Aus Informationen Haltung machen

Als ich noch zur Schule gegangen bin, habe ich jeden Morgen den gleichen Satz gelesen. Eigentlich waren es zwei Sätze. Sie standen auf einer Plakatwand, die das städtische Theater gemietet hatte. Auf fünf mal drei Metern war in schnörkellosen Großbuchstaben gedruckt: „Es kann nicht jeder werden, was er will. Aber jeder kann werden, was er ist: ein Mensch.“

Zwei Sätze, 90 Zeichen. Ideale Twitterlänge. Es gab noch keine Smartphones, als ich auf meinem Schulweg darüber nachdachte, was das heißt: „... werden, was er ist: ein Mensch", und wie das überhaupt gehen soll: etwas werden, was man ja schon ist. Auf jeden Fall habe ich irgendwann verstanden, dass es das eine ist, sich die beruflichen Wünsche zu erfüllen. Und dass es das andere ist, jemand zu werden, eine Person zu sein, Persönlichkeit zu haben. Ich habe den Unterschied zwischen Ausbildung und Bildung verstanden.

Der diesjährige Friedenspreisträger Jaron Lanier hat kürzlich in der Frankfurter Paulskirche darüber gesprochen, was es bedeutet, in einer digitalen Zeit zu „werden, was man ist: ein Mensch“. Wenn Lanier recht hat und die Veränderungen in jedem Lebensbereich so groß sind, dass wir einen „neuen Humanismus“ brauchen – was bedeutet das für das „Bildungsideal einer digitalen Zeit“?

Die westliche Zivilgesellschaft der Neuzeit, geboren vor ein paar hundert Jahren, irgendwo zwischen Kant und dem Sturm auf die Bastille, kennt genau ein Bildungsideal: das humanistische. Es zielt ab auf den Menschen, der neben Fachkenntnissen auch ein Verständnis von sich selbst hat und davon, wie er sich zu anderen ins Verhältnis setzen will und kann. Es geht um Horizont, Haltung und die Fähigkeit, Situationen zu meistern, für die wir keine Toolbox haben. Diese Vorstellung von Bildung ist historisch und ideell geknüpft an die Gesellschaftsform der Demokratie und stellt den mündigen Menschen in den Mittelpunkt, der ein Interesse daran hat, selbstbestimmt zu leben und Optionen des Miteinanderlebens friedlich und nachvollziehbar mit anderen Menschen auszuhandeln. Im 21. Jahrhundert ändern sich dafür zum ersten Mal seit der Aufklärung

die Bedingungen. Die Digitalisierung bedeutet eine fundamentale Umwälzung der Art und Weise, wie sich Menschen über ihre Interessen, Meinungen, Gestaltungsvorstellungen verständigen. Diese Umwälzung lässt sich auf drei Begriffe bringen. Es sind die Strukturmerkmale der digitalen Zeit: Verfügbarkeit, Individualisierung, Sichtbarkeit.

Was bedeuten diese drei Strukturmerkmale für das Bildungsideal der Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts?

Verfügbarkeit meint: entgrenzte Verfügbarkeit. Zur Grunderfahrung in einer digitalen Zeit gehört, zeitlich und geografisch unabhängig Bücher bestellen, Partner suchen, Aktien verkaufen zu können. Wir haben vermeintlich bedingungslosen Zugang zu Waren, Kommunikation, Information. Es ist alles – immer – da. Diese Verfügbarkeit entwickelt eine Eigendynamik, im Sinne eines Wirklichkeitszuwachses: Es ist die eine Sache, beim Stammtisch mit den Nachbarn darüber zu sinnieren, wie das wohl wäre, wenn man ’mal mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau bis nach Peking und so weiter, und so weiter – und es ist das andere, auf den Bildschirm zu starren, das Wohnzimmer um sicher herum zu vergessen, im Video durch Taiga und Tundra zu fahren und dann nur noch einen Klick entfernt zu sein von der Reisebuchung. In einer digitalen Zeit werden wir der tausendgestaltigen Möglichkeiten, da auf einem abgegrenzten Bildschirm dargestellt und unserer unmittelbaren Lebenswirklichkeit – damit auch deren Einschränkungen und Bedingungen – enthoben, habhafter. Zum Bildungsideal der Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert gehört deshalb, als Erstes, Urteilskraft. Wenn alle Optionen, alle Informationen, Waren, Kommunikation immer zur gleichen Zeit nebeneinander vorhanden und zugänglich sind, ist es umso wichtiger, entscheiden zu können: Was brauche ich zur Beantwortung meiner Frage? Was sind die Konfliktlinien an einer Sache? Was kann und will eigentlich ich vertreten? Was ist echte Möglichkeit – und was nur Gelegenheit?

Individualisierung meint: Hyper-Individualisierung. Suchergebnisse werden auf den Suchenden zugeschnitten, Onlineportale zeigen automatisch das Wetter der jeweiligen Heimatstadt an und durch „user-generated content“ kann jeder sich mit genau den Themen befassen, die ihn immer schon

interessiert haben. Wer sich online bewegt, muss die Komfortzone selten verlassen. In einer digitalen Zeit wird jeder Mensch sein eigener Kulturkreis. Zum Bildungsideal der Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert gehört deshalb, als Zweites neben Urteilskraft, Anschlussfähigkeit. In einer Demokratie müssen wir Menschen überzeugen, sie mitnehmen, ihren Standpunkt verstehen, ihn mitdenken. Das wird umso schwerer, je diverser und breiter gestreut die Lebenswirklichkeiten und -erfahrungen sind. Zwei Menschen, die einer Generation angehören und aus der gleichen Stadt kommen, können in einer digitalen Zeit in ganz anderen Welten leben. Anschlussfähigkeit ist das Vermögen, die eigene Position ins Verhältnis zu setzen zu anderen, die eigenen Interessen mit denen der anderen in Kontakt zu bringen, meinen Horizont mit dem der anderen zu vermitteln.

Sichtbarkeit meint: den Zwang zur Sichtbarkeit. Im Internet kann nur stattfinden, was auch materialisiert wird. Weil nur das auch verlinkt, geteilt und gepostet werden kann. Was nicht Schrift, Foto, Film oder Sound ist, ist nicht. Zwischentöne, das Implizite, vielleicht eine unbewusste Geste, die viel mehr erzählt als jeder noch so lange Post, werden im Internet zwar genauso gesendet wie analog – aber viel weniger empfangen. In einer digitalen Zeit müssen wir explizit sein, um überhaupt zu sein. Zum Bildungsideal der Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert gehört deshalb, als Drittes neben Urteilskraft und Anschlussfähigkeit, Artikulationsfähigkeit. Wir brauchen Artikulationsfähigkeit umso stärker, je mehr wir über E-Mails, Twitter, Facebook und Kurznachrichten miteinander kommunizieren. Artikulationsfähigkeit heißt, seine Emotionen, Ideen und Vorstellungen von Gesellschaft, seine Argumente und Impulse ausbuchstabieren zu können, ganz gleich ob wörtlich, in Form eines Textes, oder im übertragenen Sinne, in Form einer Bild- oder Audiodatei.

Urteilskraft, Anschlussfähigkeit und Artikulationsfähigkeit – dieser Dreiklang sichert die Handlungsfähigkeit des mündigen Ich und seine Teilhabe an einem selbstbestimmten Wir unter den Strukturbedingungen einer digitalen Zeit. Für das „Bildungsideal einer digitalen Zeit“ gibt dieser Dreiklang den Ton an.

Was bedeutet das für die Art und Weise, wie die westliche Zivilgesellschaft Bildung institutionell organisiert, oder kurz: Was bedeutet das für unsere Universitäten?

Nicht weniger als die Möglichkeit, ihren guten Ruf zu retten. Seit mehreren Jahren müssen sich die Universitäten den Vorwurf gefallen lassen, zu reinen Abiturienten-Durchschleusestationen verkommen zu sein: „Bulimie-Lernen“ statt Bildung, Multiple Choice statt leidenschaftlicher Diskussion. Die digitale Zeit ist die Chance für die Universitäten, wieder zu dem Ort zu werden, an dem aus Informationen Haltung wird.

Zum einen, weil die digitale Zeit den Universitäten mit neuer Dringlichkeit ihre alte Aufgabe diktiert; die besteht nicht etwa darin, Wissen zu vermitteln, sondern darin, etwas mit Wissen zu machen. Urteilskraft, Anschlussfähigkeit und Artikulationsfähigkeit sind eine Sache von Trial 'n Error, von Übung und Erfahrung: Wie fühlt es sich an, eine Position einzunehmen? Was machen andere mit den gleichen Informationen, die ich auch habe, und warum kommen sie zu anderen Ergebnissen? Was passiert, wenn ich meine Position aufgebe und mich überzeugen lasse? Wie gestalten wir Wirklichkeit in einer digitalen Zeit? Die Universitäten müssen der gesellschaftliche Ort sein, an dem diesem Ausprobieren Raum gegeben wird. Keine Informationsvermittlungsanstalten, sondern Trainingscenter für Urteilskraft, Anschlussfähigkeit, Artikulationsfähigkeit. Die Botschaft an die Studierenden: Ihr seid hier gefragt! Nicht als Signaturautomaten für Anwesenheitslisten, sondern in Verantwortung: nämlich für die gelingende Bildung von euch und euren Kommilitoninnen und Kommilitonen. Denn ohne Austauschende kein Austausch.

Zum anderen, weil die digitale Zeit den Universitäten die Erfüllung dieser Aufgabe so leicht macht. In einer Zeit der Verfügbarkeit müssen keine Vorlesungsstunden mehr darauf verwendet werden, dass Professorinnen und Professoren ihre Bücher nacherzählen, stumpf an ein stummes Publikum. Wir brauchen auch keine Seminare mehr, in denen Kommilitoninnen und Kommilitonen Sitzung für Sitzung den Inhalt von Texten referieren. Das sind Formate aus einer Zeit, in der das notwendig war, weil Bücher und Informationen schwer zugänglich waren. An ihre

Stelle können echte Bildungsformate treten – und das heißt: Austauschformate. Wie könnten wir Urteilskraft besser entwickeln, als sie im Ringen mit unseren Kommilitoninnen und Kommilitonen immer wieder auf die Probe zu stellen in der wertvollen Zeit, die wir wirklich miteinander nutzen können und nicht nur nebeneinander sitzen müssen? Und wie könnten wir besser Anschlussfähigkeit üben, als einem Kommilitonen, der sich aus der Sonne Kaliforniens per Video ins international besetzte Seminar zugeschaltet hat, zu erklären, wie wir Thomas Piketty verstanden haben? Wie könnten wir besser Artikulationsfähigkeit üben, als unserem Professor in der ChatSprechstunde die Gliederung der Hausarbeit vorzustellen?

Dabei geht es nicht um möglichst viele Onlinekurse. Sondern darum, die Möglichkeiten einer digitalen Zeit im Sinne eines Bildungsideals wirksam werden zu lassen, das den Erfordernissen einer digitalen Zeit Rechnung trägt. Worum es wirklich für die Universitäten der Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts geht, ist, einem Studierenden etwas anzubieten, für das es keine App gibt: den größtmöglichen Spielraum, „zu werden, was er ist: ein Mensch“.