8.1 Klinische Untersuchung und Diagnose

Thieme-Verlag Frau Kleemann 208 Sommer-Druck Feuchtwangen De Coninck Cyriax TN n WN 023834/01/01 3.3.2005 Kap-08 8 Lendenwirbelsule 8.1 Klini...
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Thieme-Verlag Frau Kleemann

208

Sommer-Druck Feuchtwangen

De Coninck Cyriax

TN n WN 023834/01/01

3.3.2005 Kap-08

8 Lendenwirbelsule

8.1

Klinische Untersuchung und Diagnose

8.1.1

Einleitung/Hypothesen

Eine eingehende Betrachtung der Lendenwirbelsule ist sehr interessant, nicht nur, weil es so viele Patienten mit Rckenschmerzen gibt, sondern auch, weil die Meinungen ber die Ursachen dieses Problems auseinandergehen. Die Auffassung der Cyriax-Theorie zu Kreuzschmerzen ist das berraschende Endergebnis intensiver berlegungen und jahrzehntelanger Arbeit. Cyriax-Prinzipien haben in verschiedene andere Methoden Eingang gefunden, und daher ist die Cyriax-Methode mit einigen dieser Methoden kompatibel. Eigentlich hatte Cyriax erwartet, in der Lendenwirbelsule genau die gleichen Probleme anzutreffen wie in den Extremitten: Lsionen von Muskeln, Sehnen, Bndern und Gelenken. Dies erwies sich jedoch als falsch. Die aktualisierte Cyriax-Sicht zu Kreuzschmerzen lsst sich in drei Aussagen zusammenfassen:

Aussage 1 Mehr als 90 % aller organischen Kreuzschmerzen – ob in die unteren Extremitten ausstrahlend oder nicht – lassen sich auf bandscheibenbedingte Probleme / innere Gelenkstrung zurckfhren. Eine solche innere Gelenkstrung kann klinisch im Wesentlichen zwei Formen annehmen: Durch Deformation des Bandscheibenmaterials werden entweder die Dura mater und/oder die Durascheide um die Nervenwurzeln komprimiert. Wie kam Cyriax zu dieser 90 %-Hypothese? Anfangs beruhte eine solche Vermutung lediglich auf empirischen Erkenntnissen. Im Laufe der Jahre wurden manche dieser klinischen Erkenntnisse teilweise oder vollstndig durch wissenschaftliche Studien besttigt. Bei den Extremitten hatte Cyriax immer versucht, seine Diagnose mittels Infiltration eines Lokalansthetikums zu besttigen. Um dies auch bei der Lendenwirbelsule tun zu knnen, begann er, epidurale lokale Ansthesie diagnostisch zu nutzen: eine sehr schwache Procainlsung (50 cm3, 0,5 %) wird ber den Hiatus sacralis in den Sakralkanal injiziert. Die Lsung luft bis auf die Hhe L3 hinauf und ansthesiert die ußere Oberflche von Dura mater, Bandscheibe und Nervenwurzel. Bei einer Bandscheibenprotrusion, welche auf die Dura oder eine Nervenwurzel drckt, werden diese Strukturen ansthesiert, und der Schmerz verschwindet. In FlDe Coninck, Cyriax compact (ISBN 3131404116),  2005 Georg Thieme Verlag KG

len, in denen keine Kompression von Dura oder Nervenwurzel vorliegt, ndert sich der Schmerz nicht. Da bei den meisten Patienten nach der Injektion der Schmerz sofort verschwand oder erheblich gelindert wurde, wurde fr Cyriax klar, dass der Schmerz in vielen Fllen von einer Kompression von Dura und/oder Nervenwurzel(n) herrhrte. Heute wird lokale epidurale Injektion sowohl zu diagnostischen als auch zu therapeutischen Zwecken benutzt. Außer diesen Erfahrungen mit epiduraler Lokalansthesie gibt Cyriax einige weitere Argumente an, die seine Auffassungen zu Kreuzschmerzen untermauern. Sie beruhen teilweise auf der Anamnese und klinischen Untersuchung, teilweise auf wissenschaftlichen Studien. Nachstehend wird eine Auswahl dieser Argumente aufgefhrt.

Muskeln? Im Gegensatz zur allgemeinen berzeugung wird eine akute Lumbago nicht durch einen schmerzhaften Muskelspasmus hervorgerufen. Natrlich kommt es in manchen Fllen zu Muskelspasmus, als natrliche Reaktion auf starken Schmerz. Wrde ein schmerzhafter Spasmus der spinalen Extensoren den Schmerz verursachen, dann nhme ein Patient mit akuter Lumbago eine in Extensionsrichtung abweichende Haltung ein. Tatschlich ist die Haltung vieler Patienten aber leicht flektiert, in den meisten Fllen deshalb, weil eine große posterozentrale Bandscheibenprotrusion Extension verhindert. Und in diesem Fall ist es vllig normal, die lumbalen Muskeln zu kontrahieren; der Patient versucht, Bewegung so weit wie mglich zu verhindern, weil jede Bewegung heftige Schmerzstiche hervorruft. Der Spasmus selbst ist ein reflektorischer Schutzmechanismus; er ist nicht schmerzhaft. Beispiel: Ein Patient mit frakturiertem Handwurzelknochen sprt Schmerz im Handgelenk und nicht im Ellbogen, obwohl ein Spasmus der Handgelenksflexoren und -extensoren vorliegt.

Bnder? Ein pltzlich beginnender Schmerz wird manchmal auf eine Bnderzerrung zurckgefhrt. Dies ist ausgesprochen unwahrscheinlich, weil Patienten, bei denen pltzlich Schmerz aufgetreten ist, sehr gut auf Manipulation reagieren. Man kann sich wohl kaum vorstellen, dass Manipulation die Behandlung der Wahl fr ein eben gezerrtes Band sein knnte.

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Regelmßig wird ein schmerzhafter Bogen bei Rumpfflexion festgestellt. Ist es etwa vorstellbar, dass eine leichte Dehnung eines Bandes schmerzhaft sein sollte, eine volle Dehnung aber nicht? Bei vielen Patienten, die mit anhaltender Traktion behandelt werden, lindern einige Minuten Traktion den Schmerz. Dies wre bei einer Bnderlsion nicht der Fall. Heißt das also, dass Muskel- und Bnderprobleme keine Rolle spielen? Nein, ein DysfunktionsSyndrom bei diesen Strukturen kann durchaus von Bedeutung sein (dies wird an spterer Stelle diskutiert).

Facettengelenke? Im Cyriax-Konzept werden die Facettengelenke nicht als die hufigste Ursache von Rckenschmerz angesehen. Natrlich gibt es Lsionen der Facettengelenke, aber oft ergeben Anamnese oder klinische Untersuchung bestimmte Befunde, die dieser Mglichkeit widersprechen. Man bedenke zum Beispiel, dass Facettengelenke einseitige Strukturen sind und daher nicht die Ursache eines zentralen Schmerzes sein knnen. Sie knnen auch keinen sich verlagernden Schmerz hervorrufen (etwa zentralen lumbalen Schmerz, der einseitig wird, oder lumbalen Schmerz, an dessen Stelle spter Schmerz im Bein ohne lumbalen Schmerz tritt). Eine Lsion eines Facettengelenks kann keine duralen Symptome oder Zeichen hervorrufen (d. h., Husten, Flexion der Halswirbelsule oder Anheben des gestreckten Beins provozieren keinen lumbalen Schmerz). Es gibt auch die Flle, in denen wirklich ein pathologischer Zustand eines Facettengelenks vorliegt, aber der Patient hat keinerlei Symptome. Beispielsweise knnen bei lteren Menschen die Bandscheiben vollstndig erodiert sein, der intervertebrale Raum ist daher viel geringer geworden, und dies fhrt zu starken Inkongruenzen in den Wirbelbogengelenken. (Auch ein Dysfunktions-Syndrom ist eine der Mglichkeiten.) Ein weiteres Beispiel wre eine Wirbelfraktur, die einen keilfrmigen Wirbelkrper mit starker Achsenfehlstellung der Facettengelenke zur Folge hat. Und doch mssen nach Abheilen der Fraktur nicht unbedingt weiterhin Schmerzen auftreten, obwohl die Inkongruenz immer noch besteht. Bei einem pathologischen Zustand der Facettengelenke mit echten Symptomen (Hypothese: Quetschung der Plica synovialis zwischen den Gelenkflchen) beginnen die Symptome meist als Folge einer Hyperextensionsbewegung (einer Kombination aus De Coninck, Cyriax compact (ISBN 3131404116),  2005 Georg Thieme Verlag KG

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Extension und Lateralflexion). Der Schmerz ist einseitig und strahlt fast gar nicht in den Glutalbereich aus; Schmerz, der sich verlagert, oder durale Symptome gibt es nicht. Symptome knnen beim Stehen, bei Bauchlage und bei Extension auftreten.

Osteoarthrose/Degeneration? Osteoarthrose oder Degeneration der Facettengelenke ist in den meisten Fllen von Rckenschmerz nicht die Ursache, ebenso wenig wie Diskarthrose, Spondylose oder Osteophytose. Wre dies der Fall, so htten wir alle mit zunehmendem Alter immer mehr Rckenschmerzen. Viele Statistiken aus verschiedenen Lndern belegen, dass die Zahl der Flle von Rckenschmerzen im Alter von 40 – 50 Jahren besonders hoch ist. Danach nimmt die Hufigkeit von Rckenschmerzen rapide wieder ab. Tatschlich ist Rckenschmerz ein Problem der mittleren Jahre, nicht des Alters. Und andererseits weisen zahlreiche Untersuchungsverfahren, etwa Rntgen, Computertomographie und Kernspintomographie, deutlich degenerative Prozesse bei Patienten nach, die keine Symptome haben. Um Rckenschmerz gut zu interpretieren, ist es wesentlich, zuerst das klinische Muster zu beurteilen, anstatt eine Diagnose allein aufgrund bildgebender Verfahren zu stellen. Bei letzteren gibt es eine große Menge falsch positiver und falsch negativer Befunde. In einer Post-mortem-Studie, sezierten Gresham und Miller L3/L4/L5-Bandscheiben von Menschen, die nicht unter Rckenschmerzen gelitten hatten. Sie stellten Degeneration bei 75 % der 35- bis 45-Jhrigen fest. Bei Menschen von ber 45 Jahren waren die Bandscheibe L4 in 75 % der Flle und die Bandscheibe L5 in 100 % der Flle degeneriert. Daher ist es wahrscheinlich falsch, Symptome von Rckenschmerz allein auf einen im Rntgenbild erkennbaren enger gewordenen Raum zwischen den Wirbeln zurckzufhren. (Dasselbe gilt fr die Aussage: „Osteoarthrose ist die Ursache Ihrer Probleme.“)

Aussage 2 Auch Cyriax’s zweite Aussage ist sehr bemerkenswert: Das Intervertebralgelenk ist unempfindlich fr innere Gelenkstrungen. Was heißt das? Die innere Gelenkstrung selbst (also die Protrusion / Vorwlbung der Bandscheibe) verursacht nicht unbedingt Schmerzen (wie sind also Computertomographien, Kernspintomographien zu interpretieren?). Beispiele dafr sind:

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Ischialgie: Wenn der Schmerz im Bein am grßten ist, wenn also die innere Gelenkstrung in der Lendenwirbelsule maximal ist, hat der Patient keine Rckenschmerzen mehr. Hyperakute Lumbago: Nach einer epiduralen lokalen Ansthesie ist die Protrusion selbst ziemlich unverndert; der Schmerz hingegen ist verschwunden/besser.

Ganz klar muss eine andere empfindliche Struktur fr den Schmerz verantwortlich sein.

Aussage 3 Der wichtigste Schmerzmechanismus ist dural. Im Falle einer inneren Gelenkstrung wird der Schmerz gewhnlich durch Druck auf eine empfindliche Struktur provoziert. Bei Rckenschmerzen ist diese Struktur die Dura mater, und bei Ischialgie ist es die Durascheide rund um die Nervenwurzel (mglicherweise zusammen mit leichter Entzndung). Dies sind die Strukturen, die fr die meisten Symptome verantwortlich sind. Natrlich kann auch die Bandscheibe selbst Schmerz provozieren (siehe unten, „posturales Syndrom“). Eine mgliche Erklrung fr die abnehmende Hufigkeit von Rckenschmerzen mit zunehmendem Alter ist die Bildung von Osteophyten, wodurch die Gelenke steifer und weniger beweglich und daher Bandscheibenprotrusionen weniger wahrscheinlich werden.

Grundlegende Behandlungsprinzipien Drei Hauptgedanken folgen aus der Erkenntnis, dass der Schmerzmechanismus dural ist. Als erstes kommt Behandlung durch Mobilisierungsbungen nicht in Betracht, da ja der Rckenschmerz nicht durch steife Gelenke hervorgerufen wird. (Man kann aber den Patienten einige Bewegungen zur Reduktion der inneren Gelenkstrung oder zur Erhaltung der Reduktion durchfhren lassen; bungen sind auch bei der Behandlung von Dysfunktionen ntzlich). Zweitens kommt Behandlung durch Muskelkrftigungsbungen nicht in Betracht, denn es sind eigentlich nicht schwache Muskeln, welche die Rckenschmerzen hervorrufen. Drittens kommt es im Fall einer inneren Gelenkstrung darauf an, herauszufinden, ob die Protrusion reduzierbar (rckgngig zu machen) ist oder nicht reduzierbar (nicht rckgngig zu machen). Ist sie reduzierbar, dann werden im Wesentlichen Manipulations- und/oder Traktions-Techniken erDe Coninck, Cyriax compact (ISBN 3131404116),  2005 Georg Thieme Verlag KG

wogen. Ist sie nicht reduzierbar, dann kommt eine epidurale lokale Ansthesie in Betracht.

8.1.2

Anatomische prdisponierende Faktoren

ber die Hufigkeit von Rckensymptomen kann man sich nur wundern; irgendwann in seinem Leben leidet fast jeder Mensch einmal unter Rckenschmerzen. Warum verursacht relativ normale Aktivitt so viele Probleme? Neben prdisponierenden Faktoren wie schlechter Sitzhaltung, abnehmender lumbaler Extensionsbeweglichkeit und dem Vorherrschen von Flexionshaltungen bei unseren Alltagsaktivitten gibt es auch einige anatomische Faktoren. Eine mgliche Erklrung fr die Hufigkeit von Kreuzschmerzen liegt vielleicht darin, dass die Lendenwirbelsule sich als ein waagerechter Mechanismus entwickelt hat, der fr eine Funktion in Extension gedacht ist, mit vielen Zwischenwirbelscheiben fr große laterale Beweglichkeit. Aber die Funktion der Wirbelsule hat sich gendert; wir sind keine Vierfßler mehr, und wir sitzen stundenlang. Wir brauchen eine Struktur, die den Flexionsund Kompressionsbeanspruchungen standhalten kann, und leider haben wir die (noch) nicht. Der Annulus ist vorn deutlich dicker und strker als hinten. Das Lig. longitudinale anterius ist breiter und dicker als das Lig. longitudinale posterius. Das Lig longitudinale posterius ist schmal und wird im unteren Lendenwirbelsulenbereich noch schmler, wodurch die Mglichkeit einer Bandscheibenprotrusion auf der Hhe von L4 und L5 zunimmt, weil dort der Schutz dagegen geringer wird.

Rolle der Dura mater als Schmerzerzeuger Lange hatte man die Dura mater als unempfindlich angesehen, aber verschiedene Wissenschaftler haben herausgefunden, dass insbesondere der anteriore Aspekt der Dura mater gut innerviert ist (Nervenste kommen aus 8 aufeinanderfolgenden sinuvertebralen Nerven: Deren ste kreuzen auch die Mittellinie, so dass sich eine extrasegmentale oder multisegmentale Innervation ergibt.). Es wurde auch festgestellt, dass der anteriore Aspekt der Dura mater sehr empfindlich gegenber Kompression und Dehnung ist. Die Dura mater besitzt eine gewisse Beweglichkeit. Durch Flexion der Halswirbelsule wird sie in Aufwrts-Richtung, durch das Anheben des gestreckten Beins in Abwrts-Richtung gedehnt. Eine Bandscheibenprotrusion kann – wie jede andere

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raumgreifende Lsion – die Beweglichkeit der Dura mater schmerzhaft einschrnken. Unter normalen Umstnden verursacht Dehnung und/oder Bewegung der Dura mater keinen Schmerz. An bestimmten Stellen in ihrem Verlauf ist die Dura mater verankert. R Eine feste Verbindung besteht am Foramen magnum. R Angeheftet ist die Dura mater auch am posterioren Aspekt der Wirbelkrper C2-C3. R Keine Verbindung besteht mit den Ligg. denticulata, die intradural, zwischen Pia mater und Dura mater verlaufen. R An jedem Foramen intervertebrale geht die Dura mater in die Durascheide ber, die sich dann mit dem Periost der umgebenden knchernen Strukturen verbindet. R Auch an L3-S3 ist die Dura mater angeheftet, am Lig. sacrodurale anterius (Trollard), das auf der Hhe von S2/S3 dicker wird. R Die Dura mater endet bei S2 und wird dort zum Filum terminale durae matris spinalis, welches am Steißbein ansetzt und in den Periost bergeht. Das hauptschliche durale Symptom ist lumbaler Schmerz beim Husten. Dabei kommt es zu einem Druckanstieg in den Venen; in dem Raum zwischen den Bandscheiben und der Dura liegt unter anderem ein Venenplexus, dessen Volumen zunimmt, wodurch sich der Druck verstrkt. Es kann auch zu einem Druckanstieg whrend eines Valsalva-Manvers kommen (beim Pressen, Husten, Niesen). Durale Zeichen sind lumbaler Schmerz bei Flexion der Halswirbelsule und/oder bei Anheben des gestreckten Beines.

Klinische Rolle der Nervenwurzeln Eine Kompression der Nervenwurzeln auf der Hhe L4 oder L5 kommt hufiger vor als auf der Hhe L1/L2/L3. Der Grund dafr ist anatomischer Natur: in der oberen Lendenwirbelsule sind die Nervenwurzeln im Foramen intervertebrale kranial ausgerichtet, weiter entfernt von einer mglichen Bandscheibenprotrusion. Ebenfalls wichtig ist die Schrgrichtung der Nervenwurzeln. Eine Protrusion der Bandscheibe L4, die eher posterolateral liegt, klemmt die Nervenwurzel L4 ein, liegt sie eher medial, dann klemmt sie die Nervenwurzel L5 ein, und die Wurzel L4 entgeht dem Druck. Eine gengend große Protrusion kann beide Wurzeln gleichzeitig einklemmen. Dasselbe gilt fr die Bandscheibe L5: hier knnen die Nervenwurzeln L5 und/oder S1 komprimiert werden. De Coninck, Cyriax compact (ISBN 3131404116),  2005 Georg Thieme Verlag KG

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Bei einer Lhmung der Nervenwurzel L4 ist daher eine Beteiligung der Bandscheibe L4 zu vermuten, bei S1-Lhmung kme die Bandscheibe L5 in Betracht, eine L5-Lhmung hingegen kann auf beide Bandscheiben zurckgehen. Aber nicht nur einfache oder doppelte Lhmung sind mglich, es gibt auch halbe Lhmungen (rein motorisch oder rein sensorisch, je nach Ort der Kompression). Eine Bandscheibe L5 kann die Nervenwurzel L5 von unten her einklemmen (motorische Lhmung an L5) und die Wurzel S1 von oben (sensorische Lhmung an S1). Die Nervenwurzeln haben eine durale Scheide. Zunchst verluft ein Spinalnerv frei in der zerebrospinalen Flssigkeit innerhalb der Dura; erst wenn er austritt, bekommt er eine durale Umhllung. Die Nervenwurzel hat einen inneren Anteil, das Parenchym, mit Leitfunktion, und einen ußeren Anteil, die Durascheide, mit Mobilittsfunktion. Bei der klinischen Untersuchung benutzt man daher zwei Arten radikulrer Tests: Tests der Mobilitt der Nervenwurzel (SLR, Knieflexion in Bauchlage) und Tests auf Nervenleitungszeichen (motorisch, sensorisch und reflektorisch). Im Zusammenhang mit der Nervenwurzel S4 sollte man ußerst vorsichtig sein. Diese Nervenwurzel auf einer unteren lumbalen Ebene liegt genau auf der Mittellinie, gut geschtzt durch das Lig. longitudinale posterius. Eine Kompression dieser Wurzel kann nur durch das Band hindurch erfolgen, wobei das Band wahrscheinlich berdehnt wird. Wenn es reißt, wird in massivem Umfang Bandscheibensubstanz herausgedrckt, das so genannte Kauda equina-Syndrom. Insofern ist jedes Symptom oder Zeichen im Zusammenhang mit S4 – Schmerz und/oder Parsthesien in Perineum und Genitalbereich, mit oder ohne Inkontinenz – unbedingt kontraindikativ fr Manipulation oder jede andere aktive Behandlung!

8.1.3

Anamnese

Im Bereich der Lendenwirbelsule ist die Anamnese ußerst wichtig. Es gibt Flle, in denen man nach der Anamnese schon ber Diagnose und Behandlung Bescheid weiß, bevor man die klinische Untersuchung beginnt. Durch gute Erhebung der Krankengeschichte versucht man herauszufinden, ob der Patient unter einer Bandscheibenprotrusion leidet (wenn ja, unter welcher Art von Protrusion) oder unter einer anderen Erkrankung. Man erwartet einen Zusammen-

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hang zwischen den Symptomen des Patienten und gewissen Aktivitten, Haltungen und Bewegungen. Man hlt Ausschau nach wahrscheinlichen inneren bereinstimmungen (inhrente Wahrscheinlichkeiten) und ist besonders auf der Hut hinsichtlich innerer Unstimmigkeiten. Allgemein gibt die Anamnese erstens Auskunft ber Alter, Beruf und Hobbys, zweitens ber Symptome (Schmerz, Parsthesien, den Einfluss von Husten, mgliche Gefahr fr die Nervenwurzel S4) und drittens ber die Persnlichkeit des Patienten. Nachfolgend einige Erluterungen zu diesen Punkten:

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Schmerz Wo? (Hhe, zentral, einseitig, beidseitig?) R

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Eine einseitige Struktur kann keinen zentralen Schmerz hervorrufen. Eine Bandscheibenprotrusion kann zentralen, einseitigen oder beidseitigen Schmerz hervorrufen, je nach der Richtung des Drucks in der Bandscheibe, der zu Vorwlbung oder Protrusion fhrt. Es muss klar unterschieden werden zwischen einem sich verlagernden und einem sich ausbreitenden Schmerz. Ein sich verlagernder Schmerz kommt offensichtlich von einer sich verlagernden Lsion. Bei der Lendenwirbelsule kann dafr nur die Bandscheibe verantwortlich sein. Der obere Bereich der Lendenwirbelsule gilt als „verbotene Zone“, denn Bandscheibenprotrusionen sind dort viel weniger hufig, und andere Erkrankungen (z. B. Metastasen) sind dort hufiger als im unteren Bereich der Lendenwirbelsule. Alternierender Schmerz im Gesß knnte kennzeichnend sein fr eine ankylosierende Spondylitis, bei der beide Iliosakralgelenke betroffen sind. (Die Anamnese sollte dann entsprechend ausfallen.) Ein Patient klagt ber Schmerzen im Bein. Sind diese Schmerzen die Folge von Wurzelschmerz oder hngen sie mit extrasegmental bertragenem duralem Schmerz zusammen? Schmerz, der bis zum Malleolus reicht, knnte auf Kompression einer Nervenwurzel oder der Dura hindeuten. Wie differenziert man zwischen diesen beiden Mglichkeiten? Man fragt den Patienten, was er in der Lendenwirbelsule sprt. Antwortet er: „Im Kreuz habe ich immer Schmerzen, aber manchmal habe ich auch Schmerzen das Bein hinunter“, dann handelt es sich ganz klar um durale bertragung. Sagt er, er habe zuvor Schmerzen im Kreuz gehabt, aber nun habe er nur Schmerzen im Bein, dann geht der Schmerz auf eine Nervenwurzel zurck.

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Diese Unterscheidung ist wichtig, denn durale Schmerzen kann man zeitlich unbegrenzt behandeln, bei radikulren Schmerzen hingegen (bei einem Patienten unter 60 Jahren) ist die Protrusion ab der zweiten Hlfte der spontanen Entwicklung, welche 8 – 12 Monate dauert, nicht reduzierbar geworden (siehe unten), und von da an ist Manipulation/Traktion nutzlos. Beidseitiger Wurzelschmerz (also Schmerz in beiden Beinen und nicht im Rcken) wird wahrscheinlich nicht durch eine Bandscheibenprotrusion verursacht. Eher geht er zurck auf Spondylolisthese, Metastasen oder Pilzphnomen. Eine primre posterolaterale Protrusion (die Bandscheibe tritt von Beginn an in posterolaterale Richtung heraus, ohne vorherigen Rckenschmerz) kommt meistens bei jungen Menschen vor und scheint eher vom nukleren Typus zu sein; in diesem Fall ist Manipulation wahrscheinlich nicht die beste Behandlungsoption, aber vielleicht Traktion. Der Patient klagt ber Schmerzen, die spontan begonnen haben, vielleicht in der Wade (Druck auf die Nervenwurzeln S1 oder S2), dann allmhlich strker wurden und sich nach oben ausbreiteten, ohne dass Rckenschmerz auftritt.

Gesamtdauer der Symptome Bei Rckenschmerzen gibt es keine wirklich spontane Heilung. Eine kleine Protrusion, die die Dura mater einklemmt, kann dauernd intermittierende Symptome verursachen, und eine Reduktion (Rckfhrung) kann immer erwogen werden. Einseitiger Wurzelschmerz: Bei einem Patienten von weniger als 60 Jahren gibt es ein System spontaner Heilung, das in dem Augenblick einsetzt, wenn der Rckenschmerz aufhrt. Im Allgemeinen braucht es dafr 8 – 12 Monate. Ab der zweiten Hlfte der spontanen Entwicklung wird die Protrusion nicht reduzierbar, und Manipulation oder Traktion werden ab dann als Behandlungsoptionen nutzlos. Normalerweise lsst der Rckenschmerz nach, wenn Wurzelschmerz auftritt („sich verlagernder Schmerz“); wenn nicht, wird es keine Tendenz zu spontaner Heilung geben (dies insbesondere bei lteren Menschen mit geringerer Mobilitt).

Wodurch wird der Schmerz verursacht/gelindert? Bei einer Bandscheibenprotrusion ist zu erwarten, dass die Symptome des Patienten mit bestimmten Bewegungen, Haltungen und Aktivitten zusammenhngen.