bei idiopathischer Skoliose und Scheuermann-Kyphose

Orthopäde 2002 · 31:11-25 © Springer-Verlag 2002 Zum Thema: Krummer Rücken T. Böni1 · K. Min1 · F. Hefti2 1 Orthopädische Universitätsklinik Balgrist...
Author: Otto Waldfogel
35 downloads 3 Views 433KB Size
Orthopäde 2002 · 31:11-25 © Springer-Verlag 2002

Zum Thema: Krummer Rücken T. Böni1 · K. Min1 · F. Hefti2 1 Orthopädische Universitätsklinik Balgrist,Zürich 2 Kinderorthopädische Universitätsklinik Basel

Idiopathische Skoliose und Scheuermann-Kyphose Historische und aktuelle Aspekte der konservativen Behandlung

Zusammenfassung Obwohl seit der Antike praktiziert, ist die konservative Behandlung von Wirbelsäulendeformitäten bis auf den heutigen Tag umstritten.Am Beispiel der idiopathischen Skoliose und der Scheuermann-Kyphose wird die historische Entwicklung der konservativen Therapie unter besonderer Berücksichtigung der Orthetik und Physiotherapie dargestellt.Es ist dabei erstaunlich, wie früh bereits wesentliche und noch heute gültige Prinzipien konservativer Behandlung erarbeitet wurden und wie viele der modernen Behandlungskonzepte schon im 19.Jahrhundert beachtliche Vorläufer aufweisen. Anhand der bisherigen Erkenntnisse und eigener Erfahrungen werden Indikation, Durchführung und realistische Möglichkeiten der aktuellen konservativen Behandlung bei idiopathischer Skoliose und Scheuermann-Kyphose aufgezeigt. Schlüsselwörter Wirbelsäule · Idiopathische Skoliose · Scheuermann-Kyphose · Spontanverlauf · Konservative Therapie · Korsettbehandlung · Medizingeschichte

Konservative Behandlung der idiopathischen Skoliose Die Wirksamkeit der konservativen Behandlungsmaßnahmen bei der idiopathischen Skoliose ist nicht erst in jüngster Zeit Gegenstand heftiger Diskussionen. Nicht einmal das Korsett als tragender Pfeiler der konservativen Skoliosebehandlung ist davon ausgenommen. Bereits 1908 hat Alfred Schanz (1868– 1931) – ein führender Vertreter der deutschen Orthopädietechnik – diesen Sachverhalt angesprochen und zu erklären versucht:„Wenn man die Geschichte dieser Skoliose studiert, so sieht man, dass der orthopädische Apparat seit langer Zeit eine große Rolle spielt. Es sind im Laufe der Zeit eine Unzahl von Konstruktionen gegeben worden mit Variationen in allen nur erdenklichen Richtungen. Trotzdem sind die Orthopäden niemals zu einer einheitlichen Wertschätzung dieser Apparate gekommen. Man findet vielmehr zu allen Zeiten Diskussionen über die Zweckmäßigkeit der Apparate in der Skoliosetherapie überhaupt, und ebensolche Diskussionen über die einzelnen Apparate. Die Ursache für diese ganz auffällige Erscheinung liegt darin, daß man die ganze Frage nicht systematisch angegriffen hat, sondern daß man immer nur aus einzelnen Beobachtungen einzelnen Versuchen und einzelnen Resultaten verallgemeinernde Schlüsse zog. So mußte man nach den Zufallsverschiedenheiten der

Grundlagen zu verschiedenen Folgerungen gelangen“ [69]. Verstand Schanz unter systematisch, „daß man aus der Pathologie der Skoliose die allgemeinen Indikationen ableitet und daß man sich fragt, … wie weit diese mit den Hilfsmitteln der orthopädischen Technik zu lösen sind“ [69] und nicht etwa – wie heutzutage gefordert – ein die Kriterien der Evidence Based Medicine (EBM) erfüllendes Studienkonzept – so hat seine Forderung nach einer systematischen Klärung der Zweckmäßigkeit von Korsettbehandlungen nichts an Aktualität eingebüßt [22]. Was für die Korsettbehandlung zutrifft, gilt in noch weit ausgeprägterem Maße für die krankengymnastische Skoliosetherapie. Hier fehlen systematische Studien weitgehend. Einzig über die Elektrostimulation konnte in der Zwischenzeit Klarheit gewonnen werden, sie hat sich nicht als wirksam erwiesen.

Historische Entwicklung der krankengymnastischen Skoliosetherapie Die in der Antike zur Ausbildung eines wohlgeformten und gesunden Körpers gepflegte Gymnastik wurde bereits im Vorfeld der Aufklärung von Nicolas An-

Dr.Thomas Böni Orthopädische Universitätsklinik Balgrist, Forchstraße 340, CH-8008 Zürich, Schweiz Der Orthopäde 1•2002

| 11

Orthopäde 2002 · 31:11-25 © Springer-Verlag 2002

Zum Thema: Krummer Rücken

T. Böni · K. Min · F. Hefti Idiopathic scoliosis and Scheuermann's kyphosis. Historical aspects and current trends in the nonoperative treatment Abstract Although in practice since antiquity the nonoperative treatment of spinal deformities is still controversial.Giving preference to orthotic treatment and physiotherapy the historical development of nonoperative treatment will be demonstrated by the examples of idiopathic scoliosis and Scheuermann's kyphosis.It is surprising how early essential and still valuable principles of nonoperative treatment had been acquired and how many of the present-day concepts have remarkable forerunners in the 19th century. In the light of previous knowledge and personal experience the indication, practice and realistic capabilities of modern nonoperative treatment of idiopathic scoliosis and Scheuermann's kyphosis are pointed out. Keywords Spine · Idiopathic scoliosis · Scheuermann's kyphosis · Natural history · Nonoperative treatment · Orthotic treatment · Medical history

12 |

Der Orthopäde 1•2002

Abb.1  Um die Jahrhundertwende prägte die „Medico-Mechanik“ das Bild der Skoliosebehandlung. Hier die Ansicht des großen Übungssaales der Anstalt Balgrist in Zürich mit ihrer Abteilung für redressierende Bewegungsapparate.Wilhelm Schulthess (1855–1917), der Begründer der Klinik, hat die meisten der hier abgebildeten – heute nicht mehr erhaltenen – aktiven und passiven Bewegungsapparate selbst entwickelt (Archiv Balgrist)

dry (1658–1742) zur Vorbeugung und Behandlung von Körperdeformitäten empfohlen [4]. Die angegebenen Übungen zielten eher auf eine allgemeine Kräftigung und Haltungskorrektur und dürfen noch nicht als spezifische Skoliosegymnastik angesprochen werden. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts finden wir Hinweise für eine gezielte krankengymnastische Behandlung der idiopathischen Skoliose. John Shaw (1791–1827) hielt regelmäßig und korrekt ausgeführte Krankengymnastik für die wirksamste Behandlungsmethode bei leichten Skoliosen. Bei ausgeprägteren Deformitäten sei sie zwar noch immer nützlich, eine Heilung könne aber nicht mehr bewirkt werden [75]. Charles Gabriel Pravaz (1791–1853) verhalf der Krankengymnastik zu einem festen Platz in der Skoliosebehandlung und entwickelte dazu spezielle Behandlungsgeräte [63]. Jacques-Mathieu Delpech (1777–1832), [20] und Guillaume Jalade-Lafond (1805), [44] gaben hilfreiche Illustrationen für die Durchführung der empfohlenen Skolioseübungen. Einen maßgeblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Skoliosegymnastik übte Pehr Hendrick Ling (1776–1839), der Begründer der auf mechanische Hilfsmittel verzichtenden schwedischen Heilgymnastik, mit seinen unter Anleitung des Arztes oder Krankengymnasten ausgeführten „Widerstandsbewegungen“ aus. H.W. Berend, Moritz Michael Eulenburg (1811–1887), George H. Taylor (1821–1896) und Mathias Roth (1819–1891) machten

sich um die Verbreitung und Weiterentwicklung des Lingschen Systems verdient. Mit Jonas Gustav Wilhelm Zander (1835–1920), dem Begründer der Medico-Mechanik, nahm die apparative Behandlung Einzug in die Skoliosegymnastik. Seine verschiedenen, nach wissenschaftlichen Prinzipien entwickelten Apparate ermöglichten es ihm, in seinem Institut mehrere Skoliosepatienten gleichzeitig zu behandeln. Zahlreiche, z. T. hochdifferenzierte Apparate zur aktiven und passiven Skoliosetherapie wurden um die Jahrhundertwende von August Ludwig Karl Wullstein (1864– 1930), [88] und Wilhelm Schulthess (1855–1917), [73] entwickelt. Die in Präzisionsarbeit ausgeführten redressierenden Bewegungsapparate mit ihren Skalen gestatteten dem Hilfspersonal im Übungssaal (Abb. 1), ohne großen Zeitaufwand die individuelle Ausgangsposition für jeden Skoliosepatienten einzustellen. Sie erlaubten die Durchführung gezielter aktiver bzw. passiver, isometrischer bzw. nicht isometrischer Widerstandsbewegungen in eng umschriebenen Wirbelsäulenabschnitten. Die aufwendige und kostenintensive maschinelle Orthopädie konnte sich in der Skoliosegymnastik nicht dauerhaft durchsetzen. Die einfache aktive Skoliosegymnastik konnte ihr Feld behaupten. Die „selbsttätige Redressionsbehandlung“ der Skoliose wurde erstmals von Adolf Lorenz (1854–1946) in seiner 1886 erschienen Monographie „Pathologie und Therapie der seitlichen Rückgratsverkrümmung (Scoliosis)“

Abb.2  Ambroise Paré (1500–1590), dem wohl bedeutendsten französischen Chirurgen der Renaissance, verdanken wir die erste Abbildung eines Skoliosekorsetts. Sein „Corselet pour dresser un corps tortu“ ist aus dünnem Eisen gefertigt und, um es leichter zu machen, mit Löchern versehen. Er legte Wert darauf, dass das Korsett gut angepasst und gepolstert wird, um nicht zu verletzen und verlangte, dass es im Wachstumschub alle 3 Monate gewechselt werden soll, um nicht zu schaden [60]

[50] propagiert und 1905 von Albert Hoffa (1859–1907) wieder aufgenommen.Auch die passive manuelle Redressionsbehandlung der Skoliose geht auf Lorenz zurück und wurde von Hoffa in Form der „Umkrümmungsübungen“ weitergeführt. Einen anderen Weg in der Skoliosegymnastik beschritt Rudolf Klapp (1873–1949) mit dem nach ihm benannten „Kriechverfahren“ [46], das ursprünglich zur Mobilisierung versteifter Skoliosen gedacht war und durch die Ausübung im Kreis mit Tiefer- und Höherstellen einzelner Extremitäten eine asymmetrische Kräftigung der Rückenmuskulatur und eine Torsionswirkung auf die Wirbelsäule anstrebte. Die an Erfindungen überaus reiche und maßgeblich von Ärzten getragene Phase der Skoliosegymnastik um die Jahrhundertwende machte unter dem Einfluss der Röntgendiagnostik einer zunehmenden Ernüchterung und Resignation Platz. Die krankengymnastische Behandlung wurde nun zunehmend nichtärztlichen Therapeuten überlassen und von diesen zu mehr oder weniger geschlossenen Systemen ausgebaut. Auf Moritz Hermann Gocht (1869–1938) und seine noch in Schweden ausgebildete Krankengymnastin Frau Gessner gehen die vor dem Zweiten Weltkrieg in der Berliner Charité entwickelten, damals nicht publizierten „Korrekturübungen nach Gocht-Gessner“ zurück. Das Prinzip wurde von den Krankengymnastinnen Hilda Mater und Heidi Martens weiterentwickelt und erst 1999 von der Phy-

siotherapeutin Edeltraud Dieffenbach einer breiteren medizinischen Oeffentlichkeit zugänglich gemacht [23]. Auch das von Luise und Egon von Niederhöffer [58] entwickelte Behandlungskonzept gründet, wie dasjenige von GochtGessner, in der schwedischen Heilgymnastik. Als Behandlungsansatz wurde die konkavseitige, als überdehnt und schwächer beurteilte „Quermuskulatur“ aufgefasst, die es durch gezielte isometrische Übungen anzugehen galt. Dieses Konzept wurde in der Folge von E. Becker [8] weiter ausgebaut. Ebenfalls ein eigenständiges krankengymnastisches Skoliosetherapiekonzept entwickelte Martha Scharll nach dem Zweiten Weltkrieg in München [70]. Sie löste sich vom nicht erreichbaren Behandlungsziel der Krümmungskorrektur und strebte einen befundorientierten Ausgleich der seitenungleichen Haltungs- und Bewegungsmuster an. Ihr Behandlungskonzept wurde vom Arzt Michael Weber und der Krankengymnastin Susanne Hirsch weiterentwickelt und ausgebaut [81]. Wohl am bekanntesten im deutschsprachigen Raum wurde die von Katharina Schroth (1894–1985) 1924 erstmals mitgeteilte „Atmungs-Orthopädie Original Schroth“. Bereits der Titel ihrer Erstveröffentlichung „Die Atmungs-Kur – Leitfaden zur Lungengymnastik“ [72] weist auf die zentrale Rolle der Atmung bei der Skoliosegymnastik hin. Durch den „Dreh-Atem“, das gezielte konkavseitige Einatmen ins Rippental, gelingt eine aktive Selbstkorrektur der skolioti-

schen Fehlhaltung, d. h. des noch beweglichen Anteils der seitlichen bzw. rotatorischen Deformität. Die Schroth-Therapie wurde stetig, zuerst durch Katharina Schroth selbst, später durch ihre Tochter Christa Lehnert-Schroth [48] und ihren Enkel, den Arzt Hans-Rudolf Weiss, weiterentwickelt. Sie versteht sich heute als dreidimensionale Skoliosebehandlung, die auf sensomotorischen und kinästhetischen Prinzipien beruht. Das Behandlungsprogramm beinhaltet die Korrektur der skoliotischen Haltung und die Korrektur des skoliotischen Atemmusters unter Zuhilfenahme von propriozeptiven und exterozeptiven Reizen sowie der Spiegelkontrolle. Das aus zahlreichen – wie in der modernen Korsettbehandlung – mit der Beckeneinstellung beginnenden Übungen bestehende Therapiesystem ist systematisch aufgebaut und verfügt über eine eigene Nomenklatur. Die Erlernung der später selbständig durchführbaren Schroth-Therapie erfolgt ambulant oder stationär unter Anleitung von speziell dafür ausgebildeten Physiotherapeutinnen. Neben Motivation, Disziplin, einem Mindestmaß an intellektuellen Fähigkeiten sowie der Bereitschaft, ein Gefühl für den eigenen Körper zu entwickeln,stellt die Eigenverantwortlichkeit des Skoliosepatienten eine wichtige Voraussetzung für diese Therapie dar. Sie kann auch in einem geeigneten Korsett (CTM, CBW), durch Atmen in die Freiräume hinein, ausgeführt werden. Neben diesen klassischen kranken gymnastischen Übungssystemen (Schroth, Gocht-Gessner, v. Niederhöffer, Scharll) kommen auch die in Anlehnung an die entwicklungskinesiologische Therapie von Vaclav Vojta [79] durch P. Hanke [33] enwickelte E-Technik (Reflexkriechen, Reflexumdrehen) sowie die PNF (propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation), [77] bei der idiopathischen Skoliose zur Anwendung. Diese Verfahren zielen auf eine reflektorische Anbahnung bzw. Aktivierung korrigierender – neuer oder verlorengegangener – Bewegungsmuster und sind weitestgehend auf die Mitarbeit des Therapeuten angewiesen.

Historische Entwicklung der Korsett- und Gipsbehandlung In der medizinischen Literatur der Antike und Spätantike suchen wir vergeblich Der Orthopäde 1•2002

| 13

Zum Thema: Krummer Rücken

Abb.3  a Jean André Venel (1740–1791), hier im Alter von 50 Jahren, gründete 1780 das erste orthopädische Spital der Welt in Orbe (Schweiz) und bot seinen Skoliosepatienten ein umfassendes Behandlungskonzept (Physiotherapie, Korsett, Streckbett), (Stich von Wilhelm Bock). b Venel's „appareil du jour“ verfügte als erstes Skoliosekorsett neben Mechanismen für die Extension und Translation über eine spezielle Vorrichtung zur Derotation [78]. c Einziges erhalten gebliebenes, wahrscheinlich auf Venel's Nachfolger und Neffe Pierre Frédéric Jaccard (1768–1820) zurückgehendes „Corset redresseur“ mit dem in der Mitte des Korsetts angebrachten Derotationsmechanismus (Medizinhistorisches Museum der Universität Zürich). d Nicht nur das Prinzip der Derotation geht auf Venel zurück, mit seinem „lit à extension“ schuf er auch das erste Streckbett zur Skoliosebehandlung [78]

nach Hinweisen auf Rumpforthesen zur Skoliosebehandlung. Einzig bei Paulos von Aegina (7. Jahrhundert) werden in Lib. VI Cap. 117 „Über die Wirbel des Rückgrats“ [61] gepolsterte Latten und eine Bleiplatte im Zusammenhang mit der Skoliose erwähnt: „dass man bei Skoliose ähnlich wie bei Lordose und Kyphose eine Zusammenschnürung und eine Zusammenpassung bewerkstelligen und alsdann Holzlatten, drei Finger breit, etwas länger als die Länge der Verkrümmung beträgt, mit Leinen und Werg gepolstert auf die Wirbel legen und zweckentsprechend festbinden könne. Man gebe eine leichte Nahrung. Wenn dennoch Spuren des Buckels zu-

14 |

Der Orthopäde 1•2002

rückbleiben, so soll man lange Zeit erschlaffende und erweichende Umschläge zugleich mit den angedrückten Latten anwenden. Einige haben auch eine Platte von Blei in Anwendung gezogen.“ Aus dem Sinnzusammenhang der Textstelle ist jedoch unter Skoliose eher eine infolge plötzlicher Gewalteinwirkung entstandene Seitverkrümmung als eine Deformität zu verstehen. Dies entspricht durchaus der hippokratischen Tradition, in der die seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule bei den Verrenkungen abgehandelt wird. Für die medizinischen Autoren des Mittelalters ist die orthetische Behandlung der Skoliose kein Thema. Erst in der Neuzeit, und mit kei-

nem Geringeren als Ambroise Paré (1500–1590), findet das Korsett Eingang in die Behandlung der Wirbelsäulendeformitäten. Im 17. Buch seiner Chirurgie (1575/1579), [60], das den „Behelfen und Kunstgebilden zum Ausgleich natürlicher oder durch Unfall entstandener Mängel“ gewidmet ist, handelt das 8. Kapitel „Von denjenigen die verkrümmt sind und ein verbogenes Rückgrat haben“. Für die Behandlung der – hauptsächlich bei Mädchen zu beobachtenden – seitlichen Verbiegung der Wirbelsäule in Form des Buchstabens S empfiehlt er sein „Korsett um einen krummen Körper aufzurichten“ (Abb. 2): „Um ein solches Gebrechen wiederherzustellen

Abb.4  a Der Wunsch nach einer flexiblen Skolioseorthese ist alt. Im 19. Jahrhundert wurden bereits zahlreiche Lösungsvorschäge vorgelegt wie die abgebildete, von Barwell 1877 in London angegebene und nach ihm benannte „dorso lumbar bandage“ [29]. b Die moderne flexible Skolioseorthese von Rivard und Coillard (SpineCor, Fa. Biorthex) knüpft an die Tradition der im 19. Jahrundert entwickelten Skoliosebandage von Barwell, Sayre und Fischer an (Fa. Biorthex)

oder zu verbergen, läßt man Korsette aus dünnem Eisen tragen, die mit Löchern versehen sind, damit sie nicht zu schwer wiegen und die so gut angepaßt und gepolstert sind, daß sie keineswegs verletzen: diese sollen oftmals gewechselt werden und bei denen die wachsen, müssen sie alle drei Monate gewechselt werden, mehr oder weniger, sowie man sieht, dass es nötig ist: weil andernfalls, anstelle dass man etwas Gutes tut, tut man etwas Schlechtes“ [60]. Die von Francis Glisson (1597–1677) in „De rachitide“ (1650) angegebene Schwinge oder Schwebe („English swing“,„escarpolette anglaise“) zur korrigierenden Extensionsbehandlung der rachitischen Skoliose [31] wurde später zum festen Bestandteil verschiedener Apparate zur Behandlung der idiopathischen Skoliose. Jean-André Venel (1740– 1791), (Abb. 3a), der 1780 die erste orthopädische Klinik der Welt in Orbe (Schweiz) gründete, gelang in seiner „Description de plusieurs nouveaux moyens mécaniques, propres à prévenir, borner et même corriger, dans certains cas, les corbures latérales et la torsion de l'épine du dos“ (1788), [78] ein konzeptioneller Durchbruch in der Korsettkonstruktion. Sein Korsett („appareil du jour“), (s. Abb. 3b, c) verfügte, neben einer Extensionsvorrichtung für den Kopf und die Axillen sowie translatorisch wirkenden Pelotten, erstmals über einen in

die letzteren integrierten Derotationsmechanismus zur Korrektur der Torsion (s. Abb. 3d). Venel [78] darf zu Recht als Vater des Derotationsgedankens in der Skoliosenbehandlung bezeichnet werden. Er war der festen Überzeugung, dass die Skoliosebehandlung keine Unterbrechung dulde und entwickelte deswegen das erste Streckbett („lit à extension“) zur Skoliosebehandlung, seinen „appareil de nuit“. Mit seinem Korsett und Streckbett, stets ergänzt durch Bewegungsübungen und passive Applikationen, erzielte Venel für seine Zeit beachtliche Resultate. Kaum mehr zu überblicken sind die im 19. Jahrhundert vorgeschlagenen Korsette und portablen Apparate zur Skoliosebehandlung. Neben heute grotesk anmutenden Konstruktionen, wie dem Apparat von Brown (1848), [29], finden sich textile und semirigide Orthesen – wie die Bandagen von Barwell (1877,) [29], (Abb. 4a) oder den Apparat von Dürst (1857), [29] – die durchaus als Vorläufer der heute wieder auf großes Interesse stoßenden dynamischen Skolioseorthesen, wie dem „Dynamic Brace“ von Rivard und Coillard (SpineCor, Fa. Biorthex), (s. Abb. 4b) oder der dynamischen Skolioseorthese in offener Rahmenkonstruktion nach Veldhuizen (TriaC, Fa. Sporlastic), bezeichnet werden dürfen.

Nach der Erfindung der Gipsbinde durch Antonius Mathysen (1805–1878) im Jahre 1851, fand die Gipstechnik noch im gleichen Jahrhundert Eingang in die Skoliosebehandlung. Zu den Pionieren des redressierenden Gipsverbandes zählen neben Lewis Albert Sayre (1820– 1900), der den Gips im Stehen unter Extension (Glisson- und Achselschlinge) 1877 [68] anlegte, Alfred Schanz (1868– 1931), der den Seriengips einführte, August Ludwig Karl Wullstein (1864–1930), der 1902 einen speziellen Behelf zum Anlegen des Gipses im Sitzen (Wullstein-Apparat) entwickelte und Edville Gerhardt Abbott (1870–1938), der das Anlegen des Gipses im Liegen in einem eigens dazu entwickelten Rahmengestell (Abbott-Tisch) 1911 [1] bevorzugte. Der „turnbuckle cast“ (Umkrümmungs-Quengelgips) wurde 1924 von Robert Williamson Lovett (1859–1924) und Brewster und erneut 1953 von Risser [66] empfohlen. Die Idee des seriellen Gipses wurde 1948 von von Lackum [80] mit dem „surcingle cast“, 1958 von Risser mit seinem „localizer cast“,einer Weiterentwicklung des „turnbuckle cast“, mit zusätzlichem lateralem Druck zur Redression, und 1964 von Yves Cotrel [54] mit seinem „plâtre EDF“ (Extensions-DerotationsFlexions-Gips) wieder aufgenommen. 1958 schlugen Stagnara u. Perdriolle [76] den „plâtre à tendeurs“, den sogenannten Extensions-Quengel-Gips, vor. Durch eine Spindel ermöglichte er eine kontinuierliche Streckung und Umbiegung der Wirbelsäule. Die moderne Korsettbehandlung wurde von Blount und Schmidt mit dem erstmals 1946 für die postoperative Stabilisation entwickelten Milwaukee-Korsett eingeleitet. In den 50er Jahren fand es dann Eingang in die konservative Skoliosebehandlung [11]. Das auf einer Beckenfassung mit deutlicher Bauchpresse zur Extension und Entlordosierung aufbauende Milwaukee-Korsett kombiniert die ursprünglich passive distrahierende – später aktive extendierende – Wirkung eines Halsrings (Kinnanlage, Okzipitalpelotte) mit der redressierenden Wirkung von lumbalen und thorakalen Pelotten bzw.Achselschlingen. Durch den Halsring ist es als einziges Skoliosekorsett für die Behandlung von idiopathischen hochthorakalen Skoliosen (Skoliosescheitel höher als Th6) geeignet. 1950 stellte Stagnara das Lyoner-Korsett vor. Die auch als Stagnara-Korsett bezeichnete SkolioDer Orthopäde 1•2002

| 15

Zum Thema: Krummer Rücken seorthese verfügt über eine Bauchpresse zur Extension sowie neben Freiräumen über großflächige Druckpelotten zur Translation und Derotation. Da die Freiräume nicht konsequent gegenüber den Druckpelotten angebracht sind, übt dieses Korsett teilweise eine komprimierende Wirkung aus und gestattet kein aktives Ausweichen in die Freiräume hinein. In den 70er Jahren entwickelten Hall, Watts und Miller am Boston Children's Hospital das Boston-Korsett als vorwiegend derotierende, in verschiedenen Größen erhältliche, vorgefertigte Modulorthese [32]. Neben einer Bauchpresse zur Extension werden einklebbare Pelotten zur Derotation und Translation eingesetzt. Die Möglichkeit der Schaffung von Freiräumen gegenüber den Pelotten ist beschränkt. 1970 stellte Chêneau erstmals ein aktives Skoliosekorsett vor. Er verzichtete dabei auf eine ausgeprägte Bauchpresse zur Extension und Delordosierung der Lendenwirbelsäule und betonte die Schaffung von Freiräumen für die aktive Wegbewegung von den Druckpelotten. Dieses Korsett, von Chêneau bis auf den heutigen Tag ständig weiterentwickelt, fand als CTM (ChêneauToulouse-Münster)-Korsett Verbreitung und wurde seither wiederholt modifiziert (Rahmouni, Rigo, Weiss). 1982/83 versuchten Eichler und Rexing [26] die Prinzipien von Chêneau mit denjenigen des Boston-Korsetts zu verbinden und entwickelten das CBW (Chêneau-Boston-Wiesbaden)-Korsett. Neben einer individuellen Bauchpresse, dorsalem Verschluss und zusätzlich einklebbaren Druckpelotten zur Derotation und Translation (Boston), verfügt es über konsequent gegenüber den Pelotten angebrachte Freiräume zur aktiven Korrektur (Chêneau) und legt besonderes Gewicht auf die Einstellung des sagittalen Profils. Weniger Verbreitung in Europa fand das in den 70er Jahren von Bunnell am Wilmington Children’s Hospital in Delaware entwickelte Wilmington-Korsett [16].Das Korsett wird nach einem in korrigierter Stellung im Cotrel- bzw. Risser-Rahmen abgenommenen Gipsabdruck gefertigt. Starke Extension, Derotation und Kompression bewirken eine passive Korrektur, Freiräume fehlen gänzlich. Als Alternative zu den bisher angeführten Ganztagskorsetten, entwickelten Reed u. Hooper seit 1978 den CharlestonBending-Brace (CBB) als Nachtorthese.

16 |

Der Orthopäde 1•2002

Angestrebt wird eine massive Korrektur (75%), wenn möglich gar eine Überkorrektur der Primärkrümmung durch Fixierung in Seitneigung (Bending). Derotierende Pelotten oder Freiräume sind nicht vorgesehen, auf die Gefahr einer Zunahme von Sekundärkrümmungen muss besonders geachtet werden.

Historische Entwicklung der Elektrostimulation Bereits 1856 berichtete X. Seiler [74] über seine in Paris durchgeführten Behandlungen von Wirbelsäulendeformitäten mit galvanischem Strom. Nachdem es Olsen et al. [59] um die Mitte der 70er Jahre gelang, durch elektrische Stimulation implantierter Elektroden im Tierversuch Skoliosen zu erzeugen und zu korrigieren, stellten 1979 Bobechko et al. [12] ein implantierbares System für den Einsatz am Menschen vor. Wegen zahlreicher technischer Probleme fand es keine weitere Verbreitung. Erst die Entwicklung seitlicher transkutaner Elektrostimulation in den 80er Jahren durch Axelgaard u. Brown [6] und Mc Cullough [52], welche eine aktive Kontraktion der konvexseitigen Rumpfmuskulatur durch konvexseitiges Anbringen der Elektroden am oberen und unteren Ende der Hauptkrümmung bewirkte, löste einen regelrechten Boom der Elektrotherapie in der Skoliosebehandlung aus. Die Behandlung wurde nach mehreren Multicenterstudien von der FDA zugelassen. Bereits 1987 erfolgten jedoch erste Meldungen über Therapieversager und die Methode geriet rasch in Misskredit.

Aktuelle konservative Behandlung der idiopathischen Skoliose Die primären Ziele der konservativen Behandlung umfassen die: ● ● ●

Verlangsamung der Progredienz, Verhinderung der Progredienz, Korrektur der bestehenden Krümmung (Initialkorrektur, Langzeitkorrektur).

Zum Erreichen der primären Behandlungsziele stehen folgende konservative Behandlungsmaßnahmen zur Diskussion: ●

krankengymnastische Skoliosetherapie (Physiotherapie),

● ●

Korsett- bzw. Gipsbehandlung, (Elektrostimulation).

Aktuelle krankengymnastische Skoliosetherapie (Physiotherapie) Ungezielte physiotherapeutische Maßnahmen haben heute keinen Platz mehr in der konservativen Skoliosebehandlung. Korrektur-, Aufbau- und Atemübungen sollen individuell, d. h. befundorientiert, für jeden Skoliosepatienten festgelegt und systematisch erlernt werden. Für die moderne krankengymnastische Skoliosetherapie ist die Korsettbehandlung integraler Bestandteil des konservativen Behandlungskonzepts. Sie trägt diesem Umstand durch die krankengymnastischen Übungen im Korsett Rechnung. Es stehen heute verschiedene spezifische krankengymnastische Skoliosebehandlungskonzepte zur Verfügung, die diese Anforderungen erfüllen: ●











Skoliosetherapie nach Schroth (Weiterentwicklung nach LehnertSchroth [48] und Weiss/Rigo [82]), Skoliosetherapie nach GochtGessner (Weiterentwicklung nach Dieffenbach [23]), Skoliosetherapie nach Scharll (Weiterentwicklung nach Weber u. Hirsch [81]), Skoliosetherapie nach v. Niederhöffer [58], Skoliosetherapie auf entwicklungskinesiologischer Grundlage (E-Technik) nach Hanke [33], Skoliosetherapie auf sensomotorisch-kinästhetischer Grundlage (PNF-Technik= propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation), [77].

Die krankengymnastische Behandlung der idiopathischen Skoliose stellt hohe Anforderungen an den Therapeuten und erfordert deshalb eine spezielle Ausbildung und Erfahrung in den angeführten Behandlungsmethoden. Auch vom Patienten wird bei der Erlernung und bei der konsequenten selbständigen Fortführung dieser Skoliosetherapien ein hoher Einsatz erwartet. Er ist nur durch Disziplin und Übernahme von Selbstverantwortung zu leisten. Ist die Diagnose einer idiopathischen Skoliose gestellt, hat u. E. die Physiotherapie bei den nachstehenden Indikationen ihren festen Platz im konservativen Therapieplan.

nahmen (Korsett, Operation) verpasst wird.

Aktuelle Skoliosekorsettund Gipsbehandlung Die Korsett- bzw. Gipsbehandlung ist die einzige nicht operative Skolioseherapie, für die ein wissenschaftlicher Wirksamkeitsnachweis vorliegt. Die Wirksamkeit der Korsett- bzw. Gipsbehandlung hängt von folgenden Faktoren ab: ●





Abb.5  a Modernes Derotations- und Translationskorsett mit kompensatorischen Freiräumen (1 dorsale Derotationsanlage mit zusätzlich kyphosierender Wirkung, 2 ventrale Stabilisierungspelotte, medial des Humeruskopfes, 3 laterale Achselanlage, 4 dorsolaterale Thorakalpelotte, 5 ventrale Derotationspelotte, 6 ventrale untere Sternalpelotte, 7 lumbale Derotationspelotte, 8 asymmetrische Bauchpresse, 9 Glutealanlage, 10 Trochanteranlage), (Balgrist Tec). b Gleiche Orthese wie in a am Patienten. Man beachte die Freiräume links thorakal und rechts lumbal sowie das korrekte Körperlot in der Frontalebene (Balgrist Tec)

Indikation zur krankengymnastischen Skoliosetherapie ●



● ●







Verbesserung der skoliotischen Haltung und der allgemeinen Körperhaltung, Kräftigung der Rumpf- und Körpermuskulatur, Entlordosierung, Verbesserung der Herz-Kreislaufund Lungenfunktion, Förderung des Körper- und Selbstbewusstseins, Entwicklung einer positiven Krankheitseinstellung, Unterstützung und Überwachung einer Korsettbehandlung, Schmerzbehandlung.

Resultate der krankengymnastischen Skoliosetherapie Die Krankengymnastik als alleinige konservative Behandlungsmaßnahme vermag die Progression der Skoliose nicht zu verhindern und schon gar nicht

die Skoliose langfristig zu korrigieren. Dies ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die Einwirkungszeit der aktiven und passiven korrigierenden Kräfte bei der Physiotherapie viel zu kurz ist. Klassische Skoliosetherapien, wie die dreidimensionale Skoliosebehandlung nach Schroth, sind bei sehr intensiver Anwendung kurzfristig wirksam, z. B. während eines mehrwöchigen stationären Aufenthalts (mit mehreren Stunden Therapie täglich), die Progredienz geht aber nach Beendigung der Intensivtherapie weiter. Es sind uns keine gut dokumentierten Studien bekannt, die die Wirksamkeit der Physiotherapie zur Verhinderung der Progredienz der Skoliose belegen. Einzelne Studien stellen hingegen die Wirkung der Physiotherapie generell in Frage [17, 30]. Es ist daher sorgfältig darauf zu achten, dass durch die ausschließliche Anwendung der Skoliosegymnastik nicht der Zeitpunkt zur Indikation anderer, effektiverer Behandlungsmaß-

Deformierende Kraft – abhängig vom: – Wachstumspotential der Wirbelsäule, – Ausmaß der Deformität; Flexibilität bzw. Rigidität der Wirbelsäule; angewandte korrigierende Kraft – abhängig von: – Stärke, – Ort, – Richtung, – Zeitdauer.

Bei ausgeprägten Krümmungen (CobbWinkel >55°) ist die Extension wirksamer als die Translation.

Funktionsweise moderner Skoliosekorsette Bei modernen Skoliosekorsetten bzw. -gipsen kommen – häufig kombiniert – folgende 4 Wirkprinzipien zur Anwendung: ●







Extension (aktiv/passiv): mittels Halsring und Bauchpresse (z. B. Milwaukee-Korsett; Extensions-SpindelGips nach Stagnara); Translation (aktiv/passiv): durch seitliche Druckpelotten nach dem 3Punkte-Prinzip und korrespondierenden Freiräumen [z. B. Chêneau (CTM/CBW)-Korsett, Boston-Korsett]; Derotation (aktiv/passiv): durch dorsale bzw. ventrale Druckpelotten in der gleichen Transversalebene und korrespondierenden Freiräumen [z. B. Chêneau (CTM/CBW)-Korsett, Boston-Korsett (Freiräume beschränkt)]; Kompression: ohne oder mit ungenügenden aktiven oder passiven Ausweichmöglichkeiten in entsprechende Freiräume (z. B. WilmingtonDer Orthopäde 1•2002

| 17

Zum Thema: Krummer Rücken



Korsett, Lyoner- bzw. StagnaraKorsett, Cotrel-Gips); passive Umkrümmung des Rumpfes zur Gegenseite: durch Überkorrektur [z. B. Charleston-Bending-Brace; Umkrümmungsgips (turnbucklecast) nach Risser].

Das Milwaukee-Korsett war primär als passiv extendierendes Korsett konzipiert [11]. Ein Halsring mit Kinn- und Nackenanlage war durch einen ventralen und 2 dorsale Stäbe mit einem Beckenkorb verbunden. Die Stäbe wurden elongiert, bis eine passive Extension zustande kam.Die Kinnanlage führte zu Druckstellen und Kieferdeformitäten. In den 70er Jahren wurde deshalb der Kinn- und Nackenring nur noch zur Mahnwirkung eingesetzt, um die aktive Aufrichtung zu erzwingen (der Patient soll sein Kinn aktiv 1–2 cm von der Kinnanlage abheben können). Bei den meisten idiopathischen Adoleszentenskoliosen ist der Einsatz extendierender Kräfte vom Ansatz her problematisch, da dadurch das sagittale Profil weiter abgeflacht und die bereits vorhandene Lordosetendenz verstärkt wird. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die Resultate nach der Behandlung mit weniger extendierenden Korsetten (z. B. BostonKorsett) besser sind, als diejenigen mit dem Milwaukee-Korsett [55]. Mit seinem von weitem sichtbaren Halsring, der sich auch unter Kleidern nicht verstecken lässt, wird das Milwaukee-Korsett heute kaum mehr akzeptiert. Nur bei hochthorakalen Skoliosen (Scheitelwirbel >Th6) kann es noch indiziert werden. Komprimierende Korsette (Wilmington-Korsett, Lyoner- bzw. StagnaraKorsett) verwenden wir nicht bzw. nicht mehr, da sie die Lungenfunktion stark beeinträchtigen und zu unerwünschten Deformierungen des Rippenthorax führen. Die Resultate sind zudem weniger überzeugend als diejenigen nach Behandlung mit dem Boston-Korsett [2, 7]. Wir bevorzugen Korsette, die translatierende und derotierende Druckpelotten aufweisen und ihnen gegenüber korrespondierende Freiräume verfügen (Abb. 5a, b). Solche Korsette sind das Chêneau (CTM/CBW)-Korsett [42] und das Boston-Korsett [32]. Eine einfache Thorakalkrümmung wird dabei durch translatierende Pelotten nach dem 3Punkte-Prinzip redressiert: der bis an den Scheitel heranreichenden konvexseitigen Thorakalpelotte stehen zwei

18 |

Der Orthopäde 1•2002

konkavseitige Gegenpelotten, eine oberhalb (Achselanlage) und eine unterhalb (Lumbalpelotte) gegenüber. Um das 3Punkte-Prinzip bis auf das Beckenniveau fortzusetzen (sog. 4-Punkte-Prinzip) ist eine konvexseitige Trochanterfassung notwendig. Die Derotation wird durch eine dorsale Komponente der konvexseitigen Thorakalpelotte sowie eine konkavseitig auf gleicher Höhe angebrachte ventrale Anlage bewirkt. Um die derotierende Wirkung sicherzustellen, sind umgekehrt gerichtet Anlagen auf Schulter- und Beckenniveau notwendig. Um ein aktives und passives Ausweichen zu ermöglichen, sind alle nicht zur Anbringung von translatierenden, derotierenden und entlordosierenden Pelotten benötigten Räume freizuhalten (im Boston-Korsett nur beschränkt erfüllt). Die Derotation wirkt sich jedoch stärker auf den Rippenbuckel [83] als auf die Skoliose [84] aus. Über die dynamischen Skolioseorthesen (SpineCor, TriaC), die bei CobbWinkeln von 15–30° bzw. 15–35° indiziert werden, liegen erste positive Behandlungsergebnisse vor, aber noch nicht genügend, unabhängig von den Entwicklern erhobene Daten, um ihre Wirksamkeit abschließend beurteilen zu können. Die Behandlung mit geschlossenen redressierenden Gipskorsetten gewährleistet eine optimale Tragdauer, was die Wirksamkeit günstig beeinflusst. Die meisten Gipskorsette wirken jedoch komprimierend, was die Lungenfunktion beeinträchtigt und Thoraxdeformitäten verursachen kann. Die Akzeptanz ist heute praktisch nicht mehr gegeben. Eine Indikation für serielle Redressionsgipse (z. B. Extensions-Derotations-Flexionsgips nach Cotrel) sehen wir gelegentlich noch bei kleinen Kindern mit ausgeprägten Deformitäten, bei denen ein Aufschub der Operation aus Wachstumsgründen erwünscht ist.

Indikation zur Skoliosekorsettbehandlung Ein Korsettbehandlung ist nach unserer Meinung angezeigt, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: ●



idiopathische Skoliose mit einem Cobb-Winkel >20°, nachgewiesene Progredienz (Zunahme des Cobb-Winkels >5° zwischen 2 Röntgenkontrollen),



noch vorhandene Wachstumspotenz (Risser 30° und noch vorhandener Wachstumspotenz stellen wir die Indikation auch ohne nachgewiesene Progredienz. Wir sind mit der Indikation zur Korsettbehandlung zurückhaltender als andere Autoren. Dies deshalb, weil Korsettwirkung bei Krümmungen mit einem Cobb-Winkel 50° bei noch nicht abgeschlossenem Wachstum (Risser

Suggest Documents