrag a.

Des Vermieters 

  b.

Des Mieters     

9.

Übergabe und Überlassen einer gebrauchstauglichen Sache (Art. 256 OR). Daraus folgt die Mängelhaftung des Vermieters (Art. 258 ff. OR). Auskunftspflicht betreffend des Rückgabeprotokolls des vorangegangenen Mietverhältnisses (Art. 256a OR) Bezahlung, der mit der Mietsache verbundenen Abgaben und Lasten (Art. 256b OR)

Zahlung des Mietzinses und allenfalls der Nebenkosten (Art. 257 ff. OR). Evtl. Hinterlegung von bis zu drei Monatszinsen (Art. 257e OR). Sorgfältiger Gebrauch der Mietsache sowie Rücksichtnahme auf Hausbewohner und Nachbarn (Art. 257f OR). Meldepflicht an den Vermieter für Mängel an der Mietsache, die er nicht selber zu beseitigen hat (Art. 257g OR) Duldungspflichten im Zusammenhang mit Arbeiten oder Besichtigung an der Mietsache (Art. 257h OR)

Werk im Sinne des Werkvertragsrecht kann fast alles sein, auch sog. Geist-Werkverträge, z.B. die Erarbeitung eines Konzeptes, sind zugelassen. Als Abgrenzungskriterium zu anderen Vertragen auf Arbeits- und Dienstleistungen ist immer das Versprechen des Werkunternehmers, einen bestimmten Arbeitserfolg zu erbringen, massgebend. Ein Werklieferungsvertrag ist ein Werkvertrag mit der Besonderheit, dass der Unternehmer den Stoff liefert, das heisst, es werden Kauf- und Werkvertrag vermischt (Art. 365 Abs. 1 OR).

Fragen und Fälle zur Vertragserfüllung

10.

Hauptpflicht des Werkunternehmers ist die rechtzeitige und vertragsgemässe Herstellung (Art. 363 OR) und Ablieferung (Art. 367 OR) des bestellten Werkes. Erhält der Unternehmer den Stoff, aus dem das Werk gefertigt werden soll, vom Besteller, so muss er ihn mit Sorgfalt behandeln, darüber Rechenschaft geben, Reste zurückgeben und allfällige Mängel sofort melden (Art. 364 Abs. 1 sowie Art. 365 Abs. 2 und 3 OR). Der Besteller ist verpflichtet, den Werklohn zu bezahlen. Dieser ist (erst) bei der Ablieferung des Werkes geschuldet und vom Erfolg des Werkes abhängig. Ihn trifft zudem die Obliegenheit, das fertig gestellte und abgelieferte Werk anzunehmen (sonst treffen ihn die Nachteile des Gläubigerverzugs, Art. 91 OR), und auf allfällige Mängel zu prüfen (sonst verliert er die Gewährleistungsansprüche aus Art. 368; Art. 370 OR).

11.

Nach Art. 19 Abs. 1 OR kann der Inhalt eines Vertrages innerhalb der Schranken des Gesetzes beliebig vereinbart werden. In Art. 394 Abs. 1 OR wird der Inhalt des Auftrages mit „Geschäfte“ oder „Dienste“, die es vertragsgemäss zu besorgen gibt, umschrieben. Die Parteien bestimmten also im Rahmen der Vertragsfreiheit frei, welche „Geschäfte“ oder „Dienste“ mit einem Auftrag „besorgt“ werden sollen. Eine Auslegungsregel im Falle einer Vertragslücke findet sich in Art. 396 Abs. 1 OR. Nach dieser Bestimmung bestimmt sich der „Umfang des Auftrages“ nach der „Natur des zu besorgenden Geschäftes“.

12.

Nach Art. 398 Abs. 3 OR hat der Beauftragte das Geschäft persönlich zu besorgen. Die Bestimmung sieht drei Ausnahmetatbestände vor:   

13.

die Ermächtigung zur Übertragung an einen Dritten durch den Auftraggeber; besondere Umstände, die den Auftragnehmer daran hindern, den Auftrag persönlich zu erfüllen; wenn die Vertretung üblich ist (s. auch Antwort 13c).

Substitut und Hilfsperson a.

Art. 101 OR (im AT!) gilt allgemein für Schuldverhältnisse, v.a. Verträge. Der Schuldner (Geschäftsherr) muss für den Schaden einstehen, den seine Hilfsperson (Erfüllungsgehilfe) dem Gläubiger in Ausübung seiner Verrichtungen zufügt. Er haftet für das Verhalten der Hilfsperson, wenn dieses in einem funktionellen Zusammenhang mit dem betreffenden Schuldverhältnis steht (z.B. zugleich eine Nicht- oder Schlechterfüllung des Schuldners bedeutet), und dem Schuldner „hypothetisch vorwerfbar“ ist – d. h. ihm selbst zum Verschulden gereichen würde, wäre es sein eigenes Verhalten gewesen. Art. 101 OR ist eine Zurechnungsnorm für Drittverhalten; Haftung stets aus einer selbständigen Anspruchsgrund-lage (z. B. Art. 97 OR bei Schlechterfüllung) in Verbindung mit Art. 101 OR. Art. 399 Abs. 2 ist eine Vorschrift des OR BT zum Auftrag. Sie betrifft den Fall, dass an Stelle des Beauftragten (Vertragsschuldner) ein Dritter (befugtermassen; sonst gilt Abs. 1) auftragsgemässe Handlungen ausführt. Hier haftet der Beauftragte nicht für das Handeln dieses Dritten, sondern lediglich für dessen sorgfältige Auswahl und Instruktion. (Für Hilfspersonen gilt aber auch beim Auftrag Art. 101 OR!)

199

200

Anhang I – Antworten zu den Fragen und Fällen zum Selbststudium

b.

Aus der Perspektive des Geschädigten hat die Haftung nach Art. 101 Vorteile: Während sich der Beauftragte nach Art. 399 Abs. 2 OR durch den Nachweis sorgfältiger Auswahl und Instruktion entlasten (exkulpieren) kann – der Geschädigte ist dann nach Art. 399 Abs. 3 direkt an den Dritten verwiesen –, ist ein solcher Entlastungsbeweis im Fall von Art. 101 nicht möglich. Hier hat der Vertragsschuldner (hypothetische Vorwerfbarkeit vorausgesetzt) für das Handeln der Hilfsperson einzustehen. Das gilt allerdings nur, wenn die Hilfspersonenhaftung nicht gem. Art. 101 Abs. 2 OR zum Voraus beschränkt wurde.

c.

Grundsätzlich ist der Auftrag persönlich auszuführen: Art. 398 Abs. 3 OR. Dort ist auch ersichtlich, wann demgegenüber eine Substitution befugt ist: Wenn der Beauftragte dazu ermächtigt ist; wenn die Umstände es nötig machen; wenn es übungsgemäss als zulässig betrachtet wird. Das ist insbesondere der Fall, wenn im Interesse des Auftraggebers der Auftrag einem besser qualifizierten Dritten übertragen wird.

Fragen und Fälle zur Vertragsverletzung 1.

Schlechterfüllung oder Nichtlieferung (Aliudlieferung) a.

Aliudlieferung: Es wird Ware einer anderen Gattung geliefert als abgemacht war. Merksatz: „Es ist kein Mangel der Gans, dass sie keine Ente ist.“ Die Gans ist nicht eine qualitativ schlechte (mängelbehaftete) Ente, sondern sie ist keine Ente.

b.

Schlechtlieferung: Die Gattung ist korrekt, allerdings stimmt etwas mit der Qualität nicht.

c.

Aliudlieferung: Ein Rembrandt ist kein Picasso.

d.

Schlechtlieferung: Es wurde die richtige Sache geliefert, aber die Qualität ist mangelhaft.

2.

Mit dem Tod von Bon Jovi vor Vertragsschluss liegt eine objektive – d.h. von der Person des Schuldners unabhängige – Leistungsunmöglichkeit vor. Ein Vertrag über ein Ticket für ein Konzert eines bereits verstorbenen Sängers ist nichtig und kann nach Art. 20 OR keine Rechtswirkungen entfalten. Wenn der Tod von Bon Jovi zwischen Vertragsschluss und Konzert eingetreten wäre, würde eine nachträgliche, objektive (Vertrag wurde ja mit dem TicketCorner und nicht mit Bon Jovi selber abgeschlossen) Unmöglichkeit vorliegen und die Forderung würde nach Art. 119 OR als erloschen gelten.

3.

Wenn die Parteien einen bestimmten Verfalltag vereinbart haben, können die Verzugswirkungen auch eintreten, ohne dass der Gläubiger den Schuldner zur Leistung ermahnt hat (vgl. Art. 102 Abs. 2 OR). Ein bestimmter Verfalltag muss sich kalendermässig genau berechnen lassen oder kann sich auch aus einer Kündigung ergeben. Keinen Verfalltag stellen unbestimmte Klauseln wie „Lieferung sobald als möglich“ oder „demnächst“ dar. Von einer Mahnung kann ferner abgesehen werden, wenn sie zwecklos ist, weil bspw. der Schuldner bereits erklärt hat, dass er die Leistung verweigern werde oder wenn sie dem Gläubiger nicht zumutbar ist.

Fragen und Fälle zur Vertragsverletzung

4.

Der Verzug ändert grundsätzlich weder den Inhalt noch die Erfüllbarkeit der Forderung: Der Schuldner darf nach wie vor leisten und der Gläubiger kann die Erfüllung verlangen und sie nötigenfalls einklagen. Mit Verzugseintritt kann der Gläubiger bei Geldschulden Verzugszins fordern (Art. 104 OR). Ist der Verzug dem Verschulden des Schuldners zuzuschreiben, hat dieser zudem dem Gläubiger einen allfälligen Verspätungsschaden zu ersetzen und er haftet für den zufälligen Untergang des Vertragsgegenstandes (Art. 103 OR). Die Pflicht zur Zahlung von Verzugszins besteht unabhängig von dessen Verschulden am Verzug. Für den Verspätungsschaden oder den zufälligen Untergang des Vertragsgegenstandes haftet der Schuldner dem Gläubiger jedoch nur, wenn er den Verzug verschuldet hat.

5.

Die allgemeinen Verzugsfolgen tangieren den Bestand des Vertrages nicht: Der Gläubiger bleibt nach wie vor an den Vertrag gebunden. Mit den speziellen Verzugsfolgen (Art. 107 bis 109 OR) wird dem Gläubiger hingegen die Möglichkeit zugestanden, sich bei wesentlichen, schwerwiegenden Vertragsverletzungen von der Vertragsbindung zu befreien. Dem Gläubiger stehen – nach dem Verstreichen einer angemessenen Nachfrist (ausser in den Fällen von Art. 108 OR) – die drei Gläubigerwahlrechte von Art. 107 OR zur Verfügung. Er kann somit  



auf Erfüllung des Vertrags beharren (Vertrag und beidseitige Leistungspflichten bleiben bestehen); oder auf die Erfüllung verzichten, den Vertrag aber aufrechterhalten (ihm ist das positive Interesse zu ersetzen, d.h. ist er so zu stellen, wie wenn der Vertrag ordnungsgemäss erfüllt worden wäre; zu ersetzen ist damit insbesondere auch ein infolge des Verzugs entgangener Gewinn); oder auf die Erfüllung verzichten und vom Vertrag zurücktreten (ihm ist das negative Interesse zu ersetzen, d.h. er ist so zu stellen, wie wenn der Vertrag gar nie bestanden hätte; zu ersetzen sind z.B. die Kosten, die im Hinblick auf den Vertragsabschluss entstanden sind).

Ferner sind im Besonderen Teil des OR für bestimmte Vertragstypen besondere Verzugsfolgen geregelt. 6.

Rechtsfolgen der Unmöglichkeit: Anfängliche objektive Unmöglichkeit: Vertrag nichtig, Art. 20 OR; allenfalls Schadenersatz aus culpa in contrahendo (u.a. Verschulden notwendig). Ansonsten gilt: Verschuldete Unmöglichkeit: Schadenersatzpflicht, Art. 97 OR. Nicht verschuldete Unmöglichkeit: Die Leistungspflichten entfallen, kein Schadenersatz geschuldet, Art. 119 OR. Zentral ist somit nicht die Abgrenzung zwischen den verschiedenen Unmöglichkeiten, sondern die Frage nach dem Verschulden.

7.

Mit dem Unterlassen der Zahlung zum vereinbarten Zahlungstermin liegt eine pflichtwidrige Nichtleistung von P vor. Zudem ist die Forderung für den Kaufpreis der 10 Flaschen Wein fällig: Die Weinhandlung ist mit dem Eintritt der Fälligkeit berechtigt, die Leistung des Kaufpreises zu fordern. Grundsätzlich müsste, damit die Verzugswirkungen in Gang gesetzt werden, P von der Weinhandlung zur Zahlung gemahnt werden (Art. 102 Abs. 1 OR). Das wäre nicht erforderlich, wenn nach Art. 102 Abs. 2 OR

201

202

Anhang I – Antworten zu den Fragen und Fällen zum Selbststudium

ein Verfalltag vereinbart wäre. Das ist hier aber fraglich; der Termin wird ja einseitig gesetzt. Die Mahnung kann aber bereits in der Rechnungstellung enthalten sein, wenn diese „die unmissverständliche Aufforderung des Gläubigers an den Schuldner, die versprochene Leistung (nunmehr) unverzüglich zu erbringen“ (= Mahnung) zum Ausdruck bringt. Dies ist hier der Fall. Fraglich ist, wie dabei die Fristsetzung zu verstehen ist: Wäre der Schuldner sofort mit Erhalt der Rechnung in Verzug, in der Frist evtl. bereits eine Nachfrist zu sehen? Oder soll damit die Wirkung der Mahnung aufgeschoben werden („dann aber unverzüglich“ statt „jetzt aber unverzüglich“)? Dazu ist sie nach dem Vertrauensprinzip auszulegen. – Im vorliegenden Fall muss der Schuldner offenbar nicht davon ausgehen, schon vor Erhalt von Lieferung und Rechnung zahlen zu müssen, bzw. bei späterer Zahlung bereits Nachteile (Verzugszins) in Kauf nehmen zu müssen. Es ist auch nicht anzunehmen, dass der Gläubiger gleich mit der Rechnungstellung den Verzug und die damit verbundenen nachteiligen Rechtsfolgen für den Schuldner auslösen wollte. Vielmehr wird hier die Fälligkeit der Zahlung bis zum 30. aufgeschoben – die bereits ausgesprochene Mahnung wirkt dann ab diesem Zeit-punkt – als Aufforderung an den Schuldner, die versprochene Leistung dann unverzüglich zu erbringen. P gerät also mit Fristablauf in Verzug, und ab Verzugseintritt kann die Weinhandlung Verzugszins fordern (Art. 104 OR). (Eine Nachfrist ist demnach noch nicht gesetzt.) 8.

Grundsätzlich kann zwischen Fahrniskauf (Art. 184 ff. OR) und Grundstückkauf (Art. 216 ff. OR) unterschieden werden. Beim Fahrniskauf werden weiter Stück- und Gattungskauf unterschieden.

9.

Frau Kunz hat mit dem Händler einen Kaufvertrag abgeschlossen. Es handelt sich nicht um Versendungskauf, denn die Spedition war nicht Teil der vertraglich geschuldeten Leistung. Die Gefahr ging daher mit dem Abschluss des Vertrages auf Frau Kunz über (Art. 185 Abs. 1 OR). Sie muss den Kaufpreis zahlen und erhält zunächst nur die beschädigten Möbel. Diese waren bei Gefahrübergang mangelfrei; Frau Kunz hatte sie besichtigt. Mängelgewährleistung (Art. 197 ff. OR) kommt also nicht in Betracht. Für den Schaden am Spiegel haftet der Händler aus der Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht, Art. 97 OR: Er war zu transportsicherer Verpackung verpflichtet (Nebenpflicht aus dem Kaufvertrag). Dies hatte er seinen Angestellten vornehmen lassen, dessen pflichtwidriges Verhalten er sich nach Art. 101 OR zurechnen lassen muss. Der hierdurch verursachte Schaden ist der Vermögensnachteil durch die Reparaturkosten (Ersatz des Spiegels). Der Händler muss diesen Schaden ersetzen. Der Schaden am Tisch wurde hingegen nicht durch das Verschulden des Händlers verursacht, sondern durch Zufall. Deshalb haftet er auch nicht aus Verletzung einer Nebenpflicht; es bleibt bei der Gefahrtragung. Frau Kunz muss für die Reparatur allein aufkommen.

10.

Antonia hat mit der Firma „Bike Explorer“ einen Werkvertrag geschlossen, denn das Rad sollte für sie auf Mass angefertigt werden (Vertrag auf Arbeitsleistung; dabei Erfolg geschuldet). Die nicht funktionsgerechten Bremsen sind ein Werkmangel (Art. 368 Abs. 1 und 2 OR). Antonia hat das Bike nach der Ablieferung geprüft (Art. 367 Abs. 1 OR); in diesem Zeitpunkt war der Mangel nicht erkennbar (Art. 370 Abs. 1 OR). Sie hat den Mangel sogleich gemeldet, als er zutage trat (Art. 370

Fragen und Fälle zur Beendigung der Leistungspflicht

Abs. 3 OR). Ihr stehen damit die Gewährleistungsansprüche wegen des Werkmangels, bei Verschulden auch Schadenersatz zu (Art. 368 Abs. 1 und 2 OR; auch hier gilt wie bei Art. 97 OR der Grundsatz, wonach bei Nicht- oder Schlechtleistung das Verschulden vermutet wird, also der Leistungsschuldner das Gegenteil zu beweisen hat). Der Werkmangel war zwar nicht unerheblich, hätte sich aber mit verhältnismässigem Aufwand beseitigen lassen (Reparatur oder Ersatz der Bremsen). Antonia Rast standen somit das Minderungs- und das Nachbesserungsrecht zu (Art. 368 Abs. 2 OR). Der Sturz ist die Folge des Werkmangels. Aus dem Sturz erwächst Antonia Rast ein Mangelfolgeschaden, der zum einen den Vermögensausfall für das totalgeschädigte Bike (Kosten für ein neues Bike), zum andern auch Behandlungskosten und Lohnausfall während der Arbeitsunfähigkeit umfasst. Für diesen Schaden kann sie Schadenersatz verlangen. (Für die Exkulpation der „Bike Explorer“ besteht kein Anhaltspunkt.) Das Nachbesserungs- bzw. Minderungsrecht wird hier durch den Anspruch auf Ersatz des Mangelfolgeschadens (soweit er den vollen Ersatz des Bikes betrifft) kompensiert. Aus diesen Ansprüchen kann nicht mehr gefordert werden als der volle Ausgleich des Vermögensnachteils zufolge des Totalschadens.

Fragen und Fälle zur Beendigung der Leistungspflicht 1.

Die Voraussetzungen der Verrechnung sind vor allem: 



Die zwei Forderungen müssen unter denselben Parteien bestehen. Dabei spielt es grundsätzlich keine Rolle, aus welchem Rechtsgrund die Forderungen bestehen. So kann z.B. auch eine Partei die Forderung durch Zession von einem Dritten erhalten haben. Die Forderungen müssen gleichartig sein. In der Praxis beschränkt sich die Verrechnung so auf Geldschulden.

2.

Die Kündigung ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, d.h. sie muss vor Beginn der Kündigungsfrist beim Empfänger eingetroffen sein, damit sie auf den entsprechenden Termin wirksam ist. Der Zugang beim Empfänger (verbunden mit der Möglichkeit, vom Inhalt der Willenserklärung Kenntnis zu nehmen) bildet also generell die Voraussetzung für die Wirksamkeit einer empfangsbedürftigen Willenserklärung. Sofern die Kündigung an die richtige Adresse gesandt wurde, ist der Empfänger dann aber für das Abholen der Post selber verantwortlich; wer eine Willenserklärung abgibt, soll keinen Nachteil erleiden, weil der Adressat die Zustellung vereitelt. Der Adressat ist also im vorliegenden Fall selbst Schuld, wenn er sich über den Inhalt des Briefes nicht in Kenntnis setzt, die Kündigung entfaltet ihre Wirkungen.

3.

Die Verjährung hindert die gerichtliche Durchsetzung einer Forderung, sobald der Schuldner die Einrede der Verjährung erhebt (eine verjährte Forderung ist deshalb eine sog. einredebelastete Forderung). Die Verjährung wird jedoch nicht von Amtes wegen berücksichtigt (dies ist z.B. vor Gericht wichtig: Der Richter weist eine Klage nicht wegen Verjährung der Forderung ab). Wer eine verjährte Forderung bezahlt, hat eine bestehende Forderung beglichen und kann deshalb nichts zurückfordern.

203

204

Anhang I – Antworten zu den Fragen und Fällen zum Selbststudium

Anders sieht es bei der Verwirkung aus: Sie bewirkt den Untergang der Forderung. Wer eine verwirkte Forderung bezahlt, begleicht eine Nichtschuld und kann diese daher zurückfordern. Die Verwirkung ist von Amtes wegen zu beachten (Die Klage auf Erfüllung einer verwirkten Forderung wird vom Gericht abgewiesen). Ob Verjährung oder Verwirkung vorliegt, ist nicht immer einfach zu sagen; der Gesetzestext spricht manchmal (aber selten!) von Verjährung, wo eigentlich Verwirkung gemeint ist.

205

Anhang II – Literaturhinweise Kommentare zu den einzelnen Gesetzesbestimmungen 

      

Basler Kommentar (BSK): Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Obligationenrecht Band I (Art. 1-529 OR), Honsell/Vogt/Wiegand (Hrsg.), 5. Aufl., Basel 2011 Berner Kommentar (BK): Kommentar zum schweizerischen Privatrecht, Stämpfli Verlag, Bern (diverse Bände) Zürcher Kommentar (ZK): Kommentar zum schweizerischen Zivilgesetzbuch, Zürich (diverse Bände) Commentaire romand: Commentaire romand Code des Obligations I (Art. 1-529 CO), Thévenoz/Werro (Hrsg.), 2. Aufl., Basel 2012 Handkommentar (CHK): Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, Amstutz et al. (Hrsg.), 2. Aufl., Zürich 2012. Kurzkommentar (KuKo): Kurzkommentar zum Obligationenrecht, Honsell (Hrsg.), Basel 2014 Präjudizienbuch: Präjudizienbuch OR, Gauch/Aeppli/Stöckli (Hrsg.), 8. Aufl., Zürich 2012 Schweizerisches Privatrecht (SPR): diverse Herausgeber und Bände, Basel

Systematische Darstellungen (Auswahl)                 

Berger, Allgemeines Schuldrecht, 2. Aufl., Bern 2012 Bucher, Schweizerisches Obligationenrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Zürich 1998, Besonderer Teil, 3. Aufl., Zürich 1988 Deschenaux/Tercier, La responsabilité civile, 2. Aufl., Bern 1982. Engel, Traité des obligations en droit suisse, 2. Aufl., Bern 1997 Engel, Contrats de droit suisse, 2. Aufl., Bern 2000 Fellmann/Kottmann, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. I, Bern 2012 Furrer/Müller-Chen, Obligationenrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. Zürich 2012 Gauch/Schluep/Schmid/Emmenegger, Schweizerisches Obligationenrecht Allgemeiner Teil, 2 Bände, 10. Aufl., Zürich 2014 Guhl/Koller/Schnyder/Druey, Das Schweizerische Obligationenrecht mit Einschluss des Handels- und Wertpapierrechts, 9. Aufl., Zürich 2000. Honsell, Schweizerisches Obligationenrecht: Besonderer Teil, 9. Aufl., Bern 2010 Honsell/Isenring/Kessler, Schweizerisches Haftpflichtrecht, 5. Aufl., Zürich 2013 Huguenin, Obligationenrecht Allgemeiner und Besonderer Teil, 2. Aufl., Zürich 2014 Keller, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. I., 6. Aufl., Bern 2002, Bd. II, 2. Aufl., Bern 1999 Koller, Schweizerisches Obligationenrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl., Bern 2009 Kramer/Probst, Obligationenrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Basel 2013 Müller, Contrats de droit suisse, Bern 2012 Müller, Responsabilité civile, Basel 2012

206

            

Müller-Chen/Girsberger/Furrer, Obligationenrecht Besonderer Teil, Zürich 2011 Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. I, 5. Aufl., Zürich 1995, Bd. II/1-3, 4.Aufl., Zürich 1987/1989/1991 Rey, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 4. Aufl., Zürich 2008 Roberto, Haftpflichtrecht, Bern 2013 Schmid/Stöckli, Schweizerisches Obligationenrecht Besonderer Teil, Zürich 2010 Schnyder/Portmann/Müller-Chen, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 2. Aufl., Zürich 2013 Schwenzer, Schweizerisches Obligationenrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl., Bern 2012 Tercier/Favre, Les contrats spéciaux, 4. Aufl., Zürich 2009 Tercier/Pichonnaz, Le droit des obligations, 5. Aufl., Zürich 2012 von Tuhr/Peter, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. I, 3. Aufl., Zürich 1979 von Tuhr/Escher, Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. II, 3. Aufl., Zürich 1974 Weber/Münch (Hrsg.), Haftung und Versicherung, 2. Aufl., Basel 2015 Werro, La résponsabilité civile, 2. Aufl., Bern 2011