DeutscherAnwaltVerein Aufsätze

11/2012 November

Geisler: BGH und Zivilprozess M.Redeker: §§ 80,80a und § 123 VwGO Hellwig: Englische ABS in Deutschland Römermann: Außensozietät und Werbung von Falkenhausen: Beratung der AG Kilian: GbR oder PartG?

854 870 876 885 889 895

Magazin

Magazin

Mehr Freiheit bei der Pflichtfortbildung

van Bühren: Steuerdaten-CD 69. Deutscher Juristentag: Europas Zukunft Anwälte fragen nach Ethik: Bargeld

906 908 910

Aus der Arbeit des DAV

DAV auf dem Juristentag Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht

912 914

Rechtsprechung

BGH: Fachgespräch bleibt Ausnahme

924

MN

Editorial Kennt die Not wirklich kein Gebot?

Ulrich Schellenberg, Berlin Rechtsanwalt und Notar, Herausgeber des Anwaltsblatts

In Europa hat sich das schöne Wetter verzogen. Regen und Gewitter sind aufgezogen und manch einem scheint Europa nun eine sehr viel weniger attraktive Veranstaltung zu sein. Ein schönes Bild, mit dem die EU-JustizKommissarin Viviane Reding ihr Grußwort zur Eröffnung des 69. Deutschen Juristentages im September in München unterlegte und tatsächlich: Die aktuelle Finanz- und Staatsschuldenkrise hat den vormals strahlend blauen Himmel über Europa deutlich verdunkelt. Die exorbitanten Staatsschulden haben Europa fest im Griff. Die Europäische Zentralbank (EZB) wird zum Ankauf von Staatsanleihen gedrängt. Keine Frage: Die Europäische Union ist auf dem Weg in eine gemeinsame Haftungsunion. Man mag – wie Viviane Reding in München – ein wenig spotten über die deutschen Juristen, die ihre Ausarbeitungen sorgsam gliedern und strukturieren. Auch mag manch eine(r) über unsere umfangreiche Kommentarliteratur schmunzeln, die „in kleinster Schrift auf äußerst dünnem Papier alle Paragraphen von vorne bis hinten juristisch erörtert“ und dies auch noch auf Tausenden von Seiten. Nachzulesen ist die Rede im Internet auf der Website der Europäischen Kommission. Aber gerade in einer Zeit, in der man sich nicht mehr sicher sein kann, ob die dazu berufenen Parlamentarier Inhalt und Tragweite ihrer Beschlüsse tatsächlich überblicken, kommt dem Recht grundlegende Bedeutung zu. Wenn schon das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik leidet, darf nicht auch noch das Vertrauen in das Recht leiden. Dieses Vertrauen ist aber nicht bedingungslos. Dieses Vertrauen erfordert den offenen Diskurs und legitimierte Verfahren der Entscheidung.

Die Frage, ob Beschlüsse des Deutschen Bundestages sich innerhalb der vom Grundgesetz gesteckten Grenzen bewegen, ist keine „groteske Missachtung“ der Bemühungen verantwortungsbewusster Politiker, sondern wesentlicher Teil unserer Rechtskultur, der auch nicht durch den festen Glauben daran, dass Politik das Recht schon wahren wird, ersetzt werden kann. Genau deswegen haben deutsche Politikerinnen und Politiker 1949 im Grundgesetz das Bundesverfassungsgericht vorgesehen. Und genau diese Verfassungstradition könnte auch eine Chance für Europa sein. Paul Kirchhof hat es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) im Juli deutlich formuliert: „Eine Instabilität des Rechts wiegt schwerer als eine Instabilität der Finanzen“. Gerade in schwierigen Zeiten, in denen die Politik das Stichwort von der Not, die kein Gebot kenne, bemüht und sich auf das pragmatische Funktionieren beschränkt, kommt es darauf an, dass das Recht gewahrt wird. Nur diese Forderung ist wirklich „alternativlos.“ Dafür steht die Anwaltschaft. Herzlichst Ihr

AnwBl 11 / 2012 Mantel

M 365

Anwaltsblatt Jahrgang 62, 11 / 2012 Im Auftrag des Deutschen Anwaltvereins herausgegeben von der Rechtsanwältin und den Rechtsanwälten: Edith Kindermann Ulrich Schellenberg Herbert P. Schons Prof. Dr. Heinz Josef Willemsen

Editorial M 365

Kennt die Not wirklich kein Gebot?

854

Rechtsanwalt und Notar Ulrich Schellenberg, Berlin Herausgeber des Anwaltsblatts

870

Bericht aus Berlin: Die Opposition kürt ihren Bannerträger Bericht aus Brüssel: Die wirtschaftliche Bedeutung der Anwaltschaft

876

M 383

Stellenmarkt des Deutschen Anwaltvereins

M 390

Bücher & Internet

M 396

Deutsche Anwaltakademie Seminarkalender

Der Zivilprozess lebt – die neueste Rechtsprechung des BGH

902

Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsprozess – gewusst wie

Meinung & Kritik 905

Deutsches Berufsrecht als Bollwerk gegen englische ABS?

Kommentar 906

889

Gastkommentar 907

852

Fotonachweis, Impressum

Magazin

Anwaltshaftung

898

Belgien: Beratungshilfe Dokumentationszentrum für Europäisches Anwalts- und Notarrecht an der Universität zu Köln

899

Bücherschau: Kostenfinanzierung Rechtsanwalt Dr. Matthias Kilian, Köln

M 366

AnwBl 11 / 2012 Mantel

Den Nationalstaat um der Demokratie willen verteidigen – oder umgekehrt? Rechtsanwalt Dr. Nicolas Lührig, Berlin

Risikomanagement durch Rechtsformwahl: Die Partnerschaftsgesellschaft Rechtsanwalt Dr. Matthias Kilian, Soldan Institut, Köln

Der Bart des Propheten Jost Müller-Neuhof, Der Tagesspiegel, Berlin

Die anwaltliche Beratung der Aktiengesellschaft Rechtsanwalt Dr. Joachim Freiherr von Falkenhausen, LL. M. (Berkeley), Hamburg

895

Steuerdaten-CD: Der Zweck heiligt (nicht) die Mittel? Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln

Eine „moderne“ Entscheidung des BGH zu Anwaltssozietäten und Werbung Rechtsanwalt Dr. Volker Römermann, Hamburg/Hannover

Schlussplädoyer

Nachgefragt, Comic, Mitglieder-Service

Gefühlte Qualitätssteigerung Rechtsanwalt Andreas Hagenkötter, Ratzeburg

908

M 398

Mehr Freiheit bei der Pflichtfortbildung für Fachanwälte Dr. Helene Bubrowski, Berlin

Rechtsanwalt Prof. Dr. Hans-Jürgen Hellwig, Frankfurt am Main

885

Nachrichten

Magazin

Anwaltsrecht

Rechtsanwältin Eva Schriever, LL.M., Berlin/ Brüssel

M 372

Prozessrecht

Richter am OVG Martin Redeker

Prof. Dr. Joachim Jahn, Berlin

M 370

Magazin

Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Dr. Herbert Geisler, Karlsruhe

Nachrichten M 368

Aufsätze

Redaktion: Dr. Nicolas Lührig (Leitung) Udo Henke Manfred Aranowski Rechtsanwälte

Anwälte fragen nach Ethik 910

Die Versuchung: Bargeld als Honorar DAV-Ausschuss Anwaltliche Berufsethik

Anzeige

MN 912

Aus der Arbeit des DAV

Rechtsprechung

Deutscher Anwaltverein auf dem 69. Deutschen Juristentag

Haftpflichtfragen

914

DAV-Stellungnahmen

914

Initiative für Fachanwalt für Internationales Wirtschaftsrecht

915

Erfolgreich auf allen Kanälen: DAV-Online-Imagewerbung

915

Landesverbandskonferenz gegen Gerichtsschließungen

916

AG Anwältinnen: Sommerempfang in Köln

916

Landesverband MecklenburgVorpommern: Anwaltstag

917

Kölner Anwaltverein: Festakt zum 125jährigen Jubiläum

922

Abgrenzung zwischen Erfüllungsansprüchen und Haftpflichtansprüchen Rechtsanwalt Bertin Chab, Allianz Versicherung, München

Anwaltsrecht 924

BGH: Fachgespräch bei Fachanwalt bleibt Ausnahme

925

BGH: Nachweis von Fällen im Bank- und Kapitalmarkt

925

BGH: Kein Fachanwalt ohne Zulassung als Rechtsanwalt Anwaltshaftung

926

BGH: Streithelfer wird auch bei untätiger Partei nicht Partei

917

DAV-Pressemitteilungen

918

DAV Förderverein für Freie Advokatur: Tagung in Ukraine

926

BGH: Nichtzulassungsbeschwerde in WEG-Sache

918

AG Mietrecht und Immobilien: 2. Immobilienrechtstag

927

BGH: Offenkundig falsche Rechtsmittelbelehrung

919

7. Handels- und Gesellschaftsrechtstag

919

Deutsche Anwaltakademie: Nachrichten

920

Mitgliederversammlung: AG Insolvenzrecht und Sanierung

920

Personalien (mit neuen Vorsitzenden und Ehrungen)

Anwaltsvergütung 928

BGH: Sorgerecht und Umgangsrecht – zwei Gebühren Prozessrecht

930

BGH: Anwaltsbeiordnung bei Vaterschaftsanfechtung Notarrecht

930

BGH: Wird letzter verbliebener Bewerber Anwaltsnotar?

MN

Bericht aus Berlin

Die Opposition kürt ihren Bannerträger

Die SPD hat nun endlich ihren Kanzlerkandidaten, und das Top-Thema der Sozialdemokraten für den Wahlkampf im kommenden Jahr ist damit auch klar: Die Finanzbranche soll gebändigt werden, damit Banken nicht länger Regierungen erpressen können – um selbst „gerettet“ zu werden und auf diesem Wege ganze Staaten. Ex-Finanzminister Peer Steinbrück hat seine Nominierung zum sozialdemokratischen Bannerträger mit einem Forderungspapier für eine strengere Regulierung eingeläutet. Womit er ganz auf der Linie seines Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel liegt, der in den Kreditinstituten schon vor Monaten „organisierte Kriminalität“ gewittert hatte. Der kantige Sozialdemokrat vom „rechten“ Flügel seiner Partei rennt damit allerdings offene Türen ein: Die Europäische Union hegt ganz ähnliche Pläne. Und auch Manches, was der aktuelle Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) auf internationalem Parkett mit voran treibt, geht in diese Richtung. Dass Steinbrück in seiner eigenen Regierungszeit den Beinahe-Zusammenbruch einiger Geldinstitute weder vorhergesehen noch verhindert hat, kratzt allerdings an seiner Glaubwürdigkeit. Genauso wie die Tatsache, dass sein damaliger Staatssekretär Jörg Asmussen (zugleich Aufsichtsrat der Schreckensbank IKB und mittlerweile zur Europäischen Zentralbank entsorgt) ein großer Vorkämpfer für eine Lockerung der Aufsichtsregeln war – und für den Kauf jener Schrottpapiere auf dem amerikanischen Immobilienmarkt, die mit ihren Kettenverbriefungen notleidender Hauskredite das Weltfinanzsystem an den Rand des Abgrunds manövrierten. Auch die Altersvorsorge der Deutschen kochte derweil einmal wieder zum Streitthema hoch. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat entdeckt, dass Rentner von Altersarmut bedroht seien. Als Rezept propagierte die Ressortchefin eine „Zuschussrente“. Sie lancierte ihre (selbst in der eigenen Partei angezweifelten) M 368

AnwBl 11 / 2012 Mantel

Gesetzgebung

Elektronischer Rechtsverkehr

Horrorberechnungen gezielt in die Gazetten; garniert mit dem Hinweis, die Einbeziehung wohlhabender Kreise sei zu prüfen. Womit sich die forsche Selbstvermarkterin zugleich für führende Posten in einer etwaigen Großen Koalition nach dem nächsten Urnengang andiente. Aber auch auf dem ureigensten Feld der Rechtspolitik schlugen die Wellen hoch. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) präsentierte einen Gesetzentwurf, um Beschneidungen von männlichen Neugeborenen straffrei zu stellen. Eine Reaktion auf ein Aufsehen erregendes Urteil des Landgerichts Köln, das zu einem Aufschrei bei Verbänden von Juden und Moslems gleichermaßen geführt hatte. Doch der Lösungsvorschlag der Ressortchefin in der Berliner Mohrenstraße stößt trotz kleiner Nachbesserungen auf allerhand Skepsis. Manche Juristen halten es nicht für sonderlich passend, die Regelung ausgerechnet im BGB anzusiedeln – ungefähr dort, wo auch der Anspruch von Kindern auf eine gewaltfreie Erziehung geschrieben steht. Und nicht nur Ärzte halten es für bedenklich, dass ausgerechnet in den ersten sechs Lebensmonaten auch Nicht-Mediziner den Eingriff sollen vornehmen dürfen: Ihnen ist nicht einmal die gerade bei Säuglingen wichtige Betäubung bei einer Zirkumzision erlaubt. Meist bekomme das Baby nur einen in Rotwein getränkten Stofffetzen in den Mund gesteckt, bemängelte der Strafrechtler Reinhard Merkel, Mitglied im Deutschen Ethikrat.

In seiner ersten Sitzung nach der Sommerpause am 21.9.2012 hat der Bundesrat erstmals den Gesetzentwurf zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs beraten und an die zuständigen Ausschüsse verwiesen (BR-Drs. 503/12; Heft 7/2012). Der DAV fordert in einer Stellungnahme eine bundeseinheitliche Lösung bei der elektronischen Erreichbarkeit der Gerichte zu einem einheitlichen Termin. Nach dem aktuellen Entwurf können Landesregierungen ab 2017 Anwälten die elektronische Kommunikation mit Gerichten vorschreiben. Ab 2022 soll eine bundesweite Verpflichtung für alle Verfahren bestehen. Der Bundesrat hat am 12.10.2012 über die Empfehlungen der Ausschüsse beraten.

Patientenrechte Den Gesetzentwurf zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten (BT-Drs. 17/10488; Heft 3/2012) hat der Bundestag am 28.09.2012 in erster Lesung beraten. Das Behandlungs- und Arzthaftungsrecht soll im BGB klar geregelt werden. Ziel ist es, die Verfahrensrechte bei Behandlungsfehlern, Rechte gegenüber Leistungsträgern, sowie die Patientenbeteiligung und -information zu stärken. Der Gesetzentwurf wurde an die zuständigen Ausschüsse überwiesen.

Wettbewerbsrecht Am 26.9.2012 stand im Rechtsausschuss des Bundestages der Entwurf eines achten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen auf der Tagesordnung. Unter anderem soll die Zuständigkeit für alle kartellrechtlichen Schadensersatzansprüche den Kollegialspruchkörpern der allgemeinen Zivilkammern der Landgerichte zugewiesen werden. Für die bisher zuständigen Handelskammern seien die Fälle zu komplex. Das Gesetz soll größtenteils am 1.1.2013 in Kraft treten.

KapMuG Der Autor

Prof. Dr. Joachim Jahn, Berlin ist Wirtschaftsredakteur der F.A.Z. und Honorarprofessor an der Universität Mannheim. Er schreibt im Wechsel mit Peter Carstens, ebenfalls von der F.A.Z.

Der Bundesrat hat auf eine Anrufung des Vermittlungsausschusses verzichtet und in seiner Sitzung am 21.9.2012 das neue Kapitalanlagemusterverfahrensgesetz (Drs. 17/10160, Heft 08/09/2012) gebilligt. So kann es am 1.11.2012 das bisher geltende Gesetz ablösen.

MN

Bericht aus Brüssel

Die wirtschaftliche Bedeutung der Anwaltschaft

Wenn es um die Evaluierung der sektorspezifischen Richtlinien für die grenzüberschreitende Dienstleistung und Niederlassung von Rechtsanwälten geht, darf sich die Anwaltschaft das Heft des Handelns nicht aus der Hand nehmen lassen – so Präsident Wolfgang Ewer am 26. September 2012 auf dem Europäischen Abend des DAV in Brüssel. Auf Anregung der deutschsprachigen Delegationen im Rat der Europäischen Anwaltschaften (CCBE) hatte der europäische Dachverband daher 2012 eine unabhängige wissenschaftliche Studie zur wirtschaftlichen Bedeutung der Rechtsanwälte in der EU beim Regulatory Policy Institute in Oxford (Prof. George Yarrow) in Auftrag gegeben. Das Ergebnis liegt seit Mitte September vor. Die Ergebnisse werden von der Anwaltschaft nicht in vollem Umfang geteilt. Gleichwohl lässt sich aus ihr der grundlegende Beitrag der unabhängigen Anwaltschaft zur Schaffung und Erhaltung eines stabilen und gut funktionierenden Rechtssystems ablesen, welches wiederum unabdingbarer Nährboden des wirtschaftlichen Fortschritts ist. Institutionelle Regelungen im Sinne von Verhaltensbeschränkungen der Berufsträger seien in ihrer Wirkung nur in einer dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragenden Einzelfallbetrachtung des faktischen Inhalts der jeweiligen Regulierung sinnvoll zu beurteilen. Während zum Beispiel feste Gebühren grundsätzlich als wettbewerbsverzerrend einzustufen seien, wird zum deutschen Gebührensystem festgehalten, dass dieses zu Preisstabilität führt und den Zugang zum Recht ermöglicht. Weiter wird in aller Deutlichkeit festgestellt, dass der Beruf des Rechtsanwalts in der EU gerade kein freier Beruf wie jeder andere ist. Der Anwalt ist europaweit der Unabhängigkeit verpflichtet. Als integrer Berater ist er zudem in besonderer Form dem öffentlichen Interesse verbunden. Die Gemeinwohlverpflichtung manifestiert sich in Deutschland etwa in der Pflicht M 370

AnwBl 11 / 2012 Mantel

zur Übernahme von Beratungs- und Prozesskostenhilfemandaten. Seine Loyalität gegenüber dem Auftraggeber wird durch das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen abgesichert. Umklammert wird all dies von einem strafbewehrten Mandatsgeheimnis. In einem solchen Gefüge besonderer Rechte, aber eben auch besonderer Pflichten hat sich das bestehende System der sektorspezifischen Richtlinien in der Vergangenheit gut bewährt. Entsprechend sieht der DAV keinen Grund dafür, nicht auch zukünftig an der Struktur der Anwaltsrichtlinien festzuhalten. An wenigen Stellen könnten aus Sicht des DAV Änderungen notwendig werden, so zur Klärung von Unterschieden in den Sprachversionen des Artikel 6 der Niederlassungsrichtlinie zum anwendbaren Recht. Darüber hinaus könnte man auch die Frage stellen, ob statt der inzwischen üblichen Niederlassung durch Gründung einer parallelen nationalen Kanzlei (in einer Holdingstruktur), nicht die Niederlassung der ausländischen Kanzleiform nach Artikel 11 (2) der Niederlassungsrichtlinie erleichtert werden sollte. Ein in der Praxis massiv auftretendes Problem ist das Manko an Berufshaftpflichtversicherungsprodukten für grenzüberschreitende Beratungsdienstleistungen. All diese Fragen werden in diesem Herbst neben der Yarrow-Studie auch in der von der Kommission in Auftrag gegebenen Studie eines Konsortiums des niederländischen Panteia-Instituts mit der Universität Maastricht zur Bewertung der sektorspezifischen anwaltlichen Rechtsrahmens behandelt werden. Die Autorin

Eva Schriever, LL.M., Berlin/ Brssel ist Rechtsanwältin und Geschäftsführerin des DAV (Leiterin der Abteilung EU-Angelegenheiten). Sie erreichen die Autorin unter der E-Mail-Adresse [email protected].

Gesetzgebung

Mindeststandards im Opferschutz Das EU-Parlament will Opfer von Straftaten wirkungsvoller schützen und nahm am 12. September 2012 den mit Rat und Kommission erzielten Kompromiss zum Richtlinienvorschlag KOM(2011) 275 über Mindeststandards für Opferschutzrechte an. Anstelle der ursprünglich vorgeschlagenen Kategorie der „besonders schutzbedürftigen Opfer“, die an bestimmte Straftaten geknüpft werden sollte, werden „besondere Schutzbedürfnisse“ von Opfern nun allein durch individuelle Begutachtung festgestellt. Dabei kann die Art der erlittenen Straftat, wie geschlechtsbezogene und organisierte Straftaten, Berücksichtigung finden. Neben der Begriffsverwendung „Opfer“ hatte der DAV in seiner Stellungnahme Nr. 65/2011 ebenfalls die ursprünglich beabsichtigte Differenzierung nach der „Qualität“ des Opfers kritisiert und für einen schonenden Ausgleich zwischen Opfer- und Beschuldigtenrechten plädiert. Die Mitgliedstaaten haben nach Inkrafttreten drei Jahre Zeit, die Richtlinie umzusetzen.

Besserer Zugang zu Verwaisten Werken Die EU-Parlamentarier ebnen den öffentlichen Zugang zu bislang ungenutzten Werken in Bibliotheken und Archiven, deren Rechteinhaber nicht auffindbar sind. Am 13. September 2012 hat das Plenum den erzielten Kompromiss zum Richtlinienvorschlag KOM(2011) 289 über bestimmte zulässige Formen der Nutzung verwaister Werke angenommen. Die Ergebnisse der sorgfältigen Suche, die Voraussetzung für die Einstufung als verwaistes Werk sein soll, werden danach in einer EU-OnlineDatenbank veröffentlicht. Ein vorher nicht ermittelter Rechteinhaber soll nun auch einen gerechten Nutzungsausgleich erhalten.

Neues Binnenmarktinformationssystem Am 11. September 2012 hat das EU-Parlament im Plenum den Bericht zum Vorschlag KOM(2011) 522 über die Verwaltungszusammenarbeit mithilfe des Binnenmarkt-Informationssystems („IMI“) angenommen. Der Anwendungsbereich des „IMI“, das derzeit für den Informationsaustausch im Rahmen der Berufsqualifikations- und der Dienstleistungsrichtlinie genutzt wird, soll künftig auch von Bürgern, Unternehmen und Organisationen genutzt werden können.

MN

Nachrichten

Anwaltsrecht

England: Automobilclub will in Markt für Rechtsberatung groß einsteigen Nachdem seit Oktober 2011 in England die Gründung sogenannter Alternative Business Structures (ABS) und damit die Zusammenarbeit von Anwälten mit Berufsfremden sowie Fremdkapital erlaubt sind, haben von dieser Möglichkeit bislang nicht nur Kanzleien, sondern auch Unternehmen wie zum Beispiel die Supermarktkette Coop Gebrauch gemacht. Jetzt berichtet der Branchendienst Legalweek, dass auch der große englische Automobilclub AA (The Automobile Association) bei der englischen Regulierungsbehörde Solicitors Regulation Authority (SRA) einen Antrag auf Gründung einer ABS gestellt hat. Das Unternehmen aus dem Bereich Versicherung, Führerscheinerwerb und Pannenservice bietet seinen Mitgliedern schon seit geraumer Zeit auch Rechtsdienstleistungen an (zum Beispiel Mustertexten für Mietverträge). Mit dem ABS-Status soll das Angebot deutlich erweitert werden.

Steuerrecht

Wird Fortbildung für Selbständige teurer? Seminarbieter haben Ende September 2012 im Rahmen einer öffentlichen Anhörung im Finanzausschuss des Bundestages den Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2013 kritisiert. Dieses Gesetz würde zu einer deutlichen Preissteigerung bei der Fort- und Weiterbildung führen. Der Grund: In § 4 Nr. 21 UStG soll die Fortbildung von der Umsatzsteuer befreit werden. Durch die Neuregelung scheint der Zugang des Bürgers zu Bildung günstiger zu werden. Das jedoch nur auf den ersten Blick. Auf der Kehrseite führt die Steuerbefreiung zum Verlust des Vorsteuerabzugs für Kosten und Aufwendungen der Seminaranbieter, die ihre Angebote an Unternehmen oder Selbständige richten, wurde in der Anhörung kritisiert. Seminaranbieter sprechen von einer Preissteigerung von bis zu 15 Proeznt wenn das Gesetz so in Kraft tritt. Der Steuerrechtsausschuss des DAV hatte sich gegen diese Regelung ausgesprochen. M 372

AnwBl 11 / 2012 Mantel

Leserreaktion

» Syndikusanwälte sind „echte“ Anwälte

Zu dem Beitrag „Die Systemrelevanz von Syndikusanwälten“ von Rechtsanwältin Dr. Susanne Offermann-Burckart im Oktober-Heft des Anwaltsblatts (AnwBl 2012, 778): Für Ihren gut lesbar formulierten, zutreffend faktenbasierten, klar gegliederten und gedankenreichen Aufsatz danke ich Ihnen sehr! Bei der Diskussion über den DAV-Vorschlag gehen Sie zu Recht aufs Ganze, auch wenn ich nach 32-jähriger Tätigkeit als Syndikusanwalt, die ich in einem einzigen Unternehmen verbringen durfte, meine schon recht eingestaubte Robe nicht mehr vor Gericht zu tragen gedenke. Ich hoffe, Ihr Aufsatz wird von den Richtigen gelesen! Der Gesetzgeber sollte ein Interesse daran haben, dass die Syndikusanwälte bei ihrer Tätigkeit an die berufsrechtlichen Pflichten des Rechtsanwalts gebunden sind und diese nicht nur freiwillig befolgen. Hiervon profitieren alle. Rechtsanwalt Andreas Go¨hmann, Leiter Konzern-Recht TUI AG, Hannover

Den Artikel habe ich mit großem Interesse gelesen, bin ich doch selbst „Betroffener“. Vielleicht ein kleiner Hinweis zu Ihren Ausführungen auf Seite 782 zum § 5 FAO. Hier schreiben Sie, dass eine verfassungsrechtliche Überprüfung des § 5 FAO nie versucht wurde. Dies ist nicht ganz korrekt. Ich habe in meiner Eigenschaft als Antrag stellender Syndikusanwalt nach Ablehnung der Zulassung als Fachanwalt für Versicherungsrecht Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt. Diese habe ich unter anderem damit begründet, dass die Kompetenz auf dem Spezialgebiet – in diesem Fall Versicherungsrecht – beim Syndikus und Abteilungsleiter einer Schaden- und Rechtsabteilung eines Versicherungsunternehmens der eines angestellten Rechtsanwalts in einer Sozietät sicherlich in nichts nachsteht – vielleicht ist sogar wegen der eindeutigen Spezialisierung das Gegenteil der Fall. Die Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde wurde zu meinem Erstaunen begründet und ist veröffentlicht in der NJW 2007, Seite 1945. Genutzt hat also der Weg durch die Instanzen letztlich nichts. Rechtsanwalt Ulf Peters, Oldenburg

Anmerkung der Autorin: Die in Ihrem Fall ergangenen Entscheidungen (nämlich der Beschluss des BGH vom 25.10.2006 und der Nichtannahme-Beschluss des BVerfG vom 20.03.2007) sind mir sehr vertraut. Sie nehmen beide in meinem Fachanwaltsbuch und in einigen meiner sonstigen Veröffentlichungen breiten Raum ein. Allerdings bestand bei Ihnen die Besonderheit, dass Sie (soweit ich das den mir zugänglichen SachverhaltsSchilderungen entnehmen kann) in großem Umfang gerichtliche Verfahren vorgelegt haben, die schon wegen § 46 BRAO nicht als selbstständig bearbeitet gelten konnten. Das Bundesverfassungsgericht hat sich auf diesen Aspekt und auf Ihr „Wirken im Hintergrund“ fokussiert und brauchte sich so nicht mit der auf S. 782 von mir angesprochenen Frage zu befassen, ob es grundsätzlich richtig ist, die (außerforensische) Tätigkeit eines Anwalts in eigener Kanzlei und als Syndikus unterschiedlich zu bewerten. Hierzu hat sich das Verfassungsgericht in der Tat nie geäußert. Ihr (damaliger) Fall wäre meines Erachtens auch nicht anders zu entscheiden, wenn sich – was ich sehr hoffe – die Satzungsversammlung im November zu der vorgeschlagenen Änderung von § 5 FAO entschließen könnte. Die Anerkennung gerichtlicher Fälle, die auch die Wahrnehmung sämtlicher prozessualer Aufgaben durch den Antragsteller voraussetzt, käme erst in Betracht, wenn § 46 BRAO so radikal geändert würde, dass das Verbot forensischer Tätigkeit für den Arbeitgeber entfällt. Sie haben gelesen, dass dies aus meiner Sicht nur konsequent wäre. Nach der Änderung von § 5 FAO würde es allerdings genügen, dass Sie 70 außerforensische Fälle aus Ihrer Syndikustätigkeit und 10 gerichtliche Fälle aus eigener anwaltlicher Tätigkeit nachweisen. Anwaltsblatt

Herbert Rosendorfer { Der Schriftsteller und ehemalige Richter Herbert Rosendorfer ist im September im Alter von 78 Jahren in Bozen gestorben. Kurz zuvor hat Rechtsanwalt Prof. Dr. Benno Heussen noch mit ihm für das Anwaltsblatt ein Interview geführt. Es wird – entsprechend der ursprünglichen Heftplanung – im Dezember-Heft des Anwaltsblatts erscheinen. Bekannt geworden ist Rosendorfer vor allem durch sein Buch „Briefe in die chinesische Vergangenheit“.

MN

Nachrichten

69. Deutscher Juristentag

Rechtspolitische Forderungen in München verabschiedet Der 69. Deutsche Juristentag hat vom 18. bis 21. September 2012 mehr als 3.000 Teilnehmer nach München gezogen. In sechs Abteilungen wurde an zwei Tagen über aktuelle rechtspolitische Fragen diskutiert und Beschlüsse gefasst. Die wichtigsten Ergebnisse: 9 Abteilung Zivilrecht: Die Mehrheit der Abteilung hat sich für eine neue Architektur des Verbraucherrechts ausgesprochen, ein eigenes Gesetzbuch aber abgelehnt. Eine überwältigende Mehrheit befürwortete, die dysfunktionalen überbordenden Informationspflichten zu reduzieren, die Rechte der Verbraucher bei Universaldienstleistungen zu verbessern und das AGBRecht den Bedürfnissen im unternehmerischen Rechtsverkehr anzupassen. Bei den Forderungen zum AGB-Recht im unternehmerischen Rechtsverkehr wurden Ideen des Zivilrechtsausschusses des DAV aufgegriffen. 9 Abteilung Sozialrecht: Die Abstimmung hat ein überraschend eindeutiges Votum für die grundsätzliche Anwendung des allgemeinen Wettbewerbsrechts im Gesundheitswesen ergeben – und die Ablehnung eines eigenständigen Gesundheits-Wettbewerbsrechts. Das ist die zentrale Botschaft der sozialrechtlichen Abteilung. Überraschend ist dieses Ergebnis deshalb, weil das Schrifttum eher ein anderes Ergebnis hätte erwarten lassen. Schließlich haben sich die Teilnehmer für den Zivilrechtsweg ausgesprochen. 9 Abteilung Strafrecht: Der Bereich des Internetstrafrechts war offensichtlich vor allem für Richter und Staatsanwälte interessant. So wurde eine Quellen-Telekommunikationsüberwachung ebenso gefordert wie die Zulassung der Online-Durchsuchung. Die Beschlüsse sind insgesamt sehr strafverfolgungsfreundlich. In der Tat wurde bemängelt, dass vergleichsweise wenige Strafverteidiger unter den Teilnehmern waren. 9 Abteilung Öffentliches Recht: Nahezu einstimmig wurde eine frühzeitige Bürgerbeteiligung gefordert. Sie soll bereits zu einem Zeitpunkt einsetzen, zu dem die wesentlichen Entscheidungen, insbesondere solche über die Auswahl zwischen mehreren VerwirklichungsM 374

AnwBl 11 / 2012 Mantel

varianten, noch nicht getroffen worden sind. Die frühe Bürgerbeteiligung soll für solche Vorhaben obligatorisch sein, für die eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden muss. 9 Abteilung Wirtschaftsrecht: Das Konzept des Deutschen Corporate Governance Kodex und der halbstaatliche „Comply-or-Explain Mechanismus“ des § 161 AktG wurden grundsätzlich positiv bewertet. Das Experiment, mit unverbindlichem „soft law“ in das innerste der Unternehmensverfassung vorzustoßen, scheint geglückt zu sein. Die Frauenquote wurde abgelehnt. 9 Abteilung IT- und Kommunikationsrecht: In der grundsätzlichen Tendenz waren die Teilnehmer für eine intensive Regulierung des Persönlichkeitsrechts und Datenschutzes im Internet. Eine Aufgabe des geltenden Verbots mit Erlaubnisvorbehalt im Datenschutzrecht (zugunsten einer Freigabe mit Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten) lehnte die Abteilung ab, votierte aber mit deutlicher Mehrheit für eine Erweiterung der Erlaubnistatbestände in der Internetkommunikation. Alle Beschlüsse des 69. Deuschen Juristentags sind im Internet unter www.djt.de veröffentlicht worden.

Personalie

Juristentag: Neuer Präsident ist ein Rechtsanwalt Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Mayen (Bonn) ist während des 69. Deutschen Juristentags im September 2012 in München zum neuen Vorsitzenden der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentags gewählt worden. Damit wird er Präsident des nächsten Deutschen Juristentags 2014 in Hannover sein. Mayen ist dem Deutschen Anwaltverein seit Jahren eng verbunden: Er ist Vorsitzender des DAV-Verfassungsrechtsausschusses und Vorsitzender der Landesgruppe Nordrhein-Westfalen der Arbeitsgemeinschaft Verwaltungsrecht. Mit Mayen steht erstmals seit 1998 wieder ein Rechtsanwalt an der Spitze des Deutschen Juristentags. Er folgt Prof. Dr. Martin Henssler von der Universität Köln.

Leserreaktion

» Mehr Transparenz

bei Großverfahren Zu dem Beitrag „Neue Formen der Bürgerbeteiligung?“ von Rechtsanwalt Prof. Dr. Michael Uechtritz im Doppelheft August/September des Anwaltsblatts (AnwBl 2012, 697): Ihren Artikel habe ich mit großem Interesse gelesen. Ich stimme Ihnen weitgehend zu und möchte mir folgende zusätzliche Anregung erlauben: Nach meinen inzwischen auch jahrzehntelangen Erfahrungen mit Großverfahren liegt ein Mangel der verschiedenen Verfahrensordnungen von Großverfahren darin, dass die öffentlichen Anhörungen üblicherweise von Behörden durchgeführt werden. Diese sind zwar formal mit den Vorhabenträgern nicht identisch, für den Bürger werden die Unterschiede jedoch regelmäßig nicht erkennbar. Bei den Verfahren in Hamburg etwa zur Hafenerweiterung erscheinen Vorhabenträger und Anhörungsbehörde den anhörungsberechtigten Bürger als Teile der einen Hamburger Verwaltung. Dies bewirkt, dass die Bürger von vornherein nicht von einer fairen und gerechten Anhörung ausgehen, weil sprichwörtlich eine Krähe der anderen ja kein Auge aushackt. Sie bemängeln ja auch zu Recht, dass nach dem geltenden Recht die Behörden sich mit diesen Verfahren häufig keine große Mühe geben. Das betrifft aus meiner Sicht insbesondere auch die Öffentlichkeitsarbeit, etwa die Werbung für die Termine, aber auch die Verhandlungsführung. Hier hat Heiner Geißler bei „Stuttgart 21“ beispielhaft gezeigt, wie das anders gehen könnte. Meine Anregung daher wäre, dass man in Großverfahren die Anhörung durch Externe vorbereiten und durchführen lässt, etwa nach dem Beispiel der Schlichtung im Tarifrecht. Vorhabenträger und Bürger würden dann auch nach der Wahrnehmung der letzteren eher in Augenhöhe und gleichberechtigt miteinander verhandeln, was jedenfalls in der Öffentlichkeit zu einer besseren Akzeptanz solcher Verfahren beitragen könnte. Wie man Großverfahren in diesem Sinne definiert und die Auswahl des Schlichters durchführt, müsste man natürlich im Einzelnen erörtern. Ich denke allerdings, dass man hier Lösungen finden kann. Rechtsanwalt Wolf-Dieter Hauenschild, Hamburg

MN

Nachrichten

Leserreaktion

Leserreaktion

» PartG und

» Vertretung

Rechtsanwalts-GmbH Zu dem Beitrag „Das Haftungssubjekt bei der anwaltlichen Berufshaftung“ von Jaqueline Bräuer im Doppelheft August/September des Anwaltsblatts (AnwBl 2012, 766): Vielen Dank für Ihren sehr interessanten und informativen Beitrag. Zu Ihren Ausführungen erlaube ich mir zwei kleine Anmerkungen. Zum einen zur personellen Beschränkung der Berufshaftung bei der Partnerschaft nach § 8 Abs. 2 PartGG: Hier ist bisweilen festzustellen, dass es an einer klaren Zuordnung der einzelnen Mandate zu einem einzelnen Partner in der Praxis fehlt. Wenn der Mandant bei einem „Routine-Mandat“ die Arbeitsergebnisse der Kanzlei einmal von diesem Partner, einmal von jenem Partner und wegen Urlaubsvertretung dann wiederum von einem weiteren Partner erhält, ist diese Haftungsbegrenzung nicht mehr gegeben. Damit haften dann nicht nur die mehreren Partner, die mit der Sache befasst waren, persönlich neben der Gesellschaft, sondern wegen Wegfalls der Sonderregelung des § 8 Abs. 2 PartGG in diesem Fall dann wieder sämtliche Partner neben der Partnerschaft. Diese Konsequenz machen sich viele Kollegen in einer Partnerschaft nicht klar. Zum anderen zu einer möglichen Inanspruchnahme einer bereits aufgelösten Rechtsanwalts-GmbH: Ich denke, dass ein Haftungsanspruch gegen eine bereits aufgelöste GmbH ein Fall für eine Nachtragsliquidation wäre. Denn in diesem Fall besteht ja nicht nur die Verbindlichkeit der Gesellschaft aus der Haftung (was für sich allein natürlich nicht zur Nachtragsliquidation führen könnte), sondern ebenso der Deckungsanspruch der Gesellschaft gegen die Versicherung als nachträglich erkannter Vermögenswert. Rechtsanwalt und Steuerberater Dr. Norbert H. Ho¨lscheidt, Vagen

Anmerkung der Autorin: Sie haben völlig recht: Bei der PartG werden oft die Mandate nicht klar zugeordnet; nur wer für klare Organisation sorgt, kann die Vorteile der Haftungskonzentration für sich in Anspruch nehmen. Die Nachtragsliquidation bei der GmbH ist ein guter Gedanke; aus der Praxis ist mir jedoch kein Fall bekannt, in dem dieser Weg beschritten worden wäre. M 376

AnwBl 11 / 2012 Mantel

mehrerer Auftraggeber? Zu dem Beitrag „Keine 1,5-Geschäftssgebühr als Regel – und was sollen Anwälte jetzt beachten?“ von Rechtsanwalt Norbert Schneider im Oktober-Heft des Anwaltsblatts (AnwBl 2012, 806): Die von Ihnen geäußerte Rechtsansicht teile ich selbstverständlich. Ich selber hätte mir auch nie etwas anderes vorstellen können. So wie ich es sehe, orientieren sich die ganzen Urteile ja alle an Verkehrsunfallthemen. Ich sehe es aber doch richtig, dass hierbei ihr Schluss-Tipp (mehrere Auftraggeber) hier gar nicht möglich ist, denn vertreten kann man doch immer nur den Eigentümer des Fahrzeugs. Die Vertretung mehrerer Auftraggeber ist doch hier gar nicht möglich und von daher auch keine Hilfe. Rechtsanwalt Stephan Peter Hansen, Pulheim

Anmerkung des Autors: Hintergrund der BGH-Entscheidungen waren keineswegs stets Verkehrsunfallsachen. Im ersten Fall des IX. Senats ging es um eine titulierte Darlehensforderung, gegen die außergerichtlich wegen einer angeblichen Verrechnungsvereinbarung unter Androhnung einer Vollstreckungsgegenklage vorgegangen worden war. Im zweiten Fall des VI. Senats ging es in der Tat um eine Verkehrsunfallsache. Im Fall des VIII. Senats ging es um eine Mietsache. Die Ausführungen sind daher allgemeingültig und keineswegs auf Verkehrsunfallsachen beschränkt. Daher kommt auch stets eine Gebührenerhöhung nach Nr. 1008 VV RVG in Betracht. Soweit Sie ausführen, dass man in Verkehrsunfallsachen nicht mehrere Auftraggeber vertreten könne, kann ich dem nicht folgen. Sie können durchaus geschädigten Halter und Fahrer vertreten (siehe zuletzt AG Mülheim, NJW-Spezial 2012, 507). Vorsicht ist erst geboten, sobald eine Interessenkollison auftreten kann. Bei Vertretung mehrerer Geschädigter aus einer Verkehrsunfallsache dürfte allerdings so gut wie nie eine Gebührenerhöhung nach Nr. 1008 VV RVG anfallen, da verschiedene Gegenstände geltend gemacht werden. Jeder Geschädigte macht in der Regel eigene Ansprüche geltend, so dass es an demselben Gegenstand fehlt, den Nr. 1008 VV RVG voraussetzt.

Mietrecht

Vermieter darf kündigen, um Kanzlei in der Wohnung zu eröffnen Der BGH hat entschieden, dass dem Vermieter auch dann ein berechtigtes Interesse an der Beendigung des Mietverhältnisses zustehen kann, wenn er die vermietete Wohnung ausschließlich für seine berufliche Tätigkeit oder die eines Familienangehörigen nutzen will (Urteil v. 26.9.12, VIII ZR 330/11). Das berufliche Interesse dürfe aufgrund der verfassungsrechtlich geschützten Berufsfreiheit nicht geringer bewertet werden, als der in § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB gesetzlich geregelte Eigenbedarf des Vermieters zu Wohnzwecken. Im konkreten Fall wollte der Vermieter das Mietverhältnis beenden, damit seine Ehefrau ihre Anwaltskanzlei in die Wohnung verlegen könne. Das Berufungsgericht muss nun prüfen, ob Härtegründe nach § 574 BGB vorliegen. Bei Redaktionsschluss lag die Entscheidung des BGH noch nicht in gedruckt Form vor.

Institut für Anwaltsrecht Köln

Ringvorlesung „Anwaltsberuf“ Im Wintersemester 2012/13 werden im Rahmen der angebotenen Ringvorlesung „Anwaltsberuf“ angeboten: 9 13.11.2012: Rechtsanwältin Julia Küest (HFK Rechtsanwälte LLP, Stuttgart): „Anwaltliche Tätigkeit im Bauund Architektenrecht“ 9 04.12.2012: Rechtsanwältin Dr. Ute Ploch-Kumpf (Justizministerium Nordrhein-Westfalen): „Anwaltsorientierung in den Juristischen Prüfungen und künftige Praxis“ 9 29.01.2013: Prof. Dr. Martin Henssler und Prof. Dr. Hanns Prütting (Direktoren des Institut für Anwaltsrecht an der Universität zu Köln): „Aktuelle Themen des anwaltlichen Berufsrechts“. Die Veranstaltungen finden jeweils dienstags von 16.00 bis 17.30 Uhr s.t. in Raum S 11 im Neuen Seminargebäude (Gebäudenummer 106) statt Nähere Informationen zu den einzelnen Veranstaltungen: www.anwaltsrecht.uni-koeln.de/Lehre oder unter Tel. 0221/470-5711.

MN Aufsätze

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Der Zivilprozess lebt – die neueste Rechtsprechung des BGH Rechtsanwalt beim BGH Dr. Herbert Geisler, Karlsruhe

Für das Zivilprozessrecht sind alle zwölf Zivilsenate des BGH zuständig – und doch lassen sich in der aktuellen Rechtsprechung des BGH klare Trends erkennen. Der BGH betont den Zugang zum Recht und einen wirkungsvollen Rechtsschutz. Der kunstvoll geführte Zivilprozess bleibt für die Anwaltspraxis wichtig.

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Deutsches Berufsrecht als Bollwerk gegen englische ABS? Rechtsanwalt Prof. Dr. Hans-Jürgen Hellwig, Frankfurt am Main

Die neuen englischen Alternative Business Structures (ABS) für Anwaltskanzleien – mit der Berufsausübung, der Geschäftsführung oder dem Eigenkapital durch Nicht-Anwälte – könnten weitreichende Folgen für Deutschland haben. Das deutsche Berufsrecht verhindert nicht, dass eine ABS hier aktiv wird.

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Eine „moderne“ Entscheidung des BGH zu Anwaltssozietäten und Werbung Rechtsanwalt Dr. Volker Römermann, Hamburg/Hannover

Die „echte“ Scheinsozietät bietet dem Mandanten Vorteile und ist zulässig. Das Urteil des BGH-Anwaltssenats (AnwBl 2012, 840, Oktober-Heft) ist wegweisend, nicht nur weil der Senat die Wirklichkeit des Anwaltsmarkts anerkennt, sondern auch weil er einen Zentralbegriff des UWG ins Anwaltsrecht übernimmt.

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Risikomanagement durch Rechtsformwahl: Die Partnerschaftsgesellschaft Rechtsanwalt Dr. Matthias Kilian, Soldan Institut, Köln

Auf den ersten Blick verblüffend: Noch immer arbeiten viele Anwälte in der Rechtsform der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, obwohl mit der Partnerschaftsgesellschaft eine risikooptimiertere Rechtsform problemlos zur Verfügung steht. Der Autor verrät die Gründe.

MN

Aufsätze

Prozessrecht

Der Zivilprozess lebt – die neueste Rechtsprechung des BGH BGH muss alte Grundsätze des Zivilprozessrechts betonen Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Dr. Herbert Geisler, Karlsruhe

Der erste Blick täuscht: Die großen Entscheidungen des BGH zum Zivilprozess mögen zehn Jahre nach der Zivilprozessreform fehlen, doch der BGH ist bei der Weiterentwicklung des Prozessrechts nach wie vor aktiv. Zum einen wird das Prozessrecht behutsam weiterentwickelt, zum anderen gibt es auch eine Fülle von Entscheidungen, mit denen alte Grundsätze des Zivilprozesses bekräftigt werden. Diese Beschlüsse und Urteile sind ein Zeichen dafür, dass in den Instanzen Richtern und auch Anwälten manchmal das notwendige Prozess-Know-how fehlt. Der Autor will dem Forensiker einen praxisnahen Überblick zur neuesten BGH-Rechtsprechung geben – als Ersteinstieg oder Repetitorium.

I. Einleitung Zur Beurteilung der materiellen Rechtslage hat der Rechtsanwalt dem Gericht die erforderlichen Tatsachen vorzutragen. Für das richtige prozessuale Vorgehen und zum Ergreifen taktischer Maßnahmen gibt ihm die ZPO das Handwerkszeug. Geht ein Anspruch durch prozessuale Fehler verloren, führt dies zur Haftung des Anwalts. Es wird vorausgesetzt, dass der Anwalt die Rechtslage umfassend kennt.1 So handelt der Anwalt pflichtwidrig, wenn er eine aussichtslose Klage trotz verjährten Anspruchs erhebt.2 Im Prozess hat der Anwalt dafür einzutreten, dass die zu Gunsten des Mandanten sprechenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte so umfassend wie möglich ermittelt und bei der Entscheidung des Gerichts berücksichtigt werden.3 Ein Anwalt hat die Interessen des Mandanten auch im Rahmen von Vergleichsbemühungen umfassend und nach allen Richtungen wahrzunehmen und ihn vor vermeidbaren Nachteilen zu bewahren.4 Er muss von einem Vergleich abraten, wenn begründete Aussicht besteht, im Falle einer streitigen Entscheidung ein wesentlich günstigeres Ergebnis zu erzielen.5 Auch wenn berufsrechtliche Verstöße materiell-rechtliche Auswirkungen haben können (§§ 134, 138 BGB), bleiben Prozesshandlungen eines sich berufswidrig verhaltenden Anwalts wegen der Notwendigkeit des Verkehrsschutzes wirksam.6

II. Prozessvoraussetzungen Kennzeichnend für die aktuelle Rechtsprechung des BGH im Bereich der Prozessvoraussetzungen ist das Anliegen, einen wirkungsvollen Rechtsschutz zu Gunsten des Rechtssuchenden zu gewährleisten. Das wird besonders deutlich an 854

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Entscheidungen, die sich mit dem Anwaltszwang (auch vor dem BGH) beschäftigen und zu pragmatischen Lösungen kommen: An die verfahrenseinleitenden Maßnahmen werden keine überhöhten Anforderungen gestellt. 1. Parteifähigkeit/Prozessfähigkeit Bis zur gerichtlichen Klärung ist eine Prozesspartei als partei- bzw. prozessfähig zu behandeln.7 Sie kann sogar Rechtsmittel gegen ein Sachurteil einlegen8 und hat bei Unterliegen auch die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. a) Parteifähigkeit (§ 50 ZPO) Wird eine Partei vom Prozessgegner allein beerbt, so endet das Verfahren (Verbot des Insichprozesses) ohne eine Kostenentscheidung nach § 91 a ZPO.9 Scheidet ein Gesellschafter aus einer zweigliedrigen Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) aus, kann der verbleibende Gesellschafter im Wege des Parteiwechsels die Klägerrolle mit Zustimmung des Beklagten bzw. gerichtliche Zulassung als sachdienlich an Stelle der nicht mehr existierenden Gesellschaft übernehmen.10 b) Prozessfähigkeit (§ 52 ZPO) Eine GmbH ist nicht mehr prozessfähig, wenn der einzige Geschäftsführer sein Amt niederlegt.11 Nach dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes muss der Kläger die Möglichkeit haben, seine Forderung auch gegen einen prozessunfähigen Beklagten durchzusetzen. Der Gegner hat die Möglichkeit, die Bestellung eines Prozesspflegers (§ 57 Abs. 1 ZPO) bzw. eines Notgeschäftsführers (§ 29 BGB analog) zu beantragen; ansonsten ist der Rechtsstreit unterbrochen (§ 241 ZPO) bis für den Betroffenen gemäß § 1896 BGB ein Betreuer bestellt worden ist.12 Es ist jedoch ohne Einfluss auf den Rechtsstreit, wenn die Partei, bevor sie prozessunfähig geworden ist, ihrem Rechtsanwalt wirksam eine Prozessvollmacht erteilt hatte.13 Wird die beklagte GmbH im Handelsregister wegen Vermögenslosigkeit gelöscht (§ 394 Abs. 1 FamFG), bleibt sie dennoch rechtsund parteifähig, wenn der Kläger substanziiert behauptet, es sei bei der Gesellschaft noch Vermögen vorhanden.14 Bestehen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass eine Partei prozessunfähig sein könnte, hat das Gericht von Amts wegen im Wege des Freibeweises zu ermitteln, ob Prozessunfähigkeit vorliegt, wobei vorhandene Zweifel zu Lasten der betroffenen Partei gehen.15

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BGH, Urteil vom 2.7.2009 – IX ZR 126/08. BGH, Urteil vom 3.2.2011 – IX ZR 105/10. BGH, Beschluss vom 14.10.2010 – IX ZR 4/10. BGH, Beschluss vom 14.04.2011 – IX ZR 84/10. BGH, Urteil vom 11.3.2010 – IX ZR 104/08. BGH, Beschluss vom 22.2.2010 – II ZB 8/09 – Prozesserklärung trotz Berufsverbots; BGH, Urteil vom 14.5.2009 – IX ZR 60/08 – Vertretung widerstreitender Interessen gem. § 43 BRAO. BGH, Urteil vom 29.9.2010 – XII ZR 41/09. BGH, Beschluss vom 31.5.2010 – II ZB 9/09. BGH, Beschluss vom 16.12.2010 – Xa ZR 81/09. BGH, Beschluss vom 31.5.2010 – II ZB 9/09. BGH, Urteil vom 25.10.2010 – II ZR 115/09. BGH, Beschluss vom 9.11.2010 – VI ZR 249/09. BGH, Beschluss vom 19.1.2011 – XII ZB 326/10. BGH, Urteil vom 5.7.2012 – III ZR 116/11. BGH, Beschluss vom 17.11.2011 – V ZR 199/11.

Der Zivilprozess lebt – die neueste Rechtsprechung des BGH, Geisler

MN

Prozessrecht

Obwohl bei nicht prozessfähigen Personen an deren gesetzlichen Vertreter zuzustellen ist (§ 170 Abs. 1 ZPO), gilt dies nicht für die nach § 275 FamFG weiter verfahrensfähigen Betroffenen im Betreuungsverfahren.16 Da die fehlende Prozessfähigkeit des Schuldners auch in der Zwangsvollstreckung ein Verfahrenshindernis ist, muss entsprechend § 57 ZPO ein Verfahrenspfleger für den Schuldner bestellt werden.17 2. Prozessführungsbefugnis (§ 51 Abs. 1 ZPO) a) Prozessstandschaft Der Kläger kann ein fremdes Recht aufgrund einer ihm vom Berechtigten erteilten Ermächtigung im eigenen Namen verfolgen, sofern er an der Durchsetzung ein eigenes schutzwürdiges Interesse hat. Ein solches Interesse ist bei verbandsmäßigen Zusammenschlüssen gegeben, wenn die in Frage stehende Rechtsverfolgung der satzungsgemäßen Wahrnehmung der geschäftlichen Belange der Verbandsmitglieder entspricht und die Klage nur auf einzelne Mitglieder beschränkt wird.18 Seit der gesetzlichen Anerkennung der Rechts- und Parteifähigkeit der Wohnungseigentümergemeinschaft kann der Verwalter Ansprüche der WEG nicht mehr im eigenen Namen als Prozessstandschafter geltend machen.19 Die WEG kann zwar die Ausübung der auf die ordnungsgemäße Herstellung des Gemeinschaftseigentums gerichteten Rechte (Erfüllung, Nacherfüllung, Selbstvornahme, Vorschuss) der einzelnen Erwerber aus den Verträgen mit dem Veräußerer durch Mehrheitsbeschluss an sich ziehen, aber nicht die Rechte der einzelnen Wohnungseigentümer geltend machen, wie großen Schadensersatz verlangen, den Erwerbsvertrag wandeln oder von ihm zurücktreten.20 Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens verliert der Schuldner die Prozessführungsbefugnis, soweit die Insolvenzmasse betroffen ist. Der Rechtsstreit wird unterbrochen, sogar ein Kostenfestsetzungsverfahren trotz rechtskräftiger Kostengrundentscheidung.21 Mit Aufhebung des Insolvenzverfahrens wird der Schuldner wieder prozessführungsbefugt (Parteiwechsel kraft Gesetzes).22 Der Treuhänder ist jedoch als Partei kraft Amtes befugt, gegen die zur Tabelle festgestellten, in das Schlussverzeichnis des aufgehobenen Insolvenzverfahrens aufgenommenen Forderungen eine Verteilungsabwehrklage entsprechend § 767 ZPO zu erheben.23 Die Prozessführungsbefugnis des Zwangsverwalters bleibt für Rechtsstreitigkeiten erhalten, in denen es um Nutzungen aus der Zeit vor der Zuschlagserteilung geht. Das Rechtsschutzbedürfnis kann aber fehlen, wenn die betreibenden Gläubiger vollständig befriedigt wurden.24 Eine nach Prozesseinleitung vermögenslos gewordene Partei, die den Prozess nach einer Abtretung und Ermächtigung durch den Zessionar, die Forderung prozessual geltend zu machen, fortführt, handelt grundsätzlich nicht rechtsmissbräuchlich.25 b) Vertretung Eine BGB-Gesellschaft wird gem. § 51 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 714 BGB gerichtlich durch alle Gesellschafter vertreten, denen die Geschäftsführungsbefugnis zusteht, soweit der Gesellschaftsvertrag keine abweichenden Regelungen enthält. Eine Heilung des Vertretungsmangels ist dadurch möglich, dass die gesetzlichen Vertreter der Gesellschaft als solche in den Prozess eintreten und die bisherige Prozessführung genehmigen.26 Der Zivilprozess lebt – die neueste Rechtsprechung des BGH, Geisler

3. Mehrere Beteiligte am Rechtsstreit a) Parteiwechsel/Parteierweiterung aa) Richtigstellung der Parteibezeichnung Auch bei objektiv unrichtiger oder mehrdeutiger Bezeichnung liegt keine Parteiänderung vor, weil grundsätzlich diejenige Person als Partei anzusprechen ist, die erkennbar durch die Parteibezeichnung betroffen werden soll.27 Dies gilt auch bei Nachreichung einer aktuellen Eigentümerliste oder deren nachträgliche Korrektur,28 auch noch in der Berufungsinstanz.29 bb) Parteiänderung Die Klagefrist des § 46 Abs. 1 Satz 2 WEG wird auch durch eine gegen die WEG gerichtete Klage gewahrt, wenn innerhalb der Frist der Verwalter angegeben und die Klage später im Wege eines Parteiwechsels gegen die übrigen Wohnungseigentümer umgestellt wird.30 Werden vor Anerkennung der Parteifähigkeit der WEG die Eigentümer auf Werklohn wegen Arbeiten am Gemeinschaftseigentum in Anspruch genommen, kann nicht allein wegen der Änderung der Rechtsprechung das Rubrum berichtigt werden; ein Parteiwechsel ist notwendig.31 Ein Zustellungsmangel wird nach § 295 Abs. 1, Alt. 1. ZPO dadurch geheilt, dass sich der Prozessbevollmächtigte der WEG auch für die übrigen Eigentümer bestellt und Abweisung der Klage beantragt.32 Ein Parteiwechsel braucht nicht schriftsätzlich, sondern kann auch durch Prozesserklärung in der mündlichen Verhandlung herbeigeführt werden.33 Ein Parteiwechsel innerhalb des Rechtsstreits begründet nicht ohne weiteres eine neue Angelegenheit.34 Ein mit neuem Tatsachenvortrag verbundener Parteiwechsel ist in der Rechtsmittelinstanz nicht möglich, außer er wurde durch Gesetzesänderung begründet (zum Beispiel veränderte Zuständigkeit einer Behörde).35 b) Streitgenossen Notwendige Streitgenossenschaft liegt nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 ZPO vor, wenn ein Recht aus materiell-rechtlichen Gründen nur von mehreren Berechtigten oder gegen mehrere Verpflichtete gemeinsam ausgeübt werden darf. So ist die Beschlussanfechtungsklage eines Wohnungseigentümers gegen die übrigen Eigentümer – nicht gegen die Eigentümergemeinschaft als solche – zu richten.36 Das gilt auch für die Berufung, wobei ein Streitgenosse weiter am Verfahren zu beteiligen ist, auch wenn er kein Rechtsmittel einge16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

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Beschluss vom 4.5.2011 – XII ZB 632/10. Beschluss vom 17.8.2011 – I ZB 73/09. Urteil vom 21.9.2011 – VIII ZR 118/10. Urteil vom 28.1.2011 – V ZR 145/10. Urteil vom 19.8.2010 – VII ZR 113/09. Beschluss vom 15.5.2012 – VIII ZB 79/11. Beschluss vom 7.4.2011 – V ZB 11/10. Urteil vom 29.3.2012 – IX ZR 116/11. Urteil vom 11.8.2010 – XII ZR 181/08. Urteil vom 29.9.2011 – VII ZR 162/09. Urteil vom 19.7.2010 – II ZR 56/09. Urteil vom 22.9.2011 – IX ZR 209/10. Urteil vom 8.7.2011 – V ZR 34/11. Urteil vom 20.5.2011 – V ZR 99/10. Urteil 1.4.2011 – V ZR 230/10. Urteil vom 10.3.2011 – VII ZR 54/10. Urteil vom 5.3.2010 – V ZR 62/09. Urteil vom 17.9.2010 – V ZR 5/10. Beschluss vom 17.4.2012 – XI ZB 22/11. Beschluss vom 27.6.2012 – XII ZR 89/10. Urteil vom 11.11.2011 – V ZR 45/11.

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Prozessrecht

legt hat.37 Bei Verdacht einer Unfallmanipulation darf der neben seinem Versicherungsnehmer verklagte Haftpflichtversicherer im Prozess sowohl als Streitgenosse als auch als Streithelfer nach §§ 61, 69 ZPO seine eigenen Interessen wahrnehmen.38 Stellt der wegen Abtretung nicht ermächtigte Prozessstandschafter die Klage erst nach Ablauf der durch die Klageerhebung zu wahrenden Frist um, dass er in erster Linie Zahlung an den Abtretungsempfänger und nur hilfsweise an sich selbst beantragt, und wird er erst später vom Abtretungsempfänger zur Prozessführung ermächtigt, wirkt die Ermächtigung nicht auf den Zeitpunkt der Klageerhebung zurück.39 c) Streitverkündung (§§ 72, 73 ZPO) Ist aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unklar, wer von mehreren in Betracht kommenden Personen passivlegitimiert ist, muss der Anwalt die Interventionswirkung im Folgeprozess nach §§ 68, 74 ZPO und die Verjährungshemmung nach § 204 Abs. 1 Nr. 6 BGB herbeiführen.40 Der Anwalt sollte die Bezeichnung des Anspruchsgrundes nicht zu eng fassen, um die Reichweite der Verjährungshemmung nicht zu beschränken. Ist die Verjährung eines bestimmten Anspruchs dem Grunde nach gehemmt, so erfasst sie auch auf ihm beruhende Schadenspositionen, die nicht Gegenstand des Vorprozesses waren.41 Allein die Möglichkeit, dass ein Urteil für nachfolgende Prozesse eine faktische Präzedenzwirkung haben kann (zum Beispiel inhaltsgleiche AGB), begründet nicht das nach § 66 Abs. 1 ZPO erforderliche rechtliche Interesse.42 Nach §§ 72 Abs. 2 Satz 2, 73 Satz 2 ZPO sind Gericht oder gerichtlicher Sachverständige nicht „Dritte“ und eine Streitverkündung nicht zuzustellen, aber dem gegnerischen oder auch dem eigenen Prozessbevollmächtigten.43 Die Zulässigkeit der Streitverkündung ist erst im Folgeverfahren zu prüfen. Da im Rechtsstreit zwischen entfernterem Abkömmling und Erben über die Pflichtteilsberechtigung die Wirksamkeit der Pflichtteilsentziehung des näheren Abkömmlings nicht geklärt wird, kann sich der Erbe nur durch Streitverkündung und Hinterlegung nach § 372 BGB hinreichend davor schützen, die dem Pflichtteilsberechtigten geschuldete Leistung mehrfach erbringen zu müssen.44 d) Nebenintervention Die Beitrittserklärung eines Nebenintervenienten in einem beim Landgericht anhängigen selbständigen Beweisverfahren unterliegt nicht dem Anwaltszwang.45 Da der Nebenintervenient nach rechtskräftiger Zurückweisung seiner Nebenintervention (§ 73 Abs. 3 ZPO) nicht mehr Prozessbeteiligter ist, hat er nicht mehr die Befugnis, Prozesshandlungen für die von ihm unterstützte Partei vorzunehmen.46 Der einfache Streithelfer (§ 66 ZPO) kann – anders als der notwendige Streitgenosse – ein Rechtsmittel nur solange einlegen, wie die Rechtsmittelfrist für die Hauptpartei läuft ohne Rücksicht darauf, ob und wann ihm das anzufechtende Urteil zugestellt worden ist.47 Wurden die Berufung der Hauptpartei und die Berufung des Streithelfers bei verschiedenen Gerichten eingelegt, ist die Entscheidung über die Berufung von dem Gericht zu treffen, bei dem das Rechtsmittel der Hauptpartei anhängig ist.48 Nach Rücknahme der Berufung durch die Hauptpartei kann der Streithelfer, der selbst kein Rechtsmittel eingelegt hat, das Berufungsverfahren nicht fortsetzen.49 856

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4. Rechtsschutzbedürfnis Das Rechtsschutzbedürfnis für eine Leistungsklage ergibt sich regelmäßig aus der Nichterfüllung einer fälligen Forderung,50 aber nicht mehr für eine Vollstreckungsabwehrklage wegen eines Zurückbehaltungsrechts, wenn die Forderung bis auf 0,04 Euro erloschen ist.51 Ein rechtliches Interesse an einer alsbaldigen Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses ist gegeben, wenn dem Recht oder der Rechtslage des Klägers eine gegenwärtige Gefahr der Unsicherheit droht und das erstrebte Urteil geeignet ist, diese Gefahr zu beseitigen, zum Beispiel Klage eines Erbprätendenten gegen einen anderen Erbprätendenten auf Feststellung seiner Miterbenstellung, obwohl das Urteil nur zwischen den Parteien wirkt und ein Erbscheinsverfahren bereits stattgefunden hat;52 Feststellung unerlaubter Handlung bei Schuldnerwiderspruch;53 bei drohender Verjährung;54 Geltendmachung von Gewährleistungsansprüchen vor Eintritt des Schadens;55 Feststellung, dass eine Forderung mangels Fälligkeit derzeit nicht zu erbringen ist, aber nicht, wenn der Schuldner die geforderte Leistung bereits erfüllt hat.56 Ein Kläger ist nicht gehalten, seine Klage in eine Leistungs- und eine Feststellungsklage aufzuspalten, wenn bei Klageerhebung erst ein Teil des Schadens entstanden und die Entstehung weiteren Schadens nach dem Vorbringen des Klägers noch zu erwarten ist.57 5. Postulationsfähigkeit vor dem BGH (§ 78 ZPO) Da Abgabe zu Protokoll der Geschäftsstelle möglich ist (§§ 91 a Abs. 1, 78 Abs. 3 ZPO), kann die Erledigung auch vom nicht beim BGH zugelassenen Rechtsanwalt erklärt und Kostenantrag gestellt werden.58 Einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem Berufungsurteil kann nur der beim BGH zugelassene Anwalt beantragen.59 Beauftragt eine Partei ihren Berufungsanwalt um Stellungnahme zum beim BGH eingelegten Rechtsmittel des Gegners, kann die Vergütung für diese Einzeltätigkeit nach RVG-VV Nr. 3403 erstattungsfähig sein, sofern die gleiche Tätigkeit eines Verfahrensbevollmächtigten nach § 91 Abs. 2 Satz 1 ZPO zu erstatten wäre und kein beim BGH zugelassener Rechtsanwalt bestellt wurde.60 Behörden können sich in Familiensachen gem. § 114 Abs. 3 Satz 1 FamFG vertreten lassen, vor dem

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BGH, Urteil vom 24.1.2012 – X ZR 94/10. BGH, Beschluss vom 29.11.2011 – VI ZR 201/10. BGH, Urteil vom 18.1.2012 – IV ZR 142/11. BGH, Urteil vom 16.9.2010 – IX ZR 203/08. BGH, Urteil vom 8.12.2011 – IX ZR 204/09. BGH, Beschluss vom 10.2.2011 – I ZB 63/09. BGH, Beschluss vom 8.2.2011 – VI ZB 31/09. BGH, Urteil vom 13.4.2011 – IV ZR 204/09. BGH, Beschluss vom 12.7.2012 – VII ZB 9/12. BGH, Beschluss vom 1.6.2011 – VIII ZB 96/10. BGH, Beschluss vom 24.5.2012 – VII ZB 24/11 mit Anm. Reinelt, jurisPR-BGHZivilR 14/2012 Anm. 1. BGH, Beschluss vom 29.11.2011 – V ZB 157/11. BGH, Beschluss vom 16.12.2010 – Xa ZR 110/08. BGH, Urteil vom 10.11.2010 – XII ZR 37/09. BGH, Beschluss vom 27.1.2011 – VII ZB 21/09. BGH, Urteil vom 14.4.2010 – IV ZR 135/08. BGH, Urteil vom 2.12.2010 – IX ZR 41/10. BGH, Urteil vom 7.4.2011 – I ZR 34/09. BGH, Urteil vom 25.2.2010 – VII ZR 187/08. BGH, Urteil vom 6.6.2012 – VIII ZR 198/11. BGH, Beschluss vom 06.03.2012 – VI ZR 167/11. BGH, Beschluss vom 24.10.2011 – IX ZR 244/09. BGH, Beschluss vom 12.8.2009 – XII ZA 30/09. BGH, Beschluss vom 10.7.2012 – VI ZB 7/12.

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Prozessrecht

BGH muss der Behördenvertreter die Befähigung zum Richteramt haben.61 Die Beiordnung eines Notanwalts nach § 78 b ZPO setzt voraus, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht mutwillig oder aussichtslos erscheint und die Partei darlegt, trotz zumutbarer Anstrengungen einen zu ihrer Vertretung bereiten Anwalt nicht zu finden, obwohl die Partei den geschuldeten Vorschuss zahlt,62 sie sich erfolglos mit der Bitte um Mandatsübernahme an mindestens fünf beim BGH zugelassene Rechtsanwälte gewandt63 und der bisherige Anwalt nicht grundlos sein Mandat niedergelegt hat.64 Ist der Antrag einer Partei auf Beiordnung eines Notanwalts abgelehnt worden, besteht auch für die gegen diese Entscheidung gerichtete sofortige Beschwerde bzw. – falls kein Rechtsmittel gegeben ist – für die Anhörungsrüge kein Anwaltszwang.65

III. Sachvortrag Mit zahlreichen prozessrechtlichen Entscheidungen macht der BGH immer wieder deutlich, dass der wirkungsvolle Rechtsschutz des Einzelnen nicht an einer zu strengen Anwendung von Formvorschriften scheitern soll. Es ist ein deutliches Signal an solche Zivilsenate in den Oberlandesgerichten, die zu einer besonders detailverliebten, geradezu anwaltsfeindlichen Auslegung von Formvorschriften neigen. Für das Wettbewerbs- und Markenrecht gibt es eine grundlegende Neuerung: Wie im normalen Zivilprozess gibt es keine alternative Klagehäufung mehr. 1. Unterschrift (§ 130 Nr. 6 ZPO) Die eigenhändige Unterschrift soll den Aussteller identifizieren und dessen unbedingten Willen zum Ausdruck bringen, den Schriftsatz zu verantworten und bei Gericht einzureichen.66 Was unter einer Unterschrift zu verstehen ist, ergibt sich aus dem Sprachgebrauch und dem Zweck der Formvorschrift,67 so dass auch unleserliche Zeichen ausreichen können.68 Das Fehlen einer Unterschrift ist sogar unschädlich, wenn auch ohne die Unterschrift des Anwalts aus anderen, eine Beweisaufnahme nicht erfordernden Umständen zweifelsfrei feststeht, dass der Prozessbevollmächtigte die Verantwortung für den Inhalt des Schriftsatzes übernommen hat.69 Unterzeichnet ein Rechtsanwalt für den bezeichneten Prozessbevollmächtigten der Partei mit dem Zusatz „i. V.“, handelt er erkennbar als Unterbevollmächtigter (nicht bei Zusatz „i. A.“!) und übernimmt die Verantwortung für den Inhalt der Berufungsbegründungsschrift.70 Bei einer elektronisch übermittelten Berufungsbegründung muss die qualifizierte elektronische Signatur grundsätzlich durch einen postulationsfähigen Anwalt erfolgen.71 2. Inhalt a) Bestimmtheitsgebot (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) aa) Ein Unterlassungsantrag darf nicht derart undeutlich gefasst sein, dass Gegenstand und Umfang der Entscheidungsbefugnis des Gerichts (§ 308 Abs. 1 ZPO) nicht erkennbar abgegrenzt sind, sich der Beklagte deshalb nicht erschöpfend verteidigen kann und letztlich die Entscheidung darüber, was dem Beklagten verboten ist, dem Vollstreckungsgericht überlassen bliebe,72 zum Beispiel bei bloßer Wiederholung des Gesetzeswortlauts.73 bb) Die alternative Klagehäufung verletzt das Bestimmtheitsgebot, wenn der Kläger ein einheitliches Klagebegehren aus Der Zivilprozess lebt – die neueste Rechtsprechung des BGH, Geisler

mehreren prozessualen Ansprüchen (Streitgegenständen) herleitet und dem Gericht ohne Bestimmung der Reihenfolge die Auswahl überlässt, auf welchen Klagegrund es die Verurteilung stützt.74 b) Substanziierung Grundsätzlich genügt eine Partei ihrer Darlegungslast, wenn sie Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, die daraus abgeleitete Rechtsfolge zu tragen.75 Nähere Angaben sind nur dann nötig, wenn diese für die Rechtsfolgen von Bedeutung sind, wenn der Vortrag infolge der Einlassung des Gegners unklar wird oder wenn die Angabe weiterer Umstände erforderlich ist, um dem Gegner die Nachprüfung der behaupteten Tatsachen und den Antritt von Gegenbeweisen zu ermöglichen.76 Substanziiert ist der Vortrag, wenn der Mieter nur den Sachmangel vorträgt, aber nicht das Maß der Beeinträchtigung77 oder der Geschädigte nur die geschätzten Kosten (zum Beispiel Kostenvoranschlag) darlegt und Sachverständigenbeweis anbietet.78 Es besteht keine Pflicht, erforderliche Kosten vorprozessual durch ein Privatgutachten zu ermitteln.79 Der Beweisführer braucht sich nicht darüber zu äußern, welche Anhaltspunkte er für die Richtigkeit der in das Wissen eines Zeugen gestellten Behauptungen hat.80 Unsubstanziiert ist der Vortrag, wenn die unter Beweis gestellten Tatsachen so ungenau bezeichnet sind, dass das Gericht aufgrund der Darstellung nicht beurteilen kann, ob die Behauptung überhaupt erheblich ist81 oder die beweisbelastete Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt.82 Der Umfang der sekundären Darlegungslast richtet sich einerseits nach der Intensität des Sachvortrags der beweisbelasteten Partei und findet andererseits seine Grenze in der Zumutbarkeit der den Prozessgegner treffenden Offenbarungspflicht.83 c) Geständnis Durch die in der Antragstellung liegende stillschweigende Bezugnahme auf bisherigen Vortrag wird die Geständniswirkung des § 288 ZPO auch auf vorinstanzliches Vorbringen erstreckt.84 Gegenstand eines Geständnisses können auch ju61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84

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Beschlüsse vom 7.7.2010 – XII ZB 149/10 und XII ZB 150/10. Beschluss vom 8.9.2011 – III ZR 89/11. Beschluss vom 28.6.2010 – IX ZA 26/10. Beschluss vom 19.10.2011 – I ZR 98/11. Beschluss vom 24.3.2011 – I ZA 1/11. Beschluss vom 26.7.2012 – III ZB 70/11. Beschluss vom 9.2.2010 – VIII ZB 67/09. Beschluss vom 26.4.2012 – VII ZB 36/10. Beschluss vom 9.12.2010 – IX ZB 60/10. Beschluss vom 26.4.2012 – VII ZB 83/10. Beschluss vom 1.12.2010 – VI ZB 28/10. Urteil vom 4.11.2010 – I ZR 118/09. Urteil vom 5.10.2010 – I ZR 46/09. Beschluss vom 24.3.2011 – I ZR 108/09. Urteil vom 29.2.2012 – VIII ZR 155/11. Beschluss vom 14.9.2010 – VIII ZR 219/07. Urteil vom 29.2.2012 – VIII ZR 155/11. Beschluss vom 2.4.2009 – V ZR 177/08. Beschluss vom 20.5.2010 – V ZR 201/09. Urteil vom 8.5.2012 – XI ZR 262/10. Beschluss vom 11.5.2010 – VIII ZR 212/07. Urteil vom 15.9.2010 – XII ZR 188/08. Beschluss vom 17.1.2012 – XI ZR 254/10. Beschluss vom 13.4.2011 – IX ZR 129/10.

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ristisch eingekleidete Tatsachen oder einfache Rechtsbegriffe sein.85 Trotz der Geständnisfiktion des § 331 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist für die Abänderung eines Versäumnisurteils nicht auf die Änderung der fingierten, sondern allein der tatsächlichen Verhältnisse abzustellen.86 d) Rechtsausführungen Da die Rechtsanwendung Aufgabe des Gerichts ist, brauchen die Parteien dem Gericht nur Tatsachen vorzutragen. Rechtsausführungen sind nicht erforderlich. Dennoch soll der Anwalt haften, wenn das Gericht eine Entscheidung des BGH übersehen und er das Gericht nicht auf die für seine Partei günstige Rechtsprechung des BGH hingewiesen hat.87 3. Zustellung a) § 167 ZPO: „demnächst“ Die in § 167 ZPO („demnächst“) angeordnete Rückwirkung auf den Eingang des Antrags beschränkt sich auf Fälle, in denen durch die Zustellung eine Frist gewahrt oder die Verjährung neu beginnen oder nach § 204 BGB gehemmt werden soll. Für sonstige Wirkungen der Zustellung gilt sie nicht,88 zum Beispiel rechtsbegründende oder rechtsverstärkende Folgen, die Vorschriften des materiellen Rechts (z. B. § 286 Abs. 1 Satz 2, § 291 Satz 1, § 407 Abs. 2, § 818 Abs. 4, § 1002 Abs. 1 BGB) oder des Verfahrensrechts (z. B. § 323 Abs. 3 ZPO), die an die Rechtshängigkeit bzw. an die gerichtliche Geltendmachung und damit an die Zustellung einer Antrags- oder Klageschrift knüpfen. Bei der Berechnung der Zeitdauer der Verzögerung ist auf die Zeitspanne abzustellen, um die sich der ohnehin erforderliche Zeitraum für die Zustellung der Klage als Folge der Nachlässigkeit des Klägers verzögert,89 wobei eine nur geringfügig über zwei Wochen liegende Verzögerung (16 Tage) der Einzahlung der Gerichtskosten noch hinzunehmen ist.90 Verzögerungen im gerichtlichen Geschäftsbetrieb gehen nicht zu Lasten des Zustellungsbetreibers.91 b) Zustellung an Rechtsanwalt Gibt der Kläger in der Klageschrift einen Prozessbevollmächtigten des Beklagten an, so hat die Zustellung an den Rechtsanwalt (§ 172 Abs. 1 ZPO) zu erfolgen. Das Risiko, dass dieser keine Prozessvollmacht besitzt und die Zustellung deshalb unwirksam ist, trägt der Kläger.92 c) Zustellung im Ausland Die in § 184 ZPO geregelte Befugnis des Gerichts, bei einer Zustellung im Ausland nach § 183 ZPO anzuordnen, dass bei fehlender Bestellung eines Prozessbevollmächtigten ein inländischer Zustellungsbevollmächtigter zu benennen ist und andernfalls spätere Zustellungen durch Aufgabe zur Post bewirkt werden können, erstreckt sich nur auf diejenigen Zustellungen im Ausland, die gemäß § 183 Abs. 1 bis Abs. 4 ZPO nach den bestehenden völkerrechtlichen Vereinbarungen vorzunehmen sind. Dagegen gilt diese Anordnungsbefugnis nicht für Auslandszustellungen, die nach den gemäß § 183 Abs. 5 ZPO unberührt bleibenden Bestimmungen der EuZVO (Einschreiben mit Rückschein) vorgenommen werden.93 d) Öffentliche Zustellung Im Erkenntnisverfahren darf eine öffentliche Zustellung nur angeordnet werden, wenn die begünstigte Partei alle der Sache nach geeigneten und ihr zumutbaren Nachforschungen 858

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angestellt hat, um den Aufenthalt des Zustellungsadressaten zu ermitteln und ihre ergebnislosen Bemühungen gegenüber dem Gericht dargelegt hat. Hierfür genügt nicht allein die ergebnislose Anfrage beim Einwohnermeldeamt und dem Zustellungspostamt des letzten Wohnsitzes des Zustellungsadressaten.94 e) Fehlerhafte Zustellung Eine fehlerhafte Zustellung der Klage rechtfertigt nicht die Klageabweisung wegen fehlender Rechtshängigkeit, falls die Heilung des etwaigen Zustellungsmangels noch möglich ist.95 Die Heilung eines Zustellungsmangels nach § 189 ZPO kommt nicht in Betracht, wenn ein von Amts wegen förmlich zuzustellendes Dokument im Parteibetrieb zugestellt wird.96 Ist eine Wohnanschrift des Zustellungsempfängers unbekannt oder nicht vorhanden, dann ist ein Postfach eine ähnliche Vorrichtung im Sinne von § 180 Satz 1 ZPO.97

IV. Verfahrensgrundrechte Bei den Verfahrensgrundrechten ist die aktuelle Rechtsprechung des BGH zweigeteilt. Im Rahmen einer Instanz ist der BGH großzügig, wenn es um den Anspruch auf rechtliches Gehör geht. Er nimmt die Instanzgerichte in die Pflicht. Bei der Frage, ob ein Rechtsbehelf eröffnet ist, dominiert dagegen vorsichtige Zurückhaltung. Der Eindruck drängt sich auf, dass nur bei eindeutigen Fehlleistungen der Instanzgerichte der Weg in Rechtsbehelfe eröffnet werden soll. 1. Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) Das Gericht ist verpflichtet, die Ausführungen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, sofern sie nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts nicht unerheblich oder aber offensichtlich unsubstanziiert sind.98 Die unterbliebene Zulassung der Revision als solche kann den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzen,99 ebenso wenig die Nichtberücksichtigung eines von der Partei angesprochenen rechtlichen Gesichtspunktes.100 Es ist nicht erforderlich, alle Einzelpunkte des Parteivorbringens in den Gründen der Entscheidung auch ausdrücklich zu bescheiden101, jedoch muss das Gericht zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, bei entsprechendem Parteivortrag Stellung nehmen.102

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BGH, Urteil vom 16.9.2010 – IX ZR 203/08. BGH, Urteil vom 2.6.2010 – XII ZR 160/08. BGH, Urteil vom 18.12.2008 – IX ZR 179/07; bestätigt BVerfG, Beschluss vom 22.4.2009 – 1 BvR 386/09. 88 BGH, Beschluss vom 22.7.2010 – V ZB 178/09. 89 BGH, Urteil vom 10.2.2011 – VII ZR 185/07. 90 BGH, Urteil vom 3.2.2012 – V ZR 44/11. 91 BGH, Urteil vom 11.2.2011 – V ZR 136/10. 92 BGH, Urteil vom 6.4.2011 – VIII ZR 22/10. 93 BGH, Urteil vom 2.2.2011 – VIII ZR 190/10. 94 BGH, Urteil vom 4.7.2012 – XII ZR 94/10. 95 BGH, Beschluss vom 7.12.2010 – VI ZR 48/10. 96 BGH, Urteil vom 19.5.2010 – IV ZR 14/08. 97 BGH, Beschluss vom 14.6.2012 – V ZB 182/11. 98 BGH, Beschluss vom 9.11.2011 – IV ZR 239/09. 99 BGH, Urteil vom 4.3.2011 – V ZR 123/10. 100 BGH, Beschluss vom 14.10.2010 – IX ZR 224/08. 101 BGH, Beschluss vom 1.7.2010 – IX ZR 165/09. 102 BGH, Beschluss vom 28.10.2010 – VII ZR 82/09.

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a) Sachvortrag/Beweisangebot Eine Gehörsverletzung liegt vor bei Nichtberücksichtigung des Sachvortrags oder eines erheblichen Beweisangebots103, wenn das Gericht die Präklusionsvorschriften (§ 282 Abs. 1, § 296 Abs. 1, §§ 525, 530 ZPO) offenkundig unrichtig anwendet,104 Substanziierungsanforderungen überspannt,105 einen fristgerecht eingereichten Schriftsatz versehentlich nicht berücksichtigt,106 einen Terminsverlegungsantrag verfahrensfehlerhaft ablehnt,107 ein Sachverständigengutachten gemäß § 411 a ZPO verwertet ohne die Parteien vorher darauf hinzuweisen oder entgegen § 285 Abs. 1, § 279 Abs. 3 ZPO mit den Parteien weder über das Ergebnis der Beweisaufnahme verhandelt noch den Sach- und Streitstand erneut erörtert.108 Das Gericht darf die Beweisaufnahme zu einem bestrittenen erheblichen Vorbringen nicht deshalb ablehnen, weil es zu früherem Vortrag in Widerspruch steht. Eine Widersprüchlichkeit ist bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen.109 Das Berufungsgericht verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es Zeugen nicht erneut vernimmt, obwohl es deren Aussagen anders würdigt als das Erstgericht.110 b) Richterliche Hinweispflicht (§ 139 ZPO) und faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) Das Gericht hat nach § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO dahin zu wirken, dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären, insbesondere ungenügende Angaben zu den geltend gemachten Tatsachen ergänzen, die Beweismittel bezeichnen und die sachdienlichen Anträge stellen.111 Die Hinweispflicht ist verletzt, wenn das Gericht Anforderungen an den Sachvortrag stellt, mit denen ein gewissenhafter und kundiger Verfahrensbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht zu rechnen brauchte.112 Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht Argumente anführt, zu denen die Prozessbeteiligten keine Gelegenheit zur Stellungnahme hatten.113 Das Gericht muss die Parteien frühzeitig informieren, dass Bedenken gegen seine funktionelle Zuständigkeit bestehen.114 Insbesondere darf den Prozessparteien der Zugang zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden.115 Das Gericht aber muss nicht auf die mangelnde Substanziierung hinweisen, wenn es um eine der zentralen Fragen im Streit der Parteien geht und die Gegenpartei bereits darauf hingewiesen hat, dass der Vortrag hierzu unsubstanziiert war. Auf die Notwendigkeit ergänzenden Vortrags ist aber hinzuweisen, wenn der Vortrag in einem wesentlichen Punkt unklar oder ersichtlich unvollständig ist.116 Auf die Folgen einer rügelosen Einlassung (§ 295 ZPO) ist nur dann hinzuweisen, wenn die Partei anderenfalls in unzumutbarer Weise durch die Entscheidung des Gerichts überrascht würde.117 Das Berufungsgericht muss die Parteien auf die beabsichtigte vom Erstgericht abweichende Antragsauslegung hinweisen118 oder bei Bedenken gegen die Antragsfassung die Verhandlung wieder eröffnen zur Ermöglichung einer angepassten Antragsformulierung.119 Vor Verwerfung einer Berufung wegen Fristversäumung ist dem Rechtsmittelführer die Möglichkeit zu geben, sich zur Säumnis zu äußern und einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen.120 Ebenso wenig darf das Gericht über einen Antrag auf Wiedereinsetzung vor AbDer Zivilprozess lebt – die neueste Rechtsprechung des BGH, Geisler

lauf der Wiedereinsetzungsfrist entscheiden.121 Nach § 139 Abs. 4 Satz 2 ZPO kann die Erteilung rechtlicher Hinweise nur durch den Inhalt der Akten bewiesen werden. Sofern diese die Erteilung eines Hinweises nicht hinreichend dokumentieren, gilt dieser als nicht erteilt. Es darf daher kein Beweis erhoben werden zur Frage, ob die Vorinstanz einen Hinweis erteilt hat.122 2. Effektiver Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) Den Gerichten ist es verboten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren. So ist ein Berufungsurteil aufzuheben, wenn das Berufungsgericht die Berufung im Hinblick auf die Wertgrenze des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO fehlerhaft als unzulässig verworfen hat.123 Durch die gleichzeitige Verwerfung der Berufung als unzulässig und die Versagung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren wird der Partei die Möglichkeit genommen, Wiedereinsetzung zu beantragen und das Berufungsverfahren auf eigene Kosten fortzuführen.124 3. Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) Für die Annahme von Willkür reicht eine nur fragwürdige oder sogar fehlerhafte Rechtsanwendung nicht aus, selbst ein offensichtlicher Rechtsfehler genügt nicht, wenn sich das Gericht mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt.125 Erforderlich ist vielmehr, dass die fehlerhafte Rechtsanwendung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht; die Rechtslage muss mithin in krasser Weise verkannt sein.126 Es ist objektiv willkürlich unter Verletzung des Verfassungsgebots des gesetzlichen Richters, wenn der Einzelrichter statt der Kammer eine Rechtsbeschwerde zulässt.127

103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127

BGH, Beschluss vom 20.5.2010 – V ZR 201/09. BGH, Beschluss vom 11.5.2010 – VIII ZR 301/08. BGH, Beschluss vom 28.2.2012 – VIII ZR 124/11. BGH, Beschluss vom 19.8.2010 – VII ZB 2/09. BGH, Beschluss vom 16.12.2011 – AnwZ (Brfg) 52/11. BGH, Beschluss vom 23.11.2011 – IV ZR 49/11. BGH, Urteil vom 13.3.2012 – II ZR 50/09. BGH, Beschluss vom 16.9.2010 – V ZR 61/10; BVerfG, Beschluss vom 14.09.2010 – 2 BvR 2638/09. BGH, Beschluss vom 23.4.2009 – IX ZR 95/06. BGH, Beschluss vom 17.8.2010 – I ZR 153/08. BGH, Beschluss vom 13.1.2011 – VII ZR 22/10. BGH, Beschluss vom 14.12.2010 – VIII ZB 20/09. BGH, Beschluss vom 10.1.2011 – IV ZB 29/10. BGH, Beschluss vom 30.9.2010 – V ZB 173/10. BGH, Beschluss vom 21.1.2010 – I ZB 74/08. BGH, Beschluss vom 6.7.2010 – VI ZR 177/09. BGH, Urteil vom 4.11.2010 – I ZR 118/09. BGH, Beschluss vom 24.2.2010 – XII ZB 168/08. BGH, Beschluss vom 17.2.2011 – V ZB 310/10. BGH, Beschluss vom 30.6.2011 – IX ZR 35/10. BGH, Beschluss vom 12.4.2011 – VI ZB 58/10. BGH, Beschluss vom 23.3.2011 – XII ZB 51/11. BGH, Beschluss vom 15.12.2011 – IX ZR 187/09. BGH, Beschluss vom 3.2.2011 – IX ZR 132/10. BGH, Beschluss vom 24.11.2011 – VII ZB 33/11.

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4. Anhörungsrüge (§ 321 a ZPO) Die Anhörungsrüge räumt dem Gericht keine umfassende Abhilfemöglichkeit ein, sondern dient allein der Behebung von Verstößen gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör. Sämtlichen von der Rechtsprechung entwickelten Fallgruppen zu § 321 a ZPO (sog. Pannenfälle, Präklusionsfälle, Hinweisfälle, Nichtberücksichtigungsfälle) liegt zugrunde, dass den Parteien eine gebotene Stellungnahmemöglichkeit verwehrt wurde. Deshalb ist eine Gehörsrüge wegen sonstiger Verfahrensverstöße ausgeschlossen.128 9 Eine Anhörungsrüge ist unzulässig, die vor Bekanntgabe der mit Gründen versehenen Entscheidung erhoben wird.129 Gegen einen Beschluss, mit dem eine Anhörungsrüge zurückgewiesen wird, ist eine erneute Anhörungsrüge nicht statthaft.130 9 Wird die Anhörungsrüge begründet mit einem unterlassenen Hinweis auf ergänzungsbedürftigen Vortrag, dann muss dargelegt werden, was die Partei auf einen solchen gerichtlichen Hinweis ergänzend vorgetragen hätte.131 9 Eine unterbliebene Zulassung der Revision kann auf die Gehörsrüge nachgeholt werden, wenn ein auf die Zulassungsentscheidung bezogener Vortrag der Parteien übergangen worden ist.132 Die unterlassene Zulassung der Revision als Verstoß gegen andere Verfahrensgrundrechte ist in analoger Anwendung von § 321 a ZPO möglich, wenn dem Berufungsgericht eine willkürlich unterlassene Zulassung133 bzw. eine unzumutbare, sachlich nicht mehr zu rechtfertigende Verkürzung des Instanzenzuges vorzuwerfen ist.134 9 Nach dem Inhalt des in § 295 ZPO zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens kann eine Partei eine Gehörsverletzung nicht mehr rügen, wenn sie die ihr nach Kenntnis des Verstoßes verbliebenen Möglichkeiten einer Äußerung nicht genutzt hat. Es verbleibt nur ein Rechtsmittel. Auf einen erstinstanzlichen Gehörsverstoß kann eine Partei in der Revisionsinstanz nur dann zurückgreifen, wenn sie den Gehörsverstoß des Erstgerichts mit der Berufung gerügt hat.135 Mit der Anhörungsrüge beim Rechtsmittelgericht können nur neue und eigenständige Verletzungen durch das Rechtsmittelgericht gerügt werden.136 9 Auf die Gehörsrüge ist das Verfahren nach § 321 a Abs. 5 ZPO nur insoweit fortzusetzen als der Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs verletzt ist. Da die Anhörungsrüge kein Rechtsmittel ist, gilt das Verbot der reformatio in peius nicht.137 Das Gericht entscheidet gemäß § 321 a Abs. 5 Satz 3 ZPO in Verbindung mit § 343 ZPO nicht durch Beschluss, sondern durch Urteil.138 9 Die Anhörungsrüge hemmt weder die Rechtskraft der gerügten Entscheidung noch eine laufende Verjährungsfrist.139 9 Eine Verfassungsbeschwerde ist mangels Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) unzulässig, wenn zuvor keine Anhörungsrüge erhoben wird oder diese aus prozessualen Gründen (zum Beispiel Fristversäumnis) erfolglos bleibt.140 Die versäumte Anhörungsrüge hat zur Folge, dass die Verfassungsbeschwerde nicht nur wegen der Gehörsverletzung unzulässig ist, sondern insgesamt, also auch hinsichtlich etwaiger weiterer Grundrechtsverstöße.

V. Verfahren Bei den Verfahrensvorschriften hat der BGH in der aktuellen Rechtsprechung vor allem Auslegungsfragen geklärt. Die Stärkung der Berufungsinstanz steht dabei im Vordergrund. 860

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1. Präklusion a) Erste Instanz (§ 296 ZPO)141 Ist die Vertretung durch Rechtsanwälte nicht zwingend geboten, kommt eine Anwendung des § 282 Abs. 2 ZPO (Rechtzeitigkeit des Vorbringens) nur in Betracht, wenn den Parteien durch richterliche Anordnung aufgegeben worden ist, die mündliche Verhandlung durch Schriftsätze oder zu Protokoll der Geschäftsstelle abzugebende Erklärungen gemäß § 129 Abs. 2 ZPO vorzubereiten.142 In Arzthaftungssachen kann ein Verstoß gegen das verfassungsmäßige Verbot einer „Überbeschleunigung“ vorliegen, wenn das als verspätet zurückgewiesene Verteidigungsvorbringen ein Sachverständigengutachten veranlasst hätte, dieses Sachverständigengutachten aber in der Zeit zwischen dem Ende der Frist und der darauf folgenden mündlichen Verhandlung ohnehin nicht hätte eingeholt werden können.143 b) Berufungsinstanz144 aa) Bindung an tatsächliche Feststellungen der Vorinstanz (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) Das Berufungsgericht legt seiner Entscheidung die vom Erstgericht festgestellten Tatsachen zugrunde, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen, wie Anhörung des Sachverständigen145 oder Zeugen.146 Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen, noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen.147 bb) Verspätet vorgebrachte Angriffs- und Verteidigungsmittel (§ 530 ZPO) Die Benennung von Zeugen erst nach einer Beweisaufnahme und außerhalb der Berufungsbegründungsfrist ist entschuldigt, wenn erst das Ergebnis der Beweisaufnahme Anlass zur Benennung der Zeugen gibt und den Parteien vom Berufungsgericht ausdrücklich nachgelassen wurde, schriftlich zum Ergebnis der Beweisaufnahme Stellung zu nehmen.148

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BGH, Urteil vom 4.3.2011 – V ZR 123/10. BGH, Beschluss vom 15.7.2010 – I ZR 160/07. BVerfG, Beschluss vom 26.4.2011 – 2 BvR 597/11. BGH, Beschluss vom 14.9.2010 – IX ZR 169/08. BGH, Beschluss vom 29.1.2009 – V ZB 140/08. BGH, Beschluss vom 4.7.2007 – VII ZB 28/07. BVerfG, Beschluss vom 27.5.2010 – 1 BvR 2643/07. BGH, Urteil vom 9.2.2011 – VIII ZR 285/09. BGH, Beschluss vom 16.12.2010 – V ZR 96/10. BGH, Urteil vom 20.6.2012 – VIII ZR 268/11. BGH, Urteil vom 4.3.2011 – V ZR 123/10. BGH, Urteil vom 10.5.2012 – IX ZR 143/11. BVerfG, Beschlüsse vom 14.4.2010 – 1 BvR 299/10 und vom 17.2.2011 – 1 BvR 279/11. Vgl. Geisler AnwBl 2006, 524 ff. BGH, Beschluss vom 25.2.2010 – I ZB 18/08. BGH, Urteil vom 3.7.2012 – VI ZR 120/11. Vgl. Geisler AnwBl 2006, 609 ff. BGH, Beschluss vom 24.3.2010 – VIII ZR 270/09. BGH, Beschluss vom 21.3.2012 – XII ZR 18/11. BGH, Beschluss vom 9.2.2010 – XI ZR 140/09. BGH, Beschluss vom 25.1.2012 – IV ZR 230/11.

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cc) Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel (§ 531 Abs. 2 ZPO) Der Kläger kann in der Berufungsinstanz seine Klage erweitern im Hinblick auf in erster Instanz bereits gehaltenen Sachvortrag.149 Nach Abschluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz neu entstandene Angriffs- und Verteidigungsmittel können jederzeit in das Berufungsverfahren eingeführt werden.150 Unstreitiges Vorbringen ist nicht neu und daher immer zuzulassen.151 Die Einrede der Dürftigkeit des Nachlasses (§ 1990 BGB) ist im Berufungsverfahren zuzulassen, denn für die Aufnahme des Vorbehalts der beschränkten Erbenhaftung bedarf es keines Sachvortrags.152 Für die Anwendung des § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO ist die ungeschriebene Voraussetzung zu beachten, dass die Rechtsansicht des Gerichts des ersten Rechtszugs den Sachvortrag der Partei beeinflusst hat und daher mitursächlich dafür geworden ist, dass sich Parteivorbringen in das Berufungsverfahren verlagert.153 Ein gerichtlicher Hinweis an die erstinstanzlich obsiegende Partei ist erforderlich bei abweichender Ansicht des Berufungsgerichts in einem entscheidungserheblichen Punkt.154 Eine Nachlässigkeit im Sinne von § 531 Abs. 2 Satz Nr. 3 ZPO liegt nur dann vor, wenn die Partei gegen ihre Prozessförderungspflicht verstoßen hat. So darf eine Partei ein Vorbringen aus prozesstaktischen Erwägungen nicht zurückhalten, ist aber nicht verpflichtet, ihr nicht bekannte Tatsachen erst noch zu ermitteln.155 Es ist nicht nachlässig, wenn eine Partei erst durch ein Gutachten nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils Kenntnis von Tatsachen erlangt hat und diese im Berufungsverfahren vorträgt.156 c) Aufhebung und Zurückweisung durch BGH (§ 563 Abs. 2 ZPO) Nach Aufhebung und Zurückweisung durch den BGH ist das Berufungsgericht nur an die Rechtsauffassung des BGH gebunden, auf der die Aufhebung des Berufungsurteils beruht. Bloße Hinweise des Revisionsgerichts für das wiedereröffnete Berufungsverfahren und die neue Entscheidung werden von der Bindungswirkung nicht erfasst.157 Die Bindungswirkung greift auch nicht, soweit sich in der Tatsacheninstanz ein neuer nicht präkludierter Sachverhalt ergibt.158 Gibt der BGH die Einholung eines Sachverständigengutachtens vor, ist es willkürlich, wenn das Berufungsgericht dies mit überzogenen Anforderungen an die Darlegungslast ablehnt.159 2. Erledigung des Rechtsstreits Eine hilfsweise Erledigungserklärung ist unzulässig, wenn der Hauptantrag als unbegründet abgewiesen worden ist.160 Es wäre widersprüchlich, nach einer Abweisung des Hauptantrags als unbegründet auf den Hilfsantrag die Erledigung festzustellen.161 Die erstmalige Erhebung der Einrede der Verjährung stellt im Laufe des Rechtsstreits auch dann eine erledigendes Ereignis dar, wenn die Verjährung bereits vor Rechtshängigkeit eingetreten ist;162 nicht die Verjährung, sondern erst die Erhebung der Einrede wirkt sich verändernd auf die Rechtslage aus. Die Kosten des Rechtsstreits sind dem Beklagten aufzuerlegen, wenn die Parteien eine vor dem unzuständigen Gericht erhobene, in der Sache aber begründete Unterlassungsklage übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklären, nachdem der Beklagte die Unzuständigkeit gerügt und sodann eine strafbewehrte UnDer Zivilprozess lebt – die neueste Rechtsprechung des BGH, Geisler

terlassungserklärung abgegeben hatte.163 Die Erledigung der Hauptsache kann noch in der Rechtsmittelinstanz erklärt werden. Wird durch die übereinstimmenden Erklärungen der Parteien der Rechtsstreit insgesamt erledigt, ist über alle bisher entstandenen Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Kosten der Vorinstanzen zu entscheiden.164 Wird nach übereinstimmender Teilerledigungserklärung durch Urteil zugleich in der Hauptsache und über die Kosten des erledigten Teils entschieden, so ist die Berufung nur zulässig, wenn der nicht erledigte Teil der Hauptsache die Berufungssumme erreicht.165 Gegen eine Kostenentscheidung gemäß § 91 a ZPO darf die Rechtsbeschwerde nicht aus materiell-rechtlichen Gründen zugelassen werden.166 Bei einer einseitigen Erledigungserklärung des Klägers reduziert sich der Streitwert auf die bis dahin entstandenen Kosten nicht schon mit Eintritt des erledigenden Ereignisses, sondern erst, wenn der Kläger den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Dennoch reduziert der BGH den Streitwert für die Terminsgebühr auf das Interesse nach Erledigung, wenn die Erledigung vor dem Termin eingetreten ist. Obwohl RVG und ZPO hierfür keine Grundlage bieten, begründet er dies mit dem Grundsatz von Treu und Glauben.167 3. Klagerücknahme (§ 269 ZPO) Mit Rücknahme der Klage vor dem BGH sind die vorinstanzlichen Urteile wirkungslos.168 Nimmt der Kläger im aktienrechtlichen Anfechtungsprozess im Rahmen eines Vergleichs die Klage zurück, hat er – vorbehaltlich der Ausnahmeregelung des § 269 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 ZPO – auch die außergerichtlichen Kosten der auf Beklagtenseite beigetretenen, am Vergleich nicht beteiligten streitgenössischen Nebenintervenienten gemäß § 269 Abs. 3 Satz 2 Hs. 1 ZPO zu tragen.169 Im Falle einer Klagerücknahme kommt ein der Kostenentscheidung nach § 269 Abs. 3 Satz 2 Hs. 1 ZPO entgegengerichteter materiell-rechtlicher Anspruch auf Kostenerstattung nicht in Betracht, wenn der Sachverhalt, der zu dieser Kostenentscheidung geführt hat, unverändert bleibt.170 4. Vorgreifliche Verfahren a) Schlichtungsverfahren (§ 15 a EGZPO) Eine Klage, der in einigen Bundesländern ein obligatorisches Schiedsverfahren vorauszugehen hat, ist zulässig, wenn der Kläger mit der Klageschrift eine von der Gütestelle aus-

149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170

BGH, Urteil vom 22.4.2010 – IX ZR 160/09. BGH, Beschluss vom 22.4.2010 – I ZR 17/09. BGH, Beschluss vom 23.6.2008 – GSZ 1/08. BGH, Urteil vom 2.2.2010 – VI ZR 82/09. BGH, Urteil vom 21.12.2011 – VIII ZR 166/11. BGH, Beschluss vom 17.4.2012 – VI ZR 126/11. BGH, Beschluss vom 10.6.2010 – Xa ZR 110/09. BGH, Beschluss vom 30.6.2010 – IV ZR 229/07. BGH, Beschluss vom 16.11.2010 – X ZR 104/08. BGH, Beschluss vom 28.10.2010 – Xa ZR 70/08. BGH, Beschluss vom 7.7.2010 – IV ZR 63/08. BGH, Beschluss vom 16.8.2010 – II ZR 105/09. BGH, Urteil vom 8.2.2011 – II ZR 206/08. BGH, Urteil vom 27.1.2010 – VIII ZR 58/09. BGH, Beschluss vom 18.3.2010 – I ZB 37/09. BGH, Beschluss vom 11.2.2010 – I ZR 154/08. BGH, Beschluss vom 12.4.2011 – VI ZB 44/10. BGH, Beschluss vom 8.3.2011 – VIII ZB 65/10. BGH, Beschluss vom 31.8.2010 – X ZB 3/09. BGH, Beschluss vom 1.6.2010 – XI ZR 63/10. BGH, Beschluss vom 14.6.2010 – II ZB 15/09. BGH, Urteil vom 16.2.2011 – VIII ZR 80/10.

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gestellte Bescheinigung über einen erfolglosen Einigungsversuch einreicht. Es ist nicht zu prüfen, ob das Verfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist.171 Wird der im Mahnverfahren (Schlichtungsverfahren nicht erforderlich!) nur gegen den Kfz-Haftpflichtversicherer geltend gemachte Anspruch mit der Anspruchsbegründung im Klageverfahren auf den Versicherungsnehmer erweitert, ist die gegen diesen erhobene Klage als unzulässig abzuweisen, wenn vor der Parteierweiterung das Schlichtungsverfahren nicht durchgeführt worden ist.172 Ein Schlichtungsverfahren ist nicht erforderlich bei Parteiwechsel auf Klägerseite.173 b) Schiedseinrede Die Einrede des Schiedsvertrags ist nur dann rechtzeitig erhoben, wenn der Beklagte vor Beginn der mündlichen Verhandlung zur Hauptsache auch den Schiedsvertrag konkret bezeichnet.174 Die Erhebung der Schiedsabrede kann wegen Verstoßes gegen § 242 BGB unbeachtlich sein, z. B. Vermögensverfall des Schuldners der zur Aufrechnung gestellten „schiedsvereinbarten“ Forderung.175 Hat ein Schiedsgericht eine zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung nicht berücksichtigt, kann der Aufrechnungseinwand noch im Verfahren auf Vollstreckbarerklärung vor dem ordentlichen Gericht geltend gemacht werden, außer die Aufrechnungsforderung unterliegt ihrerseits einer Schiedsabrede.176 5. Teilurteil Ein Teilurteil darf nur ergehen, wenn die Gefahr widersprechender Entscheidungen ausgeschlossen ist.177 Auch die Anordnung des Ruhens des Verfahrens auf übereinstimmenden Antrag der Parteien hinsichtlich eines abtrennbaren Teils lässt ein Teilurteil über den übrigen Teil des Rechtsstreits wegen der bei erneuter Aufnahme des Verfahrens bestehenden Gefahr einer abweichenden Entscheidung nicht zu.178 Die dem Erlass eines Teilurteils entgegenstehende Gefahr der Widersprüchlichkeit kann in der Berufungsinstanz dadurch beseitigt werden, dass über die Vorfragen ein Zwischenfeststellungsurteil (§ 256 Abs. 2 ZPO) ergeht.179

VI. Besondere Verfahrensarten

zu entscheiden, damit der Betroffene noch Gelegenheit hat, einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen.182 c) Mutwilligkeit (§ 114 Satz 1 ZPO) Ein Versicherungsnehmer, der sich im Verkehrsunfallprozess gegen den von seinem mitverklagten Haftpflichtversicherer gegen ihn erhobenen Vorwurf eines versuchten Versicherungsbetrugs verteidigen will, handelt nicht mutwillig, wenn er Prozesskostenhilfe für die Vertretung durch einen eigenen Anwalt begehrt, obwohl ihm der Haftpflichtversicherer als Streithelfer beigetreten ist und dessen Prozessbevollmächtigter auf diesem Wege auch für ihn Klageabweisung beantragt hat.183 Der Versicherer muss den Fahrer im Rahmen seiner Rechtsschutzverpflichtung von den Kosten für die Vertretung durch einen eigenen Anwalt freihalten.184 Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für eine Klage auf Aufhebung der mit einem Ausländer zum Zwecke der Erlangung eines Aufenthaltstitels eingegangenen Scheinehe ist nicht rechtsmissbräuchlich. Eine Partei, die rechtsmissbräuchlich die Ehe geschlossen und hierfür ein Entgelt erhalten hat, trifft jedoch die Pflicht, hiervon Rücklagen zu bilden, um die Kosten eines Eheaufhebungsverfahrens finanzieren zu können.185 Eine beabsichtigte Teilungsversteigerung nach §§ 180 ff. ZVG ist mutwillig, wenn sie aller Voraussicht nach fehlschlägt, weil sich kein Bieter finden wird, der ein nach §§ 182, 44 ZVG zulässiges Gebot abgibt, so dass das Verfahren wegen Ergebnislosigkeit aufgehoben werden muss.186 d) Einkommensermittlung (§ 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 ZPO) Bei der Einkommensermittlung ist es nicht angemessen, die auf eine Geldstrafe zu zahlende Rate zu berücksichtigen, weil der Bedürftige nach § 42 StGB i. V. m. § 459 a StPO bei einer nicht mehr zumutbaren wirtschaftlichen Belastung eine Zahlungserleichterung bei der Vollstreckungsbehörde erreichen kann.187 Eine Kapital-Lebensversicherung, ggf. durch Beleihung, ist einzusetzen.188 Wer ein fremdes Recht im eigenen Namen geltend macht (gewillkürte Prozessstandschaft), muss für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe darlegen, dass auch der Rechtsinhaber die Prozesskosten nicht aufbringen kann.189

Die ZPO kennt verschiedene besondere Verfahrensarten. Streitfragen klärt die aktuelle Rechtsprechung des BGH vor allem im Bereich der Prozesskostenhilfe und Verfahrenskostenhilfe sowie im selbständigen Beweisverfahren. 1. Prozesskostenhilfe/Verfahrenskostenhilfe a) Antrag (§ 117 ZPO) Der Formularzwang gilt auch für Antrag auf Verfahrenskostenhilfe eines Beteiligten, der seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt in einem anderen Staat hat, auch bei Abschiebung.180 b) Hinreichende Erfolgsaussicht (§ 114 ZPO) Hinreichende Erfolgsaussicht (§ 114 ZPO) ist anzunehmen, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt.181 Hat der Berufungsführer vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist Prozesskostenhilfe beantragt und beabsichtigt das Gericht, Prozesskostenhilfe zu versagen, so hat es vor Verwerfung der Berufung als unzulässig über das Prozesskostenhilfegesuch 862

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171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189

BGH, Urteil vom 20.11.2009 – V ZR 94/09. BGH, Urteil vom 13.7.2010 – VI ZR 111/09. BGH, Urteil vom 18.6.2010 – V ZR 9/10. BGH, Urteil vom 8.2.2011 – XI ZR 168/08. BGH, Beschluss vom 29.7.2010 – III ZB 48/09. BGH, Beschluss vom 29.7.2010 – III ZB 48/09. BGH, Urteil vom 9.11.2011 – IV ZR 171/10. BGH, Urteil vom 11.5.2011 – VIII ZR 42/10. BGH, Urteil vom 26.4.2012 – VII ZR 25/11. BGH, Beschluss vom 14.10.2010 – V ZB 214/10. BVerfG, Beschluss vom 19.7.2010 – 1 BvR 1873/09. BGH, Beschluss vom 23.3.2011 – XII ZB 51/11. BGH, Beschluss vom 6.7.2010 – VI ZB 31/08. BGH, Urteil vom 15.9.2010 – IV ZR 107/09. BGH, Beschluss vom 30.3.2011 – XII ZB 212/09. BGH, Beschluss vom 15.3.2011 – V ZB 177/10. BGH, Beschluss vom 12.1.2011 – XII ZB 181/10. BGH, Beschluss vom 9.6.2010 – XII ZB 120/08. BGH, Beschluss vom 9.6.2010 – IV ZA 15/09.

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e) Nachrangigkeit aa) Partei kraft Amtes (§ 116 Satz 1 Nr. 1 ZPO) Vor der versuchten Inanspruchnahme staatlicher Mittel muss der Insolvenzverwalter versuchen, die Finanzierung der Prozessführung durch die wirtschaftlich Beteiligten zu betreiben.190 Die wirtschaftliche Zumutbarkeit der Aufbringung der Prozesskosten für einen Insolvenzgläubiger ist zu bejahen, wenn der Betrag, den der Gläubiger auch bei Berücksichtigung des Prozessrisikos bei der Verteilung der Masse zu erwarten hat, denjenigen deutlich übersteigt, den er für die Kosten aufzubringen hat, und der Gläubiger die betreffenden Mittel unschwer aufbringen kann,191 z. B. wenn eine Bank selbst bei Annahme eines Prozess- und Vollstreckungsrisikos von 50 Prozent immer noch mehr als das Fünffache der aufzubringenden Kosten erhält.192 bb) Juristische Person oder parteifähige Vereinigung (§ 116 Satz 1 Nr. 2 ZPO) Es besteht ein allgemeines Interesse an der Rechtsverfolgung, wenn außer den an der Führung des Rechtsstreits wirtschaftlich Beteiligten die Entscheidung größere Kreise der Bevölkerung oder des Wirtschaftslebens anspricht oder wenn sie soziale Wirkungen nach sich ziehen kann (z. B. Arbeitsplatzsicherung);193 unzureichend ist das bloße Interesse an einer richtigen Entscheidung oder die Beantwortung von Rechtsfragen.194 So berührt die Durchsetzung von Gebührenforderungen rechtsberatender Berufe keine allgemeinen Interessen.195 f) Anwaltsbeiordnung (§ 121 ZPO) Ist die Vertretung durch einen Anwalt nicht vorgeschrieben, ist dem Beteiligten im Rahmen der bewilligten Verfahrenskostenhilfe ein Anwalt beizuordnen, wenn dies wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage erforderlich ist. Die Erforderlichkeit beurteilt sich einzelfallbezogen nach einem objektiven Maßstab, nicht aus der Sicht des Anwalts oder der Partei.196 Die Beiordnung eines Rechtsanwalts ist geboten, wenn der Gegner durch einen Rechtsanwalt vertreten ist.197 Der bei einer Sozietät angestellte und beigeordnete Anwalt muss darauf hinwirken, dass der Mandant nur ihm und nicht der Sozietät das Mandat erteilt (Gleichlauf von Anwaltsmandat und Anwaltsbeiordnung), weil die öffentlich-rechtliche Beiordnung den zivilrechtlichen Mandatsvertrag unberührt lässt.198 Eine Beiordnung des zweitinstanzlichen Verfahrensbevollmächtigten als Verkehrsanwalt kommt im Rechtsbeschwerdeverfahren ebenso wenig in Betracht wie im Revisionsverfahren, weil es lediglich um Rechtsfragen geht, für die eine Korrespondenz mit der Partei von untergeordneter Bedeutung ist.199 Die Aufhebung der Beiordnung setzt nach § 48 Abs. 2 BRAO das Vorliegen wichtiger Gründe voraus, wie das gestörte Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant.200 2. Mahnverfahren Eine ordnungsgemäße Terminsladung nach Einspruch gegen einen Vollstreckungsbescheid (§ 215 ZPO) erfordert keine Belehrung, dass ein zweites Versäumnisurteil (§§ 345, 700 Abs. 6 ZPO) nur mit Berufung anfechtbar ist.201 Das Gericht darf einen Termin zur mündlichen Verhandlung über den Einspruch gegen ein Versäumnisurteil erst nach dem Eingang des Einspruchs bestimmen. Ist die Terminsbestimmung nicht ordnungsgemäß, darf kein Versäumnisurteil ergehen.202 Der Zivilprozess lebt – die neueste Rechtsprechung des BGH, Geisler

3. Abänderungsklage (§ 238 Abs. 1 Satz 2 FamFG, § 323 Abs. 1 Satz 2 ZPO n. F.) Sowohl eine Gesetzesänderung oder Änderung der gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung203 als auch eine Veränderungen der Tatsachenlage berechtigen zur Abänderung einer rechtskräftigen Entscheidung („tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse“). Keine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse liegt vor, wenn wegen einer maßgeblichen Entscheidung des BGH ein Urteil abgeändert werden soll, welches erst nach der Rechtsprechungsänderung ergangen ist.204 Für die Abänderung eines Versäumnisurteils ist nicht auf die Änderung der fingierten, sondern der tatsächlichen Verhältnisse abzustellen, die sich inzwischen geändert haben.205 4. Vollstreckungsgegenklage (§ 767 ZPO) Der Zulässigkeit einer Vollstreckungsgegenklage steht die Einrede der mangelnden Kostenerstattung nach § 269 Abs. 6 ZPO entgegen, wenn der Kläger nach Zurücknahme der Klage gegen den Kostenerstattungsanspruch des Beklagten mit einer streitigen Forderung aufrechnet, die Gegenstand der zurückgenommenen Klage war.206 5. Selbstständiges Beweisverfahren (§ 485 ZPO) Das erforderliche rechtliche Interesse fehlt, wenn der Anspruch eindeutig nicht bestehen kann,207 über den gleichen Beweisgegenstand ein anderes Beweisverfahren anhängig ist oder vom Rechtsvorgänger bereits durchgeführt wurde.208 Der Antragsteller kann gegen die Ablehnung einer Beweissicherung Beschwerde einlegen. Dagegen ist dem Antragsgegner die Anfechtung eines stattgebenden Beschlusses versagt,209 auch nicht gegen die Ablehnung eines zum Gegenbeweis beantragten weiteren Gutachtens.210 Die Kosten sind im nachfolgenden Kostenfestsetzungsverfahren der Hauptsache geltend zu machen. Die Anordnung, dass ein Antragsteller eines selbständigen Beweisverfahrens binnen einer bestimmten Frist Klage zu erheben hat, ist unanfechtbar.211 Solange kein Hauptsacheprozess anhängig ist, kann der Berechtigte mit seinem materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruch aufrechnen.212 Ausnahmsweise ist eine Kostenentscheidung zulässig, wenn die Beweisaufnahme in

190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211 212

BGH, Beschluss vom 25.11.2010 – VII ZB 71/08. BGH, Beschluss vom 14.12.2011 – XII ZA 22/11. BGH, Beschluss vom 7.6.2011 – II ZA 1/11. BGH, Beschluss vom 7.7.2011 – IX ZA 25/11. BGH, Beschluss vom 24.6.2010 – III ZR 48/10. BGH, Beschluss vom 10.2.2011 – IX ZB 145/09. BGH, Beschluss vom 23.6.2010 – XII ZB 232/09. BGH, Beschluss vom 18.5.2011 – XII ZB 265/10. BGH, Urteil vom 15.7.2010 – IX ZR 227/09. BGH, Beschluss vom 29.6.2011 – V ZA 10/11. BGH, Beschluss vom 15.9.2010 – IV ZR 240/08. BGH, Urteil vom 22.9.2010 – VIII ZR 182/09. BGH, Beschluss vom 20.12.2010 – VII ZB 72/09. BGH, Urteil vom 23.5.2012 – XII ZR 147/10. BGH, Urteil vom 29.9.2010 – XII ZR 205/08. BGH, Urteile vom 12.5.2010 – XII ZR 98/08 und vom 2.6.2010 – XII ZR 160/08. BGH, Urteil vom 13.4.2011 – VIII ZR 106/10. BGH, Beschluss vom 26.10.2009 – VI ZB 53/08. BGH, Beschluss vom 27.10.2011 – VII ZB 126/09. BGH, Beschluss vom 13.9.2011 – VI ZB 67/10. BGH, Beschluss vom 17.8.2011 – VIII ZB 57/10; vom 20.4.2011 – VII ZB 42/09. BGH, Beschluss vom 8.7.2010 – VII ZB 36/08. BGH, Urteil vom 11.2.2010 – VII ZR 153/08.

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dem selbstständigen Beweisverfahren tatsächlich nicht durchgeführt worden ist und deshalb keine Fristsetzung zur Klageerhebung nach § 494a Abs. 1 ZPO möglich ist.213 Soweit dem Antragsteller eine Klage auf Feststellung offen steht, dass eine Verpflichtung des Antragsgegners bestanden hat, kann er in jenem Verfahren eine Kostengrundentscheidung erreichen, die die Kosten des selbstständigen Beweisverfahrens umfasst.214 Da eine Kostenentscheidung in entsprechender Anwendung von § 91 a ZPO nicht ergehen kann, ist eine im selbstständigen Beweisverfahren unzulässige einseitige Erledigungserklärung des Antragstellers in eine Antragsrücknahme mit der Kostenfolge des § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO umzudeuten.215

VII. Hemmung der Verjährung durch Rechtsverfolgung (§ 204 BGB) Verjährungsprobleme spielen in der anwaltlichen Praxis eine überragende Rolle. Die Rechtsprechung des BGH ist zusammenfassend gläubiger- und anwaltsfreundlich, wenn auch die Grenzen der Großzügigkeit deutlich aufgezeigt werden. 1. Klageerhebung (§ 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB) Die Verjährung wird gehemmt durch die Klage des Berechtigten, das ist neben dem ursprünglichen Rechtsinhaber und seinem Nachfolger auch der Prozessstandschafter.216 Die verjährungshemmende Wirkung der gewillkürten Prozessstandschaft tritt aber erst in dem Augenblick ein, in dem diese prozessual offen gelegt wird oder offensichtlich ist.217 Auch die unzulässige Klage eines Berechtigten hemmt die Verjährung, zum Beispiel Klage vor unzuständigem Gericht, fehlendes Interesses bei Feststellungsklage, vorgeschriebenes Vorverfahren nicht eingehalten, dem Forderungsinhaber fehlt die Prozessführungsbefugnis oder der Anspruch ist anderweitig rechtshängig gemacht worden.218 Eine Klage hemmt die Verjährung nur für Ansprüche in der Gestalt und in dem Umfang, wie sie mit der Klage rechtshängig gemacht werden. Maßgebend ist daher der den prozessualen Leistungsanspruch bildende Streitgegenstand. Eine Teilklage, mit der verschiedene Ansprüche geltend gemacht werden, hemmt in Höhe des insgesamt eingeklagten Betrages auch dann die Verjährung eines jeden dieser Ansprüche, wenn diese ohne nähere Aufgliederung geltend gemacht worden sind.219 Die Stufenklage hemmt die Verjährung des Anspruchs auf Zugewinnausgleich auch dann, wenn im Auskunftsantrag ein falscher Stichtag für das Endvermögen genannt ist.220 Ein Anhörungsrügeverfahren hemmt nicht den Verjährungseintritt.221 Ein Gläubiger ist nicht gehalten zur Hemmung der Verjährung die Klage gemäß § 185 Nr. 1 ZPO öffentlich zustellen zu lassen, wenn der Aufenthaltsort des Schuldners nicht ermittelbar ist.222 Der Anwalt hat keine allgemeine Pflicht, aus Gründen des sicheren Verjährungsschutzes neben der Führung von Verhandlungen andere verjährungshemmende Maßnahmen zu ergreifen.223 2. Mahnverfahren (§ 204 Abs. 1 Nr. 3 BGB) Die Zustellung eines Mahnbescheids hemmt die Verjährung des geltend gemachten Anspruchs nur, wenn dieser im Antrag hinreichend individualisiert ist. Die Bezugnahme auf Unterlagen reicht aus. Ist ein solches Schriftstück dem Antragsgegner bekannt, braucht es dem Mahnbescheid nicht in Abschrift beigefügt zu werden; auch schadet die Falsch864

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angabe des Datums eines Schreibens nicht, wenn für den Antragsgegner ohne weiteres ersichtlich ist, um welches Schreiben es sich handelt.224 Die Aufschlüsselung eines Gesamtbetrags ist nur erforderlich bei mehreren geltend gemachten Einzelforderungen, aber noch nicht bei einer einheitlichen Schadensersatzforderung (z. B. „Schadensersatz aus Mietvertrag“), die sich aus mehreren unselbstständigen Rechnungsposten zusammensetzt.225 Verjährungshemmung kann trotz unwirksamer Zustellung eines Mahnbescheids eintreten, wenn der Anspruchsinhaber für die wirksame Zustellung alles aus seiner Sicht Erforderliche getan hat, der Anspruchsgegner in unverjährter Zeit von dem Erlass des Mahnbescheids und seinem Inhalt Kenntnis erlangt und die Wirksamkeit der Zustellung ebenfalls in unverjährter Zeit im Rechtsstreit geprüft wird.226 Die Berufung auf eine Verjährungshemmung kann im Einzelfall rechtsmissbräuchlich sein, wenn der Mahnbescheidsantrag die bewusst wahrheitswidrige Erklärung enthält, dass die Gegenleistung bereits erbracht sei.227 3. Selbstständiges Beweisverfahren (§ 204 Abs. 1 Nr. 7 BGB) Die Verjährung des Vergütungsanspruchs des Auftragnehmers wird gehemmt, wenn er zur Aufklärung von Werkmängeln ein selbstständiges Beweisverfahren einleitet, um die Abnahmereife seiner Werkleistungen und die tatsächlichen Voraussetzungen für die Fälligkeit seines Vergütungsanspruchs nachweisen zu können.228 Hemmung tritt auch ein, wenn der Antrag dem Antragsgegner statt förmlicher Zustellung nur formlos übersandt wurde.229 Die Hemmung endet gem. § 204 Abs. 2 BGB sechs Monate nach der sachlichen Erledigung des Verfahrens. Diese liegt beim schriftlichen Sachverständigengutachten regelmäßig vor, wenn das Gutachten den Parteien übergeben wird; bei mündlicher Erläuterung des Gutachtens mit dem Verlesen oder der Vorlage zur Durchsicht des Sitzungsprotokolls über die Vernehmung des Sachverständigen. Hat das Gericht eine Frist gesetzt oder haben die Parteien dem Gericht nach Erhalt des Gutachtens innerhalb eines angemessenen Zeitraums Einwendungen oder Anträge oder Ergänzungsfragen mitgeteilt, endet das Beweisverfahren erst mit dem Verstreichen dieser Frist oder der Erledigung der Anträge oder Ergänzungsfragen.230 4. Schwebende Verhandlungen (§ 203 BGB) Verhandlungen sind weit auszulegen und schweben schon dann, wenn eine der Parteien Erklärungen abgibt, die der je-

213 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230

BGH, Urteil vom 21.9.2010 – VIII ZB 73/09. BGH, Urteil vom 21.9.2010 – VIII ZB 73/09 BGH, Beschlüsse vom 24.2.2011 – VII ZB 20/09; vom 7.12.2010 – VIII ZB 14/10. BGH, Urteil vom 29.10.2009 – I ZR 191/07. BGH, Beschluss vom 6.4.2010 – VII ZR 166/08. BGH, Urteil vom 9.12.2010 – III ZR 56/2010. BGH, Beschluss vom 1.6.2010 – VI ZR 346/08. BGH, Urteil vom 24.5.2012 – IX ZR 168/11. BGH, Urteil vom 10.5.2012 – IX ZR 143/11. BGH, Urteil vom 28.2.2012 – XI ZR 192/11. BGH, Beschluss vom 1.7.2010 – IX ZR 40/07. BGH, Urteil vom 14.7.2010 – VIII ZR 229/09. BGH, Urteil vom 17.11.2010 – VIII ZR 211/09. BGH, Urteil vom 26.2.2010 – V ZR 98/09. BGH, Urteil vom 21.12.2011 – VIII ZR 157/11. BGH, Beschluss vom 9.2.2012 – VII ZR 135/11. BGH, Urteil vom 10.3.2011 – VII ZR 168/09. BGH, Urteil vom 28.10.2010 – VII ZR 172/09.

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weils anderen die Annahme gestatten, der Erklärende lasse sich auf Erörterungen über die Berechtigung des Anspruchs oder dessen Umfang ein;231 Vergleichsbereitschaft, Bereitschaft zum Entgegenkommen oder Erfolgsaussicht sind nicht erforderlich.232 Die Mitteilung eines Anwalts über die Einschaltung seiner Haftpflichtversicherung ist nur dann eine die Verjährung hemmende Erörterung, wenn der Anwalt nicht zugleich erklärt, zur Haftung dem Grunde und der Höhe nach keine Erklärung abzugeben.233 Eine Hemmung der Verjährung des dem Erwerber gegen den Bauträger zustehenden Mängelanspruchs kommt in Betracht, wenn der Bauträger in Abstimmung mit ihm einen den Mangel betreffenden Rechtsstreit gegen seinen Nachunternehmer führt.234

VIII. Rechtsmittel Die Grundlinie des BGH in seiner Rechtsprechung zu Rechtsmitteln: Die Einlegung eines Rechtsmittels soll wegen der Gewährleistung weitestgehenden Rechtsschutzes nicht eingeschränkt werden. Allerdings hält der BGH in diesem Bereich an strengeren Formvorgaben fest. Vom Anwalt wird – wie es aus der Parteimaxime folgt – Sorgfalt erwartet. 1. Verschlechterungsverbot (§ 528 Satz 2 ZPO) Hat das Erstgericht unter Abweisung im Übrigen einer Zahlungsklage teilweise stattgegeben und die Aufrechnungsgegenforderung des Beklagten als unbegründet angesehen, dann darf das Berufungsgericht auf die Berufung des Beklagten den in erster Instanz aberkannten Teil der Klageforderung nicht mehr als bestehend betrachten.235 2. Rechtsbeschwerde Gemäß § 574 Abs. 1 ZPO ist die gegen einen Beschluss durch einen beim BGH zugelassenen Anwalt einzulegende Rechtsbeschwerde nur statthaft, wenn dies entweder im Gesetz bestimmt ist oder das Beschwerdegericht die Rechtsbeschwerde zugelassen hat.236 Enthält eine Beschwerdeentscheidung keine Ausführungen über die Zulassung der Rechtsbeschwerde, ist der Rechtsweg erschöpft.237 Die ZPO sieht ausnahmslos keine Beschwerde gegen die Nichtzulassung einer Rechtsbeschwerde vor. Auch der Weg einer außerordentlichen Beschwerde ist weder eröffnet noch verfassungsrechtlich geboten.238 Beschlüsse, die der Rechtsbeschwerde unterliegen, müssen den maßgeblichen Sachverhalt, über den entschieden wird, wiedergeben und den Streitgegenstand und die Anträge in beiden Instanzen erkennen lassen; andernfalls sind sie nicht mit den nach dem Gesetz erforderlichen Gründen versehen. Dies gilt auch für einen Beschluss, durch den die Berufung verworfen wird, weil die Berufungssumme (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) nicht erreicht wird.239 Gegen eine Kostenentscheidung gemäß § 91a ZPO darf die Rechtsbeschwerde nicht aus materiell-rechtlichen Gründen zugelassen werden.240 Eine Zulassungsbeschränkung auf Teile des Streitstoffes durch das Beschwerdegericht ist möglich.241 Hat das Berufungsgericht zur Hauptforderung gewordene werterhöhende Nebenforderungen nicht berücksichtigt und deswegen die Berufung wegen Unterschreitung der Wertgrenze als unzulässig verworfen, so ist die Rechtsbeschwerde zulässig.242 Der Zivilprozess lebt – die neueste Rechtsprechung des BGH, Geisler

3. Berufung a) Beschwer Wird das abgewiesene Klagebegehren mit der Berufung auf einen erstmals geltend gemachten veränderten Lebenssachverhalt gestützt, ist mangels Bekämpfung der erstinstanzlichen Beschwer eine Berufung unzulässig.243 Bestehen Zweifel, ob der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 Euro übersteigt, hat der Rechtsanwalt den für seinen Mandanten sichersten Weg zu beschreiten, selbst wenn dies zu der Notwendigkeit führt, zwei Rechtsbehelfe (Berufung und Anhörungsrüge) parallel anhängig zu machen.244 Wurde im Urteil über einen erstinstanzlichen Antrag nicht ausdrücklich entschieden, hat das Berufungsgericht durch Auslegung festzustellen, ob von einer Entscheidung hierüber auszugehen ist.245 Soweit das Erstgericht die Klage wegen eines Anspruchs abgewiesen hat, bleibt der Wert dieser Forderung bei der Berechnung der Berufung des Beklagten unberücksichtigt.246 Die Beschwer einer Zug-um-Zug-Verurteilung richtet sich nach dem Zeit- und Kostenaufwand, der bei der Erfüllung des Gegenanspruchs entsteht. Der Antrag auf Feststellung des Annahmeverzugs neben dem Antrag auf eine Zug-umZug-Verurteilung hat keine eigenständige wirtschaftliche Bedeutung.247 Eine mit der Berufung weiterverfolgte Nebenforderung im Sinne des § 4 Abs. 1 ZPO ist bei der Rechtsmittelbeschwer zu berücksichtigen, soweit sie Hauptforderung geworden ist.248 Der Wert einer Vollstreckungsabwehrklage für den erstinstanzlich unterlegenen Beklagten richtet sich danach, inwieweit die Zwangsvollstreckung für unzulässig erklärt worden ist.249 Ist eine Partei zusammen mit einer anderen Partei als Gesamtschuldner verurteilt worden, entfällt ihre Beschwer nicht schon dadurch, dass die andere Partei den Urteilsbetrag zahlt.250 Wurde eine Partei zur Erteilung einer Auskunft oder Rechnungslegung verurteilt, bemisst sich der Beschwerdewert für das Rechtsmittel nach dem Interesse, die Auskunft nicht erteilen zu müssen, wie Aufwand an Zeit und Kosten zur Erteilung der Auskunft251 oder ein schützenswertes Interesse des Beklagten daran, bestimmte Tatsachen vor dem Gegner geheim zu halten.252 Anwaltskosten erhöhen den Wert nicht,253 jedoch kann der eigene Zeitaufwand entsprechend § 22 JVEG mit maximal 17 Euro pro Stunde bewertet werden.254 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254

BGH, Urteil vom 12.5.2011 – IX ZR 91/08. BGH, Urteil vom 8.12.2011 – V ZR 110/11. BGH, Urteil vom 3.2.2011 – IX ZR 105/10. BGH, Beschluss vom 28.10.2010 – VII ZR 82/09. BGH, Urteil vom 6.10.2010 – VIII ZR 209/07. BGH, Beschluss vom 23.8.2010 – IX ZB 154/10. BGH, Beschluss vom 10.5.2012 – IX ZB 295/11. BGH, Beschluss vom 13.7.2011 – IX ZA 77/11. BGH, Beschluss vom 14.6.2010 – II ZB 20/09. BGH, Beschluss vom 8.3.2011 – VIII ZB 65/10. BGH, Beschluss vom 11.1.2011 – VIII ZB 92/09. BGH, Beschluss vom 11.1.2011 – VIII ZB 62/10. BGH, Beschluss vom 29.9.2011 – IX ZB 106/11. BGH, Beschluss vom 8.5.2012 – VI ZB 1/11, VI ZB 2/11. BGH, Beschluss vom 12.4.2011 – VI ZB 58/10. BGH, Beschluss vom 5.4.2011 – VI ZB 61/10. BGH, Beschluss vom 6.7.2010 – XI ZB 40/09. BGH, Beschluss vom 11.1.2011 – VIII ZB 62/10. BGH, Beschluss vom 27.1.2011 – VII ZB 21/09. BGH, Beschluss vom 7.12.2010 – VI ZB 87/09. BGH, Beschluss vom 9.2.2012 – III ZB 55/11. BGH, Beschluss vom 28.10.2010 – III ZB 28/10. BGH, Beschluss vom 29.9.2010 – XII ZB 49/09. BGH, Beschluss vom 28.9.2011 – IV ZR 250/10.

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Hat das Erstgericht keine Entscheidung über die Zulassung der Berufung getroffen, weil es den Streitwert auf über 600 Euro festgesetzt hat, muss das Berufungsgericht, wenn es diesen Wert nicht für erreicht hält, die Entscheidung über die Zulassung der Berufung nachholen.255 Unterlässt dies das Berufungsgericht, kann der BGH im Rahmen der Erheblichkeit dieses Verfahrensfehlers prüfen, ob eine Zulassung geboten gewesen wäre256 und eventuell die Zulassung nachholen.257 Eine inhaltliche Überprüfung der nachgeholten Zulassungsentscheidung durch den BGH ist ausgeschlossen.258 b) Frist Der Beginn der Fristen zur Einlegung (§ 517 ZPO) und Begründung (§ 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO) der Berufung setzt die Zustellung einer Ausfertigung des in vollständiger Form abgefassten Urteils voraus,259 nicht nur einer beglaubigten Urteilsabschrift.260 Fehlt es an einer wirksamen Urteilszustellung, beginnt auch für eine im Ausland wohnhafte, nicht anwaltlich vertretene Partei die Frist für die Einlegung der Berufung grundsätzlich fünf Monate nach Verkündung des Urteils.261 Das Protokoll (§ 160 Abs. 3 Nr. 6 ZPO) erbringt nur dann Beweis für eine ordnungsgemäße Verkündung, wenn das Protokoll innerhalb der Fünfmonatsfrist des § 517 ZPO erstellt worden ist.262 Bei einem ersten Antrag auf Verlängerung der Begründungsfrist sind keine hohen Anforderungen an die Darlegung der Gründe für die Notwendigkeit der Fristverlängerung zu stellen,263 jedoch ist für die zweite Verlängerung die Einwilligung des Gegners erforderlich.264 c) Berufungsschrift (§ 519 ZPO) Trotz fehlender Bezeichnung der Parteirollen ist die Berufung zulässig, wenn sich durch einen Abgleich der Berufungsschrift mit der beigefügten Urteilsabschrift feststellen lässt, für wen die Berufung eingelegt worden ist.265 An die Bezeichnung des Rechtsmittelgegners sind weniger strenge Anforderungen zu stellen als an die Bezeichnung des Rechtsmittelführers. Wenn der in der Vorinstanz obsiegende Gegner aus mehreren Streitgenossen besteht, richtet sich das Rechtsmittel im Zweifel gegen die gesamte angefochtene Entscheidung und somit gegen alle gegnerischen Streitgenossen, es sei denn, die Rechtsmittelschrift lässt eine Beschränkung der Anfechtung erkennen.266 Berufungseinlegung unter der Bedingung gewährter Prozesskostenhilfe ist unzulässig.267 Sind jedoch die formalen Anforderungen an eine Berufungsschrift erfüllt, kommt eine Deutung, dass der Schriftsatz nicht als unbedingte Berufung bestimmt war, nur dann in Betracht, wenn sich dies entweder aus dem Schriftsatz selbst oder aus den Begleitumständen deutlich ergibt.268 Spätere „klarstellende“ Parteierklärungen können dabei nicht berücksichtigt werden.269 d) Anschlussberufung (§ 524 ZPO) Wird „Anschlussberufung“ eingelegt, ist im Wege der Auslegung zu ermitteln, ob auch die Anforderungen an die Zulässigkeit einer eigenständigen Berufung erfüllt sind.270 Ebenso kann eine unzulässige Hauptberufung in eine zulässige Anschlussberufung umgedeutet werden.271 e) Berufungsbegründung (§ 520 ZPO) Die Berufungsbegründung muss eindeutig erkennen lassen, in welchem Umfang das erstinstanzliche Urteil angefochten werden soll. Ob die erhobenen Rügen schlüssig oder auch 866

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nur vertretbar sind, ist ohne Belang.272 Das Rechtsmittel ist insgesamt unzulässig, wenn sich die angefochtene Entscheidung auf mehrere voneinander unabhängige Erwägungen stützt und die Begründung nicht für jede darlegt, warum sie keinen Bestand haben können.273 Unzulässig ist die Bezugnahme auf den Inhalt einer beigefügten, weder beglaubigten noch unterzeichneten Abschrift der Berufungsbegründungsschrift aus einem Parallelverfahren.274 Dagegen erfüllt eine handschriftlich auf Kopfbogen verfasste, von dem Prozessbevollmächtigten unterschriebene und mit Telefaxsendung beim Berufungsgericht eingegangene Berufungsschrift die Mindestanforderungen an eine Berufungsbegründung.275 Eine Erweiterung der Berufungsanträge ist bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zulässig, soweit die erweiterten Anträge durch die fristgerecht eingereichten Berufungsgründe gedeckt sind.276 f) Vollstreckungsschutzantrag gemäß § 712 ZPO Die vom Berufungsgericht getroffene vorläufige Einstellung „bis zum rechtskräftigen Abschluss des Berufungsverfahrens“ wirkt trotz ihres Wortlauts nur für die Dauer des Berufungsverfahrens und nicht über den Erlass des Berufungsurteils hinaus.277 Deshalb sollte im Berufungsrechtszug immer ein Vollstreckungsschutzantrag gemäß §§ 712, 714 ZPO gestellt werden. g) Klageänderung, Aufrechnung und Widerklage (§ 533 ZPO) Nur auf die Klageänderung nach § 263 ZPO bezieht sich § 533 ZPO, nicht auf Änderungen des Klageantrags nach § 264 Nr. 2 und 3 ZPO,278 wie der Übergang vom Vorschussanspruch auf den Anspruch auf Erstattung der tatsächlichen Kosten.279 Klägerwechsel280 oder das Abstehen vom Urkundenprozess281 werden in der Berufungsinstanz wie eine Klageänderung behandelt. Die Sachdienlichkeit ist nach objektiven Gesichtspunkten zu beurteilen. Es kommt entscheidend darauf an, ob und inwieweit der Streitstoff sachgemäß und endgültig erledigt wird. Dabei ist unerheblich, ob eine Tatsacheninstanz abge-

255 256 257 258 259 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281

BGH, Beschlüsse vom 26.10.2010 – VI ZB 74/08 und vom 27.04.2010 – VIII ZB 91/09. BGH, Beschluss vom 23.3.2011 – XII ZB 436/10. BGH, Beschluss vom 12.4.2011 – VI ZB 31/2010. BGH, Beschluss vom 9.2.2012 – III ZB 55/11. BGH, Beschluss vom 9.6.2010 – XII ZB 132/09. BGH, Beschluss vom 28.10.2010 – VII ZB 40/10. BGH, Beschluss vom 20.1.2011 – IX ZB 214/09. BGH Urteil vom 13.4.2011 – XII ZR 131/09. BGH, Beschluss vom 10.6.2010 – V ZB 42/10. BGH, Beschluss vom 26.7.12 – III ZB 57/11. BGH, Beschluss vom 12.1.2010 – VIII ZB 64/09. BGH, Urteile vom 15.12.2010 – XII ZR 18/09 und 11.05.2010 – VIII ZB 93/09. BGH, Beschluss vom 30.11.2011 – III ZB 34/11. BGH, Beschluss vom 27.10.2010; vom 08.12.2010 – XII ZB 140/10. BGH, Beschluss vom 7.3.2012 – XII ZB 421/11. BGH, Beschluss vom 29.3.2011 – VIII ZB 25/10. BGH, Beschluss vom 13.10.2011 – VII ZB 27/11. BGH, Beschluss vom 31.8.2010 – VIII ZB 13/10. BGH, Urteil vom 20.5.2011 – V ZR 250/10. BGH, Urteil vom 20.7.2010 – KZR 9/09. BGH, Beschluss vom 21.9.2010 – VIII ZB 9/10. BGH, Beschluss vom 27.9.2010 – II ZR 185/09. BGH, Beschluss vom 24.11.2010 – XII ZR 31/10. BGH, Urteil vom 22.4.2010 – IX ZR 160/09. BGH, Beschluss vom 26.11.2009 – VII ZR 133/08. BGH, Urteil vom 23.2.2011 – XII ZR 59/09. BGH, Urteil vom 4.7.2012 – VIII ZR 109/11.

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schnitten wird oder der Beklagte sein Recht schon erstinstanzlich hätte geltend machen können oder neue Parteierklärungen und gegebenenfalls Beweiserhebungen notwendig werden und die Erledigung des Prozesses verzögert wird.282 So ist die Klageänderung von der Vollstreckungsabwehrklage in eine Klauselgegenklage sachdienlich,283 aber nicht die Feststellungswiderklage auf Rückzahlung geleisteten Unterhalts.284 Sachdienlichkeit liegt nicht vor, wenn ein völlig neuer Streitstoff in den Rechtsstreit eingeführt werden soll, bei dessen Beurteilung das Ergebnis der bisherigen Prozessführung nicht verwertet werden kann.285 Die Klageänderung kann nach § 533 Nr. 2 ZPO auf Tatsachen gestützt werden, die aufgrund der vom erstinstanzlichen Gericht vertretenen Rechtsansicht unerheblich waren286 oder in erster Instanz zwar vorgetragen wurden, für die Entscheidung über die Klage aber unerheblich waren.287 h) Entscheidung Eine Zurückverweisung an das Erstgericht wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels gem. § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO kommt nur in Betracht, wenn das erstinstanzliche Verfahren an einem so wesentlichen Mangel leidet, dass es keine Grundlage für eine instanzbeendende Entscheidung sein kann. Das ist nicht der Fall, wenn das Berufungsgericht den materiell-rechtlichen Standpunkt des Erstgerichts für verfehlt erachtet288 oder aufgrund einer anderen materiell-rechtlichen Würdigung des Parteivorbringens eine Beweisaufnahme für erforderlich hält.289 Nach § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO muss ein Berufungsurteil zwar keinen Tatbestand enthalten. Erforderlich ist aber eine Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen in dem erstinstanzlichen Urteil mit einer Darstellung etwaiger Änderungen oder Ergänzungen und die sinngemäße Wiedergabe der Berufungsanträge.290 Lässt das Berufungsgericht die Revision zu, muss aus den Urteilsgründen zu ersehen sein, von welchem Sach- und Streitstand es ausgegangen ist, welches Rechtsmittelbegehren die Parteien verfolgt haben und welche tatsächlichen Feststellungen der Entscheidung zugrunde liegen.291 Bei einem sog. Protokollurteil müssen alle mitwirkenden Richter entweder das Protokoll, das die Urteilsbestandteile des § 313 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 ZPO enthalten muss, oder das als Anlage mit dem Protokoll verbundene Urteil unterschreiben.292 4. Revision/Nichtzulassungsbeschwerde Das Berufungsgericht kann die Revision beschränken auf einen rechtlich selbstständigen und damit abtrennbaren Teil des Streitstoffs, wie Zulässigkeit der Klage293 oder Höhe des Anspruchs.294 Lässt das Berufungsgericht auf eine Anhörungsrüge hin die Revision nachträglich zu, ohne einen darauf bezogenen Gehörsverstoß festzustellen, ist die Zulassungsentscheidung verfahrensfehlerhaft ergangen und bindet den BGH.295 Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist zurückzuweisen, wenn das Berufungsurteil trotz zulassungsrelevanter Rechtsfehler im Ergebnis aus Gründen richtig ist, die ihrerseits die Zulassung der Revision nicht erfordern.296 Von Amts wegen ist zu prüfen, ob die Beschwer von mehr als 20.000 Euro (§ 26 Nr. 8 EGZPO, vorläufig bis 31.12.2014) übersteigt. Dabei ist der BGH weder an die Angaben der Parteien noch an die Streitwertfestsetzung des Berufungsgerichts gebunden.297 Eine Einstellung der Zwangsvollstreckung durch den BGH kommt nicht in Betracht, wenn der Schuldner es versäumt hat, im Berufungsrechtszug einen VollstreDer Zivilprozess lebt – die neueste Rechtsprechung des BGH, Geisler

ckungsschutzantrag gemäß § 712 ZPO zu stellen, obwohl ihm ein solcher Antrag möglich und zumutbar war,298 außer es haben sich nachträglich neue Gründe ergeben.299

IX. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 234 ZPO) Fristversäumnisse gehören nach wie vor zu den häufigsten Pflichtverletzungen bei Anwälten. Mit der Wiedereinsetzung kann aber gerade im Berufungsverfahren vieles gerettet werden. Die Rechtsprechung des BGH zur Wiedereinsetzung ist daher sehr praxisrelevant. Grundtendenz des BGH ist es, den Parteien den Zugang zum Gericht durch eine Überspannung der Sorgfaltspflichten nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren. Es kommt immer wieder vor, dass der BGH sehr strenge Entscheidungen der Oberlandesgerichte kassiert. 1. Verschulden des Rechtsanwalts Den Anwalt trifft ein eigenes Verschulden an der Fristversäumung, wenn er sich nicht rechtzeitig von der erforderlichen Bearbeitungszeit überzeugt.300 Der Anwalt darf das Empfangsbekenntnis nur unterzeichnen und zurückgeben, wenn sichergestellt ist, dass in den Handakten die Rechtsmittelfrist festgehalten und die Fristnotierung im Fristenkalender vermerkt ist.301 Eine fristwahrende Maßnahme darf im Kalender als erledigt gekennzeichnet werden, wenn der fristwahrende Schriftsatz in ein Postausgangsfach des Anwalts als „letzte Station“ eingelegt wird, insbesondere nicht mehr in einen Umschlag einsortiert werden muss302. Die Übermittlung per Telefax ist durch Überprüfung des Sendeberichts anhand eines aktuellen Verzeichnisses oder einer anderen geeigneten Quelle sicherzustellen.303 Besteht in einer Anwaltskanzlei die Möglichkeit, dass ein Anwalt selbst Fristen streicht, dann muss der Anwalt ein eigenes Verschulden ausräumen und gegebenenfalls zu den organisatorischen Maßnahmen Stellung nehmen, die er zur Vermeidung von Fehlerquellen durch Kompetenzüberschneidung (auch Urlaub, Krankheit) getroffen hat.304 Fristversäumung wegen Verzögerung der Postlaufzeit ist dem Rechtsmittelführer nicht zuzurechnen.305

282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299 300 301 302 303 304 305

BGH, Urteil vom 4.7.2012 – VIII ZR 109/11. BGH, Urteil vom 27.1.2012 – V ZR 92/11. BGH, Urteil vom 11.8.2010 – XII ZR 102/09. BGH, Urteil vom 30.3.2011 – IV ZR 137/08. BGH, Urteil vom 27.1.2010 – XII ZR 148/07. BGH, Urteil vom 13.1.2012 – V ZR 183/10. BGH, Urteil vom 13.7.2010 – VI ZR 254/09. BGH, Urteil vom 14.6.2012 – IX ZR 150/11. BGH, Urteil vom 11.8.2010 – XII ZR 102/09. BGH, Urteil vom 24.2.2011 – VII ZR 169/10. BGH, Urteil vom 1.3.2010 – II ZR 213/08. BGH, Urteil vom 12.4.2011 – XI ZR 341/08. BGH, Urteil vom 27.9.2011 – II ZR 221/09. BGH, Urteil vom 1.12.2011 – IX ZR 70/10. BGH, Beschluss vom 10.6.2010 – Xa ZR 110/09. BGH, Beschluss vom 6.4.2011 – IX ZR 113/08. BGH, Beschluss vom 20.3.2012 – V ZR 275/11. BGH, Beschluss vom 27.10.2010 – VIII ZR 155/10. BGH, Beschluss vom 29.3.2011 – VI ZB 25/10. BGH, Beschluss vom 12.1.2010 – VI ZB 64/09. BGH, Beschluss vom 12.4.2011 – VI ZB 6/10. BGH, Beschluss vom 12.6.1212 – VI ZB 54/11. BGH, Beschluss vom 3.11.2010 – XII ZB 177/10. BGH, Beschluss vom 17.1.1212 – VIII ZB 42/11.

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2. Delegieren von Pflichten Ein Anwalt darf einfache Tätigkeiten, wie Fristenkontrolle oder Botengang, einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft nach Ablauf einer beanstandungsfreien sechsmonatigen Probezeit306 anvertrauen, sofern durch geeignete organisatorische Maßnahmen sichergestellt ist, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden.307 Deshalb sind dem Anwalt Fehler einer zuverlässigen Büroangestellten nicht zuzurechnen, wie das versehentliche Einwerfen eines Schriftsatzes beim falschen Gericht308 oder der Verwendung einer unrichtigen Telefaxnummer.309 Unverzichtbar sind eindeutige Anweisungen an das Büropersonal, die Festlegung klarer Zuständigkeiten und die zumindest stichprobenartige Kontrolle der Angestellten.310 Der Anwalt kann sich nur von der routinemäßigen Fristenkontrolle entlasten, muss den Fristablauf aber eigenverantwortlich nachprüfen, wenn ihm die Sache zur Vorbereitung der fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt wird.311 a) Organisation Zu den Aufgaben des Anwalts gehört es, das Fristenwesens in seiner Kanzlei durch Vermeidung von Fehlerquellen so zu organisieren, dass ein Fristversäumnis ausgeschlossen ist.312 Da weder ein bestimmtes Verfahren vorgeschrieben noch allgemein üblich ist,313 steht es dem Anwalt frei, wie er seine Fristenkontrolle gestaltet. Es muss nur gewährleistet sein, dass sämtliche organisatorischen Maßnahmen so beschaffen sind, dass auch bei unerwarteten Störungen des Geschäftsablaufs (z. B. Überlastung, Erkrankung etc.) die Einhaltung der Frist vom Eingang314 bis zur Ausgangskontrolle gesichert ist. Nur ein plötzliches und unvorhersehbares Ereignis entlastet.315 Beantragt der Prozessbevollmächtigte eine Fristverlängerung, so muss das beantragte Fristende bei oder alsbald nach Einreichung des Verlängerungsantrags in den Fristenkalender eingetragen werden,316 als vorläufig gekennzeichnet und rechtzeitig, spätestens nach Eingang der gerichtlichen Mitteilung, überprüft werden, damit das wirkliche Ende der Frist festgestellt wird.317 Der Anwalt ist nicht verpflichtet, sich innerhalb des Laufs der Frist bei Gericht zu erkundigen, ob sein Verlängerungsantrag rechtzeitig eingegangen ist und ihm stattgegeben wurde.318 Wenn in mehreren Verfahren gleicher Parteien mehrere Fristen zu notieren sind, muss verhindert werden, dass eine Verwechslung in der Behandlung der verschiedenen Verfahren entstehen kann durch getrennte Notierung jeder Frist mit zusätzlichem eindeutigen Erkennungszeichen für jede Frist.319 Werden zwei Fristenkalender geführt, darf ein Erledigungsvermerk in die Handakte erst dann aufgenommen werden, wenn die Fristen in beiden Kalendern eingetragen sind.320 b) Einzelanweisung Auf allgemeine organisatorische Vorkehrungen bzw. Anweisungen kommt es nicht mehr an, wenn der Anwalt einer zuverlässigen Kanzleikraft eine konkrete Einzelanweisung erteilt, welche für sich selbst bei Befolgung die Fristwahrung gewährleistet hätte.321 Ein Anwalt darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass seine bisher zuverlässige Büroangestellte eine Einzelanweisung befolgt.322 Deshalb ist er nicht verpflichtet, sich anschließend über die Ausführung seiner Wei868

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sung zu vergewissern.323 Eine konkrete Einzelanweisung kann den Anwalt dann nicht von einer unzureichenden Büroorganisation entlasten, wenn sie vorhandene Organisationsmängel nicht beseitigt324 oder unvollständig ist und deshalb der Fristversäumung nicht wirksam entgegenwirken kann.325 3. Kausalität Bei der Beurteilung, ob ein Fehler für die Versäumung einer Frist ursächlich geworden ist, darf kein weiteres, nicht aufgetretenes Fehlverhalten hinzu gedacht werden, sondern es ist von einem ansonsten pflichtgemäßen Verhalten auszugehen,326 zum Beispiel das unzuständige Gericht leitet das Rechtsmittel nicht an das zuständige Gericht im ordentlichen Geschäftsgang weiter.327 a) Der durch eine unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung hervorgerufene Rechtsirrtum ist verschuldet, wenn die Rechtsmittelbelehrung so falsch ist, dass sie nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermag,328 aber nicht, wenn sie nicht offenkundig fehlerhaft und der durch sie verursachte Irrtum nachvollziehbar ist.329 Erkennt das zunächst angerufene Berufungsgericht frühzeitig, dass Bedenken gegen seine örtliche330 oder funktionelle331 Zuständigkeit bestehen und teilt es diese Bedenken dem Rechtsmittelführer nicht mit, wirkt sich ein Verschulden an der Fristversäumung dann nicht mehr aus. Die Rechtzeitigkeit des Eingangs eines per Telefax übersandten Schriftsatzes beurteilt sich ausschließlich danach, ob die gesendeten Signale noch vor Ablauf des letzten Tages der Frist vom Telefaxgerät des Gerichts vollständig empfangen (gespeichert) worden sind und dass sich dieser Zeitpunkt mit der Einzelverbindungsübersicht des Telefaxgerätes zuverlässig bestimmen lässt.332 Bei Störungen des gerichtlichen Empfangsgeräts liegt die Ursache für die Fristversäumung in der dem Anwalt nicht zuzurechnenden Sphäre des Gerichts.333 Ist das Empfangsgerät mit anderen Telefaxsendungen belegt, muss der Betreffende

306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333

BGH, Beschluss vom 13.1.2011 – VII ZB 95/08. BGH, Beschluss vom 8.2.2010 – II ZB 10/09. BGH, Beschluss vom 21.9.2010 – VIII ZB 14/09. BGH, Beschluss vom 14.10.2010 – IX ZB 34/10. BGH, Beschluss vom 28.9.2010 – X ZR 57/10. BGH, Beschluss vom 5.6.1212 – VI ZB 76/11. BGH, Beschluss vom 13.7.2010 – VI ZB 1/10. BGH, Beschluss vom 9.12.2009 – XII ZB 154/09. BGH, Beschluss vom 13.7.2010 – VI ZB 1/10. BGH, Beschluss vom 1.2.2012 – XII ZB 298/11. BGH, Beschluss vom 22.3.2011 – II ZB 19/09. BGH, Beschluss vom 13.7.2010 – VI ZB 1/10. BGH, Beschluss vom 5.6.2012 – VI ZB 16/12. BGH, Beschluss vom 6.10.2010 – XII ZB 66/10, XII ZB 67/10. BGH, Beschluss vom 10.3.2011- VII ZB 37/10. BGH, Beschluss vom 20.9.2011 – VI ZB 23/11. BGH, Beschluss vom 20.3.2012 – VIII ZB 41/11. BGH, Beschluss vom 8.2.2012 – XII ZB 165/11. BGH, Beschluss vom 25.6.2009 – V ZB 191/08. BGH, Beschluss vom 26.6.1212 – VI ZB 12/12. BGH, Beschluss vom 24.1.2012 – II ZB 3/11. BGH, Beschluss vom 21.6.2012 – IX ZB 265/11. BGH, Beschluss vom 13.6.2012 – XII ZB 592/11. BGH, Beschluss vom 12.1.2012 – V ZB 198/11, V ZB 199/11. BGH, Beschluss vom 20.4.2011 – VII ZB 78/09. BGH, Beschluss vom 14.12.2010 – VIII ZB 20/09. BGH, Beschluss vom 18.11.2010 – I ZB 62/10. BGH, Beschluss vom 11.1.2011 – VIII ZB 44/10.

Der Zivilprozess lebt – die neueste Rechtsprechung des BGH, Geisler

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bis zum Fristablauf um 24:00 Uhr seine Übermittlungsversuche fortsetzen334 und alle noch möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen.335 Steht fest, dass die Übermittlung per Telefax nicht mehr rechtzeitig erfolgen kann, muss der Anwalt den Versuch unternehmen, den Schriftsatz unmittelbar zum Nachtbriefkasten des Gerichts zu bringen, auch wenn die Gefahr besteht, dass die Zeit hierfür nicht mehr ausreicht.336 b) Die Mittellosigkeit einer Partei ist kausal für die unverschuldete Fristversäumung, wenn eine Partei wegen ihrer Mittellosigkeit keinen Anwalt mit der Einlegung und Begründung eines Rechtsmittels beauftragen kann.337 Dies gilt auch, wenn der Anwalt ein Prozesskostenhilfegesuch für eine beabsichtigte Berufung einreicht und dieses vor Ablauf der Begründungsfrist mit einem „Entwurf“ begründet. Dies gilt nicht, wenn ein Anwalt bereit war, die Berufung auch ohne Bewilligung von Prozesskostenhilfe einzulegen oder zu begründen.338 4. Antragsfrist (§ 234 Abs. 1 ZPO) Grundsätzlich müssen nach §§ 234 Abs. 1, 236 Abs. 2 ZPO alle Tatsachen, die für die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Bedeutung sein können, innerhalb der zweiwöchigen Antragsfrist vorgetragen werden,339 zum Beispiel welche Sicherungen es in der Kanzlei gegen ein unbeabsichtigtes Löschen von Fristen gab.340 Einer bedürftigen Partei ist Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zu versagen, wenn sie den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe erst nach Fristablauf gestellt hat.341 Lediglich erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten gewesen wäre, dürfen noch nach Fristablauf vervollständigt werden.342 Ist der Prozessbevollmächtigte einer Partei erkrankungsbedingt an der Einhaltung der Frist gehindert, ist für den Beginn der Frist der Wegfall der Erkrankung und nicht der Zeitpunkt maßgebend, an dem die Gegenseite ihre Zustimmung zu einer erneuten Fristverlängerung verweigert.343 Ist ein für die Berufungsinstanz nach Klageabweisung gestellter Prozesskostenhilfeantrag des Klägers abgewiesen worden und wurde hiergegen die Anhörungsrüge erhoben, läuft die Frist für einen Wiedereinsetzungsantrag in die versäumte Berufungsfrist ungeachtet der Anhörungsrüge, so dass ein nach deren Zurückweisung zugleich mit der Berufungseinlegung gestellter Wiedereinsetzungsantrag unzulässig ist.344 Bei offenkundig unverschuldeter Fristversäumung kann Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden,345 wenn die versäumte Prozesshandlung fristgerecht nachgeholt wurde und die unverschuldete Fristversäumung offensichtlich ist346 oder plausibel347 glaubhaft gemacht wurde.348

334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344 345 346 347 348

BGH, Beschluss vom 6.4.2011 – XII ZB 701/10. BGH, Beschluss vom 21.7.2011 – IX ZB 218/10. BGH, Beschluss vom 3.5.2011 – XI ZB 24/10. BGH, Beschluss vom 8.2.2012 – XII ZB 462/11. BGH, Beschluss vom 29.3.2012 – IV ZB 16/11. BGH, Beschluss vom 19.4.2011 – XI ZB 4/10. BGH, Beschluss vom 21.12.2010 – IX ZB 115/10. BGH, Beschluss vom 6.4.2011 – IX ZB 92/11. BGH, Beschluss vom 31.3.2010 – XII ZB 166/09. BGH, Beschluss vom 5.4.2011 – VIII ZB 81/10. BGH, Beschluss vom 24.6.2009 – IV ZB 2/09. BGH, Beschluss vom 23.5.2012 – XII ZB 375/11. BGH, Beschluss vom 8.12.2010 – XII ZB 334/10. BGH, Beschluss vom 14.1.2010 – I ZB 97/08. BGH, Beschluss vom 6.10.2010 – XII ZB 22/10.

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X. Fazit Mediation und außergerichtliche Konfliktbeilegung sind „in“. Das hat das im Juli 2012 in Kraft getretene Mediationsgesetz gezeigt. Unabhängig davon ist der Zivilprozess aber ein zwingender Bestandteil des Rechtsstaats. Erst dieser ermöglicht es wirklich jedem, seine zivilrechtlichen Ansprüche in einem geordneten und verlässlichen, bewährten und finanzierbaren Verfahren zu sichern. Das ist nicht nur für den Bürger, sondern auch für Unternehmen jeder Größenordnung wichtig. Die vielfältige Rechtsprechung des BGH zum Zivilprozessrecht belegt auch: Der Zivilprozess lebt. Erfreulich ist dabei, dass der BGH den Zugang zum Recht und einen wirkungsvollen Rechtsschutz betont. Das ist ein Fingerzeig an Amtsgerichte, Landgerichte und Oberlandesgerichte, mit Augenmaß und nicht formalistisch zu judizieren. Die Anwältin oder der Anwalt sollte die Chancen des Zivilprozesses kunstvoll nutzen. Dabei gilt: Die Anwaltschaft sollte nicht blind den Instanzgerichten trauen, auch diese können Fehler machen. Umso wichtiger ist es, die aktuelle Rechtsprechung des BGH zu kennen.

Dr. Herbert Geisler, Karlsruhe Der Autor ist Rechtsanwalt beim BGH. Er ist Herausgeber des Juris Praxisreport BGH-Zivilrecht. Sie erreichen den Autor unter der E-Mail-Adresse [email protected].

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Aufsätze

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Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsprozess – gewusst wie Grundsätze und Varianten für die anwaltliche Praxis Richter am OVG Martin Redeker

Der vorläufige Rechtsschutz im Verwaltungsprozess spielt in der anwaltlichen Praxis eine zentrale Rolle. In der Regel sitzt die Verwaltung am längeren Hebel – und kann ihre Interessen zunächst durch sofort vollziehbaren Verwaltungsakt oder faktischen Vollzug gut durchsetzen. Für den Anwalt kann das – gerade in komplexeren Fällen des Alltags – eine große Herausforderung sein. Der Autor stellt die wichtigsten Grundzüge des vorläufigen Rechtsschutzes dar und behandelt aktuelle Probleme der Rechtsprechung.

I. Vorbemerkung Die Bedeutung des vorläufigen Rechtsschutzes im Verwaltungsprozess ist groß. Vielfach hat der Gesetzgeber im Bemühen um die Stärkung der Effektivität der Verwaltung die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage ausgeschlossen. In anderen Fällen ordnet die Verwaltung – nicht selten fast routinemäßig und wegen der oftmals als zu lang empfundenen Dauer von verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahren – die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes an. Im Bereich der Leistungsverwaltung verlangt immer wieder ein drohender Rechtsverlust vorläufigen Rechtsschutz. Im vorläufigen Rechtsschutzverfahren sind mancherlei prozessuale Besonderheiten zu beachten; hinzu kommt eine teilweise sehr verfeinerte, keineswegs immer einheitliche obergerichtliche Rechtsprechung; das BVerwG hat selten die Gelegenheit, zur Klärung streitiger Rechtsfragen beizutragen. Die nachfolgenden Ausführungen wollen auf der Grundlage der aktuellen Rechtsprechung Brennpunkte des vorläufigen Rechtsschutzes darstellen; der vorläufige Rechtsschutz nach § 47 Abs. 6 VwGO bleibt unberücksichtigt.1

II. Die Abgrenzung der beiden Arten des vorläufigen Rechtsschutzes 1. Grundsätze Die VwGO ermöglicht vorläufigen Rechtsschutz in zwei strikt voneinander zu trennenden Verfahren: zum einen im Verfahren nach §§ 80, 80 a VwGO mit dem Ziel der Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage und zum anderen im Verfahren nach § 123 VwGO mit dem Ziel einer einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Sicherung eines Rechts oder vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Die Verfahren unterscheiden sich in ihren prozessualen Voraussetzungen und im Entscheidungsprogramm des Gerichts, so dass bei der 870

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Beantragung des vorläufigen Rechtsschutzes sorgfältig zu prüfen ist, welche Verfahrensart gewählt wird. Für diese Entscheidung ist das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers maßgebend: ist dieses im Hauptsacheverfahren mit der Anfechtungsklage zu verfolgen, weil ein belastender Verwaltungsakt angefochten werden soll, ist der vorläufige Rechtsschutz im Verfahren nach §§ 80, 80 a VwGO zu suchen. In allen anderen Fällen richtet sich der einstweilige Rechtsschutz nach § 123 VwGO.2 Dieses in § 123 Abs. 5 VwGO normativ verankerte Prinzip darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass immer dann, wenn ein belastender und sofort vollziehbarer Verwaltungsakt vorliegt, der vorläufige Rechtsschutz quasi automatisch im Verfahren nach §§ 80, 80 a VwGO zu suchen ist. Es ist in jedem Einzelfall zu prüfen, welches konkrete Rechtsschutzbegehren der Adressat des Verwaltungsaktes oder der von diesem Verwaltungsakt in seinen Rechten im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO möglicherweise verletzte Dritte in der Sache geltend macht.3 So ist die nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO für sofort vollziehbar erklärte Feststellung der luftverkehrsrechtlichen Unzuverlässigkeit, auch wenn sie im Gewand eines feststellenden Verwaltungsaktes im Sinne des § 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO daherkommt, nicht mit dem Ziel der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des dagegen eingelegten Widerspruchs zu bekämpfen, sondern es ist vorläufiger Rechtsschutz nach § 123 VwGO zu suchen, weil das – gegebenenfalls vom Gericht nach objektiven Kriterien zu ermittelnde – tatsächliche Rechtsschutzbegehren im konkreten Fall auf die erstmalige Feststellung der luftverkehrsrechtlichen Zuverlässigkeit gerichtet ist und dies in der Hauptsache nur mit der Verpflichtungsklage erreicht werden kann.4 Entsprechend ist in einem solchen Fall anwaltlicher Vortrag zur Rechtswidrigkeit der negativen Feststellung nicht ausreichend. Es muss vielmehr zum Anordnungsanspruch und zum Anordnungsgrund vorgetragen werden. Unterbleibt dies, wird das vorläufige Rechtsschutzbegehren ohne Erfolg bleiben. In diesen Zusammenhang gehört auch die seit längerem in der Rechtsprechung unterschiedlich beantwortete Frage, in welchem vorläufigen Rechtsschutzverfahren gegen eine für sofort vollziehbar erklärte Rückstellung nach § 15 BauGB vorgegangen werden muss. Wird das maßgebliche Rechtsschutzbegehren in der beantragten Baugenehmigung gesehen, richtet sich der vorläufige Rechtsschutz kombiniert sowohl nach § 80 VwGO wie auch nach § 123 VwGO5, wird es in der bloßen Verbesserung der Rechtsstellung des Bauwerbers durch die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Rückstellung gesehen, richtet sich der vorläufige Rechtsschutz nach § 80 VwGO.6 2. Grenzfälle Das für die Wahl des zutreffenden Verfahrens maßgebliche Rechtsschutzbegehren wird auch von der Regelungsdichte des belastenden Verwaltungsaktes bestimmt. Diese ist anhand des angewandten materiellen Rechts und unter Aus1 2 3 4 5 6

Der Text beruht auf einem vom Verfasser durchgeführten Seminar der Bundesvereinigung Öffentliches Recht. Aus der neuesten Rspr. vgl. VGH Mannheim DVBl. 2010, 1440; OVG Hamburg NordÖR 2009, 305; VG Koblenz NVwZ-RR 2010, 848. Vgl. für den Streit um einen Planfeststellungsbeschluss OVG Koblenz NVwZ-RR 2010, 735. VGH München BayVBl. 2008, 115. VGH Mannheim NVwZ-RR 2003, 333; aufgegeben mit B. v. 20.6.2011 – VBL BW 2011, 474. OVG Schleswig NordÖR 2004, 439; OVG Münster BauR 2007, 684; OVG Lüneburg BauR 2007, 522.

Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsprozess – gewusst wie, Redeker

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legung des Verwaltungsaktes zu ermitteln. Nicht selten erlaubt das zum Erlass eines Verwaltungsaktes ermächtigende materielle Recht eine nur eingeschränkte Regelungsdichte. So sehen die meisten Landesbauordnungen vor, dass Baugenehmigungen für bestimmte Arten baulicher Anlagen im so genannten vereinfachten Verfahren erteilt werden. In diesem Verfahren werden nur wenige bestimmte öffentlichrechtliche Vorschriften geprüft. Der Regelungsgehalt der auf dieser Grundlage erteilten Baugenehmigung erstreckt sich nur auf diese geprüften Vorschriften und der sich durch die Baugenehmigung in seinen Rechten verletzt sehende Nachbar kann nur in diesem Umfang Rechtsschutz nach §§ 80, 80 a VwGO erlangen. Alle anderen vom Nachbarn geltend gemachten Rechtsverletzungen, zum Beispiel die Nichteinhaltung der nicht geprüften Abstands- oder Brandschutzvorschriften muss er wegen des ansonsten in der Regel fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses7 zunächst gegenüber der zuständigen Bauordnungsbehörde geltend machen und kann – wenn diese nicht einschreitet – im Verfahren nach § 123 VwGO Rechtsschutz mit dem Ziel suchen, die Behörde zu verpflichten einzuschreiten. Wird dies verkannt und ausschließlich Rechtsschutz nach §§ 80, 80 a VwGO begehrt, obwohl die Rechtsverletzungen des Nachbarn außerhalb des Regelungsgehaltes der Baugenehmigung erfolgen, bleibt die gerichtliche Prüfung auf die Baugenehmigung beschränkt und bleiben von ihr nicht geprüfte nachbarschützende Regelungen außer Betracht, so dass gegebenenfalls der Nachbar unter Verstoß gegen ungeprüfte nachbarschützende Normen auf der Grundlage der Baugenehmigung bauen kann. Begehrt ein Nachbar vorläufigen Rechtsschutz gegen Baulärm, ist zu prüfen, ob dieser Baulärm von der Baugenehmigung gedeckt wird oder es sich um einen solchen Lärm handelt, der außerhalb des Regelungsbereichs der Baugenehmigung liegt und daher das Begehren des Nachbarn auf ein ordnungsrechtliches Einschreiten der zuständigen Behörde gerichtet ist.8 3. Qualität als Verwaltungsakt Gelegentlich wird in diesem Zusammenhang die Frage zu prüfen sein, ob es sich bei der streitigen Maßnahme der Verwaltung um einen Verwaltungsakt handelt. Insbesondere wenn der Inhalt eines formlosen Schreibens einer Behörde Gegenstand des Rechtsstreites ist, muss zunächst festgestellt werden, ob es sich dabei um einen Verwaltungsakt handelt. Dafür maßgebend ist entsprechend den allgemeinen Regelungen über die Auslegung wie ein objektivierter Adressat das Schreiben verstehen darf oder zu verstehen hat. Dabei ist neben der äußeren Form, wie zum Beispiel der Beifügung einer Rechtsbehelfsbelehrung, auch der objektive Inhalt des Schreibens zu würdigen. Unklarheiten gehen in der Weise zu Lasten der Verwaltung, dass dies gegen einen Verwaltungsakt spricht.9 Im Zweifelsfall ist ein unförmliches Schreiben einer Behörde nicht als Verwaltungsakt zu qualifizieren.10

effektiven Rechtsschutzes, der nicht durch die Abweisung eines Antrages wegen des fehlerhaft gewählten Verfahrens behindert werden soll, weil diese Abweisung den Antragsteller rechtlich nicht hindert nunmehr im richtigen Verfahren den vorläufigen Rechtsschutz zu suchen, wenn nicht ausnahmsweise – im Planungsrecht allerdings häufig – der Eilrechtsschutz befristet ist. Ob die Umdeutung oder Auslegung nach § 88 VwGO auch bei anwaltlicher Vertretung zulässig ist, erscheint zweifelhaft, weil sie wegen der anwaltlichen Rechtskunde nicht erforderlich sein dürfte11, wird aber in der Praxis in der Regel durchgeführt.12 5. Teilbare Verwaltungsakte Nicht selten begünstigt und belastet ein Verwaltungsakt zugleich den Adressaten. In diesen Fällen ist der vorläufige Rechtsschutz gegen den belastenden Teil des Verwaltungsaktes im Verfahren nach § 80 VwGO zu suchen. Von der Begünstigung kann derweil Gebrauch gemacht werden. Aus diesem Grund kann der Adressat einer ihn begünstigenden denkmalschutzrechtlichen Verfügung diese auch dann ausnutzen, wenn er gegen eine mit ihr verbundene materiellrechtliche Kostenregelung Widerspruch eingelegt hat.13 Voraussetzung ist aber die Teilbarkeit des Verwaltungsaktes, die nach dem materiellen Recht zu beurteilen ist. Kann der begünstigende Teil des Verwaltungsaktes rechtlich selbständig bestehen bleiben, wenn der belastende Teil im Widerspruchs- oder Klageverfahren aufgehoben wird, liegt eine Teilbarkeit vor. Fehlt es daran, kann nur gegen den gesamten Verwaltungsakt vorläufiger Rechtsschutz gesucht werden. In welcher Verfahrensart das zu geschehen hat, richtet sich nach dem im Einzelfall zu ermittelnden Rechtsschutzbegehren. Diese Überlegungen lassen sich auf den vorläufigen Rechtsschutz gegen Nebenbestimmungen übertragen. Nach der Rechtsprechung des BVerwG ist gegen Nebenbestimmungen die Anfechtungsklage regelmäßig die richtige Klageart und damit vorläufiger Rechtsschutz gegen eine für sofort vollziehbar erklärte Nebenbestimmung im Verfahren nach §§ 80, 80 a VwGO zu gewähren. Anders nur, wenn die isolierte Aufhebbarkeit offenkundig von vorneherein ausscheidet.14 6. Faktischer Vollzug Vollzieht die Behörde ohne Anordnung der sofortigen Vollziehung oder nur auf der Grundlage einer mündlichen Sofortvollzugsanordnung einen Verwaltungsakt, so handelt es sich um einen Fall des so genannten faktischen Vollzuges. Der Anwendungsbereich des faktischen Vollzuges wird in der Rechtsprechung weit gefasst. So wird der Irrtum der Behörde über den Regelungsumfang eines Verwaltungsaktes, der sich in der Inanspruchnahme von Grundstücksflächen ausdrückt, die nicht Gegenstand einer sofort vollziehbaren Besitzeinweisung sind, als ein Fall des faktischen Vollzuges behandelt.15 Ebenso handelt es sich um einen faktischen Vollzug, wenn eine Fahrerlaubnisbehörde ohne An7

4. Umdeutung Wegen der in der Praxis häufigen Zweifelsfragen, in welchem Verfahren der vorläufige Rechtsschutz zu gewähren ist, hilft die Rechtsprechung mit dem Instrument der Umdeutung des gestellten Antrages unter Wechsel in das von ihr für richtig gehaltene vorläufige Rechtsschutzverfahren. Diese Vorgehensweise kann auch auf § 88 VwGO gestützt oder durch einen Hinweis des Vorsitzenden nach § 86 Abs. 3 VwGO vorbereitet werden. Dahinter steht der Gedanke des Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsprozess – gewusst wie, Redeker

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A.A. wohl Schoch in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner VwGO [Stand 1998] § 123 Rn. 38. OVG Koblenz BauR 2010, 747. OVG Berlin NVwZ-RR 2010, 908. BVerwG NJW 1996, 1073. VGH München NJW 1982, 1474. OVG Münster NWVBl. 2010, 36; OVG Magdeburg NVwZ-RR 2010, 53; vgl. BVerfG NVwZ 2008, 417: wenn zulässiges Rechtsschutzziel klar erkennbar ist; BVerwG B. v. 13.1.2012 – 9 B 56.11. OVG Magdeburg NVwZ-RR 2010, 381. BVerwGE 112, 221; OVG Magdeburg NVwZ-RR 2009, 239; vgl m. zahlr. Nw. zum Meinungsstand Stein DVP 2010, 459 [463]. VGH München BayVBl. 2009, 435.

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ordnung der sofortigen Vollziehung die Feststellung trifft, eine EU-Fahrerlaubnis berechtige nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen im Bundesgebiet und zugleich auf die Strafbarkeit weiterer Verkehrsteilnahme hinweist.16 Vorläufigen Rechtsschutz gegen den faktischen Vollzug bietet der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs oder der Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO, wenn sich die Behörde ohne Vollziehungsanordnung eines Vollziehungsrechts berühmt oder sonst die Voraussetzungen der aufschiebenden Wirkung verneint. Ob bereits die Androhung einer Untersagung der Ausnutzung einer Genehmigung bei einem Widerspruch gegen eine Nebenbestimmung als Fall des faktischen Vollzuges anzusehen ist17, erscheint zweifelhaft. Nach dem System des vorläufigen Rechtsschutzes ist in solchen Fällen unter engen Voraussetzungen vorbeugender Rechtsschutz nach § 123 VwGO möglich oder es ist nach Erlass des Verwaltungsaktes der dagegen vorgesehene vorläufige Rechtsschutz zu ergreifen. Die Konstruktion eines faktischen Vollzuges in solchen Fällen unterläuft dieses vorhandene System des vorläufigen Rechtsschutzes, ohne dass dafür eine aus dem Gedanken des effektiven Rechtsschutzes rechtfertigende zwingende Notwendigkeit erkennbar ist.

nehmigung im Eilverfahren nicht mehr abgewandt werden, weil die aufschiebende Wirkung keinen Anspruch auf (vorläufige) Beseitigung gibt, ist der Eilantrag unzulässig (geworden).24 In diesen Fällen kann sich das Rechtschutzbedürfnis nur darauf stützen, dass die Nutzung der Anlage den Antragsteller in seinen Rechten verletzt.25 Speziell im Hochschulzulassungsverfahren ist es heftig umstritten, bis wann bei Gericht der Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt werden muss. Die Meinungen in der Rechtsprechung reichen vom Tag des Vorlesungsbeginns26 bis zum formellen Ende des Bewerbungssemesters.27 Wird einstweiliger Rechtsschutz vorbeugend verlangt, ist ein qualifiziertes Rechtsschutzbedürfnis erforderlich. Dies liegt nur dann vor, wenn es dem Betroffenen aufgrund besonderer Umstände nicht zumutbar ist, die drohende Rechtsverletzung abzuwarten und sich auf den von der VwGO als grundsätzlich angemessen und ausreichend angesehenen nachträglichen Rechtsschutz verweisen zu lassen.28 Für einen Fortsetzungsfeststellungsantrag ist im vorläufigen Rechtsschutzverfahren kein Raum.29

III. Rechtsschutzbedürfnis

Ordnet die Behörde – das kann nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die Ausgangs- oder die Widerspruchsbehörde sein – die sofortige Vollziehung an, ist diese Anordnung im Regelfall, ausgenommen die Notfälle des § 80 Abs. 3 Satz 2 VwGO, schriftlich zu begründen. Die unmittelbare Bedeutung der Begründungspflicht ist in der Praxis eher gering. Die Vorschrift des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO wird als bloß formelles Erfordernis angesehen, so dass die inhaltlichen Anforderungen nicht hoch sind. So soll jede schriftliche Begründung genügen, die, auch wenn sie sprachlich oder gedanklich noch so unvollkommen ist, erkennen lässt, dass die Behörde gestützt auf die konkreten Umstände des Einzelfalles die Sofortvollzugsanordnung ausgesprochen hat.30 Das ist mit Blick auf die Warn- und Signalfunktion der Begründung für die anordnende Behörde31, die sich des Ausnahmecharakters des Sofortvollzuges bewusst werden soll, und die qualitative Unterscheidung von Erlass- und Vollzugsinteresse32 unzutreffend. Vielmehr bedarf eine diesen Anforderungen entsprechende Begründung einer schlüssigen, konkreten und

Für die Zulässigkeit eines Antrages auf vorläufigen Rechtsschutz ist es von grundlegender Bedeutung, dass der Antragsteller ein Rechtsschutzbedürfnis für den begehrten gerichtlichen Rechtsschutz hat. Die Inanspruchnahme des Gerichts muss zur Sicherung des Rechts des Antragstellers erforderlich sein. Daher muss der Antragsteller vor dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in der Regel zunächst die Behörde mit der Angelegenheit befassen. Erst wenn diese nicht oder ablehnend tätig wird, ist die Einschaltung des Gerichts erforderlich.18 Dies ist in den Fällen des faktischen Vollzuges (§ 80 VwGO) erst gerechtfertigt, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Behörde wenigstens ernsthaft beabsichtigt, Vollzugsmaßnahmen einzuleiten19. Im Übrigen fehlt das Rechtsschutzbedürfnis immer dann, wenn der begehrte vorläufige Rechtsschutz die Rechtsstellung des Antragstellers nicht verbessern kann. Das verlangt im Einzelfall eine sorgfältige Prüfung der materiellen Rechtslage.20 Insbesondere dann, wenn der mit dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu erreichende Suspensiveffekt leer läuft, weil die in ihrer Wirksamkeit durch den erstrebten Suspensiveffekt gehinderte Rechtsfolge aufgrund einer anderen gesetzlichen Regelung eintritt, liegt das Rechtsschutzinteresse nur vor, wenn die im vorläufigen Rechtsschutzverfahren bekämpfte Regelung über die anderswo gesetzlich angeordnete Rechtsfolge hinaus die Rechtsstellung des Antragstellers zu beeinträchtigen in der Lage ist – eine häufige Fallgestaltung im Ausländerrecht.21 Allgemein fehlt das Rechtsschutzinteresse, wenn die im vorläufigen Rechtsschutzverfahren maßgeblichen Fragen bereits bestandskräftig entschieden sind, zum Beispiel durch einen Vorbescheid22 oder durch einen Planfeststellungsbeschluss, selbst wenn dieser durch einen Planänderungsbeschluss modifiziert wurde – Gegenstand des vorläufigen Rechtsschutzes ist nur der Änderungsbescheid und sein Regelungsgehalt.23 Das Rechtsschutzinteresse wird auch durch das Zeitmoment beeinflusst: Kann durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eine Rechtsverletzung wegen der zwischenzeitlichen Ausnutzung der sofort vollziehbaren Ge872

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IV. Anforderungen an die Begründung der Anordnung des Sofortvollzuges

16 VGH Mannheim NVwZ-RR 2010, 463; OVG Lüneburg NJW 2010, 3674. 17 Vgl. OVG Magdeburg NVwZ-RR 2010, 381; Hellriegel/Melmendier DVBl. 2010, 486 (490). 18 Dombert in Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren 6. Aufl. 2011 Rn. 95. 19 OVG Magdeburg LKV 2010, 285. 20 Vgl. die diffizilen Überlegungen zur Auswirkung des Suspensiveffekts auf die Vollziehbarkeit einer Ausreisepflicht bei VGH Mannheim AuAS 2009, 19. 21 Vgl. OVG Lüneburg InfAuslR 2010, 295; VGH Mannheim VBlBW 2010, 336. 22 Vgl. OVG Lüneburg NVwZ-RR 2010, 140; die Reichweite der Bestandskraft muss genau bestimmt werden: VGH Mannheim GewArch 2011, 255. 23 OVG Münster NVwZ-RR 2010, 953. 24 OVG Bremen NordÖR 2003, 447; VGH Mannheim BauR 2005, 1762; OVG Lüneburg BauR 2009, 639; VGH München B.v. 4.3.2009 – 2 CS 08.3331 -, juris; a. A. OVG Bautzen BRS 56, 115. 25 OVG Hamburg NordÖR 2010, 266 (LS). 26 OVG Hamburg B.v. 08.07.2002 – 3 Nc 6/02 –, juris. 27 OVG Saarlouis NVwZ-RR 2010, 434. 28 BVerwG NVwZ 1984, 168; Dombert aaO (FN 18) Rn. 104; aus neuester Zeit VG Neustadt/W. GewA 2010, 410. 29 OVG Hamburg IÖD 2008, 14; VGH Mannheim DÖV 2010, 238 (LS); differenzierend bei § 80 J.Schmidt in Eyermann VwGO 13. Aufl. 2010 §80 Rn. 112 f. und bei § 123 Rn. 108. 30 OVG Münster NWVBl. 2009, 390. 31 OVG Greifswald NordÖR 2006, 34. 32 VGH Mannheim RdL 2011, 15.

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substantiierten Darlegung der wesentlichen Erwägungen, warum aus Sicht der Behörde gerade im vorliegenden Einzelfall ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung gegeben ist und das Interesse des Adressaten an der aufschiebenden Wirkung ausnahmsweise zurückzustehen hat.33 Nichtsdestotrotz anerkennt die Rechtsprechung insbesondere im Bereich des Ordnungsrechts, dass das besondere Vollzugsinteresse durch das allgemeine Erlassinteresse vorgeprägt sein kann bis hin zur Identität mit der Folge, dass von einer konkreten, die Umständen des Einzelfalles berücksichtigenden Begründung abgesehen und sie durch eine Textbausteinbegründung ersetzt werden kann, die auf die allgemeine und regelmäßige Dringlichkeit des Vollzuges einer ordnungsrechtlichen Verfügung Bezug nimmt.34 Ein allein auf die mangelhafte Begründung der Sofortvollzugsanordnung gestützter Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ist daher wenig erfolgversprechend. Selbst wenn das Gericht in der mangelhaften Begründung einen rechtlich beachtlichen Fehler sieht, führt das in der Sache nicht zum gewünschten Erfolg. Unabhängig von der Tenorierung, durch die entweder allein die Vollziehungsanordnung aufgehoben wird35 oder die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs wiederhergestellt wird, ist die Behörde berechtigt, die Anordnung mit nunmehr ausreichender Begründung neu zu erlassen.36

V. Maßstäbe der gerichtlichen Entscheidung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO Für die gerichtliche Entscheidung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO fehlen die normativen Vorgaben. Die verwaltungsgerichtliche Praxis hat als einen maßgeblichen Gesichtspunkt die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache herausgearbeitet, der in Verfahren nach § 80 a VwGO von besonderer Bedeutung ist. Bei der Prüfung der Erfolgsaussichten ist zu beachten, dass im vorläufigen Rechtsschutzverfahren im Allgemeinen die gerichtliche Sachverhaltsermittlung begrenzt ist: üblicherweise entfallen mit Blick auf die Eilbedürftigkeit Beweisaufnahmen und die mündliche Verhandlung. Eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage ist aber dann erforderlich, wenn das Eilverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt, also auf der Grundlage der gerichtlichen Eilentscheidung vollendete Tatsachen geschaffen würden, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können37; dies gilt umso mehr, wenn die Verletzung von gewichtigen Grundrechtspositionen in Rede steht.38 Erweist sich der Rechtsbehelf in der Hauptsache als offenbar aussichtslos, wird in der Praxis der Eilantrag regelmäßig abgewiesen. Wann die Offensichtlichkeit vorliegt, ist eine Wertungsentscheidung, die nur im Einzelfall beantwortet werden kann. Die Anforderungen sind aber hoch, weil Offensichtlichkeit im allgemeinen juristischen Sprachgebrauch voraussetzt, dass vernünftige Zweifel nicht bestehen. Die Annahme offenbarer Aussichtslosigkeit im Hauptsacheverfahren sollte daher nur mit Zurückhaltung erfolgen. Sie kann in der Regel nur erfolgen, wenn der Sachverhalt unstreitig ist und die Anwendung des Rechts auf diesen Sachverhalt keinen vernünftigen Zweifel am Ausgang des Hauptsacheverfahrens lässt39. Weil Rechtsfragen im summarischen Verfahren ebenfalls grundsätzlich nicht abschließend zu klären sind, da dies dem Charakter der gerichtlichen Entscheidung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO als einer gerichtlichen Ermessensentscheidung im Sinne einer eigenständigen AbVorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsprozess – gewusst wie, Redeker

wägungsentscheidung widerspricht40, liegt offenbare Aussichtslosigkeit nur bei einer in diesem Punkt eindeutigen Rechtslage vor. Aber selbst wenn eine offenbare Aussichtslosigkeit des Rechtsbehelfs angenommen wird, rechtfertigt dies nicht ohne weiteres die Anordnung der sofortigen Vollziehung, weil diese ein besonderes Vollzugsinteresse verlangt.41 Ergibt sich dies weder aus der Anordnungsbegründung noch aus den erkennbaren öffentlichen oder privaten Interessen, bleibt es bei der aufschiebenden Wirkung. Anderes gilt nur bei der gesetzlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung. Ergibt die summarische Überprüfung der Erfolgsaussichten einen offensichtlichen Erfolg in der Hauptsache, ist die aufschiebende Wirkung anzuordnen. Auch hier sind an die Offensichtlichkeit die bereits angesprochenen strengen Anforderungen zu stellen. Umstritten ist in diesem Zusammenhang, ob ein Verwaltungsakt auch dann offensichtlich rechtswidrig ist, wenn der festgestellte rechtliche Mangel im weiteren Verlauf des Verwaltungs- oder gerichtlichen Verfahrens geheilt werden kann. In der Rechtsprechung wird dies mit der Begründung bejaht, dass sich das Gericht nicht an die Stelle der Behörde setzen und auch nicht beurteilen könne, ob die Heilung überhaupt erfolgen könne.42 In Konsequenz dieser Rechtsprechung muss nach erfolgter Heilung des Mangels dieser Umstand im Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO geltend gemacht werden, wenn wegen dieses Mangels das Gericht im Eilverfahren wegen offensichtlicher Rechtswidrigkeit die aufschiebende Wirkung angeordnet/ wiederhergestellt hat.43 Das ist nicht nur aus prozessökonomischen Gründen wenig überzeugend, sondern übersieht auch, dass die Offensichtlichkeit eine Prognoseentscheidung über den Ausgang des Hauptsacheverfahrens voraussetzt. Maßstab der gerichtlichen Entscheidung über die Erfolgsaussichten im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens44, so dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersehbare Veränderungen im Sachverhalt einschließlich ihrer rechtlichen Auswirkungen zu berücksichtigen sind. Die Wahrnehmung gesetzlich vorgesehener Heilungsmöglichkeiten ist nicht so fern liegend, dass sie bei der Prognoseentscheidung von vorneherein auszuschließen sind. Dabei mag nach der Art der Heilung differenziert werden: eine unterlassene Anhörung wird im Widerspruchsverfahren geheilt werden, was für andere Mängel so nicht gilt. Doch besteht auch bei ihnen eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Heilung, auch weil auf diese Mängel in der gerichtlichen Entscheidung im Eilverfahren hingewiesen wird und sich daraus die rechtliche Folgerung der Heilungsmöglichkeit ergibt. Damit verhindert die mögliche Heilung eines Mangels in aller Regel die Annahme einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit.45

33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

OVG Greifswald NordÖR 2006, 34. VGH München BayVBl. 2009, 729; OVG Münster NWVBl. 2009, 390. OVG Lüneburg InfAuslR 2010, 295. Redeker/von Oertzen VwGO 15. Aufl. 2010 § 80 Rn. 27b. Vgl. BVerfG NVwZ 2011, 35; BVerwGE 138, 102. Vgl. BVerfG NVwZ-RR 2009, 945; OVG Münster NVwZ-RR 2010, 742. Vgl. OVG Berlin LKV 2010, 138; Möglichkeit der Wiedereinsetzung. OVG Lüneburg NuR 2008, 265. BVerfG NJW 2010, 2268; VGH Mannheim RdL 2011, 15; a. A. J. Schmidt aaO (FN 28) Rn. 74. OVG Bremen NordÖR 2009, 367. So bereits Schoch aaO [FN 7], Stand Sept. 2011 § 80 Rn. 421 für Ermessensentscheidung. Külpmann in Finkelnburg/Domert/Külpmann aaO [FN 18] Rn. 968. Vgl. Kopp VwGO 16.Aufl. 2009, § 80 Rn. 160.

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In den – in der Praxis überwiegenden Fällen – der offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache entscheidet die Rechtsprechung auf der Grundlage einer eigenständigen Abwägungsentscheidung. Das hat den Nachteil einer gewissen Unberechenbarkeit der Rechtsprechung, weil es kaum feste Maßstäbe für die Bewertung der in die Abwägung einzustellenden Interessen gibt und das Gericht diese auch nicht immer vollständig kennt.46 Aufgabe der Beteiligten ist es, durch die Darstellung der jeweiligen Interessen, insbesondere der von der gerichtlichen Entscheidung betroffenen eigenen Belange diese Interessenabwägung auf eine sichere Grundlage zu stellen. Trotz aller Unwägbarkeiten haben sich in der Rechtsprechung für einige Fallgestaltungen Leitlinien entwickelt47: Hat die sofortvollziehbare Verfügung für den Adressaten existentielle Folgen, sind dessen grundrechtliche Belange bei der Abwägung zu berücksichtigen. Das Gericht hat sich in solchen Fällen schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen zu stellen.48 Dies gilt insbesondere in den Fällen des Eingriffs in die Berufsfreiheit, wenn der sofortige Vollzug faktisch die weitere Ausübung des Berufs ausschließt und damit dem Adressaten der Verfügung die Existenzgrundlage entzieht. Die sofortige Vollziehung ist in diesen Fällen nur dann gerechtfertigt, wenn andernfalls konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter drohen.49 Diese Gefahr muss in der gerichtlichen Abwägung sorgfältig herausgearbeitet und den Vollzugsfolgen gegenüber gestellt werden, damit die Abwägung den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt. Außerhalb des Bereichs einzelner spezieller Grundrechte, insbesondere des Art. 12 GG, ist die Rechtsprechung bei der Annahme konkreter Gefahren für überragend wichtige Rechtsgüter großzügig und lässt in bestimmten Rechtsgebieten wie dem Straßenverkehrsrecht50, dem Waffenrecht51 oder dem Bauordnungsrecht52 bereits abstrakte Gefahrensituation genügen. In diesen Fällen ist eine Abwägung nur beschränkt auf die Prüfung erforderlich, ob in Ansehung besonderer Umstände des Falles die sofortige Vollziehung weniger dringlich als im Normalfall ist.53 Gelegentlich wird auch der Gesetzeszweck als von so überragender Bedeutung angesehen, dass das Interesse am sofortigen Vollzug stets überwiegt.54 Diese Rechtsprechung muss sich fragen lassen, warum dann der Gesetzgeber nicht das Instrumentarium des gesetzlichen Sofortvollzuges eingesetzt hat. Aus dem Fehlen einer entsprechenden Regelung lässt sich mit guten Gründen rückschließen, dass es nach dem Willen des Gesetzgebers in all diesen Fällen bei der ausnahmsweisen Anordnung der sofortigen Vollziehung bleiben soll. Bei der Abwägung ist auch das Zeitmoment zu berücksichtigen. Denn bei der Abwägung ist die Dringlichkeit als ein Element der Rechtfertigung der sofortigen Vollziehung einzustellen. Lässt sich die Behörde mit ihrem Einschreiten über einen längeren Zeitraum Zeit, spricht dies nicht für die Notwendigkeit einer sofortigen Vollziehung, wenn sich in diesem Zeitraum der Sachverhalt nicht geändert hat.55 Dies setzt die Kenntnis der Behörde von dem Sachverhalt voraus, der zur sofortvollziehbaren Verfügung führt. Es genügt für diese Kenntnis nicht, dass ein für den Erlass der Verfügung innerbehördlich nicht zuständiges Fachamt den Sachverhalt kennt und möglicherweise aus ihm Folgerungen zieht. Maßgeblich ist die Kenntnis des zuständigen Fachamtes innerhalb der Behörde. Dass zum Beispiel das Meldeamt die Wohnsitzmeldung über einen längeren Zeitraum unbeanstandet entgegen nimmt und die Kämmerei Abgaben erhebt, die auf der Nutzung eines Gebäudes beruhen, führt nicht zum Wegfall der Dringlichkeit einer Nutzungsuntersa874

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gung, wenn der Wohnsitz in einem ungenehmigt zur Dauerwohnung umgenutzten Stall im Außenbereich liegt. Auch fiskalische Interessen außerhalb des Anwendungsbereiches des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO sind nicht aus sich heraus für die Anordnung des Sofortvollzuges ausreichend.56 Das ist erst anders, wenn die Verwirklichung der Forderung nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens ernsthaft gefährdet erscheint. Steht ein mehrpoliger Verwaltungsakt im Streit (§ 80 a VwGO), richtet sich die Interessenabwägung ganz maßgeblich nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Einen Rechtsgrundsatz, dass der einen einen anderen begünstigenden Verwaltungsakt anfechtende Dritte sich von vorneherein in einer verfahrensrechtlich bevorzugten Position befindet, gibt es nicht; vielmehr stehen sich gleichrangige Rechtspositionen gegenüber.57 Der Grundsatz der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gilt in dieser Konstellation nicht in seiner im zweipoligen Verhältnis maßgebenden Schärfe. Die Prüfung der Erfolgsaussichten muss sich am Prüfprogramm der Hauptsache ausrichten: es kommt nicht auf die objektive Rechtmäßigkeit des streitbefangenen Verwaltungsaktes an, sondern auf die Wahrscheinlichkeit der Verletzung des anfechtenden Dritten in eigenen Rechten.58 Allerdings ist dabei zu bedenken, dass durch die Ausnutzung einer Genehmigung wie zum Beispiel einer Baugenehmigung vollendete Tatsachen geschaffen werden können. Insoweit bleibt es bei dem überkommenen Grundsatz, dass bei offenen Erfolgsaussichten die Vermeidung nicht mehr rückgängig zu machender Vollzugsfolgen die Aussetzung der sofortigen Vollziehung rechtfertigt.59

VI. Sonderfragen des Verfahrens nach § 123 VwGO 1. Anforderungen an den Anordnungsgrund Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Gericht ist die Glaubhaftmachung eines Anordungsgrundes, durch den die Dringlichkeit der gerichtlichen Entscheidung belegt wird. Der Differenzierung in § 123 Abs. 1 VwGO folgend muss bei einer Sicherungsanordnung, die allein der Beibehaltung des rechtlichen status quo dient, glaubhaft gemacht werden, dass ohne die einstweilige Anordnung die Gefahr besteht, dass bei Veränderung des bestehenden Zustandes durch eine Handlung oder ein Unterlassen des Antragsgegners die Verwirklichung des vom Antragsteller geltend gemachten subjektiven Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Die Veränderung des bestehenden Zustandes muss sich direkt oder indirekt 46 Vgl. die kritischen Ausführungen des BVerfG NZS 2011, 619. 47 Zur Rechtsprechungspraxis vgl. die Auflistung bei Redeker/von Oertzen aaO [FN 35] § 80 Rn. 21 f. 48 BVerfG B. v. 25.2.2009 – 1 BvR 120/09 –, juris. 49 St. Rspr. des BVerfG, vgl. B. v. 27.10.2009 – 1 BvR 1876/09 –, n.v.; NZS 2011, 619; NJW 2010, 2268; VGH München GewArch 2012, 72. 50 OVG Berlin B. v. 3.11.2009 – 1 S 205/09 –, juris; OVG Lüneburg B.v. 16.12.2009 – 12 ME 234/09 –, juris. 51 VGH München BayVBl. 2010, 472. 52 OVG Greifswald B.v. 17.10.2010 – 3 M 210/10 –, n.v. 53 VGH Mannheim B.v. 17.11.1997 – 10 S 2113/97 –, juris für eine Fahrtenbuchauflage. 54 OVG Lüneburg ZBR 2011, 51 zum Beamtenrecht (Untersagung einer steuerberatenden Tätigkeit einer aus dem Dienst ausgeschiedenen Finanzbeamtin). 55 BVerwG NVwZ 2010, 459. 56 OVG Münster B.v. 6.7.2010 – 13 B 663/10 –, juris. 57 BVerfG NVwZ 2009, 240. 58 OVG Münster DÖV 2009, 596 (LS); VGH München BayVBl 2009, 403. 59 VG Karlsruhe B. v. 2.2.2009 – 4 K 4121/08 –, juris; vgl Müller-Wiesenhaken/Götze BauR 2011, 1910.

Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsprozess – gewusst wie, Redeker

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auf den subjektiven Rechtsstatus des Antragstellers so stark auswirken, dass er diesen Rechtsstatus bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht oder nur unter erheblichen Mühen aufrechterhalten kann. Unter diesen Umständen liegt ein Anordnungsgrund vor. Bei der gerichtlichen Prüfung des Anordnungsgrundes geht es nicht um die Erfolgsaussichten in der Hauptsache, sondern um die vorläufige Abwehr einer unzumutbaren Beeinträchtigung des materiellen Rechts.60 Ob das materielle Recht in der Hand des Antragstellers besteht, ist eine Frage des Anordnungsanspruchs. Bei der Regelungsanordnung liegt der Anordnungsgrund vor, wenn ohne die einstweilige Anordnung wesentliche Nachteile drohen. Ein wesentlicher Nachteil liegt regelmäßig vor, wenn ohne die einstweilige Anordnung vollendete Tatsachen entstehen, die schwere und nicht anders abwendbare Nachteile auslösen. Dies folgt aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 GG.61 Jedenfalls in diesen Fällen sollen die Gerichte, wollen sie trotzdem die einstweilige Anordnung versagen, eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage vornehmen62 und können bei Unmöglichkeit der vollständigen Aufklärung derselben auf der Grundlage einer umfassenden Einstellung der grundrechtlichen Belange in die Abwägung eine Folgenabwägung vornehmen.63 Dies gilt nur dann nicht, wenn nur eine Verletzung in Randbereichen des subjektiven Rechts droht oder ausnahmsweise überwiegende besonders gewichtige Gründe entgegenstehen.64 Wann ein wesentlicher Nachteil außerhalb der Schaffung vollendeter Tatsachen vorliegt, ist eine Frage der Wertung des Einzelfalles, bei der die Erfolgsaussichten in der Hauptsache nicht zu berücksichtigen sind. Die Anforderungen in der Rechtsprechung sind unterschiedlich. Zum einen wird für die wesentlichen Nachteile verlangt, dass Gründe vorliegen, die es als unzumutbar erscheinen lassen, den Antragsteller auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen.65 Dazu soll es nicht genügen, wenn ein Genehmigungsverfahren aus Sicht eines Antragstellers zu lange dauert; der übliche Zeitverlust für das Durchlaufen eines Genehmigungsverfahrens mit anschließender gerichtlicher Auseinandersetzung ist hinzunehmen.66 Das ist für die Dauer des Genehmigungsverfahrens sicher in der Regel richtig, doch sind Fallgestaltungen denkbar, in denen die Dauer des Verwaltungsverfahrens geeignet ist, die Verwirklichung des Genehmigungsanspruchs zu gefährden. Gleiches gilt für das gerichtliche Verfahren. Dann liegt ein wesentlicher Nachteil vor. Zum anderen genügt die Vermeidung ordnungsrechtlicher Misshelligkeiten als wesentlicher Nachteil.67 Ein wesentlicher Nachteil kann nicht mehr abgewendet werden, wenn es um Leistungsansprüche für die Vergangenheit geht, denn der Nachteil hat sich endgültig verwirklicht. Das soll 60 Dombert aaO [FN 17] Rn. 127, 158 ff; a. A. OVG Münster IÖD 2011, 3. 61 BVerfG B.v. 25.9.2009 – 1 BvR 120/09 –, juris unter Hinweis auf BVerfGE 79, 69 [74); 94, 216 [216]. 62 Vgl. BVerwG BVerwGE 138, 102. 63 BVerfG B.v. 25.9.2009 – 1 BvR 120/09 –, juris. 64 BVerfG NVwZ 2011, 35. 65 OVG Lüneburg AuAS 2010, 146. 66 OVG Münster B.v. 5.6.2009 – 10 B 479/09 –, juris. 67 OVG Bremen NordÖR 2010, 441. 68 OVG Bautzen RdL 2010, 221. 69 OVG Münster NVwZ-RR 2009, 512. 70 VG Oldenburg zfs 2011, 117. 71 OVG Bautzen RdL 2010, 221. 72 VGH Kassel, NVwZ 2006, 951; OVG Lüneburg AuAS 2010, 146. 73 Vgl. neuestens Weber DVBl. 2010, 958 zum Bauvorbescheid. 74 Vgl. BVerwG Buchh. 442.066 § 35 TKG Nr. 2.

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ausnahmsweise nicht gelten, wenn sich der durch die nicht erfüllten Leistungsansprüche entstandene Nachteil noch auswirkt und eine aktuelle Notlage bedingt.68 2. Vorwegnahme der Hauptsache Nach gefestigter Rechtsprechung erlaubt die einstweilige Anordnung nicht die Vorwegnahme der Hauptsache. Das Gericht kann den in der Hauptsache geltend gemachten Anspruch nicht endgültig zusprechen, wobei Endgültigkeit auch und gerade dann vorliegt, wenn bei Erfüllung des von der einstweiligen Anordnung Verlangten der Anspruch so erfüllt wird, dass diese Erfüllung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Eine solche Vorwegnahme der Hauptsache widerspricht im Grundsatz der Vorläufigkeit der einstweiligen Anordnung. Darüber hinaus muss das Gericht eine Entscheidung vermeiden, die eine auch nur vorübergehende Erfüllung des Anspruchs in der Hauptsache ermöglicht. So ist die in einer einstweiligen Anordnung ausgesprochene vorübergehende Verpflichtung zur Unterlassung bei einem Unterlassungsbegehren in der Hauptsache eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache.69 Nur wenn ausnahmsweise das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache zu unzumutbaren Ergebnissen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache70, führt71, oder den effektiven Rechtsschutz verhindern würde, ist es geboten, davon eine Ausnahme zu machen.72 Einen Anspruch auf Erteilung eines wenn auch nur vorläufigen Verwaltungsaktes kann es danach nur unter der Voraussetzung geben, dass der Verwaltungsakt nicht den Inhalt hat, mit dem er in der Hauptsache erstrebt wird. Die in ihm enthaltene Regelung muss gegenüber der mit dem Verpflichtungsantrag in der Hauptsache begehrten Regelung ein Minus sein. Das kann soweit gehen, dass nur eine vorläufige Feststellung der Berechtigung ausgesprochen wird, die noch keine Erlaubnis zur Ausnutzung enthält. Denkbar ist auch, dass die vorläufige Regelung zwar die vorläufige Ausnutzung erlaubt, aber z. B. eine Rückbauverpflichtung enthält, die durch eine entsprechende finanzielle Sicherheitsleistung untersetzt ist, damit im Fall des für den Antragsteller negativen Ausgangs des Verfahrens die Durchsetzung der Rückbauverpflichtung gewährleistet ist.73 Entscheidend ist, dass durch die einstweilige Anordnung weder rechtlich noch tatsächlich vollendete Tatsachen geschaffen werden oder die Verwirklichung der objektiven Rechtsordnung wesentlich erschwert wird. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei solchermaßen erstrittenen Regelungen nicht um Verwaltungsakte im Sinne des § 35 VwVfG handelt, sondern um prozessuale Gestaltungsrechte des Gerichts, die nicht die rechtlichen Bindungen eines Verwaltungsaktes auslösen, sondern allein Wirkungen bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache haben.74

Martin Redeker, Greifswald Der Autor ist Richter am Oberverwaltungsgericht. Sie erreichen den Autor unter der E-Mail-Adresse [email protected].

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Deutsches Berufsrecht als Bollwerk gegen englische ABS? Berufsausübung, Geschäftsführung und Eigenkapital von Nicht-Anwälten in englischen Alternative Business Structures (ABS) Rechtsanwalt Prof. Dr. Hans-Ju¨rgen Hellwig, Frankfurt am Main

In Kürze erreicht die Reform des englischen Berufsrechts den europäischen Kontinent: Die ersten Alternative Business Structures (ABS) sind von der Aufsichtsbehörde für England und Wales genehmigt worden. Damit kann es Anwaltsgesellschaften geben, in denen aus deutscher Sicht nichtsozietätsfähige Dritte ihren Beruf ausüben, die Geschäfte der Gesellschaft führen und am Eigenkapital der Gesellschaft beteiligt sind. Ermöglicht wird diese für deutsche Anwältinnen und Anwälte radikale Liberalisierung durch eine strenge Regulierung und Beaufsichtigung der ABS, die neben die Regulierung und Aufsicht der in ihr tätigen Anwälte tritt. Was passiert, wenn eine ABS auf dem deutschen Anwaltsmarkt tätig wird? Darf sich ein in Deutschland zugelassener Anwalt an einer ABS beteiligen? Der Autor untersucht, ob das deutsche Berufsrecht tatsächlich den deutschen Anwaltsmarkt und die deutsche Anwaltschaft von der ABS abschotten kann, wie viele hoffen. Sein Fazit: Das geht nicht. Seine allgemeine Empfehlung: Das deutsche Sozietätsrecht muss fit gemacht werden, indem es nicht nur am einzelnen Anwalt, sondern auch am Zusammenschluss als solchem ansetzt.

I. Die englische Alternative Business Structure Der englische Legal Services Act 2007 (LSA) hat für die Anwaltstätigkeit in England und Wales sog. Alternative Business Structures (ABS) für grundsätzlich zulässig erklärt. Die durch den LSA neu begründete Solicitors Regulation Authority (SRA), ein ausgegliederter selbstständiger Teil der Law Society of England and Wales, hat in der Folgezeit im Rahmen ihrer gesetzlichen Regulierungs- und Aufsichtszuständigkeit für die englischen Solicitors die näheren Einzelheiten zur Zulassung von ABS festgelegt. Danach wird der Zusammenschluss eines Solicitors mit anderen Solicitors und Rechtsberatern (lawyers) aus England und Wales, mit europäischen Anwälten und mit von der SRA anerkannten sonstigen ausländischen Anwälten (Registered Foreign Lawyers, RFL) als ABS als englischer Solicitor zugelassen, obwohl 9 9 9

dem Zusammenschluss zur gemeinsamen Berufsausübung auch Nicht-Solicitors angehören und/oder Nicht-Solicitors in der Geschäftsführung der ABS tätig sind und/oder am Eigenkapital der ABS Nicht-Solicitors als Kapitalgeber mit bis zu 100 Prozent beteiligt sind,

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dass die ABS einen Compliance Officer for Legal Practice (COLP) bestellt hat, der der Zustimmung der SRA bedarf und der die Einhaltung der regulatorischen Vorschriften durch die ABS sicherzustellen und Verstöße an die SRA zu melden hat, dass die ABS einen Compliance Officer for Finance and Administration (COFA) bestellt hat, der auch ein Nicht-Solicitor sein kann und der die Einhaltung der regulatorischen Vorschriften bezüglich der von der ABS verwahrten Gelder und der von ihr geführten Konten sicherstellen und Verstöße der SRA melden muss, und dass die Nicht-Solicitor-Eigenkapitalgeber, wenn ihre Beteiligungsquote einzeln oder zusammen 10 Prozent überschreitet, den sog. fit and proper-Test1 der SRA bestanden haben.

Insgesamt unterliegt die ABS in ihrer gesamten Tätigkeit einer strengen Aufsicht durch die SRA, die vom Grundsatz her, bei allen Unterschieden in Struktur und Einzelheiten, der Aufsicht über Kreditinstitute und Versicherungen, wie sie auch in Deutschland anzutreffen ist, nicht unähnlich ist.2 Zu betonen ist, dass die ABS keine eigene gesellschaftsrechtliche Zusammenschlussform darstellt. Gesellschaftsrechtlich bedient sich die ABS einer der nach englischem Gesellschaftsrecht für die anwaltliche Tätigkeit zur Verfügung stehenden Rechtsformen. Zu denken ist insoweit an die Open Partnership (vergleichbar der deutschen Gesellschaft bürgerlichen Rechts, GbR) und die Limited Liability Partnership (LLP) sowie die Limited Company (Ltd.) und die Public Limited Company (PLC). Bei LLP einerseits und Ltd. und PLC andererseits ist die persönliche Haftung als Gesellschafter grundsätzlich auf die Einlage beschränkt; die Unterschiede liegen vor allem in der Besteuerung, weil die LLP anders als die Ltd. und die PLC nicht als Kapitalgesellschaft, sondern als Personengesellschaft besteuert wird. Der Begriff ABS ist also nur eine Kennzeichnung dafür, dass die betreffende Gesellschaft im Hinblick auf die Zusammensetzung der beteiligten Berufsträger, der Geschäftsführung und des Eigenkapitals Besonderheiten aufweist, die vom Normalfall (Zusammenschluss nur von Solicitors, bei dem nur Solicitors in der Geschäftsführung tätig und am Eigenkapital beteiligt sind) abweichen. Die genannten Strukturelemente einer ABS werden im deutschen Berufsrecht getrennt und nur teilweise erörtert. Diskutiert wird zum einen die Frage der multidisziplinären Zusammenarbeit (Multi-Disciplinary Practice, MDP), deren Regelung sich in § 59 a BRAO findet, zum anderen das Thema berufsfremder Besitz am Eigenkapital einer Anwaltskanzlei, das eine nur für die Anwalts-GmbH geltende gesetzliche Regelung in § 59 c ff. BRAO gefunden hat. Nicht gesondert diskutiert wird das Thema der Geschäftsführung – begrifflich zu trennen von der eigentlichen anwaltlichen Tätigkeit – durch Nicht-Anwälte. Soweit die englische ABS sich in allen Strukturelementen auf die nach § 59 a BRAO sozietätsfähigen Berufe beschränkt, ergeben sich aus der Sicht des deutschen Berufsrechts für eine englische ABS in Deutschland keine Probleme. Solche stellen sich jedoch dann, wenn die relevanten drei Strukturelemente der ABS (gemeinsame Berufsausübung, Geschäftsführung, Eigenkapitalbesitz) den Katalog der sozietätsfähigen Berufe nach deutschem Berufsrecht überschreiten. Die SRA hat bis zum 31. Juli 2012 insgesamt 11 ABS als Solicitors zugelassen. Es handelt sich um: 9

Co-operative Legal Services Limited, eine im Jahre 2006 gegründete Untereinheit der englischen Genossenschaften, die in der Vergangenheit die Ge-

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dass in der ABS mindestens ein Solicitor als für die anwaltliche Berufsausübung verantwortlicher Geschäftsführer bestellt ist,

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Vergleichbar dem Test nach § 2c KWG. Eine sehr lesenswerte Darstellung der ABS findet sich bei Kilian/Lemke, Anwaltsgesellschaften mit berufsfremder Kapitalbeteiligung, AnwBl 2011, 800, 804 ff.

Deutsches Berufsrecht als Bollwerk gegen englische ABS?, Hellwig

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nossen auf den Nicht-Vorbehaltsgebieten Ansprüche wegen Körperverletzung, Abfassung von Testamenten, Nachlassverwaltung, Grundstücksgeschäfte und Arbeitsrecht beraten hat. Als ABS soll jetzt die Gesellschaft jetzt auch die Solicitors vorbehaltene familienrechtliche Beratung aufnehmen. Beschäftigt sind etwa 400 Mitarbeiter, weitere 150 sind geplant. John Welch & Stammers Solicitors ist eine Allgemeinpraxis-Partnership in einer Kleinstadt in Oxfordshire, mit sieben Berufsträgern und elf sonstigen Mitarbeitern. Als ABS kann die Kanzlei im Zuge des anstehenden Generationenwechsels den seit 12 Jahren tätigen Büroleiter zum nichtanwaltlichen Managing Partner machen. Lawbridge Solicitors Limited hat nur einen Berufsträger. Dessen Frau, derzeit als Büroleiter tätig, wird zweiter Geschäftsführer der Gesellschaft mit einer wesentlichen Eigenkapitalbeteiligung. Die Gesellschaft hat ihren Sitz in einer Kleinstadt in Kent, wo sie für die örtliche Mandantschaft im Arbeitsrecht sowie im Handels- und Gesellschaftsrecht beratend und vor Gericht tätig ist. NAS Legal Limited, eine Allgemeinpraxis in einer mittelgroßen englischen Stadt. New Law Solicitors, eine Allgemeinpraxis-Partnership in Cardiff/Wales. Parchment Law Group LLP, eine Allgemeinpraxis in einer mittelgroßen Stadt in England. Plainlaw Solicitors, eine Allgemeinpraxis-Partnership in einer mittelgroßen Stadt in England. Red Bar Law LLP, eine Allgemeinpraxis in London. Slater & Gordon, eine Allgemeinpraxis-Partnership in London, die als ABS den Büroleiter eigenkapitalmäßig beteiligen kann, zugehörig zur börsennotierten australischen Kanzlei desselben Namens, Russell Jones &Walker, eine Allgemeinpraxis-Partnership mit Büros in mehreren Städten in England. Thinking Legal LLP, eine Allgemeinpraxis in Birmingham.

Wie die SRA mitgeteilt hat, liegen ihr auch aus dem Ausland Interessenbekundungen von potenziellen ABS-Gründern vor, darunter ausländische Kanzleien, die sich – statt wie bisher in eine LLP – in eine ABS umwandeln wollen. Eine erste Analyse, wie englische ABS nach deutschem anwaltlichem Berufsrecht zu beurteilen sind, hat in einem Aufsatz mit der Überschrift „Alternative business structures bieten keine Alternative“ Johannes Keller vorgelegt.3 Nach Keller sind ABS, die die durch § 59 a BRAO gezogenen Grenzen überschreiten, nach deutschem Berufsrecht unzulässig, sie dürfen in Deutschland weder niedergelassen noch vorübergehend dienstleistend tätig sein, und deutsche und europäische Rechtsanwälte in Deutschland dürfen sich an ihnen nicht beteiligen.4 Es heißt dabei, dass der Beitrag – Keller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Geschäftsführung der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) – ausschließlich die persönliche Rechtsauffassung des Autors wiedergibt. Tatsache ist aber, dass die BRAK bereits im Gesetzgebungsverfahren zum LSA mit Brief vom 22.6.2006 dem englischen Gesetzgeber mitgeteilt hat, dass deutsche Rechtsanwälte und in Deutschland niedergelassene europäische Rechtsanwälte keiner ABS angehören dürfen, die die Vorgaben des deutschen Berufsrechts nicht einhält. Ferner hat die BRAK unter dem 19. Dezember 20115 allen Rechtsanwaltskammern (RAK) einen Vermerk über die „Berufsrechtliche Einschätzung von Alternative business structures“ der BRAK sowie einen Musterbescheid zugeschickt, mit dem ein etwaiger Antrag einer ABS „auf Zulassung als Rechtsanwaltsgesellschaft“ abgelehnt werden kann. Die Ausführungen im Vermerk und im Musterbescheid stimmen inhaltlich völlig und teilweise wörtlich mit den Ausführungen im Aufsatz von Keller überein. Keller stellt zutreffend fest, dass ABS mit Blick auf das deutsche Berufsrecht viele Fragen aufwerfen. Seine Antworten begegnen jedoch zahlreichen, teilweise erheblichen rechtlichen Bedenken. Vor allem hat Keller im Bereich des Unionsrechts nur die beiden anwaltsspezifischen Richtlinien von 1977 und 1998 (Dienstleistungs- und Niederlassungs-RL) berücksichtigt, nicht aber die allgemeine Dienstleistungs-RL von 2006. Im Folgenden soll zu den Ausführungen von Keller in der Reihenfolge seiner Argumentationsschritte im Einzelnen Stellung genommen werden. Deutsches Berufsrecht als Bollwerk gegen englische ABS?, Hellwig

II. Deutsche Rechtsanwälte in englischer ABS Keller hält die Beteiligung eines Rechtsanwalts an einer englischen ABS, die die durch § 59 a BRAO gezogenen Grenzen nicht einhält, für unzulässig6. Die ganz überwiegende Meinung zu § 59 a BRAO geht in der Tat dahin, dass sich ein Rechtsanwalt nur mit einem Angehörigen der dort genannten Berufe zur gemeinsamen Berufsausübung zusammenschließen darf und dass ihm ein Zusammenschluss zur gemeinsamen Berufsausübung mit Angehörigen anderer Berufe berufsrechtlich verboten ist.7 Die Rechtsform des Zusammenschlusses (Personengesellschaft wie die GbR oder die PartG oder Kapitalgesellschaft wie die GmbH oder AG) ist dabei irrelevant. Die §§ 59 c ff. BRAO projizieren den Katalog der sozietätsfähigen Berufe nach § 59 a BRAO in puncto Anteilsinhaberschaft und Geschäftsführung in die AnwaltsGmbH hinein. Entsprechendes gilt mit Blick auf die von der Rechtsprechung8 zugelassene Anwalts-AG. Der pauschale Rückgriff auf § 59 a und § 59 d BRAO ist jedoch zu undifferenziert. Es bedarf vielmehr einer differenzierenden Betrachtung der drei möglichen Strukturelemente einer englischen ABS, die miteinander kombiniert werden können, aber auch einzeln auftreten können. 1. Gemeinsame Berufsausübung mit anderen Berufsträgern Beim Zusammenschluss eines Solicitors mit anderen Berufsträgern zur gemeinsamen Berufsausübung geht es um den Aspekt der MDP, der – wie erwähnt – im deutschen Recht nach § 59 a BRAO nach herrschender Ansicht als Verbot mit katalogmäßigen Ausnahmen geregelt ist. Mit Blick auf die Ausführungen von Keller ist aber daran zu erinnern, dass der im Jahre 2006 vorgelegte Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts die sozietätsfähigen Berufe über den derzeitigen Katalog hinaus auf alle sonstigen „vereinbaren Berufe“ ausdehnen wollte, und zwar aus verfassungsrechtlichen Gründen (Freiheit der Berufsausübung) wie aus europarechtlichen Gründen (Grundfreiheit der Niederlassung). Anzumerken ist ferner, dass die jetzige Regelung des § 59 a BRAO derzeit auf dem Prüfstand des BGH steht. Gegen die Entscheidung des OLG Bamberg, mit der die Ablehnung der Eintragung einer PartG zwischen einem Rechtsanwalt und einer (ebenfalls verkammerten und verschwiegenheitsverpflichteten) Ärztin und Apothekerin durch das AG Würzburg – dieses in Übereinstimmung mit der RAK München – bestätigt wurde9, ist Rechtsbeschwerde zum BGH eingelegt worden. Sie ist nicht bei dem – inzwischen bekannt konservativen – Anwaltssenat anhängig, sondern bei dem für das Gesellschaftsrecht zuständigen II. Zivilsenat. Festzuhalten ist, dass die Frage der Wirkungsreichweite von § 59 a BRAO nach deutschem Gesetzes- und Verfassungsrecht sowie nach Unionsrecht voll auf diejenige Spielart der ABS durchschlägt, bei der es um eine Verbindung mit Angehörigen anderer Berufe zur gemeinsamen Berufsausübung geht.

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BRAK-Mitt. 2012, 17 ff. Keller, BRAK-Mitt. 2012, 17, 18 rSp, 19. BRAK-Nr. 578/2011. BRAK-Mitt. 2012, 17, 18 rSp. Vgl. Hartung, in Henssler/Prütting, BRAO, 3. Aufl. 2010, Rz 130 zu § 59a BRAO. Vgl. BayObLG NJW 2000, 1647. OLG Bamberg BRAK-Mitt. 2011, 302 ff. mit kritischer Anm. Kilian/Glindemann.

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2. Nicht-Solicitors in der Geschäftsführung Bei der zweiten ABS-Variante – Beteiligung von Nicht-Solicitors an der Geschäftsführung – ist die Lage aus der Sicht des deutschen Rechts, was die Beteiligung eines deutschen Rechtsanwalts an der ABS angeht, bereits im Ausgangspunkt keinesfalls so eindeutig, wie Keller glauben machen will.10 Die Vorgabe für die Geschäftsführung der Anwalts-GmbH nach § 59 f BRAO knüpft an die sozietätsfähigen Berufe nach § 59 a BRAO an; damit kommt die vorerwähnte Frage der Wirkungsreichweite von § 59 a BRAO auch hier zum Tragen. Zudem ist § 59 f BRAO als Voraussetzung für die Zulassung einer GmbH als Anwalts-GmbH nach § 59 d Nr. 1 BRAO ausgestaltet (bzw. als Grund für den Widerruf der Zulassung nach § 59 h Abs. 2 und 3 BRAO), nicht aber – im Gegensatz zu § 59 a BRAO in der Auslegung der herrschenden Auffassung – als berufsrechtliche Erlaubnis-/Pflichtennorm für den einzelnen Rechtsanwalt, der sich in der Gesellschaft mit anderen Berufsträgern zur gemeinsamen Berufsausübung verbindet. Außerdem gilt § 59 f BRAO nur für die Anwalts-GmbH, nicht aber für Zusammenschlüsse in der Rechtsform der GbR und der PartG. Die Frage, ob die genannten Vorschriften auf die GbR bzw. PartG analog anzuwenden sind, ist im Schrifttum bisher nicht einmal aufgeworfen worden – aus gutem Grund, denn in formaler Hinsicht gibt es bei der GbR und der PartG keine eigene Zulassung der Gesellschaft und materiell würde etwa das Erfordernis des § 59 f Abs. 1 S. 2 BRAO, wonach die Geschäftsführer mehrheitlich Rechtsanwälte sein müssen, für viele multidisziplinäre Zusammenschlüsse von Rechtsanwälten mit Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern in Form der GbR bzw. PartG das Ende bedeuten. Zudem stellt sich in diesem Zusammenhang folgende Frage. Wenn ein Rechtsanwalt als sog. Syndikusanwalt nach deutschem Recht als Mitglied der Geschäftsführung oder des Vorstands beziehungsweise als Angestellter in einem Unternehmens tätig sein und externe Mandanten (nicht das Unternehmen selbst) anwaltlich beraten und vor Gericht vertreten darf, weshalb sollte er dann nicht auch in der Geschäftsführung, im Vorstand oder als angestellter Mitarbeiter in einer englischen ABS tätig sein dürfen? Diese Frage stellt sich um so mehr, als die ABS nach englischem Recht zwingend mindestens einen Solicitor als Geschäftsführer haben muss und die ABS als solche nach englischem Recht selbst als Solicitor zugelassen ist und als der deutsche Rechtsanwalt in der ABS nicht die ABS anwaltlich berät oder vertritt, sondern deren Mandanten – die ABS ist also viel „anwaltlicher“ als das Wirtschaftsunternehmen, bei dem der Rechtsanwalt als Syndikusanwalt tätig sein und externe Mandanten anwaltlich beraten und vor Gericht vertreten darf. 3. Nicht-Solicitor-Beteiligung am Eigenkapital Auch beim dritten Strukturelement einer ABS – Nicht-Solicitor-Beteiligung am Eigenkapital – ist die Beurteilung der Beteiligung eines deutschen Rechtsanwalts an der ABS aus der Sicht des deutschen Rechts nicht so eindeutig, wie Keller11 es darstellt. Es gibt keine Vorschrift des deutschen Rechts, wonach ein Rechtsanwalt sich an einem inländischen oder ausländischen Unternehmen, an denen nichtsozietätsfähige Personen beteiligt sind, generell nicht als Investor eigenkapitalmäßig beteiligen darf. Es gibt insofern auch keine ausdrückliche Verbotsbestimmung für den Fall, dass es sich dabei um einen anwaltlichen Zusammenschluss handelt. 878

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Keller verweist auf § 59 a BRAO. Diese Vorschrift regelt aber nur den Zusammenschluss mit Dritten zur gemeinsamen Berufsausübung, nicht den Zusammenschluss zu sonstigen Zwecken. Wenn sich Rechtsanwalt R und Financier F zu einer GbR nach § 705 BGB zusammenschließen und vereinbaren, dass R seinen Beitrag in Form seiner Anwaltsdienstleistung (§ 706 Abs. 3 BGB) und F seinen Beitrag in Form einer Geldeinlage (§ 706 Abs. 2 BGB) erbringt und dass die Geschäftsführung und Vertretung nach §§ 712 und 714 BGB allein bei R liegt und F davon ausgeschlossen ist, dann wird dieser Zusammenschluss vom Wortlaut des § 59 a BRAO nicht erfasst, denn es handelt sich nicht um einen Zusammenschluss zur gemeinsamen Berufsausübung. Nur Rechtsanwalt R übt in der GbR seinen Beruf aus, nicht aber Financier F. Beide haben sich zusammengeschlossen, damit F die Ausübung der Anwaltstätigkeit von R finanziert. Zweck des Zusammenschlusses ist also nicht die gemeinsame Berufsausübung, sondern die Finanzierung der Berufsausübung des einen Gesellschafters durch den anderen Gesellschafter. Aus der Sicht von F ist es natürlich wenig sinnvoll, sich zu Finanzierungszwecken in Form einer GbR-Außengesellschaft mit R zu verbinden, weil damit für ihn unabsehbare externe Haftungsrisiken verbunden sind. Diese entfallen aber, wenn sich in dem genannten Beispiel F nur als stiller Gesellschafter an der Kanzlei von R beteiligt. Es handelt sich dann um eine reine Innengesellschaft. Die stille Einlage von F geht in das Vermögen von R über (§ 230 Abs. 1 HGB). Die anwaltlichen und nichtanwaltlichen Geschäfte der Kanzlei werden allein von R geführt, und genauso wie die stille Einlage in ein Handelsgeschäft keine Handelsgesellschaft begründet12, genauso begründet die stille Einlage bei einer Anwaltskanzlei keine Berufsausübungsgesellschaft. Dieses aus dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes abgeleitete Ergebnis ist auf den ersten Blick überraschend, bei näherem Hinsehen aber keinesfalls abwegig. Die anwaltlichen Berufspflichten von Rechtsanwalt R gelten in dem vorgenannten Beispiel auch gegenüber dem Finanzier F. Nicht nur muss R in seiner anwaltlichen Tätigkeit auch hinsichtlich F die Verschwiegenheitspflicht nach § 43 a Abs. 2 BRAO und das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen nach § 43 a Abs. 4 BRAO beachten, genauso wie er diese Berufspflichten auch mit Blick auf eine Bank zu beachten hat, bei der er einen Betriebsmittelkredit aufgenommen hat. R muss ferner bereits bei der Ausgestaltung seines Vertragsverhältnisses mit F die Grundpflicht nach § 43 a Abs. 1 BRAO beachten, wonach er keine Bindungen eingehen darf, die seine berufliche Unabhängigkeit gefährden. Insofern ist jedoch sehr die Frage, ob die Gefahren für die anwaltliche Unabhängigkeit von der formalen Art der Finanzierung der Tätigkeit abhängen und nicht vielmehr von der inhaltlichen Ausgestaltung. Ist die Abhängigkeit von einem Kreditgeber, der auch bei Verlusten der Kanzlei Zins und Tilgung verlangen kann, nicht potentiell größer als bei einer Finanzierung durch Kapitaleinlage eines Dritten, der auch an den Verlusten beteiligt ist und eine Rückzahlung nur aus dem Positivvermögen der Kanzlei verlangen kann? Somit ist mit Blick auf die englische ABS und vor dem Hintergrund der Ausführungen von Keller festzustellen, dass die zusammenschlussmäßige Beteiligung eines Dritten nicht 10 Wie Fn. 6. 11 Wie Fn. 6. 12 Vgl. Hopt, in Baumbach/Hopt, HGB, 35. Aufl. 2012, Rz. 1f zu § 230 HGB.

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zum Zwecke der gemeinsamen Berufsausübung, sondern zum Zwecke der Finanzierung vom Wortlaut des § 59a BRAO nicht erfasst wird. Die Frage einer erweiternden Auslegung ist im Schrifttum, soweit ersichtlich, bisher nicht einmal aufgeworfen worden. Wie auch immer diese Fragen letztlich zu beantworten sein mögen, jedenfalls lässt sich entgegen Keller nicht mit Gewißheit sagen, dass ein Rechtsanwalt seine Berufspflichten nach § 59 a BRAO verletzt, wenn er sich an einer englischen ABS beteiligt, an der auch nichtssozietätsfähige Dritte als reine Kapitalgeber beteiligt sind. Keller13 bezieht sich ferner auf § 59 e BRAO betreffend die Rechtsanwalts-GmbH, die insbesondere folgende Vorgaben enthält: 9 Gesellschafter dürfen nur sozietätsfähige Berufsträger nach § 59 a BRAO sein. 9 Alle Gesellschafter müssen in der Gesellschaft beruflich tätig sein. 9 Die Mehrheit der Geschäftsanteile und der Stimmrechte muss Rechtsanwälten zustehen. 9 Dritte dürfen nicht am Gewinn beteiligt werden. Damit kommt auch hier die oben erwähnte, beim BGH anhängige Frage der Wirkungsreichweite von § 59 a BRAO nach deutschem und Unionsrecht zum Tragen. Zudem ist § 59 e BRAO – wie zuvor schon der oben erörterte § 59 f BRAO – als Voraussetzung für die Zulassung einer GmbH als Rechtsanwalts-GmbH nach § 59 d Nr. 1 BRAO ausgestaltet (bzw. als Grund für den Widerruf der Zulassung nach § 59 h Abs. 2 und 3 BRAO), nicht aber – anders als § 59 a BRAO in der Auslegung der herrschenden Auffassung – als den einzelnen Rechtsanwalt adressierende berufsrechtliche Erlaubnisnorm bzw. Pflichtennorm mit allfälliger disziplinarischer Konsequenz. Die Frage der analogen Anwendung von § 59 e BRAO auf die GbR und die PartG ist im Schrifttum, soweit ersichtlich, nicht einmal aufgeworfen worden, genauso wenig wie im Falle von § 59 f BRAO. Auch hier hat dies seinen guten Grund, denn auch hier gilt in formaler Hinsicht, dass es bei der GbR und der PartG keine eigene Zulassung der Gesellschaft gibt, und materiell würde das Erfordernis der Mehrheit nach Kapital- und Stimmrechten für Rechtsanwälte für viele multidisziplinäre Zusammenschlüsse von Anwälten mit Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern in Form der GbR oder der PartG, für die Finanzierung einer neugegründeten Kanzlei durch Familienangehörige als stille Gesellschafter und für die Gewinnbeteiligung von Bürovorstehern das Ende bedeuten.14 4. Zwischenergebnis Mit Blick auf die Beteiligung eines Rechtsanwalts an einer englischen ABS in ihren insgesamt drei Varianten ist somit aus der Sicht des deutschen Berufsrechts unzweifelhaft relevant der MDP-Aspekt (Verbindung zur gemeinsamen Berufsausübung), auch wenn hier die Wirkungsreichweite des § 59 a BRAO umstritten ist. Der Aspekt, dass Nichtanwälte an der Geschäftsführung der ABS beteiligt sind, und der weitere Aspekt, dass am Eigenkapital der ABS nach deutschem Berufsrecht nichtsozietätsfähige Dritte beteiligt sind, sind hingegen schon im Ausgangspunkt nach Wortlaut und Systematik der BRAO zweifelhaft, jedenfalls nicht eindeutig in dem von Keller vorgetragenen Inhalt. 5. Differenzierung Inlands-/Auslandssachverhalte Zudem ist die Frage, ob das deutsche Berufsrecht einem Rechtsanwalt, der in einer englischen ABS im Ausland tätig Deutsches Berufsrecht als Bollwerk gegen englische ABS?, Hellwig

ist, dies mit demselben Geltungsanspruch untersagen kann wie bei einer Tätigkeit in Deutschland. Diese Frage wird von Keller wie schon zuvor in dem Brief der BRAK vom 22.6.2006 an den englischen Gesetzgeber nicht in den Blick genommen. Macht es nicht unter dem Aspekt von Art. 12 GG einen relevanten Unterschied, ob die Berufsausübungsfreiheit, wozu auch die Rechtsformwahlfreiheit gehört15, beschränkt wird zum Schutz von Verbraucher – und Rechtspflegeinteressen in Deutschland oder im Ausland? Handelt es sich nicht, solange der Rechtsanwalt in der ABS nur im Ausland und für ausländische Mandanten tätig ist, bei einem Verbot um eine bloße Anknüpfung an den Status als deutscher Rechtsanwalt und reicht dieser Status zur Beschränkung der Freiheit der Ausübung des Berufs in Form eines ausländischen Zusammenschlusses wie der englischen ABS und in Form der Tätigkeit im Ausland aus?

III. Europäische Rechtsanwälte in englischer ABS Nach Keller16 unterliegen die in der englischen ABS tätigen europäischen Rechtsanwälte im Sinne von § 1 EuRAG den Bestimmungen von § 59 a BRAO einerseits und von § 59 c ff. BRAO andererseits, und zwar unabhängig davon, ob sie in Deutschland niedergelassen oder vorübergehend dienstleistend tätig sind. Tatsache ist aber, dass, was die Rechtsstellung des niedergelassenen europäischen Rechtsanwalts angeht, die Verweisung des § 6 Abs. 1 EuRAG auf die Vorschriften des Dritten, Vierten, Sechsten, Siebenten, Neunten bis Elften und Dreizehnten Teils der BRAO erst eingreift, nachdem der europäische Rechtsanwalt in die örtliche Kammer aufgenommen worden ist. Eine Pflicht, die Aufnahme zu beantragen, ist im Gesetz nicht vorgesehen. Ohne Aufnahme in die Kammer hat der europäische Rechtsanwalt nur die Stellung eines vorübergehend dienstleistend in Deutschland tätigen Anwalts. Bei letzterem verfolgt – von Keller nicht berücksichtigt – § 27 EuRAG einen ganz anderen Regelungsansatz als § 6 EuRAG. Es werden nämlich die Regelungen der BRAO nur insoweit zur Anwendung berufen, als sie die Vertretung oder Verteidigung eines Mandanten im Bereich der Rechtspflege oder vor Behörden oder die Ausübung sonstiger Tätigkeiten betreffen. § 59 a BRAO sowie §§ 59 c ff. BRAO sind jedoch nicht tätigkeitsbezügliche, sondern organisationsbezügliche Regelungen. Sie gelten folglich nicht für europäische Rechtsanwälte, die vorübergehend dienstleistend in Deutschland tätig sind. Dazu gehören auch, wie dargelegt, niedergelassene, aber nicht kammerangehörige europäische Rechtsanwälte. Sofern danach § 59 a BRAO sowie die §§ 59 c ff. BRAO auf kammerangehörige niedergelassene europäische Rechtsanwälte Anwendung finden, sind die Grenzen zu beachten, die dem deutschen Berufsrecht durch das Territorialitätsprinzip gezogen sind. Das deutsche Berufsrecht kann es nicht seinen Regelungen unterwerfen, wenn sich europäische 13 Wie Fn. 6. 14 Zu denken ist in diesem Zusammenhang auch, von Keller nicht erwähnt, an § 27 BORA. Danach dürfen nicht mit dem Rechtsanwalt zur gemeinschaftlichen Berufsausübung verbundene Dritte – von einigen Ausnahmen abgesehen – nicht am wirtschaftlichen Ergebnis anwaltlicher Tätigkeit beteiligt sein. Die Literatur hält diese Vorschrift mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage zu Recht für nichtig, vgl. Grunewald, Entgeltliche Mandatsvermittlung und Beteiligung Dritter am Erfolg anwaltlicher Leistung, FS Hartung, 2008, S. 9, 15. Beim sog. europäischen Normenscreening wurde die Vorschrift zudem von der eindeutigen Mehrheit des Unterausschusses „Normenscreening“ der 4. Satzungsversammlung im Jahre 2009 wegen Verletzung des Verhältnismäßigkeitserfordernisses als Verstoß gegen das Europarecht angesehen, vgl. Vgl. SV/Mat. 05/2009, S. 48 f. 15 Vgl. BGH AnwBl 2011, 774 ff. und BVerfG AnwBl 2012, 192 ff. 16 BRAK-Mitt. 2012, 17, 18, rSp und 19.

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Rechtsanwälte im Ausland in einer Rechtsform des ausländischen Rechts zur gemeinsamen Berufsausübung zusammenschließen. Schon gar nicht kann das deutsche Berufsrecht dies mit rückwirkender Kraft tun, indem es den Zusammenschluss rückwirkend zu erfassen versucht, sobald einer der beteiligten europäischen Rechtsanwälte in Deutschland tätig ist. Die Frage, ob und wieweit Vorschriften der BRAO auf europäische Rechtsanwälte Anwendung finden, beantwortet sich entgegen Keller17 erst recht nicht nach § 34 BORA. Diese Vorschrift befasst sich nur mit der Frage, wie weit Bestimmungen der BORA auf europäische und sonstige ausländische Rechtsanwälte anwendbar sind. Die berufsrechtliche Satzung kann nicht über die Reichweite berufsrechtlicher Gesetzesbestimmungen entscheiden.

IV. Die englische ABS als solche Laut Keller18 gelten § 59 a und §§ 59 c ff. BRAO auch für die englische ABS als solche, weshalb diese und ihre Tätigkeit in Deutschland unzulässig seien. Keller räumt ein, dass § 1 EuRAG den persönlichen Anwendungsbereich des EuRAG nur für Staatsangehörige eröffnet, die zur selbstständigen Tätigkeit als Rechtsanwalt befugt sind. Allerdings – so Keller – verweise das EuRAG in § 6 Abs. 1 auch auf den Dritten Teil der BRAO, in dessen Zweitem Abschnitt die Rechtsanwaltsgesellschaften geregelt seien, und dieser Verweis ginge ins Leere, wenn nicht auch die Rechtsanwaltsgesellschaft unter den Anwendungsbereich des EuRAG fiele; daher fänden auch § 59 a und §§ 59 c ff. BRAO auf ABS Anwendung.19 Auch dem kann in mehrfacher Hinsicht nicht gefolgt werden. Zunächst ist es bereits im Ausgangspunkt problematisch, den ausdrücklich geregelten personalen Anwendungsbereich eines Gesetzes von der – tatsächlich oder vermeintlich – unbefriedigenden Rechtsfolgenseite her „aufzubohren“. Eine solche Vorgehensweise ist hier auch unionsrechtlich nicht geboten, denn die anwaltliche Dienstleistungs-RL von 1977 und die anwaltliche Niederlassungs-RL von 1998, deren Umsetzung das EuRAG dient, adressieren grundsätzlich nur den einzelnen Anwalt, nicht aber Anwaltsgesellschaften und sonstige Formen anwaltlicher Zusammenschlüsse. § 59 c ff. BRAO regeln zudem nicht allgemein „die Rechtsanwaltsgesellschaft“, sondern nur die GmbH in der besonderen berufsrechtlichen Ausgestaltung als AnwaltsGmbH. Anwaltsgesellschaften in anderen Rechtsformen wie GbR und PartG sind dort nicht geregelt. Angesichts dessen nimmt es Wunder, dass Keller in seinem Aufsatz im Zusammenhang mit §§ 59 c ff. BRAO durchgängig allgemein von „Rechtsanwaltsgesellschaften“ spricht. Unzutreffend ist auch, wenn Keller meint, der Verweis in § 6 Abs.1 EuRAG auf den Dritten Teil der BRAO mit der Regelung des Zweiten Abschnitts ginge ins Leere, wenn nicht auch Rechtsanwaltsgesellschaften unter den Anwendungsbereich des EuRAG fielen. Der Verweis geht mitnichten ins Leere, denn er besagt, dass auch der kammerangehörige niedergelassene europäische Rechtsanwalt in Deutschland eine Rechtsanwalts-GmbH nur unter den Voraussetzungen der §§ 59 c ff. BRAO gründen kann. Des Weiteren ist auf die Entscheidungen des EuGH zum Verbot von berufsfremdem Eigenkapital im griechischen Optikerfall20 einerseits und im deutschen Apothekerfall21 andererseits hinzuweisen.22 Im Optikerfall hat der EuGH das grie880

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chische Fremdbesitzverbot bei Optikern wegen Verstoßes gegen das europarechtliche Verhältnismäßigkeitserfordernis „gekippt“, denn die von dem Verbot angestrebten Ziele ließen sich auch durch gesetzliche Regelungen auf der betrieblichen-operativen Ebene erreichen. Im Apothekerfall hingegen hat der EuGH das deutsche Fremdbesitzverbot bei Apotheken für zulässig erklärt, 9 weil die originäre Zuständigkeit für das Apothekenwesen nach Primär- und Sekundärrecht der Gemeinschaft bei den Mitgliedstaaten liegt – für die Anwaltstätigkeit fehlt es an einer vergleichbaren ausdrücklichen Regelung; 9 weil im Apothekenwesen eine besonders hohe Gefahr für die Verschwendung öffentlicher Finanzmittel besteht – verglichen mit der öffentlichen Arzneimittelfinanzierung fällt die staatlich finanzierte Prozess- und Beratungskostenhilfe kaum ins Gewicht; und 9 weil die Volksgesundheit ein im Primärrecht ausdrücklich anerkanntes zwingendes Allgemeininteresse höchsten Ranges ist – daran fehlt es bei Belangen der Rechtspflege und des Verbraucherschutzes, die erst vom EuGH als zwingende Allgemeininteressen entwickelt worden und durch die Dienstleistungs-RL von 2006 in ihrer Wirkungskraft dadurch erheblich reduziert worden sind, dass sie im Bereich der Dienstleistungsfreiheit überhaupt nicht mehr zur Anwendung kommen können (dazu weiter unten). Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt23, glaube ich, die Anwälte sind mehr Optiker, die für klare Sicht sorgen, als Apotheker, die dem Kranken die bittere Arznei verabfolgen. Auf dem 68. Deutschen Juristentag 2010 in Berlin hat denn auch der deutsche Richter beim EuGH Thomas von Danwitz gewarnt, die Apotheker-Entscheidung sei ein Sonderfall, den man nicht verallgemeinern solle. Zu bedenken ist insofern auch, dass neben England und Wales weitere Länder (Italien, Spanien, Schottland und einige Kantone der Schweiz) inzwischen nichtanwaltliche Beteiligungen am Eigenkapital einer Kanzlei bis zu einer Obergrenze von 33 1/3 Prozent oder 25 Prozent zulassen. Selbst wenn man dem deutschen anwaltlichen Berufsrecht ein allgemeines Verbot der Eigenkapitalfinanzierung durch berufsfremde nichtsozietätsfähige Dritte entnehmen wollte, so würde dieses Verbot an den deutschen Grenzen enden. Nach dem Territorialitätsprinzip ist es dem deutschen Recht verwehrt, die Finanzierung und allgemein die Organisation von Anwaltstätigkeit und Anwaltszusammenschlüssen in anderen Ländern zu regeln. Die deutsche Regelung kann deshalb die englische ABS nicht erfassen.

V. Unzulässige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit Keller anerkennt, dass sich die englische ABS auf die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit berufen kann.24 Keller meint jedoch, die gesellschaftsrechtliche Sitzwahlfreiheit 17 18 19 20 21 22 23 24

BRAK-Mitt. 2012, 17, 19 lSp. BRAK-Mitt. 2012, 17, 19. Keller, BRAK-Mitt. 2012, 17, 19, lSp unten. EuGH „Kommission/Griechenland“ vom 21.4.2005, Rs. C-140/03, Slg. 2005, I-3177 ff. EuGH „DocMorris“ vom 19.5.2009, Rs. C-171/07 und C-172/07, Slg. 2009, I-4171 ff. Vgl. ausführlich Hellwig, Anwaltliches Berufsrecht und Europa, AnwBl 2011, 77, 80. Wie Fn. 22. BRAK-Mitt. 2012, 17, 19 lSp.

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stehe der Unterwerfung einer in Deutschland grenzüberschreitend tätigen englischen ABS unter die §§ 59 a und 59 c ff. BRAO nicht entgegen, und verweist dafür auf das Centros-Urteil des EuGH.25 Die Ausführungen von Keller26 leiden im Ausgangspunkt daran, dass sie nicht differenzieren zwischen Gesellschaftsrecht und Berufsrecht. Wie eingangs ausgeführt, ist die englische ABS keine eigene Gesellschaftsrechtsform. Der Begriff ist vielmehr ein berufsrechtliches Attribut für einen gesellschaftsrechtlichen Anwaltszusammenschluss in einer der dafür zur Verfügung stehenden Formen des englischen Gesellschaftsrechts, der in bestimmter Weise ausgestaltet und in seiner Eigenschaft als Zusammenschluss als Solicitor zugelassen worden ist. Es handelt sich also um dieselbe Fragestellung wie bei der Zulassung einer GmbH als Rechtsanwalts-GmbH. Die gesellschaftsrechtliche Seite ist im GmbHG geregelt, die berufsrechtliche Zulassung als Rechtsanwalts-GmbH in § 59 c ff. BRAO. Genauso richtet sich bei einer englischen ABS die gesellschaftsrechtliche Seite nach dem jeweiligen englischen Gesellschaftsrecht, die berufsrechtliche Seite nach dem LSA. Kellers Hinweis auf Centros ist keine vollständige Auswertung der Rechtsprechung des EuGH. Dieser Entscheidung aus dem Jahre 1999 folgten die Urteile Überseering von 200227, Inspire Art von 200328, Cartesio von 200829 und jüngstens Vale von 2012.30 Aus dieser Entscheidungskette ergibt sich eindeutig, dass ein Zuzugsstaat – hier Deutschland – die ausländische Gesellschaft – hier eine Gesellschaft englischen Gesellschaftsrechts – anerkennen muss und nicht seinem eigenen Gesellschaftsrecht unterwerfen darf. Alles, was zum sog. Gesellschaftsstatut der ausländischen Gesellschaft gehört, beispielsweise die Zusammensetzung des Kreises der Gesellschafter und der Geschäftsführung, ist grundsätzlich der Regelung des Zuzugsstaates/Zielstaates entzogen.31 Genauso wie im Bereich der Warenverkehrsfreiheit ein Produkt, das in einem Mitgliedsstaat rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden ist, von einem anderen Mitgliedsstaat nicht mit der bloßen Begründung zurückgewiesen werden kann, dieses Produkt entspreche nicht seinen eigenen mitgliedsstaatlichen Vorschriften,32 genauso wenig kann im Bereich der Niederlassungsfreiheit ein Zuzugsstaat eine im Ausland gegründete, sozusagen rechtmäßig in den Verkehr gebrachte Gesellschaft von seinem eigenen Gebiet mit der bloßen Begründung fernhalten, dass diese Gesellschaft nicht den gesetzlichen Vorschriften im Zuzugsstaat entspreche. Nach der Rechtsprechung des EuGH hat der Zuzugsstaat nur sehr eingeschränkt die Möglichkeit, gegenüber der ausländischen Gesellschaft auf seinem Gebiet (und nur dort) seine nationalen Vorschriften zur Anwendung zu bringen.33 Vorschriften, die das Statut der ausländischen Gesellschaft betreffen, können nur dann ausnahmsweise zur Anwendung kommen, wenn diese Vorschriften internationalen Geltungsanspruch erheben. Ein solcher internationaler Geltungsanspruch ist bei den hier in Frage stehenden, das Gesellschaftsstatut der ABS betreffenden Vorschriften der BRAO nicht ersichtlich. Unabhängig davon muss – und das ist das Entscheidende – jede Beschränkung, auch eine solche, die ausnahmsweise das Statut der Gesellschaft betrifft, der grenzüberschreitenden Tätigkeit einer ausländischen Gesellschaft durch nationale Schutzvorschriften, unabhängig davon, wie diese rechtssystematisch qualifiziert werden, den Anforderungen der Gebhard-Formel34 genügen35. Eine Beschränkung ist danach nur zulässig, wenn sie zwingenden Allgemeininteressen dient, wenn diese Interessen unionsrechtskonform sind, wenn die Beschränkung in ihrer AusDeutsches Berufsrecht als Bollwerk gegen englische ABS?, Hellwig

gestaltung nicht diskriminierend ist, und wenn sie erforderlich, geeignet und verhältnismäßig ist. Die Interessen der Rechtspflege und des Verbraucherschutzes sind vom EuGH seit langem als unionsrechtskonforme zwingende Allgemeininteressen anerkannt. Kritisch hingegen ist die Frage der Verhältnismäßigkeit. Insofern ist auf die Ausführungen oben zu verweisen, insbesondere zu den Optiker- und Apotheker-Entscheidungen des EuGH. Insgesamt ist festzustellen, dass sich, vom Sonderfall des Apotheker-Urteils abgesehen, durch die Entscheidungen des EuGH seit vielen Jahren wie ein roter Faden hindurchzieht, bei der Anerkennung von zwingenden Allgemeininteressen großzügig zu sein, bei dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit hingegen strenge Anforderungen zu stellen, mit der Folge, dass Beschränkungen in Form von perse-Verboten als durchweg unverhältnismäßig und deshalb unionsrechtswidrig angesehen werden. Vor dem Hintergrund der Grundfreiheiten-Judikatur des EuGH, insbesondere zur Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit muss also streng differenziert werden: 9 Dem Zuzugsstaat/Zielstaat ist es verwehrt, ausländischen Gesellschaften (mit ihren Niederlassungen und Dienstleistungen) die eigene Rechtsordnung per se „überzustülpen“ bis hin zur Konsequenz, sie ansonsten vom eigenen Markt fernzuhalten. Deshalb findet § 43 GmbHG betreffend die Haftung eines Geschäftsführers auf eine ausländische Gesellschaft keine Anwendung, auch wenn es sich dabei um eine sog. Scheinauslandsgesellschaft handelt, also etwa eine englische Limited, die in England nur einen Briefkasten und in Deutschland ihren Hauptsitz und ihre Hauptverwaltung hat.36 Deshalb konnten auf diese Gesellschaften die Vorschriften über eigenkapitalersetzende Darlehen nach §§ 32 a und b GmbHG a. F. keine Anwendung finden, weshalb der Gesetzgeber im Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Mißbräuchen (MoMiG) von 2008 diese Vorschriften aufgehoben hat und die Materie jetzt im Insolvenzrecht (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) regelt. Weil der Zuzugsstaat/Zielstaat das Gesellschaftsstatut der ausländischen Gesellschaft respektieren muss, kann Spanien – das keine unternehmerischer Mitbestimmung der Arbeitnehmer kennt – von einer in Spanien tätigen Gesellschaft aus Deutschland nicht verlangen, dass sie ihren mitbestimmten Aufsichtsrat abschafft, andernfalls dieser Gesellschaft der Zugang zum spanischen Markt verwehrt wird, und kann Deutschland nicht verlangen, dass eine Gesellschaft ausländischer Rechtsform, die nach deutschem Recht einen mitbestimmten Aufsichtsrat haben müsste, einen solchen Aufsichtsrat bildet, andernfalls sie nicht in Deutschland tätig sein darf. Deshalb ist der deutsche Gesetzgeber dem Vorschlag der Gewerkschaften nicht gefolgt, die unternehmerische Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Scheinauslandsgesellschaften im Drittelbeteiligungsgesetz von 2004 gesetzlich vorzusehen.

Deshalb kann Deutschland nicht eine englische ABS den Vorschriften des deutschen Berufsrechts unterwerfen, die wie § 59 a und § 59 c BRAO das Gesellschaftsstatut der ABS betreffen. 25 EuGH, Urt. vom 9.03.1999, Rs. C. – 212/97, Slg. 1999, I-1459 ff.; siehe Keller aaO. 26 Keller, BRAK-Mitt. 2012, 17, 19 lSp. 27 EuGH Urt. vom 5.11.2002, Rs. C-208/00, Slg. 2002 I-9919. 28 EuGH Urt. vom 30.9.2003, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155. 29 EuGH Urt. vom 16.12.2008, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I-9641. 30 EuGH Urt. vom 12.7.2012, Rs. C-378/10, ZIP 2012, 1394. 31 Vgl. Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2011, S. 27: „Spätestens“ seit “Inspire Art“ steht fest, dass die Mitgliedsstaaten nicht mehr mittels der Sitztheorie Anspruch auf Beachtung ihres Gesellschaftsrechts durch hinzuziehende Gesellschaften erheben können, vielmehr gehalten sind, diese Gesellschaften als solche ausländischen Rechts mit dem Statut des Gründungsstaates anzuerkennen.“ 32 Vom EuGH erstmals entwickelt in Cassis de Dijon, Urt. vom 20.2.1979, Slg. 1979, 649. 33 Vgl. hierzu und zum Folgenden Habersack/Verse, aaO., S. 30. 34 Vgl. EuGH „Gebhard“ vom 3.11.1995; Rs. C-55/95, Slg. 1995, I-4165 ff. 35 Vgl. Habersack/Verse, aaO, S. 31. 36 Vgl. BGH Urt. vom 14.3.2005, ZIP 2005, 805.

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9 Dem Zuzugsstaat/Zielstaat ist es aber gestattet, ausländischen Gesellschaften, die auf seinem Gebiet mit Niederlassungen und Dienstleistungen tätig sein wollen/sind, die seinen eigenen gesetzlichen Regelungen zugrunde liegenden Überlegungen entgegenzuhalten, vorausgesetzt, diese betreffen grundsätzlich nicht das Gesellschaftsstatut der ausländischen Gesellschaft und halten in jedem Fall einer unionsrechtlichen Überprüfung nach der sog. Gebhard-Formel stand. Unter diesen Voraussetzungen kann Deutschland die Tätigkeit einer englischen ABS in Deutschland beschränken. Zu stützen ist diese Beschränkung nicht rein formal auf die einzelnen Vorschriften des deutschen Berufsrechts, sondern inhaltlich auf die Gemeinwohlinteressen, denen diese Vorschriften dienen. Es liegt auf der Hand, dass bei einer Beschränkung der Tätigkeit der ABS in Deutschland und dem Versuch, diese zu rechtfertigen, abgesehen von der Frage des Gesellschaftsstatuts die einschlägigen Vorschriften des deutschen Berufsrechts auf den unionsrechtlichen Prüfstand kommen. Auch von daher ist die Rechtslage nicht so eindeutig, wie Keller es dargestellt hat. Zu erinnern ist daran, dass die Brüsseler Kommission die in vielen Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland anzutreffenden Beschränkungen der multidisziplinären Zusammenarbeit und des Fremdbesitzes zu einem wesentlichen Gegenstand ihrer Liberalisierungspolitik gemacht hat.37

VI. Art. 11 Abs. 5 Niederlassungs-RL Keller argumentiert auch mit Art. 11 Niederlassungs-RL betreffend den Fall, dass ein mit anderen zur gemeinsamen Berufsausübung verbundener Rechtsanwalt sich in einem anderen Mitgliedsstaat niederlässt. Art. 11 Abs. 5 bestimmt, dass dann, wenn dieser Rechtsanwalt einer Gruppe angehört, der „standesfremde Personen“ angehören, der Niederlasungsstaat dem am Ort der Niederlassung unter seiner Herkunftsberufsbezeichnung eingetragenen Rechtsanwalt das Recht verweigern darf, sich im Niederlassungsstaat „als Mitglied seiner Gruppe“ zu betätigen. Eine Gruppe gilt dabei als Gruppe, der standesfremde Personen angehören, wenn Personen, die nicht die Qualifikation eines Rechtsanwalts eines der Mitgliedsstaaten halten, (i) ganz oder teilweise das Kapital dieser Gruppe halten oder (ii) die Bezeichnung, unter der die Gruppe tätig ist, benutzen oder (iii) de facto oder de jure die Entscheidungsbefugnis darin ausüben. Zwischen dem so definierten Gruppenbegriff und den einzelnen Varianten einer englischen ABS gibt es somit gewisse Übereinstimmungen. Die vorstehend wiedergegebene Regelung von Art. 11 Abs. 5 beschränkt sich darauf, dass der Niederlassungsstaat dem eingetragenen ausländischen Anwalt das Recht verweigern darf, „sich im Aufnahmestaat als Mitglied seiner Gruppe zu betätigen.“ Die Befugnis dieses Rechtsanwalts, im eigenen Namen tätig zu werden, kann danach nicht verweigert werden. Der letzte Satz von Art. 11 Abs. 5 sieht eine weitergehende Rechtsfolge dahingehend vor, dass der Aufnahmestaat „ohne die Einschränkungen nach Nr. 1 (sc. ohne dass dies im allgemeinen Interesse zum Schutz der Mandanten und Dritter gerechtfertigt ist) die Eröffnung einer Zweigstelle oder Niederlassung auf seinem Hoheitsgebiet ablehnen“ kann, wenn die für eine solche Gruppe von Rechtsanwälten im Herkunftsstaat geltenden grundlegenden Regeln entweder mit denen des Aufnahmestaats oder mit Unterabsatz 1 unvereinbar sind.38 882

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Nach der ausdrücklichen Regelung in Art. 11 Abs. 5 Satz 1 Niederlassungs-RL ist die Befugnis des Aufnahmestaates, dem unter seiner Herkunftsbezeichnung eingetragenen europäischen Rechtsanwalt das Recht, sich im Aufnahmestaat als Mitglied seiner Gruppe zu betätigen, auf jenes Ausmaß beschränkt, „in dem er Rechtsanwälten, die unter ihrer jeweiligen Berufsbezeichnung tätig sind, die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einer Gruppe untersagt, der standesfremde Personen angehören“. Mit anderen Worten, der Aufnahmestaat darf den europäischen Rechtsanwalt nicht schlechter behandeln als seine eigenen Rechtsanwälte. Dabei wird vorausgesetzt, dass die aufnahmestaatliche Regulierung unionsrechtlich zulässig ist. Insofern enthält Art. 11 Abs. 5 der Niederlassungs-RL keine Freistellung der aufnahmestaatlichen Regulierung vom Unionsrecht. Gleiches gilt für die Befugnis des Aufnahmestaates nach Art. 11 Abs. 5 Satz 3 Niederlassungs-RL, die Eröffnung einer Zweigstelle oder Niederlassung auf seinem Hoheitsgebiet abzulehnen, weil die grundlegenden herkunftsstaatlichen Regeln betreffend eine Gruppe von Rechtsanwälten mit denen des Aufnahmestaates unvereinbar sind. Die aufnahmestaatlichen Regeln müssen auch hier ihrerseits unionsrechtskonform sein. Damit stellt sich auch vor dem Hintergrund von Art. 11 Abs. 5 Niederlassungs-RL die Frage, ob und wieweit die Vorschriften des deutschen Berufsrechts betreffend eine „Gruppe, der standesfremde Personen angehören“, unionsrechtlich Bestand haben. Auch im Rahmen von Art. 11 Abs. 5 Niederlassungs-RL kann deshalb das deutsche Berufsrecht betreffend Reichweite der Zusammenschlussbefugnis (MDP), Fremdgeschäftsführung und Eigenkapitalbesitz auf den unionsrechtlichen Prüfstand kommen. Eine Umsetzung von Art. 11 Abs. 5 Niederlassungs-RL ist im EuRAG nicht erfolgt. § 8 EuRAG verpflichtet den niedergelassenen europäischen Anwalt nur, der Kammer mitzuteilen, wenn er im Herkunftsstaat einem Zusammenschluss zur gemeinschaftlichen Berufsausübung angehört, und dabei die Bezeichnung und Rechtsform des Zusammenschlusses anzugeben sowie weitere zweckdienliche Auskünfte zu geben. Mit dieser Informationsregelung wird Art. 11 Nr. 4 Niederlassungs-RL umgesetzt.39 Eine Art. 11 Nr. 5 Niederlassungs-RL entsprechende Ermächtigung, dem europäischen Rechtsanwalt die Tätigkeit als Mitglied seiner Gruppe zu verbieten oder die Eröffnung einer Zweigstelle oder Niederlassung der Gruppe abzulehnen, ist – aus welchen Gründen auch immer – im EuRAG nicht vorgesehen. Eine Direktwirkung von Art 11 Nr. 5 der Niederlassungs-RL zu Gunsten von Deutschland als Niederlassungsstaat und zu Lasten des europäischen Anwalts ist nach der Rspr. des EuGH ausgeschlossen.40 Auf Art. 11 Nr. 5 der RL kann deshalb eine Kammer kein Verbot stützen.

37 Vgl. Mitteilung der Kommission, Bericht über den Wettbewerb bei freiberuflichen Dienstleistungen, 9.2.2004, KOM (2004) 83 endg., Mitteilung der Kommission und zuletzt Commission Staff Working Paper on the progress of mutual valuation of the Services Directive (COM [2011] 20 final). Freiberufliche Dienstleistungen-Raum für weitere Reformen, 5.9.2005, KOM (2005) 405 endg. 38 Wie diese unklar formulierte Regelung zu verstehen ist und ob sich diese Befugnis auf die Eröffnung einer Zweigstelle oder Niederlassung durch die ausländische Gruppe beschränkt oder auch den der Gruppe angehörigen ausländischen Rechtsanwalt als Einzelanwalt erfasst, sei als Frage vermerkt, aber nicht weiter vertieft. 39 Vgl. Lörcher, in Henssler/Prütting, BRAO, 3. Aufl. 2010, Rz. 3 zu § 8 EuRAG. 40 Vgl. EuGH „Marshall/Southhampton, Urt. vom 26.2.1986, Rs. C-152/84, Slg. 1986, I-723, 737.

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VII. Vorübergehend grenzüberschreitende Dienstleistung Für die vorübergehende grenzüberschreitende Dienstleistung enthält die anwaltliche Dienstleistungs-RL von 1977 keine Art. 11 Abs. 5 Niederlassungs-RL vergleichbare Regelung, dahingehend, dass eine ausländische „Gruppe, der standesfremde Personen angehören“ im Zielstaat nicht vorübergehend dienstleistend tätig sein darf. Eine derartige Regelung findet sich auch nicht in §§ 27 ff EuRAG. Das schließt es nicht aus, dass Deutschland als Zielstaat, wie oben ausgeführt, die vorübergehend grenzüberschreitende dienstleistende Tätigkeit einer englischen ABS in Deutschland Beschränkungen unterwirft, vorausgesetzt, den Anforderungen der Gebhard-Formel wird dabei Genüge getan. Insofern ist jedoch festzustellen, dass es im Bereich der Dienstleistungsfreiheit – anders als bei der Niederlassungsfreiheit – durch die von Keller nicht erwähnte allgemeine Dienstleistungs-RL von 2006 zu einer grundlegenden Änderung gekommen ist, was die mögliche Rechtfertigung von Beschränkungen angeht.41 Nach Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 3 lit. b) und Abs. 3 dieser Richtlinie können nämlich Beschränkungen der anwaltlichen Dienstleistungsfreiheit nur noch auf Gründe der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit und des Schutzes der Umwelt gestützt werden, nicht aber mehr auf die ordnungsgemäße Rechtspflege und den Verbraucherschutz. Zwar sind vorübergehend grenzüberschreitend dienstleistende Anwälte von Art. 16 durch Art. 17 Nr. 4 der Richtlinie ausgenommen. Diese Ausnahme gilt jedoch nur soweit, wie der Regelungsbereich der anwaltlichen Dienstleistungs-RL von 1977 reicht. Die Rechtfertigungsgründe für Beschränkungen gehören nicht zum Regelungsbereich der letztgenannten Richtlinie. Die Ausnahme nach Art. 17 Nr. 4 der Dienstleistungs-RL von 2006 greift deshalb nicht.42 Die Gegenauffassung43 – Totalausnahme der anwaltlichen Tätigkeit in allen ihren Aspekten – verkennt insbesondere die Systematik von Art. 17 Nr. 4 Dienstleistungs-RL. Art. 17 dieser RL unterscheidet streng zwischen einer Ausnahmen für Tätigkeiten, die unter eine andere Richtlinie fallen, und Ausnahmen für Angelegenheiten, die unter eine andere Richtlinie fallen. Bei einer Tätigkeitenausnahme erstreckt sich die Ausnahme auf alle Aspekte dieser Tätigkeit, bei einer Angelegenheitenausnahme beschränkt sie sich auf die Aspekte, die in der betreffenden anderen Richtlinie geregelt sind. Die Ausnahme für die anwaltliche Dienstleistungs-RL ist nach dem Wortlaut von Art. 17 Nr. 4 Dienstleistungs-RL eindeutig keine Tätigkeiten-, sondern eine Angelegenheiten-Ausnahme. Deshalb gilt Art. 16 Dienstleistungs-RL mit seinem Ausschluss bestimmter Rechtfertigungsgründe für Beschränkungen bei vorübergehender grenzüberschreitender Dienstleistungstätigkeit auch für Anwälte. Die nur vorübergehend dienstleistende Tätigkeit einer ABS in Deutschland kann somit aus den dem deutschen Berufsrecht zugrundeliegenden Rechtspflege- und Mandantenschutzüberlegungen entgegen Keller nicht beschränkt werden.

VIII. Antrag einer englischen ABS auf Zulassung als Rechtsanwaltsgesellschaft Die BRAK hat – wie eingangs erwähnt – den Kammern einen Musterbescheid zugeleitet, mit dem ein etwaiger Antrag einer englischen ABS „auf Zulassung als RechtsanwaltsDeutsches Berufsrecht als Bollwerk gegen englische ABS?, Hellwig

gesellschaft“ abgelehnt werden sollte. Der Musterbescheid begründet die Ablehnung mit den oben erörterten Vorschriften des deutschen Berufsrechts für deutsche und europäische Rechtsanwälte sowie für die Anwalts-GmbH. Es wird nicht deutlich, von welchem Antrag der Bescheid ausgeht. Insofern sind mehrere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Vor dem Hintergrund, dass der Musterbescheid ebenso wie Keller rechtsformunspezifisch allgemein von Rechtsanwaltsgesellschaft spricht, ist zu denken an einen auf die §§ 59 c ff. BRAO gestützten Antrag der ABS auf Zulassung als Rechtsanwaltsgesellschaft. Diese Vorschriften gelten rechtsformspezifisch allein für die Anwalts-GmbH, die mit der Zulassung und Handelsregistereintragung als Rechtsanwaltsgesellschaft deutschen Rechts in der spezifischen Rechtsform der Anwalts-GmbH zur Entstehung gelangt. Die antragstellende ABS hingegen besteht bereits als Rechtsanwaltsgesellschaft englischen Rechts. Sie kann nicht gleichzeitig Anwalts-GmbH nach deutschem Recht sein. Es gibt im Gesellschaftsrecht keine „doppelte Staatsangehörigkeit“. Mit dieser einfachen Begründung wäre der Antrag der ABS abzulehnen. Zu denken ist weiter an einen Antrag der englischen ABS auf Kammermitgliedschaft nach § 60 Abs. 1 S. 2 BRAO. Danach sind Rechtsanwaltsgesellschaften, die im Bezirk des Oberlandesgerichts ihren Sitz haben, Mitglied der Rechtsanwaltskammer. Gemeint sind damit ausschließlich die im Dritten Teil Zweiten Abschnitt der BRAO in den §§ 59 c ff. genannten Anwalts-GmbH deutschen Rechts. Rechtsanwaltsgesellschaften ausländischen Rechts sind nicht erfasst. Aus diesen formalen Gründen wäre ein solcher Antrag der ABS auf Kammermitgliedschaft abzulehnen. Zu denken ist schließlich an einen Antrag der ABS auf Kammermitgliedschaft nach § 3 EuRAG. Nach § 1 EuRAG gilt das Gesetz geht jedoch nur für Staatsangehörige von Mitgliedsstaaten der EU oder des EWR oder der Schweiz, die berechtigt sind, als Rechtsanwalt unter einer der in der Anlage genannten Berufsbezeichnungen – hier: Solicitor – selbstständig tätig zu sein (europäische Rechtsanwälte). Die ABS ist zwar in England als Solicitor zugelassen. Aus dem Erfordernis der Staatsangehörigkeit in § 1 EuRAG ergibt sich aber, dass es sich um natürliche Personen handeln muss und dass deshalb ausländische Anwaltsgesellschaften vom persönlichen Geltungsbereich des EuRAG ausgenommen sind. Dies entspricht dem persönlichen Geltungsbereich der anwaltlichen Dienstleistungs- bzw. Niederlassungs-RL. Sollte eine englische ABS nach § 3 EuRAG die Aufnahme in eine deutsche Kammer beantragen, ließe sich ein solcher Antrag mit der vorstehenden knappen Begründung zurückweisen. Die Darlegungslast, weshalb abweichend vom Gesetzeswortlaut wegen der Zulassung als Solicitor die Kammermitgliedschaft zulässig und zu gewähren ist, liegt jedenfalls bei der englischen ABS. Unabhängig davon ist festzustellen, dass die englische ABS für ihre Tätigkeit in Deutschland eine Niederlassung und Kammermitgliedschaft nicht wirklich benötigt. Es reicht für ihre Zwecke aus, Büroräume anzumieten, in denen jeweils 41 Vgl. ausführlich Hellwig, Anwaltliches Berufsrecht und Europa, AnwBl 2011, 77, 82 42 So die Auffassung der Mehrheit des Unterausschusses „Normenscreening“ der Satzungsversammlung, SV/Mat. 05/2009, S. 21 ff. Ferner Kämmerer, Die Zukunft der Freien Berufe zwischen Deregulierung und Neuordnung, Gutachten zum 68. Deutschen Juristentag in: Verhandlungen des 68. Deutschen Juristentags Berlin 2010, H 1 ff. sowie ausführlich Hellwig, Zum Normenscreening des anwaltlichen Berufsrechts, FS Graf von Westphalen, 2010, S. 289, 302 ff., beide m. w. N. 43 Die Mindermeinung beim Normenscreening der Satzungsversammlung, vgl. SV/ Mat. 06/2009.

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für kürzere oder längere Zeit Mitglieder der ABS vorübergehend dienstleistend tätig sind. Versuche der Rechtsanwaltskammern, über längere Zeit in Deutschland tätige europäische Anwälte als niedergelassen und nicht mehr als vorübergehend dienstleistend anzusehen, sind – soweit bekannt – gescheitert, nachdem der EuGH in der Sache Gebhard entschieden hat, dass die Abgrenzung zwischen beiden Tätigkeitsformen nicht rein zeitlich, sondern nur unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Einzelfalles vorgenommen werden kann.44 § 6 EuRAG knüpft die Rechte- und Pflichtenstellung des niedergelassenen europäischen Rechtsanwalts nicht an die faktische Niederlassung, sondern an die Aufnahme in die zuständige Kammer an. Für den europäischen Rechtsanwalt hat, was die Tätigkeitsbefugnisse unter seiner Herkunftsbezeichnung angeht, die Aufnahme in die Kammer der Niederlassung keine sonderliche praktische Bedeutung. Eine Pflicht zur Antragstellung auf Kammermitgliedschaft im Fall der Niederlassung kennt das Gesetz nicht.

IX. Schlussbemerkung Die Entwicklung des englischen Berufsrechts stellt einmal mehr das Berufsrecht in Deutschland vor Herausforderungen. Die Berufspraxis hat auf das Beharrungsvermögen des Berufsrechts in Deutschland bei der Frage eines besseren Schutzes gegen persönliche Haftungsrisiken aus beruflichen Fehlern reagiert, indem nicht nur große, sondern gerade auch kleine Kanzleien die den deutschen Gesellschaftsformen überlegene englische LLP gewählt haben.45 Angestoßen vom DAV46 hat die Bundesregierung inzwischen mit dem am 16. Mai 2012 beschlossenen Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung für Rechtsanwälte, Patentanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer reagiert. Die englische ABS ist eine neue Herausforderung. Dass deutsche Kanzleien sich als eine ABS englischen Rechts umstrukturieren, ist zumindest nicht auszuschließen. Vor allem ist es wahrscheinlich, dass englische ABS – mit oder ohne Beteiligung von deutschen Rechtsanwälten – aus England in Deutschland niedergelassen oder vorübergehend dienstleistend tätig werden – und, dass deutsche Rechtsanwälte als Mitglieder einer englischen ABS in England oder im sonstigen Ausland anwaltlich tätig werden. Die bisherige Erörterung der englischen ABS im deutschen Berufsrecht differenziert nicht genug zwischen den einzelnen relevanten Aspekten. Erforderlich ist vor allem, zwischen den einzelnen Strukturelementen einer englischen ABS zu unterscheiden (Zusammenschluss mit anderen Berufsträgern, Fremdgeschäftsführung und nichtsozietätsfähiges Eigenkapital). Auch bedarf es der Differenzierung danach, ob die ABS nur im Ausland oder auch in Deutschland tätig ist. Dieselbe Unterscheidung ist geboten mit Blick auf einen deutschen Rechtsanwalt, der der englischen ABS angehört. Dabei ist stets die grundsätzliche territoriale Beschränkung der Reichweite des deutschen Gesetzgebers zu beachten. Insgesamt erweist sich dann, dass die rechtsnormative Position schwächer ist als der etwaige rechtspolitische Wunsch, eng44 EuGH, vgl. Fn. 34. 45 Vgl. Hellwig, Haftpflichtversicherung statt Handelndenhaftung bei der Partnerschaftsgesellschaft, NJW 2011, 2057 ff. 46 Vgl. Hellwig, PartGmbB: Sinnvolle Modernisierung, AnwBl 2012, 345 ff. 47 Seit BGH Urt. vom 29.1.2001, BGHZ 146, 341, 343 ff. 48 AnwBl 2011, 800, 808.

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lische ABS vom deutschen Markt und deutsche Rechtsanwälte von englischen ABS fern zu halten. Das stellt die deutsche Berufsrechtspolitik vor die Frage, ob sie in diesem Wettbewerb der Rechtsordnungen die Dinge aktiv gestalten oder passiv treiben lassen will, bis einmal mehr wichtige berufsrechtliche Entscheidungen von den Gerichten getroffen werden. Hinzu kommt, dass das englische Berufsrecht bei der ABS einen neuen Regulierungsansatz verfolgt. Reguliert wird neben der Tätigkeit des einzelnen Anwalts auch der Zusammenschluss als solcher. Das deutsche Berufsrecht tut das nur bei der Anwalts-GmbH, nicht aber bei der AnwaltsGbR noch bei der Anwalts-PartG, obwohl auch diese eigene Rechtspersönlichkeit haben.47 Dem Appell von Kilian/ Lemke48, das deutsche Berufsrecht müsse sich mit diesem neuen Regulierungsansatz auseinandersetzen, ist uneingeschränkt zuzustimmen. Ist nicht der derzeitige Regelungsansatz des deutschen Berufsrechts antiquiert, Anwaltszusammenschlüsse in der Form der GbR und der PartG mit 100 und mehr Partnern an mehreren Standorten durch sozusagen gesamtschuldnerische Anknüpfung der gesamten Regulierung bei jedem einzelnen Partner zu regeln? Wäre es nicht sinnvoll, bei der Regulierung zweispurig zu fahren, indem für die anwaltliche Tätigkeit, die Führung von Fachanwaltsbezeichnungen und andere der Sache nach Individualmaterien auf den jeweiligen Anwalt abgehoben wird, hingegen bei Materien, die den Gesamtzusammenschluss oder den einzelnen Standort betreffen, etwa die Gestaltung des Briefkopfes und der Werbung, berufsrechtlich derjenige Partner in die Pflicht genommen wird, der für den Zusammenschluss insgesamt bzw. den jeweiligen Standort benannt worden ist? Würde eine derartige konkretisierte Individualverantwortlichkeit nicht vielleicht sogar zu einer besseren Einhaltung des Berufsrechts führen? Ferner: Bisher gibt es eine Gesellschafterliste im Falle eines Zusammenschlusses nur bei der PartG und der Anwalts-GmbH, geführt vom Partnerschafts- bzw. Handelsregister, auf die die Kammer und der Rechtsverkehr zurückgreifen können. Wäre es nicht sinnvoll, wenn die Kammern veranlasst werden würden, für Zusammenschlüsse in Form der GbR eine eigene Akte mit einer solchen Gesellschafterliste zu führen? Schließlich ist zu fragen, ob mit Blick auf Zusammenschlüsse ausländischen Rechts, die inzwischen in großer Zahl in Deutschland tätig sind, im deutschen Berufsrecht nicht eine niederlassungsbezügliche Regelung bestimmter Fragen wie Kammermitgliedschaft, Registerpflicht, Mindesthaftpflichtversicherungsschutz und Postulationsfähigkeit sinnvoll wäre.

Prof. Dr. Hans-Jürgen Hellwig, Frankfurt am Main Der Autor ist Rechtsanwalt und Notar a. D. Er ist Mitglied des Berufsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins. 2004 war er Präsident des Rates der Europäischen Anwaltschaften (CCBE) und bis Juni 2011 Vizepräsident des Deutschen Anwaltvereins. Der Autor liest seit über 15 Jahren Europäisches Gesellschaftsrecht an der Universität Heidelberg. Sie erreichen den Autor unter der E-Mail-Adresse [email protected].

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Aufsätze

Anwaltsrecht

Eine „moderne“ Entscheidung des BGH zu Anwaltssozietäten und Werbung Von der Klassik zur Moderne bei der Sozietät – und: Anerkennung der „Irreführung“ im Berufswerberecht* Rechtsanwalt Dr. Volker Ro¨mermann, Hamburg/Hannover

Die „echte“ Scheinsozietät bietet dem Mandanten Vorteile und ist daher zulässig. So lässt sich das Urteil des BGH vom 12. Juli 2012 (AnwBl 2012, 840, Oktober-Heft) zusammenfassen, in dessen Leitsatz sich die Schöpfung der „Außen(=Schein-)Sozietät“ findet. Das Urteil zum anwaltlichen Gesellschafts- und Werberecht erweist sich beim zweiten Hinsehen gleich unter mehreren Aspekten als wegweisend. Der Begriff der „Irreführung“ wird als Zentralbegriff des anwaltlichen Werberechts anstelle von „sachlich“ anerkannt. Tradierte Bilder einer „klassischen“ Anwaltssozietät werden der modernen Vielfalt gegenübergestellt.

I. Der Fall Die Sozietät Streitbörger – Speckmann mit Sitz in Hamm und Bielefeld war mit der zuständigen Rechtsanwaltskammer in Konflikt geraten. Auf ihrer Webseite www.streitboer ger.de heißt es u. a.: „Wir freuen uns über Ihr Interesse und möchten uns bei Ihnen vorstellen. Die Anwaltssozietät Streitbörger – Speckmann entstand aus einem Zusammenschluss der Wirtschaftskanzleien Streitbörger, Maaß, Stange & Gördes aus Bielefeld und Rinsche, Speckmann, Batereau & Schlüter aus Hamm. Wir sind heute eine der größten Anwaltskanzleien in Westfalen. Die Sozietät Streitbörger – Speckmann besteht aus über 60 Rechtsanwälten an ihren Stammsitzen in Bielefeld und Hamm sowie in Düsseldorf und Potsdam. Neun der Rechtsanwälte sind gleichzeitig Notare. Durch den Zusammenschluss sind wir zu einem der bedeutenden überregionalen Anbieter anwaltlicher Beratung gewachsen, indem wir die Stärken zweier namhafter westfälischer Kanzleien zum Nutzen unserer Mandanten gebündelt haben.“ Tatsächlich war jedenfalls zu Beginn der Auseinandersetzung kein Sozietätsvertrag unterschrieben und wirtschaftlich arbeiteten die Gründungssozietäten trotz gemeinsamen Außenauftritts im Wesentlichen unabhängig voneinander. Die Kammer sah darin einen Verstoß gegen die §§ 43, 43 b BRAO, 8 und 9 BORA und erteilte einen „belehrenden Hinweis“. Der AGH wies den dagegen gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung ab, denn Streitbörger – Speckmann spiegele eine einheitliche Anwaltssozietät vor, während es sich in Wirklichkeit um zwei eigenständige Sozietäten in einer Art Kooperation handele. Der Anwaltssenat des BGH gibt der Berufung der betroffenen Rechtsanwälte statt. Die Argumentation des Senats ist zum einen verfassungs-, zum anderen wettbewerbsrechtlicher Natur. Zu Beginn erinnert der BGH an die Berufsfreiheit aus Art. 12 GG

und resümiert, dass ein Verbot des Außenauftritts der „Sozietät“ jedenfalls nicht durch ein Erfordernis des Gemeinwohls gedeckt sei.

II. Sozietätsbegriff: Ohne Kontur Wirtschaftsprüfer sind die einzigen, die wissen, woran sie sind. In § 44 b WPO heißt es: „(1) Wirtschaftsprüfer dürfen ihren Beruf mit natürlichen und juristischen Personen sowie mit Personengesellschaften, die der Berufsaufsicht einer Berufskammer eines freien Berufes im Geltungsbereich dieses Gesetzes unterliegen und ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO haben, örtlich und überörtlich in Gesellschaften bürgerlichen Rechts (Sozietäten) gemeinsam ausüben. Mit Rechtsanwälten, die zugleich Notare sind, darf eine Sozietät nur bezogen auf die anwaltliche Berufsausübung eingegangen werden. ...“ Für die anderen Berufe, die klassisch „Sozietäten“ bildeten und dies auch durch die Wahl dieser Bezeichnung zum Ausdruck brachten – Rechtsanwälte und Steuerberater –, ist die „Sozietät“ gesetzlich nicht auf eine bestimmte Rechtsform festgelegt. Zwar fand sich der Begriff der „Sozietät“ seit der BRAO-Reform von 1994 und bis zur Aufhebung des relevanten Normteils im Jahre 2007 in § 59a Abs. 1 BRAO. Aber es war schon unter Geltung dieser Vorschrift umstritten, was darunter zu verstehen sein mochte. Ein Referentenentwurf 1 zum Anwalts-GmbH-Gesetz hatte im Jahre 1997 eine Legaldefinition vorgeschlagen, wonach eine „Sozietät“ den Oberbegriff für BGB-Gesellschaften und Partnerschaftsgesellschaften hätte bilden sollen; das wurde indes nicht Gesetz. Auch die anwaltliche Satzungsversammlung vermied eine Festlegung. Durch § 33 Abs. 1 BORA wird pragmatisch jede Rechtsform anwaltlicher Zusammenschlüsse dem Berufsrecht unterstellt. Die Literatur ist jedenfalls in dem Punkt einig, dass eine BGB-Gesellschaft unter den Sozietätsbegriff fällt.2 Die wohl herrschende Meinung geht im Übrigen davon aus, dass auch die Partnerschaft als Personengesellschaft hierzu zählt, jedoch nicht die Kapitalgesellschaften;3 andere fassen sämtliche Formen gemeinsamer Berufsausübung darunter.4 Der BGH stellt in seiner Entscheidung vom 12. Juli 2012 hierzu fest: „Der gesetzlich nicht definierte und seit der ... Änderung der grundlegenden Norm über die Zulässigkeit beruflicher Zusammenarbeit (= § 59 a BRAO) dort nicht mehr verwendete Begriff der ,Sozietät‘ hat seit einiger Zeit an Konturen verloren. ...“ Auch in dieser Sentenz vermeidet der BGH eine nähere begriffliche Einordnung.

III. „Klassische“ und moderne Sozietätsformen Die rechtswirksame Gründung einer aus mehreren örtlichen Sozietäten gebildeten doppelstöckigen Gesellschaft des bürgerlichen Rechts machte der AGH davon abhängig, dass die örtlichen Sozietäten ihre unternehmerische Selbständig-

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Besprechung von BGH, Urt. v. 12.7.2012 – AnwZ (Brfg) 37/11, AnwBl 2012, 840 (Oktober-Heft).

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Dazu Römermann, GmbHR 1997, 530 ff. Karsten Schmidt, NJW 2005, 2801. Römermann, in: Hartung/Römermann, Berufs- und Fachanwaltsordnung, 4. Aufl. 2008, § 59a BRAO Rdn. 4 f. Deckenbrock, in: Henssler/Streck, Handbuch Sozietätsrecht, 2. Aufl. 2011, M Rn. 5 m.w.N.

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keit aufgeben. Hierbei hat der AGH sich nach Ansicht des BGH „am Bild einer klassischen, von den gesetzlichen Vorschriften der §§ 706 ff. BGB geprägten Anwaltssozietät ausgerichtet. ... Er hat jedoch zu strenge Anforderungen an die Zulässigkeit einer gemeinsamen beruflichen Zusammenarbeit (§ 59 a BRAO) ... gestellt ... Denn er hat zum einen nicht bedacht, dass die §§ 706 ff. BGB weitgehend abdingbar sind und es daher vielfältige Erscheinungsformen zulässiger Gestaltungen einer als (Außen-)Gesellschaft des bürgerlichen Rechts geführten Anwaltssozietät gibt. Zum anderen hat er unberücksichtigt gelassen, dass sich auch außerhalb des Gesellschaftsrechts institutionalisierte Zusammenschlüsse von Rechtsanwälten entwickelt haben. So hat sich neben der Sozietät im eigentlichen Sinne zwischenzeitlich auch die vertraglich vereinbarte Außen- oder Scheinsozietät etabliert, bei der sich die beteiligten Anwälte darüber einigen, im Außenverhältnis als Scheinsozien aufzutreten und sich im Hinblick auf ihre persönliche Haftung so behandeln zu lassen, als ob sie Mitglieder einer vollwertigen Sozietät wären.“ Im vorliegenden Fall handele es sich „entweder eine Außengesellschaft des bürgerlichen Rechts mit atypisch gestalteter Binnenstruktur oder eine reine Außen(= Schein-)Sozietät“. Der AGH hatte eine bloße Kooperation angenommen; das lehnt der BGH ab. Bei der Kooperation nehme nämlich jeder Partner nur für sich ein Mandat an, bei der hier streitgegenständlichen Konstellation werde das Mandat aber stets durch die „Sozietät“ begründet. Damit geht eine gesamtschuldnerische Außenhaftung einher. Die örtlichen BGB-Gesellschaften seien aufgrund ihrer seit 2001 anerkannten5 Rechtsfähigkeit in der Lage, sich ihrerseits zu einer BGB-Gesellschaft zusammenzuschließen. Die auf dem Briefkopf verwendete Bezeichnung „Zusammenschluss“ sei „nicht irreführend im Sinne von § 43 b BRAO“. Denn die gewählte Bezeichnung sei weder nach dem allgemeinen Sprachgebrauch noch aus rechtlicher Sicht mit einer (als Gesellschaft des bürgerlichen Rechts geführten) Sozietät gleichzusetzen. Es handele sich hierbei nicht um einen Rechtsbegriff, sondern um eine nach allgemeinem Sprachverständnis weit zu verstehende Bezeichnung, die im vorliegenden Kontext nur zum Ausdruck bringe, dass sich bestimmte örtliche Sozietäten zu einer gemeinschaftlichen Tätigkeit verbunden hätten, jedoch keine Aussagen über die rechtliche Qualität einer solchen Verbindung treffe. Auch der gemeinsame Internetauftritt der beiden örtlichen Sozietäten begegne keinen rechtlichen Bedenken. Die darin enthaltenen Aussagen unter der Bezeichnung „Sozietät“ seien aber auch dann nicht irreführend und unzulässig, wenn es sich bei dem Zusammenschluss der örtlichen Sozietäten nur um eine Außensozietät und nicht um eine echte Sozietät handele. Haftungsrechtlich sei die Situation ebenfalls im Ergebnis identisch mit der „echten“ Sozietät. Mit der Haftung bei einer Scheinsozietät beschäftigt sich eingehend das BGH-Urteil vom 17. November 2011 (IX ZR 161/09).6 Eine Scheinsozietät ist danach rechtlich nicht existent und „kommt als Anspruchsgegnerin nicht in Betracht. Eine Bestimmung im Gesetz, welche die während des Bestehens einer Scheinsozietät entstandenen Ansprüche, die sich nur gegen einzelne Personen oder eine bereits vorhandene Gesellschaft richten können, auf eine später gegründete Gesellschaft überleitet, gibt es nicht. Soweit der Anschein einer Sozietät gesetzt wurde, haften die Scheingesellschafter für die Fehler des Einzelanwalts oder der wirklichen Gesellschafter ebenso, wie der Einzelanwalt oder die wirkliche Gesell886

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schaft und die wirklichen Gesellschafter für die Fehler von Scheingesellschaftern einzustehen haben.“ Eine Klage, die sich gegen eine in Wirklichkeit nicht existente (Schein-) Gesellschaft richtet, ist daher abzuweisen. Für den hieraus für den Kläger entstandenen Schaden einschließlich der Kosten des Rechtsstreits haftet aus Rechtsscheingründen allerdings – nach dem Rechtsgedanken, der auch in § 179 BGB seinen Ausdruck findet – jeder Scheingesellschafter. Mit seiner Entscheidung öffnet der BGH im Ergebnis das anwaltliche Gesellschaftsrecht für alle Arten von Zusammenschlüssen. Früher erbittert geführte Streitigkeiten – schon über die Frage, ob angestellte Rechtsanwälte unterschiedslos auf dem Briefbogen von Sozietäten geführt werden dürften – sind endgültig obsolet.7 Die gemeinsame Außenhaftung ist eine logische Folge des gemeinschaftlichen Außenauftritts. Das gilt allerdings nur, soweit sich der Rechtsverkehr ausschließlich an dem Außenauftritt orientiert. Steht ein öffentliches Register zur Verfügung – Handelsregister, Partnerschaftsregister –, dann gibt es kein Bedürfnis für Rechtsscheinerwägungen. Angestellte oder freie Mitarbeiter, die auf dem Briefbogen einer Partnerschaft geführt werden, ohne ihren internen Status zu kennzeichnen, haften daher entgegen einer verbreiteten Ansicht,8 die sich einem obiter dictum des OLG München9 anschließt, nicht als „Scheinpartner“.

IV. Mehrstöckige Gesellschaften Der Umstand, dass die streitgegenständliche überörtliche Sozietät ihrerseits aus örtlichen oder überörtlichen Sozietäten besteht, dass es sich also um eine doppelstöckige Gesellschaft handelt, wird vom BGH zwar erwähnt, aber zu Recht nicht weiter problematisiert. Dass Anwaltsgesellschaften von Anwaltsgesellschaften beherrscht werden, ist in der Tat unproblematisch. Wollte man es anders sehen, so müsste man auch die Zulässigkeit von Anstellungsverhältnissen zwischen Rechtsanwälten in Frage stellen, was ersichtlich nicht ernsthaft vertreten wird.10 Die Selbstverständlichkeit, mit welcher der Anwaltssenat zutreffend über die Mehrstöckigkeit hinweggeht, steht in einem unübersehbaren Kontrast zu Relikten im anwaltlichen Berufsrecht, die dem partiell noch entgegenstehen. Das gilt zunächst für die Vorschrift des § 59 c Abs. 2 BRAO: „Die Beteiligung von Rechtsanwaltsgesellschaften an Zusammenschlüssen zur gemeinschaftlichen Berufsausübung ist unzulässig“. Die Norm bezieht sich entgegen der äußerst unglücklichen Begriffswahl „Rechtsanwaltsgesellschaft“ nicht auf jegliche Gesellschaften von Rechtsanwälten, sondern nur auf die Anwalts-GmbH (vgl. zur „Rechtsanwaltsgesellschaft“ § 59 k BRAO). Einen vernünftigen, gar durch Gemeinwohlbelange gedeckten Zweck verfolgt sie nicht. Zweck sollte nach der Gesetzesbegründung sein, die Gefahr von Abhängigkeiten und Einflussnahmen zu verhindern.11 Dabei haben die Gesetzesverfasser aber offenbar „umgekehrt gedacht“.

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BGH, DB 2001, 423 m. Anm. Römermann. BGH, AnwBl 2012, 281. Eingehend Römermann, in: Hartung/Römermann, § 8 BerufsO Rdn. 28 ff. So etwa Eigner, Die Beschränkung der persönlichen Gesellschafterhaftung bei Gesellschaft bürgerlichen Rechts und Partnerschaft, 2004, S. 359. 9 OLG München, NJW-RR 2001, 1358; dazu EWiR 2002, 129 (Posegga). 10 Vgl. allerdings – abwegig – Wolf, in: Gaier/Wolf/Göcken, § 2 BRAO Rdn. 50 ff. 11 Begr. des RegE, BR-Drucks. 1002/97, S. 14.

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Abhängig wird eine Gesellschaft nämlich nicht dadurch, dass sie sich an anderen Unternehmen beteiligt, sondern nur dadurch, dass sich andere Unternehmen an ihr beteiligen. Das von vorneherein sinnlose Beteiligungsverbot ist verfassungswidrig.12 Auch die Anwalts-GmbH kann „Mutter“ eines Konzerns sein. Dass sie als „Tochter“ in Betracht kommt, ist ohnehin anerkannt: BGB-Gesellschaften von Rechtsanwälten dürfen Gesellschafter einer Anwalts-GmbH sein.13 Das ist oftmals sinnvoll, zumal es die Übertragung von Anteilen erleichtert und der von manchem als allzu groß empfundenen Transparenz des Handelsregisters etwas entgegenwirkt. Auch in einer „berufsrechtsnahen“ Norm, nämlich § 1 Abs. 1 Satz 3 PartGG, wird ein partielles Verbot der Mehrstöckigkeit statuiert. Mitglieder einer Partnerschaftsgesellschaft können danach lediglich natürliche Personen sein. Dies soll ausweislich der dortigen Gesetzesbegründung „am ehesten dem Leitbild der auf ein persönliches Vertrauensverhältnis zum Auftraggeber ausgerichteten freiberuflichen Berufsausübung“ entsprechen.14 Diese Regelung ist „überflüssig und nur aus der Vermischung von Gesellschafts- und Standesrecht erklärlich“.15 Obwohl im Berufsrecht einiger Berufe schon 1994 – bei Verabschiedung des PartGG – die Kapitalgesellschaft als möglich angesehen wurde, versuchte man in dem eigentlich eher gesellschaftsrechtlich konzipierten Gesetz, ein tradiertes, in Wirklichkeit aber schon überholtes Berufsbild zu zementieren. Es wäre ein Gewinn, wenn diese Einschränkung im Zuge der anstehenden Änderungen des PartGG entfallen könnte.

V. Gesellschafts-/Werberecht im anwaltlichen Berufsrecht Auch einige Normen der Berufsordnung verdienten es, einer inhaltlichen Revision unterzogen zu werden. Das gilt unter anderem für die unglücklichen Werbevorschriften. Unter der Überschrift „Kundgabe gemeinschaftlicher Berufsausübung und anderer beruflicher Zusammenarbeit“ regelt § 8 BORA nach heutigem Stand: „Auf eine Verbindung zur gemeinschaftlichen Berufsausübung darf nur hingewiesen werden, wenn sie in Sozietät oder in sonstiger Weise mit den in § 59 a BRAO genannten Berufsträgern erfolgt. Die Kundgabe jeder anderen Form der beruflichen Zusammenarbeit ist zulässig, sofern nicht der Eindruck einer gemeinschaftlichen Berufsausübung erweckt wird.“16 Bei näherem Hinsehen handelt es sich – wie bei Vorschriften der Berufsordnung nicht selten – um eine systematisch wenig gelungene Vermischung unterschiedlicher Sachverhalte. Wer eine Sozietät gründen und betreiben darf, kann an einer Nennung des zulässigen Sozietätsnamens schließlich nicht gehindert werden. Richtiger Ausgangspunkt der berufsrechtlichen Prüfung ist hier also die Rechtmäßigkeit der Sozietät. Die Namensnennung folgt der gesellschaftsrechtlichen Zulässigkeit, sie ist mit ihr untrennbar verknüpft. Die „Kundgabe gemeinschaftlicher Berufsausübung“ ist also, auch ohne dass es eines § 8 BORA bedürfte, zulässig, wenn die gemeinschaftliche Berufsausübung es ist. Gleiches gilt für den Rest des § 8 BORA. Wenn es dort heißt: „Auf eine Verbindung zur gemeinschaftlichen Berufsausübung darf nur hingewiesen werden, wenn sie in Sozietät oder in sonstiger Weise mit den in § 59 a BRAO genannten Berufsträgern erfolgt“, dann will der Hinweis auf § 59 a

BRAO offenbar aussagen, dass nur zulässige Zusammenschlüsse zur gemeinsamen Berufsausübung nach außen treten dürfen. Das ist indes eine bare Selbstverständlichkeit. Auch hier folgt die Zulässigkeit des Außenauftritts aus der Zulässigkeit der jeweiligen Art der Zusammenarbeit. Spiegelbildlich wird das in dem letzten Satz der Vorschrift noch einmal zum Ausdruck gebracht, wo es heißt: „Die Kundgabe jeder anderen Form der beruflichen Zusammenarbeit ist zulässig, sofern nicht der Eindruck einer gemeinschaftlichen Berufsausübung erweckt wird.“ Gemeint ist vermutlich: Der Außenauftritt einer Nichtsozietät ist zulässig, wenn er als Nichtsozietät erfolgt. Die Vorschrift des § 9 BORA lautet: „Eine Kurzbezeichnung muss einheitlich geführt werden.“ Auch hier hatte sich die Satzungsversammlung in ihren ersten, Jahre andauernden Bemühungen, sich in ihre Rolle als Satzungsgeber hineinzufinden, zunächst in umständlicheren Formulierungen versucht. Sie wollte bis 2011 einer Sozietät explizit gestatteten, eine Kurzbezeichnung zu führen. Inzwischen hat sich in der Satzungsversammlung offenbar jedenfalls die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine derartige „Freigabe“ nicht erforderlich ist, wenn es sich um einen zulässigen Zusammenschluss handelt.17 Dass insbesondere eine überörtliche Sozietät am Markt mit einer Bezeichnung auftreten muss und nicht mit verschiedenen Firmierungen „jonglieren“ kann, entsprach schon in der Zeit vor Inkrafttreten der Berufsordnung einer wettbewerbsrechtlichen Vorgabe.18 Sieht man bei den Normen über den Außenauftritt anwaltlicher Zusammenschlüsse in den §§ 8 und 9 BORA näher hin, lässt sich die Einsicht kaum vermeiden, dass ein Teil der Regelungen völlig überflüssig ist und nur gesellschaftsrechtliche Selbstverständlichkeiten enthält, während es sich im Übrigen um schlichtes Wettbewerbsrecht handelt. Das Publikum darf nicht irregeführt werden, auch nicht im Rahmen anwaltlicher Zusammenarbeit. Dieser Gedanke durchzieht das gesamte anwaltliche Werberecht, soweit es einen verfassungskonformen Kern hat.19

VI. Irreführung als Zentralbegriff anwaltlichen Werberechts Leitsatz 1 der BGH-Entscheidung vom 12. Juli 2012 lautet: „Die Verwendung der Bezeichnung Sozietät durch einen Zusammenschluss von Rechtsanwälten, die keine Sozietät in der Form einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts bilden, ist keine unzulässige Irreführung der Rechtsuchenden im Sinne des § 43 b BRAO, wenn die Beauftragung der zusammengeschlossenen Rechtsanwälte dem Rechtsverkehr im

12 Römermann, in: Hartung/Römermann, § 59c BRAO Rdn. 4 ff. 13 Römermann, in: Hartung/Römermann, § 59e BRAO Rdn. 4 ff.; früher abw. Feuerich/ Braun, BRAO, 5. Aufl., § 59e Rdn. 1. 14 Begr. des RegE PartGG, BT-Drucks. 12/6152, S. 9; vgl. auch Bayer/Imberger, DZWir 1993, 309, 311. 15 Karsten Schmidt, ZIP 1993, 633, 639; ders., NJW 1995, 1, 3. 16 Der BGH stellt in seiner Entscheidung noch auf den früheren Normtext ab und kommt zu der dogmatisch überraschenden, rechtspolitisch aber vernünftigen Einschätzung, die Formulierung „in sonstiger Weise (Anstellungsverhältnis, freie Mitarbeit)“ sei nicht – wie sonst allenthalben – als Legaldifinition der „sonstigen Weise“, sondern als beispielhafte, nicht enumerative Aufzählung zu verstehen. Da das im Ergebnis durchaus wünschenswert ist, soll auf die Rechtsfrage an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden (näher: Römermann, in: Hartung/Römermann, § 8 BerufsO Rdn. 61 ff.). 17 Vgl. bereits Römermann, in: Hartung/Römermann, § 9 BerufsO Rdn. 16, 23. 18 OLG Hamm, NJW 1994, 868. 19 Näher Römermann, in: Hartung/Römermann, Vor § 6 Rdn. 134 ff.

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Wesentlichen die gleichen Vorteile bietet wie die Mandatierung einer Anwaltssozietät“. „Im Sinne des“ ist die Bezugnahme auf einen Begriff, der in der zitierten Norm verwendet wird, und besagt, dass der vorliegende Sachverhalt diese Norm ausfüllt. Der Senat nimmt hier Bezug auf die „unzulässige Irreführung der Rechtsuchenden im Sinne des § 43 b BRAO“, so dass der Leser versucht ist, den dortigen Text zu konsultieren. Er lautet: „Werbung ist dem Rechtsanwalt nur erlaubt, soweit sie über die berufliche Tätigkeit in Form und Inhalt sachlich unterrichtet und nicht auf die Erteilung eines Auftrags im Einzelfall gerichtet ist.“ Von einer „unzulässigen Irreführung“ ist im Wortlaut der Vorschrift überraschenderweise gar keine Rede. Kern des anwaltlichen Werberechts, dessen wesentliche Normen die §§ 43 b BRAO, 6 Abs. 1 BORA sind, ist seit jeher der Begriff der „Sachlichkeit“. „Sachliche“ Werbung ist danach erlaubt, „unsachliche“ nicht. Was „sachlich“ sein könnte, darüber haben sich zahlreiche Richter und Rechtsanwälte seit Inkrafttreten des § 43 b BRAO den Kopf zerbrochen. Es wurde damit operiert, den Sachlichkeitsbegriff durch andere, nicht minder undefinierbare Worte wie „Reklame“, „marktschreierisch“ o. ä. abzugrenzen oder verständlich zu machen. Genützt hat dies alles nichts. Nach jahrelanger Diskussion könnte sich das Verständnis durchgesetzt haben, dass „sachlich“ nichts anderes bedeutet als „nicht irreführend“, dass also das Werbe- und das Wettbewerbsrecht insoweit gleich laufen.20 Durch seine ungewöhnliche Formulierung des Leitsatzes 1 dürfte der BGH nun in seiner Entscheidung vom 12. Juli 2012 zum Ausdruck gebracht haben, dass auch er von dieser Gleichsetzung ausgeht. Dass der Anwaltssenat die eigentlich nahe liegende Erwähnung des UWG an dieser Stelle unterlässt – die Irreführung ist ein feststehender Begriff des § 5 UWG –, verwundert. Hintergrund dieser Unterlassung könnte die Kompetenzverteilung innerhalb des BGH sein; für wettbewerbsrechtliche Fragen ist der I. Zivilsenat zuständig, der sich im Jahre 2001 zu einem freiheitsfreundlichen Verständnis des anwaltlichen Werberechts bekannt und mit seiner früheren, restriktiven Linie gebrochen hatte.21

VII. Großzügige Auslegung durch den Anwaltssenat Vorsichtig einschränkend heißt es in der BGH-Entscheidung: „jedenfalls in den Fällen, in denen wie hier unterstellt ein gemeinsames berufliches Auftreten der ,Scheinsozien‘ durch entsprechende organisatorische Vorkehrungen gewährleistet ist (gemeinsame Annahme von Mandaten; Verweisung der Mandanten an den für das jeweilige Fachgebiet zuständigen Spezialisten; gesamtschuldnerische Haftung der ,Scheinsozien‘), ist eine rechtlich bedeutsame Irreführung der Rechtsuchenden durch den von ihnen erweckten Anschein einer Sozietät auszuschließen.“ Die gemeinsame Annahme geschieht stillschweigend durch den gemeinsamen Außenauftritt der Rechtsanwälte; ihre Haftung ergibt sich aus Rechtsschein. An die „Verweisung an den Spezialisten“ sind in der Praxis keine besonderen Anforderungen zu stellen; auch in vielen „echten“ Sozietäten gibt es kein funktio-

nierendes, stringentes Verweisungssystem und das hängt nicht zuletzt mit dem jeweiligen Gewinnverteilungssystem zusammen. Da es ohnehin beliebig, unkontrollierbar und bei „echten“ Sozietäten nicht durchgängig anzutreffen ist, sollte auf das Merkmal der „Verweisung an Spezialisten“ besser verzichtet werden. Bei einer strengen UWG-Betrachtung hätte die Entscheidung im konkreten Fall auch anders ausgehen können; der Anwaltssenat des BGH erweist sich hier als auffallend milde und großzügig. In den Urteilsgründen heißt es: „Auch wenn damit die in dem beanstandeten Internetauftritt angegebene Anzahl der zusammengeschlossenen Rechtsanwälte eventuell nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprach, ist die Differenz doch nicht so signifikant, dass damit die „Sozietät“ größenmäßig in eine niedrigere Kategorie einzustufen wäre. Die anpreisenden Werbeaussagen über die Bedeutung des überörtlichen Zusammenschlusses und die wirtschaftliche Position der „Sozietät“ auf dem landesweiten „Anwaltsmarkt“ sind möglicherweise ebenfalls übertrieben. Dass sie in ihrem wesentlichen Aussagegehalt falsch sind, hat die Beklagte aber nicht dargelegt. Insbesondere hat sie keine Angaben zur Größe und wirtschaftlichen Bedeutung der übrigen in Westfalen ansässigen Kanzleien gemacht.“ Der BGH betrachtet die „leichten“ Abweichungen von Schein und Sein der betroffenen Sozietät im Ergebnis nicht als relevante Irreführung und hebt die anwaltsrechtliche Maßnahme der Rechtsanwaltskammer auf.

VIII. Zusammenfassung Der Anwaltssenat zeigt sich in beiden Richtungen liberal: 9 Zum Gesellschaftsrecht: Nicht nur die „klassische“ Anwaltssozietät findet die Billigung des BGH, sondern auch „moderne“ Formen anwaltlicher Zusammenschlüsse einschließlich explizit der Schein-/Außensozietät. Wichtig sind dem BGH insoweit insbesondere die gemeinsame Mandatsannahme und die gemeinschaftliche Haftung. 9 Zum Werberecht: Wohl endgültig ist an die Stelle des schillernden, undefinierbaren Begriffs „sachlich“ die Irreführung, wie sie aus dem UWG bekannt ist, getreten. Der BGH verliert sich insoweit nicht in strenger Haarspalterei, sondern legt einen wirtschaftlich vernünftigen, großzügigen Maßstab an.

Dr. Volker Römermann, Hamburg/Hannove Der Autor ist Rechtsanwalt. Er ist Fachanwalt für Handelsund Gesellschaftsrecht, Fachanwalt für Insolvenzrecht, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Lehrbeauftragter der HumboldtUniversität zu Berlin und Vorstand der Römermann Rechtsanwälte AG Sie erreichen den Autor unter der E-Mail-Adresse [email protected].

20 So etwa Römermann, in: Hartung/Römermann, § 6 Rdn. 70 ff. – seit der 1. Auflage 1997. 21 BGH, AnwBl 2001, 567 = EWiR § 43b BRAO 1/01, 669 (Römermann) – Anwaltswerbung II.

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Aufsätze

Anwaltsrecht

Die anwaltliche Beratung der Aktiengesellschaft Der Anwalt im Spannungsfeld zwischen Vorstand und Aufsichtsrat* Rechtsanwalt Dr. Joachim Freiherr von Falkenhausen, LL. M. (Berkeley) Hamburg

Der „Herr“ des Anwaltsgeheimnisses ist der Mandant. Das deutsche Recht ist in diesem Punkt – anders als andere anwaltliche Berufsrechte – eindeutig. Der Anwalt ist dem Mandanten zur Verschwiegenheit verpflichtet – und ohne Entbindung durch den Mandanten bleibt es dabei. Soweit so klar. Doch was passiert, wenn der Mandant eine Aktiengesellschaft ist? Ist der Anwalt der Gesellschaft als solches, dem Vorstand, dem Aufsichtsrat gegenüber verpflichtet? Was ist in der Krise mit dem Insolvenzverwalter? Kann es aus Gründen der Corporate Governance Informationspflichten gegenüber Aufsichtsbehörden geben? Der Autor untersucht das Zusammenspiel von Gesellschafts- und Anwaltsrecht bei der Beratung von Aktiengesellschaften, insbesondere in Krisenzeiten. Er zeigt für die Praxis Wege auf, mit möglichen Kollisionslagen umzugehen. Sein Fazit: Eine Durchbrechung des Anwaltsgeheimnisses durch Gemeinwohlbelange kennt das deutsche Recht – von krassen Ausnahmen abgesehen – nicht.

I. Einleitung Die anwaltliche Beratung der Aktiengesellschaft wirft auf den ersten Blick keine wesentlichen Rechtsfragen auf. Aus der Aufgabenverteilung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat ergeben sich jedoch einige Probleme, die bisher kaum erörtert worden sind, in der täglichen Praxis aber gelöst werden müssen. Das mögen folgende Beispielsfälle verdeutlichen: 9 Der anwaltliche Berater der Aktiengesellschaft erfährt im Rahmen seines Mandats, dass einzelne oder alle Vorstandsmitglieder sich erhebliche Pflichtverletzungen haben zuschulde kommen lassen. Mit dem Aufsichtsrat hatte er bisher keinen Kontakt. Was tut er? 9 Der Anwalt berät Vorstand und Aufsichtsrat in einer heiklen Angelegenheit. Nach einem Wechsel in der Zusammensetzung der Organe bitten ihn Vorstand und Aufsichtsrat um Auskunft über den Inhalt seiner Beratung. Mit wem darf er sprechen? Die Staatsanwaltschaft ermittelt und will ihn als Zeugen hören. Wer entbindet ihn von der Schweigepflicht?1 Vieles, was im Folgenden für die Aktiengesellschaft gesagt wird, gilt auch für die GmbH, insbesondere wenn sie – nach dem Mitbestimmungsrecht oder aufgrund einer Satzungsbestimmung – einen Aufsichtsrat mit der Kompetenz hat, die Geschäftsführung zu bestellen und abzuberufen. Wenn es keinen Aufsichtsrat gibt oder ihm diese PersonalDie anwaltliche Beratung der Aktiengesellschaft, Falkenhausen

kompetenz fehlt, findet sich der Anwalt im Spannungsfeld zwischen Geschäftsführung und Gesellschafterversammlung und hat dort mit ähnlichen Fragen umzugehen.

II. Wer ist Mandant? Die Frage klingt banal; sie ist eigentlich auch leicht zu beantworten. Eine genaue Abgrenzung ist aber nötig, um zu klaren Lösungen bei den Themen Schweigepflicht2, Entbindung von der Schweigepflicht3 und Berichtspflicht4 zu kommen. 1. Aktiengesellschaft In aller Regel besteht das Mandatsverhältnis zwischen der Aktiengesellschaft und dem Anwalt. Der Geschäftsbesorgungsvertrag wird seitens der Aktiengesellschaft durch den Vorstand oder Bevollmächtigte geschlossen5; in der Praxis wird das meist die Rechtsabteilung sein. Der so mandatierte Anwalt vertritt nur die Gesellschaft, nicht aber die Mitglieder des Vorstandes oder andere Mitarbeiter, wenn dieses nicht – unter Beachtung der Regeln zu Interessenkonflikten – vereinbart ist. Auch das sollte selbstverständlich sein6; dennoch gehen einige Gerichte7 und viele Literaturstimmen8 davon aus, dass einzelne Vorstandsmitglieder in das Mandatsverhältnis einbezogen sein können, ohne dass diskutiert wird, auf welche Weise das Mandat auf sie erstreckt wird. 2. Aufsichtsrat Auch der Aufsichtsrat kann sich im Rahmen seiner Aufgaben rechtlich beraten lassen. Darüber gibt es im Grundsatz keinen Streit. Mandant ist auch dann die Gesellschaft. Unstreitig scheint zu sein, dass das Mandat durch Aufsichtsratbeschluss gemäß § 108 AktG oder Beschluss eines Ausschusses erteilt werden kann9; üblich ist allerdings, dass der Aufsichtsrat die Mandatierung – durch Vermittlung des Vorstandes – der Rechtsabteilung überlässt. Bei der Mandatierung vertritt der Aufsichtsrat die Gesellschaft; der Honoraranspruch des Rechtsanwalts richtet sich gegen die Aktiengesellschaft. Auch hier berät der Anwalt das Organ der Gesellschaft als solches, nicht einzelne Organmitglieder.10

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Nachdruck eines Beitrags zum Liber amicorum für Martin Winter (Verlag Dr. Otto Schmidt). Mit ihren Beiträgen zum Gesellschaftsrecht in diesem Werk erinnern Wissenschaftler, Richter und Anwälte an den verstorbenen Dr. Martin Winter, Anwalt bei Schilling, Zutt & Anschütz in Mannheim. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags und der Herausgeber. Dr. Sebastian Biedenkopf (Conergy AG) danke ich für viele Diskussionen, Julia Heydel für tatkräftige Unterstützung bei der Recherche und Analyse.

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Vgl. AG Bonn, NJW 2010, 1390. Siehe unten Abschnitte III. und V. Siehe unten Abschnitt V. Siehe unten Abschnitte III. und IV. § 78 Abs. 1 AktG; siehe hierzu auch Passarge, BB 2010, 591. Siehe hierzu auch LG Hamburg, NJW 2011, 942, 943: Verneint wird im Rahmen des § 97 StPO ein „mandatsähnliches Vertrauensverhältnis“ zum Vorstand. 7 Vor allem im Rahmen der Frage der Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht: siehe OLG Schleswig, NJW 1981, 294; OLG Koblenz, NStZ 1985, 426, 427; aber auch AG Bonn, NJW 2010, 1390. 8 Vgl. Krause, in FS Dahs, 2005, 349, 366ff.; Huber, in: Beck’scher Online-Kommentar, Stand: 15.1.2011, § 53 StPO Rn. 40; Gülzow, NJW 1981, 265, 268 (differenzieren, ob dem Organ Straftaten zu Lasten der Gesellschaft vorgeworfen werden); Senge, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Auflage 2008, § 53 Rn. 47; MeyerGoßner, Strafprozessordnung, 2007, § 53 Rn. 46. 9 Siehe in diesem Rahmen zu § 112 AktG Habersack, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Auflage 2008, § 112 Rn 21. 10 So auch LG Hamburg, NJW 2011, 942, 943.

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III. Wem schuldet der Anwalt Verschwiegenheit? 1. Aktiengesellschaft Der Anwalt hat die ihm anvertrauten Informationen vertraulich zu behandeln (§ 43 a Abs. 2 BRAO); Verstöße gegen diese Pflicht werden strafrechtlich gemäß § 203 Abs. 1 Ziff. 3 StGB geahndet. Prozessual wird die anwaltliche Verschwiegenheit durch sein Zeugnisverweigerungsrecht (§§ 383 Abs. 1 Ziff. 6 ZPO, 53 Abs. 1 Ziff. 3 StPO, 98 VwGO etc.) flankiert; auf sein Zeugnisverweigerungsrecht kann sich der Anwalt allerdings nicht berufen, wenn ihn sein Mandant von der Verschwiegenheitspflicht entbunden hat. Die Frage, wer ihn entbinden kann, wird später zu diskutieren sein; zunächst zu betrachten ist die logisch vorrangige Frage, wem der Anwalt Verschwiegenheit schuldet, also an wen er berichtet und wem gegenüber er schweigen muss. Wenn der Rechtsanwalt die Aktiengesellschaft (außerhalb der Beratung des Aufsichtsrates) vertritt, bestimmt der Vorstand, wem er Auskunft zu geben hat. Angestellten der Gesellschaft gegenüber ist er zur Verschwiegenheit verpflichtet, es sei denn, dass der Vorstand ihn ermächtigt hat, mit ihnen zu sprechen, zum Beispiel indem er ihnen die Erteilung und Durchführung des Mandats überlassen hat. 2. Auskunftspflicht gegenüber Vorstand? Das gilt auch, wenn sich die personelle Zusammensetzung des Vorstandes ändert. Die Gesellschaft wird stets durch den gegenwärtigen Vorstand vertreten; dieser kann sich vom Anwalt berichten lassen, und zwar auch dann, wenn dem bisherige Vorstandsmitglieder widersprechen. Gleiches gilt in der Insolvenz der Gesellschaft; der Anwalt schuldet dem Insolvenzverwalter Auskunft, auch wenn die Vorstandsmitglieder nicht einverstanden sind.11 Eine Ausnahme macht der BGH in seiner Grundsatzentscheidung hierzu nur für den Fall, dass es eine besondere Vertrauensbeziehung zwischen dem Anwalt und einem einzelnen Organmitglied gegeben hat, die individuell begründet worden ist, zum Beispiel indem das Organmitglied den Anwalt ausdrücklich um eine persönliche Beratung gebeten hat.12 Allerdings stellt der BGH strenge Anforderungen, um diese Fälle vom Normalfall abzugrenzen, in dem die Beziehung zu dem Organmitglied lediglich ein Reflex des Mandatsverhältnisses mit der juristischen Person ist.13 Er weist dabei insbesondere auf die Gefahr eines Interessenkonfliktes hin.14 In der Tat ist hier Vorsicht geboten. Zwar mag es situationsbedingt erwünscht sein, dem Vorstand nach einem Personalwechsel und insbesondere einem Insolvenzverwalter keine Auskunft geben zu müssen. Ein vorsichtig handelnder Anwalt wird jedoch bei der Begründung des Mandatsverhältnisses großen Wert darauf legen, klarzustellen, dass nur die Gesellschaft sein Mandant ist, nicht aber ein einzelnes Mitglied des Vorstandes. Gerade in schwierigen Beratungsmandaten ist häufig die persönliche Position von Vorstandsmitgliedern berührt, und oft steht eine potentielle Haftung von Vorstandsmitgliedern zur Debatte. Dann drohen die Interessen der Gesellschaft und des einzelnen Vorstandsmitgliedes zu divergieren; in diesem Fall darf der Anwalt nicht neben dem Mandat für die Gesellschaft ein Mandat eines Organmitglieds führen. Wenn er das Mandat angenommen hat, als die Beratung noch unproblematisch erschien, und sich der Interessenkonflikt später herausstellt, ist er nach § 3 Abs. 4 BORA verpflichtet, sowohl das Mandat für die Gesellschaft wie auch das Mandat für das Vorstandsmitglied niederzule890

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gen. Zudem wäre in einer solchen Konstellation der Anwalt schon bei Mandatsbeginn verpflichtet, die Aktiengesellschaft und das Vorstandsmitglied auf die Probleme hinzuweisen, die sich aus der doppelten Mandatsbeziehung ergeben, denn diese Probleme hindern ihn daran, das Mandat für beide seine Mandanten ohne Rücksichtnahme auf den jeweils anderen zu führen.15 Insbesondere muss er der Gesellschaft gegenüber klarstellen, dass er der Gesellschaft nach Ausscheiden seines anderen Mandanten, des Vorstandsmitglieds, aus dem Vorstandsamt ohne dessen Zustimmung keine Auskunft geben kann; das wird der Vorstand kaum akzeptieren können, ohne seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft zu verletzen. Schließlich muss dem Anwalt auch aus eigenem Interesse daran gelegen sein, dass klar ist, wem er seine Beratung schuldet. Wenn er Mandatspflichten gegenüber Vorstandsmitgliedern übernimmt, schuldet er ihnen, wenn nicht etwas ganz Ungewöhnliches vereinbart ist, eine umfassende sachkundige Beratung und haftet bei mangelhafter Erfüllung. Fälle, in denen der Anwalt neben dem Mandat der Gesellschaft auch ein Mandat eines Vorstandsmitglieds führt, werden daher extrem selten sein. In allen anderen Fällen berichtet der Anwalt an den neuen Vorstand oder den Insolvenzverwalter; ihnen gegenüber kann er sich nicht auf seine Schweigepflicht berufen. 3. Auskunftspflicht gegenüber Aufsichtsrat? Der Aufsichtsrat vertritt die Aktiengesellschaft grundsätzlich nicht gegenüber Dritten und deswegen auch nicht gegenüber dem beratenden Anwalt.16 Deswegen ist der Anwalt auch gegenüber dem Aufsichtsrat schweigepflichtig.17 Aber gilt das auch in Angelegenheiten, die in die Zuständigkeit des Aufsichtsrates fallen? Muss nicht der Anwalt auch an den Aufsichtsrat – jedenfalls auf Anforderung – berichten, soweit die Überwachungsaufgaben des Aufsichtsrates reichen? Relevant und brisant ist die Frage insbesondere im Bereich der Personalkompetenz, wenn zum Beispiel der Aufsichtsrat Pflichtverstöße des Vorstandes untersucht und den Anwalt befragen will, der die Gesellschaft beraten hat. Aus der Sicht des Anwaltsrechts scheint die Frage klar zu beantworten zu sein: Der Rechtsanwalt hat sein Mandatsverhältnis mit der Gesellschaft, vertreten durch den Vorstand, abgeschlossen, und nur der Gesellschaft, die ihm gegenüber durch den Vorstand vertreten wird, schuldet er Auskunft. Aktienrechtlich ist es schwieriger. Zur Personalkompetenz des Aufsichtsrates gehört die Vertretung der Gesellschaft gegenüber dem Vorstand gemäß § 112 AktG. In diesem Bereich hat der Aufsichtsrat eine Annexzuständigkeit für erforderliche Hilfsgeschäfte.18 Im Sinne einer „effektuie-

11 BGHZ 109, 260 = NJW 1990, 510, 512. 12 BGHZ 109, 260 = NJW 1990, 510, 512; in einem solchen Fall hätte der Anwalt mehrere Auftraggeber, die nur gemeinsam ihr Einverständnis erklären können: Eylmann, in: Henssler/Prütting, Bundesrechtsanwaltsordnung, 2. Auflage 2004, § 43a Rn. 50. 13 BGHZ 109, 260 = NJW 1990, 510, 512. 14 BGHZ 109, 260 = NJW 1990, 510, 512. 15 Vgl. BGH NJW 2008, 1307, 1308 zur Hinweispflicht des Anwalts, der häufig vom Gegner mandatiert wird. 16 Anders ist es natürlich dann, wenn der Aufsichtsrat im Rahmen seiner Kompetenzen anwaltlich beraten lässt, siehe oben Abschnitt II. 2. 17 Dies gilt natürlich nur solange, wie der Vorstand dem Anwalt nicht die Befugnis erteilt, mit dem Aufsichtsrat zu sprechen. 18 Vgl. Fleischer/Wedemann, GmbHR 2010, 449, 451.

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renden Kompetenzauslegung“19 ist der Aufsichtsrat zu den Tätigkeiten befugt und insoweit vertretungsberechtigt, die zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich sind. Aber gehört dazu auch die Einholung von Informationen direkt von Vertragspartnern der Gesellschaft? Jedenfalls dort, wo der Vertragspartner Anwalt ist und es um Informationen geht, die der Verschwiegenheit unterliegen, muss die Annexzuständigkeit des Aufsichtsrat enden. Dadurch wird der Aufsichtsrat nicht recht- und machtlos. Er kann die entsprechenden Informationen beim Vorstand einzuholen; dieser ist ihm zum Bericht verpflichtet. Zur Berichterstattung gehört, dass der Vorstand – wenn vom Aufsichtsrat verlangt – die Informationen beim Anwalt abfragt und sie dem Aufsichtsrat weitergibt. In aller Regel wird der Vorstand in solchen Fällen den Anwalt bitten, dem Aufsichtsrat direkt Auskunft zu erteilen, und ihn damit insoweit von seiner Schweigepflicht befreien. Dem entspricht, dass der Aufsichtsrat im Grundsatz nicht berechtigt ist, von sich aus Mitarbeiter der Gesellschaft zu befragen oder sich auf andere Weise von ihnen Informationen zu beschaffen.20 Allerdings nimmt die Literatur an, dass der Aufsichtsrat in begründeten Einzelfällen, insbesondere bei groben Pflichtverletzungen des Vorstandes, auch am Vorstand vorbei direkt auf Mitarbeiter zugreifen kann.21 Soweit ersichtlich wird jedoch nicht vertreten, dass er außerhalb der Gesellschaft von sich aus Vertragspartner ansprechen darf; soweit sollte seine Zuständigkeit nicht reichen.22 Es bleibt daher dabei, dass der Anwalt dem Aufsichtsrat nicht auskunftspflichtig und auch nicht zur Auskunft berechtigt ist, wenn er nicht vom Aufsichtsrat selbst mandatiert worden ist.23

IV. Der Störfall Gilt alles das auch, wenn der Anwalt bemerkt, dass der Vorstand, an den er berichtet, sich grober Pflichtwidrigkeiten schuldig gemacht hat? Wenn der Anwalt zum Beispiel Kenntnis von Straftaten des Vorstands erlangt und weiß (oder davon ausgehen muss), dass der Aufsichtsrat nicht informiert ist, kommt er in eine schwierige Position; eine Lösung, die in allen Fällen tragfähig ist, wird es nicht geben. 1. Pflichtverletzungen des Vorstands Berufsrechtlich (§ 11 Abs. 1 BORA) wie auch aus dem Mandatsvertrag (§§ 675, 666 BGB) ist der Anwalt verpflichtet, seinem Mandanten unverzüglich über alles zu berichten, was er im Rahmen des Mandates erfährt und was für den Mandanten von Bedeutung ist. Er hat Schädigungen des Mandanten zu vermeiden24 und ihn auf vermeidbare Nachteile hinzuweisen.25 Dazu gehören auch Informationen über Pflichtverletzungen, die der Vorstand begangen hat. Fraglich kann also nur sein, wem der Anwalt zu berichten hat. 2. Information des Aufsichtsrats unmittelbar? Der Anwalt schuldet die Informationen seinem Vertragspartner, also dem Mandanten. Das ist die Aktiengesellschaft, die durch den Vorstand oder einen sonstigen Bevollmächtigten, zum Beispiel einen Mitarbeiter der Rechtsabteilung, vertreten wird. Der Anwalt kann sich jedoch nicht damit begnügen, in Krisenfällen brisante Informationen seinem Ansprechpartner mitzuteilen. Vielmehr gehört es auch zu seiner Pflicht, den Mandanten umfassend zu informieren und dadurch Die anwaltliche Beratung der Aktiengesellschaft, Falkenhausen

Schäden von ihm abzuwenden, dass er das Nötige tut, damit die Information an die richtige Stelle gelangt. Informationen über Pflichtverletzungen des Vorstandes müssen dem Aufsichtsrat zugeleitet werden. Wie erörtert, hat aber der Aufsichtsrat keinen direkten Anspruch gegen den Anwalt auf Information. Kann ihm der Anwalt trotzdem berichten, um seiner Pflicht zu genügen, die Aktiengesellschaft richtig zu informieren? Diese Frage ist bisher nicht problematisiert worden. Soweit überhaupt auf das Verhältnis zwischen dem Anwalt der Gesellschaft und dem Aufsichtsrat eingegangen wird, wird eine Berichterstattung an den Aufsichtsrat ohne Diskussion des Problems abgelehnt.26 Der Anwalt steht vor einem Dilemma: Er muss einerseits seinen Mandanten umfassend informieren, und dazu gehört, dass die Information zum Aufsichtsrat gelangt. Andererseits ist er zur Verschwiegenheit auch gegenüber dem Aufsichtsrat verpflichtet. Für eine Pflicht zur Information des Aufsichtsrates spricht, dass dieser in Vorstandsangelegenheiten Vertretungsorgan der Gesellschaft ist (§ 112 AktG). Daraus könnte man folgern, dass er für Informationen im Zusammenhang mit Pflichtverletzungen des Vorstandes eine „Empfangszuständigkeit“ hat, die die Schweigepflicht des Anwaltes überspielt.27 Ohnehin mag die Konstruktion einer Schweigepflicht gegenüber einem Organ der eigenen Mandantin künstlich erscheinen. Dem stehen Sinn und Zweck der anwaltlichen Verschwiegenheit entgegen. Sie ist nicht Selbstzweck, sondern dient dazu, das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant zu gewährleisten.28 Der Mandant kann nur dann offen und vertrauensvoll mit seinem Anwalt reden, wenn er sich darauf verlassen kann, dass die Informationen nicht unbefugt weitergetragen werden.29 Das Vertrauensverhältnis ist auch bei der Beratung der Aktiengesellschaft von entscheidender Bedeutung. Zwar sind die Vorstandsmitglieder nicht selbst Mandanten; auch sie können jedoch dem Anwalt nur vollständig vertrauen, wenn sie davon ausgehen dürfen, dass die Informationen nicht, auch nicht an den Aufsichtsrat, weitergetragen werden.

19 Vgl. Fleischer/Wedemann, GmbHR 2010, 449, 455. 20 Vgl. Spindler, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz (Fn. 9), § 90 Rn. 38. 21 v. Schenck, in: Semler/v. Schenck, Arbeitshandbuch für Aufsichtsratsmitglieder, 3. Aufl. 2009, § 7 Rn. 176 f., der voraussetzt, dass der Mitarbeiter zunächst über den Vorstand zur Aufsichtsratssitzung geladen werden muss. Erst wenn der Vorstand dem nicht nachkommt, könne der Aufsichtsrat den Angestellten selbst laden. Nach Habersack (Fn. 9), § 111 Rn. 68 kommt es auf die Vermittlung des Vorstandes nicht an. Den Meinungsstand fasst Dreher, FS Ulmer, 2003, 87 ff. zusammen. 22 OLG Zweibrücken DB 1990, 1401 mit zustimmender Anmerkung Theisen; Habersack, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 3. Auflage 2008, § 111 Rn. 70. Nach v. Schenck (Fn. 21), Rn. 178, können Dritte allerdings unter sehr engen Voraussetzungen befragt werden, wobei in besonderem Maße die Grundsätze der Vertraulichkeit und Loyalität zu beachten sind. Der Aufsichtsrat sollte zu dieser Form der Befragung erst greifen, wenn er es als unumgänglich ansieht, um Schäden von der Gesellschaft fernzuhalten oder ein schädigendes Ereignis aufzuklären. 23 Zur umgekehrten Frage, ob der Anwalt bei groben Pflichtverletzungen des Vorstands den Aufsichtsrat informieren darf, s. unten Abschnitt IV. 4. 24 BGH NJW 1999, 1391; BGH NJW 1997, 2168, 2169; Heermann, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Auflage 2009, § 675 Rn. 28. 25 BGH NJW 1992, 1159, 1160; BGH NJW-RR 1999, 19, 20; BGH NJW 1998, 900, 901; BGH NJW 1997, 2168, 2169. 26 Henssler, Der Konzern, 2003, 255, 259; Knöfel/Mock, AnwBl 2010, 230, 232 rechte Spalte. 27 So im Ergebnis Fleischer/Schmolke WM 2012, 1013, 1019. 28 Vgl. Kleine-Cosack, Bundesrechtsanwaltsordnung, 6. Aufl. 2009, § 43a Rn. 4; Feuerich/Weyland, Bundesrechtsanwaltsordnung, 7. Aufl. 2008, § 43a BRAO, Rn. 12. 29 Vgl. Eylmann (Fn. 12), § 43a Rn. 28; Feuerich/Weyland (Fn. 27), § 43a BRAO, Rn. 12.

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Meines Erachtens ist daher die Pflichtenkollision im Grundsatz dahin aufzulösen, dass die Verschwiegenheitspflicht vorgeht. Der Anwalt ist nicht befugt, von sich aus den Aufsichtsrat anzusprechen, und zwar auch dann nicht, wenn er Informationen über Pflichtverletzungen des Vorstandes hat. Diese Ergebnis scheint auf erstem Blick dem zu widersprechen, was oben zur Berichterstattung und Schweigepflicht nach einem Wechsel im Vorstand ausgeführt wurde. Dort kann sich das ehemalige Vorstandmitglied nicht auf seine Vertrauensbeziehung zum Anwalt berufen, weil Mandant nur die Gesellschaft ist; im Verhältnis zum Aufsichtsrat soll aber die Vertrauensbeziehung zum Vorstand sogar eine Information eines anderen Organs der Mandantin verhindern. Der Widerspruch ist jedoch nur scheinbar und löst sich auf, wenn man die Interessen der Aktiengesellschaft betrachtet. Wenn ein ehemaliges Vorstandsmitglied den Anwalt zur Verschwiegenheit verpflichten will, verfolgt es in der Regel eigene Interessen (insbesondere Vermeidung von aktien- oder strafrechtlicher Haftung), die häufig dem Interesse der Gesellschaft entgegenstehen. Daran aber, dass der Vorstand vertrauensvoll mit dem Anwalt kommunizieren kann, ohne dass sein Überwachungsorgan in kritischen Situationen informiert wird, hat auch die Gesellschaft ein Interesse. 3. Wie den Aufsichtsrat informieren? Trotzdem verbietet es sich natürlich, dass der Anwalt mit dem Vorstandsmitglied spricht, um dessen Pflichtverletzungen es geht. Er muss also mit seinem Ansprechpartner (zum Beispiel in der Rechtsabteilung) oder einem nicht betroffenen Vorstandsmitglied Kontakt aufnehmen und darauf bestehen, dass die kritische Information pflichtgemäß unverzüglich an den Aufsichtsrat weitergeleitet wird. 4. Notstandsähnliche Situation Das wird aber nicht in allen Fällen möglich sein. Zum Beispiel wird es Fälle geben, in denen alle Vorstandsmitglieder vom Verdacht pflichtwidrigen Handelns betroffen sind und die Kommunikation zwischen den Ansprechpartnern in der Rechtsabteilung und dem Aufsichtsrat nicht gewährleistet ist. Wenn die in Frage stehenden Pflichtverletzungen schwer wiegen, ist der Anwalt in einer notstandsähnlichen Situation. Dann wird er zu erwägen haben, ob seine Sorge um das Wohlergehen des Unternehmens ihm erlaubt, seine Verschwiegenheitspflicht und damit sein Vertrauensverhältnis zum Vorstand als Vertreter der Gesellschaft hintanzustellen. Wenn er das bejaht, muss er mit dem Aufsichtsrat sprechen, um Schaden von der Gesellschaft abzuwenden. Dogmatisch ließe sich die Entscheidung mit einer Analogie zu der Literaturmeinung rechtfertigen, die dem Aufsichtsrat erlaubt, Angestellte des Unternehmens direkt anzusprechen, wenn der Einzelfall, insbesondere eine grobe Pflichtverletzung des Vorstands, es erfordert.30

V. Zeugnisverweigerungsrecht und Entbindung von der Schweigepflicht Wer befreit den Anwalt, der die Aktiengesellschaft beraten hat, von der Schweigepflicht, wenn er als Zeuge zum Beispiel in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren aussagen soll? Die Frage scheint nach dem vorstehend Erörterten einfach zu beantworten zu sein – zuständig ist der 892

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Mandant, nämlich die Aktiengesellschaft, vertreten durch ihren (jeweiligen) Vorstand. Die Diskussion in der Literatur31 und die Entscheidung des AG Bonn32 in dem eingangs geschilderten Fall zeigen jedoch, dass es Klärungsbedarf gibt. 1. These: Herr des Geheimnisses entscheidungsbefugt Literatur und Rechtsprechung betrachten in der Regel den Fall, dass der Anwalt (oder ein Wirtschaftsprüfer oder Steuerberater) nach Insolvenz der Gesellschaft in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren aussagen soll, und diskutieren, ob der Insolvenzverwalter (allein) über die Entbindung von der Schweigepflicht entscheidet. Während die Rechtsprechung33 geteilt ist, neigt die Literatur mit wenigen Ausnahmen34 dazu, aufgrund des Vertrauensverhältnisses zwischen Anwalt und Vorstand der Gesellschaft, eine Entbindung durch den Insolvenzverwalter nicht ausreichen zu lassen.35 Erstaunlicherweise wird in der Diskussion wenig auf die Vorfrage eingegangen, wem der Anwalt Informationen schuldet und wer damit „Herr des anwaltlichen Geheimnisses“ ist. Im Verhältnis zum Insolvenzverwalter hat der BGH36 ein klares Wort gesprochen: Der Anwalt ist dem Insolvenzverwalter auskunftspflichtig. Allerdings hat der BGH über eine Auskunftsklage entschieden, nicht über das strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht. Es erscheint aber logisch zwingend, dass derjenige – und nur derjenige , dem der Anwalt Auskunft schuldet und der deswegen Herr des Geheimnisses ist, über die anwaltliche Verschwiegenheit verfügen und damit den Anwalt von der Verschwiegenheit entbinden kann. Diese These ist im Folgenden zu überprüfen. 2. Anwaltsrecht und Vertragsrecht Anwaltsrechtlich und vertragsrechtlich kann ohne weiteres auf die oben erörterten Grundlagen zurückgegriffen werden. Der Anwalt wird von seinem Mandanten von der Schweigepflicht entbunden. Das ist die Aktiengesellschaft, für die der gegenwärtig amtierende Vorstand und – in der Insolvenz – der Insolvenzverwalter handelt. Ehemaligen Vorstandsmitgliedern oder – wie im Fall des AG Bonn37 – Aufsichtsratsmitgliedern schuldet der Anwalt Verschwiegenheit nur, wenn er mit ihnen eine Mandatsbeziehung eingegangen ist.38 Auf die Schwierigkeiten, die sich dann in Bezug auf Interessenkonflikte, Beratungspflichten und Haftung ergeben, ist bereits hingewiesen worden. Das Gesellschaftsrecht entscheidet nicht anders; den Schutz früherer Vorstandsmitglieder oder deren Mitwirkungsbefugnis sieht es nicht vor.

30 S. oben Abschnitt III. 3. 31 Siehe Dahs, in FS Kleinknecht, 1985, 63 ff.; Dierlamm, in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins (Hrsg.), Strafverteidigung im Rechtsstaat, 428 ff.; Krause (Fn. 8), 349; Huber-Lotterschmid, Verschwiegenheitspflichten, Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmeverbote zugunsten juristischer Personen, 2007, 56 ff.; Passarge, BB 2010, 591; Senge (Fn. 8), § 53 Rn. 47; MeyerGoßner, Strafprozessordnung, 2007, § 53 Rn. 46. 32 Siehe oben, Fn. 1. 33 Entbindung nur durch den Insolvenzverwalter erachten als ausreichend: LG Hamburg, NStZ-RR 2002, 12; OLG Nürnberg, NJW 2010, 690; OLG Oldenburg, NStZ 2004, 570, a. A. OLG Schleswig NJW 1981, 294; LG Saarbrücken, wistra 1995, 239; OLG Koblenz NStZ 1985, 426. 34 Passarge, BB 2010, 591 (593); Priebe ZIP 2011, 312 (316). 35 Senge (Fn. 8) § 53 Rn. 47; Huber (Fn. 8), § 53 Rn. 40; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 2007, § 53 Rn. 46; Dierlamm (Fn. 30), 428, 436 ff.; Dahs (Fn. 30), 63, 73 ff.; Krause (Fn. 8), 349, 366 ff.; Huber-Lotterschmid (Fn. 30), 87 ff. 36 BGHZ 109, 260 = NJW 1990, 510, 512. 37 Siehe oben, Fn. 1. 38 So auch BGHZ 109, 260 = NJW 1990, 510, 512.

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3. Kontrollfrage: Zivil- und Strafprozessrecht Auf die Entbindung durch ehemalige Vorstandsmitglieder (oder Aufsichtsratsmitglieder) kann es daher nur ankommen, wenn das Zivil- oder Strafprozessrecht das Zeugnisverweigerungsrecht weiter fasst, als die anwaltliche Verschwiegenheit im Rahmen von Berufsrecht und Geschäftsbesorgungsvertrag reicht. In der strafprozessualen Rechtsprechung und Literatur wird besonders auf das Vertrauensverhältnis zwischen dem Mandanten und dem Anwalt (oder einem anderen Berufsträger, der zur Zeugnisverweigerung berechtigt ist) abgestellt.39 Nicht erörtert wird, ob das Vertrauensverhältnis mit der Mandatsbeziehung des Anwalts zur Gesellschaft gleichzusetzen ist oder ob das Vertrauensverhältnis zwischen einzelnen Organmitgliedern und dem Anwalt über die Mandatsbeziehung hinaus ein eigenes Zeugnisverweigerungsrecht begründen soll.40 Vielmehr wird darauf verwiesen, dass es auf den Geschäftsbesorgungsvertrag nicht ankomme und dass zu einer juristischen Person kein Vertrauensverhältnis bestehen kann.41 Sollte ein eigenständiges Zeugnisverweigerungsrecht gemeint sein, so ist dem zu widersprechen. Das Vertrauen, das ein Organmitglied dem Anwalt entgegenbringt, kann nicht die Pflichten des Anwalts gegenüber seiner Mandantin, der Aktiengesellschaft, einschränken. Wenn diese, vertreten durch ihren heutigen Vorstand oder auch einen Insolvenzverwalter, der Ansicht ist, dass eine Aussage des Anwalts im Prozess ihren Interessen dient, muss der Anwalt dieses Interesse durchzusetzen helfen; er darf sich daran nicht durch eine Vertrauensbeziehung zu einem Nichtmandanten hindern lassen. Das wird am deutlichsten, wenn es in dem Verfahren um eine zivilrechtliche Haftung eines Vorstandsmitglieds geht. Dann laufen die Interessen dieses Vorstandsmitglieds denen der Gesellschaft zuwider; die Interessen der Gesellschaft dürfen nicht dadurch konterkariert werden, dass der Anspruchsgegner mitentscheidet, ob der Anwalt aussagen darf.42 Dem steht nicht entgegen, dass ein Vertrauensverhältnis nur zwischen natürlichen Personen, nicht aber zwischen einem Anwalt und einer Aktiengesellschaft bestehen kann. Das Vorstandsmitglied, das dem Anwalt vertraut, hat ihm in Vertretung der Aktiengesellschaft vertrauliche Informationen mitgeteilt; es hat gewusst, dass der Anwalt (nur) die Interessen der Gesellschaft, nicht aber seine eigenen vertritt.43 Entscheidend aber ist: Wenn das Zeugnisverweigerungsrecht auf eine Vertrauensbeziehung zum Anwalt außerhalb der Mandatsbeziehung gegründet werden soll, verbleibt der bereits angesprochene Wertungswiderspruch. Der Mandant – und das ist die Gesellschaft, vertreten durch ihren gegenwärtigen Vorstand – kann vom Anwalt Bericht verlangen und ihm Weisungen geben, wie er mit vertraulichen Informationen umgehen soll. Dann kann im Zivil- oder Strafprozess nichts anderes gelten. Ehemalige Vorstandsmitglieder können die Aussage des Anwalts nicht verhindern; eine Entbindung durch sie ist nicht erforderlich. 4. Sonderfall: Mehrere Mandatsverhältnisse Eine Sonderkonstellation lag der Entscheidung des AG Bonn44 zugrunde, da der Anwalt dort sowohl Vorstandsmitglieder wie auch Aufsichtsratsmitglieder beraten hatte. Welche vertraglichen Vereinbarungen dem zugrunde lagen, referiert die Entscheidung nicht. Angenommen werden darf, dass Gesellschaft und Anwalt – unter Beachtung etwaiger InDie anwaltliche Beratung der Aktiengesellschaft, Falkenhausen

teressenkonfliktsfragen – ein Mandatsverhältnis begründen wollten, in dem der Anwalt Pflichten auch gegenüber dem Aufsichtsrat als Gremium übernommen hat. Dann bedarf der Anwalt der Entbindung von der Schweigepflicht sowohl durch den Vorstand wie durch den Aufsichtsrat. Auch beim Aufsichtsrat gilt jedoch, dass der Anwalt, der das Organ und damit die Gesellschaft, nicht aber einzelne Mitglieder beraten hat, von dem Organ in seiner heutigen Zusammensetzung von der Schweigepflicht entbunden wird. Eine besondere Konstellation, bei der der Anwalt Schutzpflichten auch gegenüber einzelnen Organmitgliedern übernimmt, ergibt sich jedenfalls aus dem in der Entscheidung geschilderten Tatbestand nicht.

VI. Anwaltliche Verschwiegenheit und Corporate Governance De lege lata bewegt sich der Anwalt, der eine Aktiengesellschaft berät, auf schwierigem, aber hinreichend strukturiertem Terrain. Rechtspolitisch sind Änderungen gefordert worden; in der Literatur45 wird Überraschung darüber geäußert, dass die anwaltliche Verschwiegenheit in Deutschland nicht in den Fokus der Corporate Governance – Diskussion gekommen ist. Die Autoren fordern, dem Anwalt, der eine börsennotierte Aktiengesellschaft berät, eine Rolle in der Corporate Governance zuzuweisen. Dazu soll – entweder de lege ferenda oder durch entsprechende vertragliche Vereinbarung mit der Aktiengesellschaft – seine Schweigepflicht durchbrochen und er verpflichtet werden, bei Gesetzesverstößen nicht nur den Aufsichtsrat, sondern auch zuständige Aufsichtsbehörden zu informieren, um das Funktionieren der Kapitalmärkte zu gewährleisten. Der Anwalt müsse an der Bekämpfung gemeinschädlicher Rechtsverstöße teilnehmen, um nicht zum „Spießgesellen“ des rechtsbrechenden Mandanten zu werden.46 Dem ist aus anwaltlicher Sicht energisch entgegenzutreten. 1. Corporate Governance-Pflicht des Anwalts? Der Vorstoß von Knöfel/Mock beruht auf einem falschen Verständnis der Rolle des Anwalts. Er ist der Berater der Gesellschaft, die von Vorstand oder Aufsichtsrat repräsentiert wird. Anders als der Abschlussprüfer hat er keine Überwachungsoder Kontrollfunktion; das Aktiengesetz weist ihm keine Aufgaben zu. Er steht an der Seite der Gesellschaft und ihr damit nicht als Kontrollinstanz gegenüber. Schon deswegen erscheint es formal und materiell unangemessen, ihm eigenständige Corporate Governance-Pflichten zuzuweisen.

39 LG Hamburg, NStZ-RR 2002, 12 (Vertrauensverhältnis entsteht bei Beauftragung eines Wirtschaftsprüfers mit der laufenden Buchhaltung und Bilanzerstellung „zwischen diesen Vertragspartnern“, die Organe sind außerhalb des Vertrauensverhältnisses stehende Dritte) 40 So sind allerdings möglicherweise Dahs (Fn. 30), 63, 73ff. und Krause (Fn. 8), 349, 366 ff., zu verstehen. 41 Vgl. nur Dahs (Fn. 30), 63, 73. 42 So auch Passarge BB 2010, 591, 592. 43 Auch das BVerfG (NStZ-RR 2004, 83, 84 – Kammerentscheidung) betont (zur strafprozessualen Beschlagnahmefreiheit), dass die rechtliche Trennung zwischen der juristischen Person und ihren Organen nicht außer Acht gelassen werden darf. 44 Siehe oben, Fn. 1. 45 Knöfel/Mock, AnwBl 2010, 230, 232; zum Thema „Anwaltliche Verschwiegenheit und Corporate Governance“ s. auch die Heidelberger Dissertation von Marius E. Mann, 2009. 46 Knöfel/Mock, AnwBl 2010, 230, 234.

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2. Vertrauensschutz des Mandanten Wichtiger aber ist: Grundlage der anwaltlichen Beratung ist das Vertrauen des Mandanten in seinen Anwalt. Die Schweigepflicht des Anwalts schützt dieses Vertrauen.47; sie wiederum ist von der Verfassung geschützt.48 Das Vertrauen ist gerade dann gefragt, wenn in schwierigen Gebieten beraten wird. Fragen zum Beispiel des Kartellrechts oder des Kapitalmarktrechts müssen genau analysiert werden, ohne dass immer eine eindeutige Antwort gegeben werden kann. Wenn später eine Behörde oder ein Gericht einen Rechtsverstoß feststellt, drohen Bußgeld- oder Strafverfahren. Eine verantwortungsvolle Beratung der Aktiengesellschaft ist unmöglich, wenn der Anwalt nicht vollständig informiert wird. Kein Vorstand aber wird ihm alles sagen können und dürfen, wenn er befürchten müsste, dass der Anwalt nicht zum Schweigen, sondern in einem nachfolgenden Gerichtsverfahren zur Aussage oder gar schon vorher zur Berichterstattung im Rahmen der Corporate Governance verpflichtet ist.49 3. Gemeinwohl? Mit „Sklavenmoral“50 hat das nichts zu tun. Der Anwalt hat unabhängig (§ 3 Abs. 1 BRAO) zu beraten; er darf sich nicht zum Handlanger seines Mandanten machen. Pflicht- und Gesetzesverstöße der von ihm vertretenen Gesellschaft darf er nicht dulden; was er in solchen Fällen zu tun hat, wurde oben diskutiert. Nur wenn der Anwalt diese Grundsätze befolgt, handelt er ordnungsgemäß und erfüllt seine Pflichten aus dem Anwaltsvertrag; der Ziehung einer Grenze der loyalen Vertragserfüllung51 bedarf es daher nicht. Auch das Gemeinwohl52 erfordert den Schutz des Anwaltsgeheimnisses, nicht seine Durchbrechung; denn nur so kann verantwortungsbewusste Rechtsberatung gewährleistet werden.

VII. Ergebnis Die Diskussion der aktuellen Fragen der anwaltlichen Beratung von Aktiengesellschaften zeigt, dass das geltende Recht im wesentlichen befriedigende Lösungen bietet. 9 Mandant des Anwalts ist die Aktiengesellschaft. Nur ihr gegenüber hat er Schutz- und Beratungspflichten. Der Anwalt tut gut daran, daneben keine Mandatsbeziehung mit einzelnen Organmitgliedern einzugehen, um vielfältige Probleme bezüglich Haftung, Informationspflichten und Interessenkonflikt zu vermeiden. 9 Dann schuldet er Information nur der Aktiengesellschaft, vertreten durch den derzeitigen Vorstand. Frühere Vorstandsmitglieder können dem nicht entgegentreten. 9 Informationspflichten an den Aufsichtsrat hat der Anwalt nur, wenn er vom Aufsichtsrat beauftragt ist. Ausnahmen mag es in extremen Sonderfällen geben, wenn wegen eigener Verstrickung des Vorstands ein Bericht an diesen nicht ausreicht. 9 Dementsprechend ist die Gesellschaft, vertreten durch den gegenwärtigen Vorstand, gegebenenfalls auch ein Insolvenzverwalter, zuständig für eine Entbindung des Anwalts von der Schweigepflicht zur Aussage in gerichtlichen Verfahren. Die Zustimmung früherer Vorstandsmitglieder ist nicht erforderlich. 9 Bestrebungen, das Anwaltsgeheimnis unter Berufung auf moderne Corporate Governance einzuschränken, ist energisch entgegenzutreten.

4. Sonderfall: Verbrechen Anderes kann nur in extremen Fällen gelten. Wenn es darum geht, bevorstehende Verbrechen zu verhindern, treffen auch den Anwalt die Pflichten des § 138 StGB, allerdings abgeschwächt durch § 139 Abs. 3 Satz 1 und 2 StGB. In anderen Fällen in denen schwerwiegende Gefahren abzuwehren sind, kann eine Güterabwägung nach den Grundsätzen des rechtfertigenden Notstandes nach § 34 StGB ihm erlauben, die Verschwiegenheitspflicht zu durchbrechen. Zu Recht haben die Vorschläge von Knöfel/Mock in Rechtsprechung und Literatur wenig Widerhall und keine Zustimmung gefunden.

Dr. Joachim Freiherr von Falkenhausen, LL. M. (Berkeley), Hamburg

47 Siehe oben, Abschnitt II. 2. 48 § 43a BRAO ist Ausfluss des durch Art. 12 GG gewährten Schutzes des anwaltlichen Berufsgeheimnisses; siehe hierzu Henssler, NJW 1994, 1817, 1819. 49 So im Ergebnis auch Fleischer/Schmolke WM 2012, 1013, 1021. 50 Knöfel/Mock, AnwBl 2010, 230, 234. 51 So aber Knöfel/Mock ,AnwBl 2010, 230, 234. 52 Knöfel/Mock, AnwBl 2010, 230, 234 rechte Spalte, fordern gemeinwohlorientierte anwaltliche Rechtswahrungspflichten.

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Der Autor ist Rechtsanwalt. Er ist Partner der Sozietät Latham & Watkins LLP und Mitglied des Berufsrechtsausschusses und des Ethikausschusses des DAV. Sie erreichen den Autor unter der E-Mail-Adresse [email protected].

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Aufsätze

Soldan Institut

Risikomanagement durch Rechtsformwahl: Die Partnerschaftsgesellschaft Empirische Ergebnisse: Warum Anwälte an der Gesellschaft bürgerliches Rechts festhalten Rechtsanwalt Dr. Matthias Kilian, Ko¨ln

Die Angst vor der Haftung treibt Anwältinnen und Anwälte immer wieder um. Beim Risikomanagement spielen nicht nur Versicherungsschutz, sondern auch individuelle Beschränkungen in Mandaten und die Wahl der Rechtsform für die Sozietät eine Rolle. Das Soldan Institut hat untersucht, warum immer noch viele Sozietäten als Gesellschaft bürgerlichen Rechts auftreten und nicht die Vorzüge der Partnerschaftsgesellschaft wählen. Ein mögliches Phänomen können nur eingeschränkt Befragungen aufklären: Inwieweit bei Gesellschaften bürgerlichen Rechts auch Formen der Scheinsozietät existieren, die von einer Eintragung im Partnerschaftsregister abhalten. Nächsten Monat an dieser Stelle: Das Interesse der Anwaltschaft an der Rechtsform der PartGmbB.

politische Diskussion hilfreich erscheinen, befragt8: Aus welchen Gründen wählen Sozietäten trotz der geringen Anforderungen an die Gründung und der erheblichen Haftungsvorteile noch nicht einmal die „klassische“ Partnerschaftsgesellschaft als Rechtsform? Hat überhaupt eine signifikante Zahl der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte Interesse an der Organisation in einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung – oder anders gewendet: Lohnt sich der Aufwand des Gesetzgebers? Schließlich: Welche Relevanz hat die viel diskutierte Mindestversicherungspflicht von 2,5 Mio. Euro für (umfassend) haftungsbeschränkte Berufsausübungsgesellschaften bei der Rechtsformwahl – müssen Kanzleien hier ihre Prämienaufwendungen deutlich ausweiten oder sind Anwälte nicht ohnehin freiwillig bereits in einem Umfang versichert, der die rechtsund berufspolitische Diskussion weitgehend als reine Fingerübung erscheinen lässt? Die gewonnenen Erkenntnisse werden in den kommenden Monaten im Rahmen einer Artikelserie zum anwaltlichen Risikomanagement vorgestellt. Sie wird in diesem Monat die Gründe für den Verzicht der Gründung einer PartG durch Gesellschafter von BGB-Gesellschaften analysieren und in späteren Beiträgen über das Interesse der Anwaltschaft an der PartGmbB, die Risikoabsicherung durch die Einholung von Vermögensschadenshaftpflichtschutz jenseits der gesetzlichen Mindestversicherungssumme und die anwaltliche Vorsorge durch den Abschluss von Haftungsbeschränkungsvereinbarungen berichten.

I. Einleitung

II. Gründe für die Nicht-Organisation in der PartG

Mitte der 1990er Jahre hat der Gesetzgeber mit der Partnerschaftsgesellschaft eine Rechtsform geschaffen1, die eine für Angehörige der freien Berufe und damit auch für Rechtsanwälte im Vergleich zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts deutlich attraktivere Rechtsform ist2. Auch wenn es eine Statistik zu der Bedeutung der verschiedenen Organisationsformen in der Anwaltschaft nach wie vor nicht gibt3, erlauben die allgemein-demographischen Inhalte der seit nunmehr rund zehn Jahren regelmäßig durchgeführten empirischen Studien des Soldan Instituts Rückschlüsse auf die relative Bedeutung der verschiedenen Rechtsformen für Sozietäten. Deutlich wird bei einer solchen Analyse, dass die Partnerschaftsgesellschaft die ihr vom Gesetzgeber zugedachte Bedeutung bislang nicht erlangt hat. Zwar nimmt die absolute Zahl der Partnerschaftsgesellschaften kontinuierlich zu4 und lag zum 1. Januar 2012 bei 3.2095. Gleichwohl zeigt sich in den Befragungen des Soldan Instituts regelmäßig, dass weniger als ein Viertel der vergesellschaftet tätigen Rechtsanwälte in einer Partnerschaftsgesellschaft organisiert ist, mehr als zwei Drittel hingegen nach wie vor in einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (die übrigen rund 10 Prozent in Sozietäten tätigen Anwälte verteilen sich zum größeren Teil auf Rechtsformen des ausländischen Rechts wie die LLP und zum kleineren Teil auf Kapitalgesellschaften). Vor einer neuerlichen Reform des Partnerschaftsgesellschaftsrechts durch die Schaffung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung (PartGmbB)6 ist es hilfreich, Klarheit über den Status Quo zu gewinnen7. Das Soldan Institut hat daher im Rahmen einer 2011 durchgeführten Studie Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zu einigen zentralen Fragen, deren Beantwortung für die rechts-

1. Gesamtbetrachtung Im Rahmen der Studie wurden Rechtsanwälte, die Sozia oder Sozius einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts sind, um Mitteilung der Gründe gebeten, warum sie in einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts und nicht in einer Partnerschaftsgesellschaft organisiert sind. Eine mit Blick auf die aktuelle Reformdiskussion vergleichsweise ernüchternde Erkenntnis ist, dass es mehrheitlich keinen besonderen Grund für die Wahl beziehungsweise Beibehaltung der Gesellschaft bürgerlichen Rechts als Träger des Unternehmens Anwaltskanzlei gibt (s. Abb. 1). 54 Prozent der anwaltlichen Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts geben an, dass man sich mit einem Rechtsformwechsel schlicht noch nie beschäftigt habe. Für 31 Prozent der Befragten war die Beschränkung der Haftung auf den Mandatsbearbeiter in der Partnerschaftsgesellschaft kein besonderer Anreiz, die Rechtsform zu wechseln.

Risikomanagement durch Rechtsformwahl: Die Partnerschaftsgesellschaft, Kilian

1 2 3

4 5 6 7 8

Zu Entstehung und Genese des PartGG Henssler, PartGG, Einl. Rn. 1 ff. Vgl. etwa Henssler, in: Henssler/Streck, Handbuch des Sozietätsrechts, 2. Aufl. 2011, Rn. A 41 ff. An einem Register der Berufsausübungsgesellschaften in Ergänzung zu einem Register der Berufsträger fehlt es in Deutschland, anders als in vielen anderen europäischen Rechtsordnungen, trotz der Rechtssubjektivität der Gesellschaften nach wie vor. Zur Entwicklung der Zahl der PartG seit 1996 siehe Kilian/Dreske (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch der Anwaltschaft 2011/2012, S. 102. http://www.brak.de/w/files/04_fuer_journalisten/statistiken/statistiken2012/mggross2012.pdf. BT-Drucks. 17/10487. Der Gesetzentwurf ist im August 2012 in das parlamentarische Verfahren eingebracht worden. Zur Reformdiskussion Römermann/Praß, NZG 2012, 601; Beuthien, ZRP 2012, 127; Posegga, DStR 2012, 611; Dahns, NJW Spezial 2012, 190. Die erhobenen Daten beruhen auf einer vom Soldan Institut per Telefax durchgeführten Umfrage. Im Zeitraum vom 26. April bis zum 23. Mai 2011 nahmen insgesamt 1.157 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte an der Befragung teil.

AnwBl 11 / 2012

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MN

Aufsätze

Planung diesbezüglich ist noch nicht abgeschlossen

kein besonderer Grund, haben uns mit dieser Frage nie beschäf tigt

Sozietät ist ein Familienbetrieb

Beschränkung der Haf tung in der PartG auf den Mandatsbearbeiter war kein Anreiz

31%

Gründungs- und Verwaltungsauf wand (Vertrag, Notar, Register etc.) war uns zu hoch im Kreis der Gesellschaf ter f and sich keine Mehrheit f ür die Rechtsf orm

sonstige Gründe

21%

0,4%

hätte höhere Kosten v erursacht

0,4%

Außenwirkung

7%

20%

0,7%

Gründung f and statt als es PartGnoch nicht gab

7% 0%

1,1%

habe nicht den richtigen / keinen langf ristigen Partner

40%

60%

80%

0,4%

gesetzliche Haf tungsregelung passt nicht zur sozietätsv ertraglichen Regelung

0,2%

5%

Gründungskosten waren uns zu hoch

1,3%

54%

gleichzeitig Steuerkanzlei

0,2%

standesrechtliche Gründe

0,2%

kein Interesse an Veröf f entlichung der Jahresergebnisse der Kanzlei

0,2%

100%

0,0%

1,0%

2,0%

3,0%

4,0%

5,0%

Es bestand die Möglichkeit zu Mehrf achnennungen.

Es bestand die Möglichkeit zu Mehrf achnennungen.

Abb. 1: Gründe für den Verzicht der Organisation der Sozietät als Partnerschaftsgesellschaft* * Nur Rechtsanwälte, die Sozius/Sozia in einer GbR sind

Abb.2: Sonstige Gründe für den Verzicht der Organisation als Partnerschaftsgesellschaft * * Nur Rechtsanwälte, die Sozius/Sozia in einer GbR sind

Eine Erklärung könnte sein, dass in diesen Sozietäten regelmäßig keine Mandate betreut werden, bei denen potenzielle Haftungsfälle dazu führen könnten, dass die gesetzlich vorgeschriebene persönliche Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung der Kanzleiangehörigen die entstehenden Schäden nicht abdecken würde. Ebenso denkbar ist, dass eine Teilgruppe der Anwälte Risikomanagement nicht durch Rechtsformwahl, sondern durch Einholung von Versicherungsschutz in einer Höhe betreibt, der über die gesetzlichen Mindestanforderungen nach § 51 BRAO hinausgeht. Etwas mehr als ein Viertel der Befragten hat den Aufwand der Gründung einer Partnerschaftsgesellschaft als abschreckend empfunden. 21 Prozent der Befragten teilen mit, dass den Gesellschaftern der Gründungs- und Verwaltungsaufwand zu hoch war, das heißt das Abfassen eines Gesellschaftsvertrages und die Notwendigkeit von notariellen Beurkundungen und Eintragungen im Partnerschaftsregister. Für fünf Prozent waren die Gründungskosten zu hoch. Sieben Prozent der Sozien geben als Grund für die Beibehaltung der GbR an, dass sich im Kreis der Gesellschafter keine Mehrheit für eine Umwandlung der Gesellschaft bürgerlichen Rechts in eine Partnerschaftsgesellschaft hat finden lassen. Sieben Prozent der Teilnehmer nennen zusätzlich zu den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten weitere Gründe. Diese sind breit gestreut. Fünf oder mehr (aber maximal sechs) Nennungen erfuhren lediglich zwei Gründe: Auf die Nutzung der PartG als Rechtsform bezogene Planungen seien noch nicht abgeschlossen bzw. die Kanzlei sei ein Familienbetrieb. Nicht alle im Übrigen genannten Gründen sind ohne Weiteres nachvollziehbar, so etwa, dass die Kanzleigründung stattgefunden habe, als es die PartG als Rechtsform noch nicht gab (was deren Nutzung nicht verhindert), dass man kein Interesse an der Veröffentlichung der Jahresergebnisse habe, eine negative Außenwirkung befürchte oder zugleich eine Steuerkanzlei sei (s. Abb.2).

der GbR nennen, sind es in der Gruppe der Anwälte, die mehr als 60 Prozent gewerbliche Mandanten betreuen, mit 50 Prozent mehr als doppelt so viele (siehe Tab. 1).

2. Differenzierende Betrachtung Die Struktur der Mandantschaft einer Sozietät hat einen signifikanten Einfluss darauf, ob die Haftungsverfassung der Partnerschaftsgesellschaft kein hinreichender Anreiz ist, diese Rechtsform zu wechseln: Je höher der Anteil gewerblicher Mandanten einer Sozietät ist, desto geringer ist der Anreiz, unter Haftungsgesichtspunkten die Rechtsform der Partnerschaftsgesellschaft zu wählen. Während 25 Prozent der Rechtsanwälte mit einem Anteil gewerblicher Mandanten von bis zu 30 Prozent diesen Grund für den Verbleib in 896

AnwBl 11 / 2012

Anteil gewerblicher Mandate

bis 30%

31% bis 60%

Mehr als 60%

Grund wird genannt

25%

34%

50%

Grund wird nicht genannt

75%

66%

50%

Tab. 1: Gründe für den Verzicht auf Organisation als Partnerschaftsgesellschaft: „Haftungsbeschränkung war kein Anreiz“* * Nur Rechtsanwälte, die Sozius/Sozia in einer GbR sind p5=0,05

Da davon auszugehen ist, dass mit einem höheren Anteil gewerblicher Mandanten in einer Kanzlei das Aufkommen an höheren Streitwerten in der Sozietät und damit auch das potenzielle Haftungsrisiko steigt, ist dieser Befund bemerkenswert. Zu erwarten wäre, dass Rechtsformen, die wie die PartG im Vergleich zur GbR eine Haftungsbeschränkung durch Rechtsformwahl erlauben, gerade für solche Sozietäten besonders reizvoll sind. Dass dies nicht der Fall ist, deutet darauf hin, dass die Partnerschaftsgesellschaft aus Sicht solcher Sozietäten konzeptionelle Schwächen aufweist und Sozietäten mit einem vor allem gewerblichen Mandantenportfolio Risikomanagement deshalb nicht primär durch die Rechtsformwahl betreiben. Gleiches gilt für Sozietäten mit einer großen Zahl von Berufsträgern: Obwohl in solchen größeren Sozietäten das Risiko der gesamtschuldnerischen Haftung für Versäumnisse anderer Kanzleiangehöriger exponentiell steigt, geben 49 Prozent der Rechtsanwälte aus Sozietäten mit mehr als zehn Anwälten an, dass die Haftungsbeschränkung für ihre Sozietät kein hinreichender Anreiz für einen Wechsel in die Partnerschaftsgesellschaft war. Rechtsanwälte aus Sozietäten mit bis zu zehn Anwälten nennen diesen Grund lediglich in 32 Prozent der Fälle (s. Tab. 2) – allerdings kann hieraus nicht ohne Weiteres auf eine deutlich höhere Attraktivität der PartG für diese Teilgruppe geschlossen werden, da Rechtsanwälte aus kleineren Sozietäten sich besonders häufig überhaupt keine Gedanken über die Vorzüge und Nachteile der PartG im Vergleich zur GbR gemacht haben (hierzu sogleich unten). Sozietät mit bis zu Sozietät mit mehr 10 Anwälten als 10 Anwälten Grund wird genannt

32%

49%

Grund wird nicht genannt

68%

51%

Tab. 2: Gründe für den Verzicht auf Organisation als Partnerschaftsgesellschaft: „Haftungsbeschränkung war kein Anreiz“* * Nur Rechtsanwälte, die Sozius/Sozia in einer GbR sind p5=0,05

Risikomanagement durch Rechtsformwahl: Die Partnerschaftsgesellschaft, Kilian

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Aufsätze

Eine differenzierende Analyse verdeutlicht des Weiteren, dass Rechtsformwahlentscheidungen mit zunehmender Kanzleigröße schwieriger werden, das heißt sich nicht immer die notwendigen Mehrheiten für eine von einer größeren Zahl Sozien gewünschte Rechtsform finden lassen. So geben immerhin 17 Prozent der Rechtsanwälte aus Sozietäten mit mehr als zehn Anwälten an, dass sich für einen Wechsel in die Partnerschaftsgesellschaft nicht die notwendige Mehrheit hat finden lassen. In kleineren Sozietäten ist die Mehrheitsfindung deutlich seltener ein Problem: Diesen Grund nennen nur fünf Prozent der Sozien aus Sozietäten mit bis zu fünf Rechtsanwälten als Erklärung für den Verbleib in der GbR (siehe Tab. 3). Sozietät mit bis zu 5 Anwälten

Sozietät mit 6 bis 10 Anwälten

Sozietät mit mehr als 10 Anwälten

Grund wird genannt

5%

15%

17%

Grund wird nicht genannt

95%

85%

83%

Tab. 3: Gründe für den Verzicht auf Organisation als Partnerschaftsgesellschaft: „Keine Mehrheit für diese Rechtsform“* * Nur Rechtsanwälte, die Sozius/Sozia in einer GbR sind p5=0,05

Bemerkenswert ist, dass Sozietäten mit mehr als zehn Rechtsanwälten, das heißt solche, für die die Haftungsverfassung der Partnerschaftsgesellschaft überdurchschnittlich häufig nicht hinreichend attraktiv ist (siehe bereits soeben oben), gleichwohl deutlich häufiger einen Wechsel in die Partnerschaftsgesellschaft durchaus erwogen haben: Während 54 Prozent aller Rechtsanwälte mitteilen, sich mit der Frage eines Wechsels von der Gesellschaft bürgerlichen Rechts in die Partnerschaftsgesellschaft überhaupt noch nicht beschäftigt zu haben (siehe Abb. 1), nennen dies als Grund nur 23 Prozent der Rechtsanwälte aus größeren Sozietäten. Die Weigerung, sich mit der Frage eines Rechtsformwechsels überhaupt auch nur zu beschäftigen, ist vielmehr ganz überwiegend in Sozietäten kleiner und mittlerer Größe anzutreffen. Bemerkenswerterweise sind die Unterschiede zwischen Kleinsozietäten mit bis zu fünf Anwälten (56 Prozent) und mittelgroßen Sozietäten mit sechs bis zehn Anwälten (51 Prozent) nicht sehr ausgeprägt (siehe Tab. 4). Sozietät mit bis zu 5 Anwälten

Sozietät mit 6 bis 10 Anwälten

Sozietät mit mehr als 10 Anwälten

Grund wird genannt

56%

51%

23%

Grund wird nicht genannt

44%

49%

77%

Tab. 4: Gründe für den Verzicht auf Organisation als Partnerschaftsgesellschaft: „Haben uns mit der Frage nicht beschäftigt“* * Nur Rechtsanwälte, die Sozius/Sozia in einer GbR sind p5=0,05

Da regelmäßig ein gewisser Zusammenhang zwischen der Kanzleigröße und der Mandatsstruktur einer Sozietät besteht, ist es schließlich erwartungsgemäß, dass sich Sozietäten mit einem hohen Anteil privater Mandanten deutlich häufiger nicht mit der Frage des Rechtsformwechsels beschäftigt haben als Sozietäten, die überwiegend gewerbliche Mandanten betreuen: 35 Prozent der Rechtsanwälte aus Sozietäten mit einem Anteil gewerblicher Mandanten von 60 Prozent und mehr haben mitgeteilt, dass sich die Sozietät mit der Frage eines Rechtsformwechsels überhaupt nicht beschäftigt hat. Rechtsanwälte aus Sozietäten mit einem Anteil privater Mandanten von über 60 Prozent geben diesen Grund für den Verbleib in der Rechtsform der Gesellschaft Risikomanagement durch Rechtsformwahl: Die Partnerschaftsgesellschaft, Kilian

Anteil gewerblicher Mandate

bis 30%

31% bis 60%

mehr als 60%

Grund wird genannt

61%

51%

35%

Grund wird nicht genannt

39%

49%

65%

Tab. 5: Gründe für den Verzicht auf Organisation als Partnerschaftsgesellschaft: „Haben uns mit der Frage nicht beschäftigt“* * Nur Rechtsanwälte, die Sozius/Sozia in einer GbR sind p5=0,05

bürgerlichen Rechts hingegen mit 62 Prozent fast doppelt so häufig an (siehe Tab. 5).

III. Fazit Die PartG als vom Gesetzgeber für die Angehörigen freier Berufe maßgeschneiderte Personengesellschaft hat die Anwaltschaft bislang nur in unbefriedigendem Umfang erreicht. Eine deutliche Mehrheit der Anwälte verzichtet freiwillig auf die im Vergleich zur GbR bestehenden Haftungsprivilegien. Dieser Verzicht ist mehrheitlich nicht Ergebnis eines informierten Abwägungsprozesses, sondern beruht auf schlichter Nichtbefassung mit der Frage des Risikomanagements durch Rechtsformwahl. Besonders ausgeprägt ist diese Nichtbefassung in kleineren (56 Prozent) und mittelgroßen GbRs (51 Prozent), während in größeren GbRs die Umwandlung deutlich häufiger diskutiert wurde (Nichtbefassung 23 Prozent) und die Beibehaltung der gewählten Rechtsform fast ebenso häufig auf einer fehlenden Mehrheit im Gesellschafterkreis beruhte (17 Prozent). Fast ein Drittel der in GbRs organisierten Anwälte hält die Haftungsverfassung der PartG nicht für hinreichend reizvoll, um einen Rechtsformwechsel vorzunehmen. Eine naheliegende Erklärung kann sein, dass der Gesetzgeber bei der Konzeption der PartG und der späteren Reform des § 8 Abs. 2 PartGG die Bedürfnisse der Anwaltschaft nicht richtig eingeschätzt hat und Anwälte ihre aus der eigentlichen Berufsausübung resultierenden Risiken anderweitig, insbesondere durch die Berufshaftpflichtversicherung, abdecken und die PartG für das Management der verbleibenden Haftungsrisiken, nämlich jene aus der sonstigen unternehmerischen Tätigkeit, aufgrund der beschränkten Haftungskonzentration in § 8 Abs. 2 PartG ohne Bedeutung ist. Überlegungen zur Schaffung einer Freiberuflergesellschaft mit umfassend beschränkter Gesellschafterhaftung müssen daher besonderes Augenmerk auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Berufsträger in Fragen des Risikomanagements legen. Eine Teilgruppe nicht zu vernachlässigender Größe nennt für den Verbleib in der GbR Gründe, die jedenfalls aus Sicht von Gründern einer PartG nur beschränkt nachvollziehbar erscheinen, etwa zu hoher Gründungs- oder Kostenaufwand oder vermutete Probleme beim Rechtsformwechsel. Bemühungen um eine Verbesserung der Kenntnisse über Gründung und Binnenstruktur der PartG in der Anwaltschaft erscheinen insofern naheliegend. Dr. Matthias Kilian, Köln Der Autor ist Rechtsanwalt und Direktor des Soldan Instituts. Informationen zum Soldan Institut im Internet unter www.soldaninstitut.de. Sie erreichen den Autor unter der E-Mail-Adresse [email protected].

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Aufsätze

Dokumentationszentrum

Belgien: Die Anwaltschaft macht sich für Arme und Schwache stark Das Dokumentationszentrum für Europäisches Anwaltsund Notarrecht an der Universität zu Köln, eine gemeinsame Forschungseinrichtung der Universität zu Köln, des Deutschen Anwaltvereins, der Bundesrechtsanwaltskammer und der Bundesnotarkammer, informiert in einer losen Serie von Kurzbeiträgen über aktuelle Entwicklungen in den Anwaltschaften aus dem benachbarten Ausland. Der Beitrag schließt an AnwBl 2012, 604 an. Nachdem die britische Regierung den „Legal Aid, Sentencing and Punishment of Offenders Bill“, der mehr als 650.000 Rechtssuchende von der staatlichen Kostenbeihilfe („legal aid“) dispensieren und zur Selbstrepräsentation zwingen wird, gegen den enormen Widerstand von Abgeordneten, Anwaltschaft und Menschenrechtsorganisationen durchsetzte (Lemke, AnwBl 2012, 54, AnwBl 2012, 336 und AnwBl 2012, 604), standen kurzerhand gravierende Kürzungen im belgischen Beihilferecht („aide juridique“ oder antiquiert „pro deo“) an. Grund zur Sorge sind die Pläne der belgischen Regierung, zwecks Haushaltskonsolidierung die Anwaltsvergütung für die Mandatsbetreuung in Rechtshilfefällen erheblich zu reduzieren. Nach den Plänen des belgischen Justizministeriums soll sich das anwaltliche Stundenhonorar in Zukunft nur noch auf einen Umfang von 24,03 Euro belaufen und damit signifikant das anwaltliche Salär der vergangenen Jahre unterschreiten. Im Vergleich zu den Jahren 2009 bis 2010 würde dies eine Kürzung des anwaltlichen Stundenlohns um 12 Prozent (26,91 Euro) und zum Vorjahr immerhin noch ein Minus von etwa fünf Prozent (25,39 Euro) bedeuten. Was darf Beratungshilfe kosten? In Belgien wird die staatliche Kostenbeihilfe – unter bestimmten Voraussetzungen – vollständig oder teilweise an bedürftige Rechtssuchende gebührenfrei gewährt. Während die Rechtsberatung und Rechtsinformation („aide juridique de première ligne“) auch von nicht-anwaltlichen Beratern erbracht werden kann, besteht für die gerichtliche Interessenvertretung („aide juridique de deuxième ligne“) ein Anwaltsmonopol. Die anwaltliche Übernahme von Rechtshilfemandaten in speziellen Anlaufstellen („Bureau d’aide juridique“) erfolgt rein voluntativ. Die dort tätigen Anwältinnen und Anwälte, die sogenannten „avocats pro deo“, erhalten ein Salär für ihre Dienste. Gegen die Regierungspläne liefen die belgischen Anwältinnen und Anwälte Sturm. Würde nämlich keine adäquate Anwaltsvergütung für die Betreuung von Rechtshilfefällen mehr gewährleistet sein, die dazu beiträgt, die anwaltliche Existenz abzusichern, würde für die Anwaltschaft kein (finanzieller) Anreiz mehr bestehen, „Armenmandate“ zu übernehmen. Leidtragende würden die Armen und Schwachen in der Gesellschaft sein, denen im Normalfall die finanziellen Mittel fehlen würden, um selbst die Rechtsdurchset898

AnwBl 11 / 2012

zung zu betreiben. Denn subventioniert die Regierung die Bedürftigenberatung und -repräsentation nur noch geringfügig, würde es Mittellosen erheblich erschwert werden, qualitativ hochwertige Rechtsberatung und Rechtsvertretung bei einem Anwalt einzuholen. Auf die bescheidenen Vergütungsaussichten reagierte die zweigeteilte belgische Anwaltschaft, der „Ordre des barreaux francophones et germanophone de Belgique“ (OBFG.) für die wallonische Anwaltschaft und der „Orde van Vlaamse Balies“ (OVB) für die flämische Anwaltschaft, zunächst mit einem Streik. Die Kammermitglieder weigerten sich monatelang, Beihilfemandate zu übernehmen. So blieben beispielsweise die vom OBFG betreuten Rechtsberatungsbüros für Bedürftige unbesetzt und nur für Notfälle geöffnet, die Brüsseler Jugendstrafanwälte blockierten den Zugang zum Jugendgericht und die Dachverbände lancierten überregionale Radiokampagnen im Sommer 2012, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. Darüber hinaus initiierte der OBFG. eine Petition, die bereits 40 Prozent der Kammermitglieder innerhalb von wenigen Tagen unterzeichneten. Dem Protest schlossen sich eine Reihe von namenhaften Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International und die Liga der Menschenrechte, an. Im internationalen Vergleich hinken die belgischen Pro-Kopf-Ausgaben für die Rechtshilfe weit anderen Industrienationen hinterher: In Belgien fließen 0,019 Prozent des Bruttoinlandprodukts in die staatliche Kostenbeihilfe, was – umgerechnet auf die Bevölkerung – pro Bürger etwa 16 Euro per annum entspricht. Der niederländische Fiskus investiert, beispielsweise, dreimal so viel Steuermittel in die Rechtshilfe. Unterstützung aus Europa Auch die Präsidentin des Rates der Europäischen Anwaltschaften (Council of Bars and Law Societies of Europe, CCBE) stand der belgischen Anwaltschaft bei ihrem Anliegen bei. In einem offenen Brief appellierte Dr. Marcella Prunbauer-Glaser an die belgische Regierung und unterstrich das Recht auf gleichen Zugang zum Recht als fundamentale Basis jeder rechtsstaatlichen Ordnung. Teil der staatlichen Fürsorgepflicht würde es sein, die Rechtsdurchsetzung des Einzelnen – einkommensunabhängig – zu gewährleisten und allen Bürgern gleichermaßen die Interessenvertretung durch ein funktionierendes Kostenbeihilfesystem im Sinne von Art. 47 EU-Grundrechtscharta und der Richtlinie 2003/8/EG vom 27. Januar 2008 zu ermöglichen. Ende Juni 2012 erreichte die belgische Anwaltschaft einen ersten Erfolg mit ihren Protestaktionen. Die belgische Justizministerin lenkte ein und sicherte dem OBFG. zu, sich bei den Verhandlungen zum Haushaltsbudget 2013 für ein anwaltliches Stundenhonorar in Höhe von 26,91 Euro – also dem Höchstsatz der vergangenen Jahre – einzusetzen. Daraufhin suspendierte die anwaltliche Dachorganisation ihren Streik – vorläufig. Abzuwarten bleibt, ob sich die Versprechungen des Justizministeriums tatsächlich durchsetzen werden. (Stefanie Lemke) Dokumentationszentrum für Europäisches Anwalts- und Notarrecht an der Universität zu Köln Das Dokumentationszentrum für Europäisches Anwalts- und Notarrecht an der Universität zu Köln ist eine gemeinsame Forschungseinrichtung der Universität zu Köln, des DAV, der BRAK und der BNotK und wird von der Hans-Soldan-Stiftung mitgefördert. Direktor: Prof. Dr. Martin Henssler. Adresse: Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln, Tel. 0221 4702935, Fax: 0221 4704918, www.anwaltsrecht.org.

Belgien: Die Anwaltschaft macht sich für Arme und Schwache stark

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Bücherschau

Kostenfinanzierung Rechtsanwalt Dr. Matthias Kilian, Ko¨ln

I. Rechtsschutzversicherung In der „...für Anfänger“-Reihe des Verlag C.H. Beck, in der sich schon hilfreiche Titel etwa zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, zur Kostenordnung oder zur Prozesskostenhilfe finden, ist als weitere systematische Darstellung das Werk „Rechtsschutzversicherung für Anfänger“ von Klaus

1

Rechtsschutzversicherung für Anfänger Klaus Schneider, Verlag C.H. Beck, München 2011, 284 S., ISBN 978-3-406-60445-4 32,90 Euro.

Hier wird anschaulich das Dreiecksverhältnis zwischen Versicherung, Versicherungsnehmer und Rechtsanwalt mit den daraus resultierenden Rechtsproblemen aufgeschlüsselt. Abschließende Abschnitte gelten der gerichtlichen Geltendmachung von Rechtsschutzansprüchen und den Möglichkeiten der alternativen Beilegung von Streitigkeiten mit der Versicherung. Ausführliche Checklisten zur Prüfung des Versicherungsschutzes und zur Deckungsanfrage bieten wertvolle Arbeitshilfen, im Anhang abgedruckt sind schließlich noch die ARB 2008 sowie ein Glossar versicherungsrechtlicher Begriffe. Wer eine kompakte und anschauliche Darstellung der Rechtsschutzversicherung sucht, wird sie in diesem Buch anschaulich finden. Der Verfasser beschränkt sich allerdings fast vollständig auf versicherungsrechtliche Aspekte, so werden berufs- und vergütungsrechtliche Probleme, die sich bei der Zusammenarbeit mit Rechtsschutzversicherungen durchaus stellen können, nicht weiter thematisiert.

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Das von Hans Buschbell und Manfred Hering verfasste „Handbuch Rechtsschutzversicherung“ ist das einzige dickleibige Handbuch auf dem Markt, das sich ausschließlich mit der Rechtsschutzversicherung befasst. Es erscheint mittlerweile im zweijährlichen Rhythmus in Neuauflage – Handbuch Rechtsschutzversicherung

Schneider erschienen. Wie der Titel nahelegt, richtet sich das Buch vor allem an junge Rechtsanwälte, aber auch an Fachangestellte in Kanzleien und Versicherungen, und damit an eine etwas andere Zielgruppe als das umfangreichere, vom Zuschnitt aber grundsätzlich vergleichbare Werk von Plote aus demselben Verlag. Auf gut 200 Seiten, denen sich noch an umfassender Anhang anschließt, werden von Schneider die Grundzüge des Rechtschutzversicherungsrechts anschaulich erläutert. Die Wissensvermittlung orientiert sich hierbei an den Bedürfnissen von Lesern, die wenig oder keine Vorkenntnisse in Fragen der Rechtschutzversicherung haben. So werden die rechtlichen Ausführungen immer wieder durch veranschaulichende Beispielsfälle unterbrochen und den einzelnen Abschnitten die jeweiligen Rechtsgrundlagen durch den Abdruck der relevanten Passagen aus den ARB vorangestellt. Nach grundlegenden Ausführungen zur Prüfung der Rechtsschutzdeckung liegt der erste Schwerpunkt auf der Schilderung der verschiedenen Leistungsarten in § 2 ARB, die auf rund 25 Seiten erfolgt, gefolgt von ebenso detaillierten Erklärungen zu den allgemeinen Risikoausschlüssen in § 3 ARB. Jeweils 15 Seiten sind den Leistungen des Rechtsschutzversicherers (§ 5 Abs. 1 ARB) und den Kostenbeschränkungen (§ 5 Abs. 3 ARB) gewidmet. Es schließt sich ein längerer Abschnitt an, der die genauen Voraussetzungen eines Rechtsschutzversicherungsfalls im Sinne von § 4 ARB erläutert, gefolgt von einer Darstellung der Obliegenheiten in der Rechtschutzversicherung. Hier weist Schneider bereits – in der für das Werk charakteristischen Kompaktheit – auf die aktuellen Entwicklungen rund um die Kostenvermeidungsobliegenheit und ihre Neugestaltung seitens der Versicherungswirtschaft durch die ARB 2010 hin (er enthält sich hierbei einer Bewertung, ob diese die Unwirksamkeitsfolge der vom BGH 2009 kritisch bewerteten Vorgängerregelung vermeiden kann). Nach Abschnitten, die die Deckungsablehnung und Verjährungsprobleme beleuchten, ist der letzte umfassende Abschnitt sodann den Rechtsverhältnissen beim rechtsschutzversicherten Mandat gewidmet. Bücherschau, Kilian

Hans Buschbell/Manfred Hering, Deutscher Anwaltverlag, 5. Auflage, Bonn 2011, 892 S., ISBN 978-3-8240-1174-2 89 Euro.

bereits die Vorgängerauflagen 2007 und 2009 sind in der Bücherschau ausführlicher vorgestellt worden (AnwBl 7/2007, 6/2009). Ausweislich des Vorworts beruht die aktuelle Vorauflage weniger auf grundlegenden inhaltlichen Umbrüchen als der Tatsache, dass die vierte Auflage rasch vergriffen war. Insofern hat sich an Konzept und Aufbau des Werks nichts geändert, es gliedert sich weiterhin in neun Hauptteile und 39 Paragraphen. Entsprechend dem Erscheinungsjahr 2011 liegen dem Werk die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung in der Fassung des Jahres 2010 zu Grunde. Im Wesentlichen zu verarbeiten waren insofern die hierdurch bewirkten Änderungen im Bedingungswerk sowie die zwischenzeitliche Entwicklung der Rechtsprechung. Allein durch die Notwendigkeit dieser Änderungen hat sich der Umfang des Werks um rund 10 % auf nunmehr über 800 Seiten vergrößert. Besonders deutlich ausgeweitet worden ist der zweite Teil des Handbuchs, der allgemeine Fragen des Versicherungsverhältnisses in der Rechtsschutzversicherung behandelt. Er ist um mehr als 20 % auf nunmehr über 250 Seiten angewachsen. An Umfang zugelegt haben in diesem Teil des Handbuchs insbesondere die Kapitel zu den Leistungen der Rechtschutzversicherung und zu den Obliegenheiten des Versicherungsnehmers (auch wenn im fraglichen Abschnitt eine dezidierte Auseinandersetzung mit der Problematik der Transparenz des § 17 Abs. 1 litt. c ARB 2010 nicht erfolgt). Das Resümee früherer Rezensionen in der Bücherschau gilt fort: Das Buch hat auf dem Markt praktisch eine Alleinstellung. AnwBl 11 / 2012

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Bücherschau

II. Staatliche Kostenhilfe Ein interessantes Konzept verbirgt sich hinter dem von Stefan Poller und Joachim Teubel herausgegebenen neuen Titel „Kostenhilferecht“. In dem als Kommentar angelegten Werk werden auf gut 800 Seiten von zwölf Autoren (fast) alle bei der Drittfinanzierung der anwaltlichen Vergütung für

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Kostenhilferecht 3. Stefan Poller/Joachim Teubel (Hrsg.), Nomos-Verlag, Baden-Baden 2012, 839 S., ISBN 978-3-8329-6479-5 88 Euro.

sicherten Mandat reicht, macht das Werk vor allem für generalistisch tätige Rechtsanwälte nützlich.

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Bereits nach zwei Jahren ist in der Reihe NJW Praxis das Werk „Prozesskosten- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe“ in neuer, sechster Auflage erschienen. Dass es nunmehr mit Helmut Büttner, Hildegard Wrobel-Sachs, Yvonne Gottschalk und Werner Dürbeck vier Autoren in der Autorenzeile nennt, zeigt, dass es zu größeren Umbrüchen gekomProzesskosten- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe Helmut Büttner/Hildegard Wrobel Sachs/Yvonne Gottschalk/Werner Dürbeck (Hrsg.), Verlag C.H. Beck, 6. Auflage, München 2012, 397 S., ISBN 978-3-406-62487-2, 49 Euro.

den Rechtsanwalt relevant werdenden Vorschriften erläutert. Da diese in den verschiedensten Normen enthalten sind, werden die relevanten Vorschriften von nicht weniger als 15 Gesetzen kommentiert. Naturgemäß liegen die Schwerpunkte zunächst auf den die Prozesskostenhilfe regelnden §§ 114–127, 1076–1078 ZPO, die auf rund 200 Seiten behandelt werden. Selbstverständlich bietet auch ein Kommentar zur ZPO Informationen zur PKH – während ZPO-Kommentare Fragen der PKH jedoch zumeist eher beiläufig mitabhandeln, sind die Vorschriften hier in gewisser Weise das Herzstück des Werkes, denen ersichtlich besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Die aus den anderen Verfahrensordnungen auf die §§ 114 ff. ZPO verweisenden Vorschriften (§§ 166 VwGO, § 73 a SGG, 142 VwGO, § 11 a ArbGG) werden an anderer Stelle im Kommentar jeweils auf einigen Seiten behandelt. Einer 40seitigen Erläuterung der §§ 76–78 FamFG schließt sich die Kommentierung des BerHG an, das auf rund 50 Seiten eher knapp behandelt wird. Großen Raum nehmen sodann die Vorschriften zur Pflichtverteidigung und anderen Formen der staatlich finanzierten Verteidigertätigkeit in Straf- und OWi-Verfahren ein – diesen Normen werden rund 130 Seiten eingeräumt. Noch etwas ausführlicher gerät die Kommentierung der ARB (weshalb der Titel ebenso gut bei den zuvor vorgestellten Titeln zur Rechtsschutzversicherung gut aufgehoben gewesen wäre). Neben diesen für die Drittfinanzierung der anwaltlichen Tätigkeit zentralen Normkomplexen werden auch Vorschriften erörtert, die Vorschalt- oder Folgefragen behandeln – so etwa die berufsrechtlichen Vorschriften zu PKH, Beratungshilfe und Pflichtverteidigung in BRAO und BORA, die vergütungsrechtlichen Regelungen in §§ 44–59 RVG oder die versicherungsvertragsrechtlichen Fragen in §§ 125–129 VVG. Damit nicht genug, auch an der Peripherie des Generalthemas liegende Aspekte werden behandelt, so die Kostenhilfe im Insolvenzverfahren (§§ 4 a-d InsO) oder die Vorschriften des BetrVG zur Pflicht zur Tragung der Kosten des Betriebsrats durch den Arbeitgeber. Bei einer Gesamtschau ist festzustellen, dass es zuvor zu den meisten behandelten Materien umfassendere Kommentierungen gibt, etwa zu den ARB, zum BerHG oder zum RVG. Der besondere Reiz und Nutzen des Kommentars liegt aber darin, alle Regelungen in einem Werk zusammenzuführen und damit das Konzept der immer beliebter werdenden Querschnittskommentare für das Kostenhilferecht aufzugreifen. Die hieraus resultierende thematische Weite, die von der Pflichtverteidigung über das familienrechtliche Verfahren bis hin zum rechtsschutzver900

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men ist. Sie haben einen betrüblichen Grund, ist mit Helmut Büttner doch 2011 kurz nach Elmar Kalthoener nun auch der zweite Begründer des Werks verstorben, so dass eine Nachfolgeregelung gefunden werden musste. Die von Büttner über 20 Jahre bearbeiteten Abschnitte des Buches betreuen mit Yvonne Gottschalk und Werner Dürbeck künftig zwei Richter aus der hessischen Justiz. Sie teilen sich die ihnen zugefallenen Teile, die rund die Hälfte des Werkes ausmachen, mit der bisherigen Autorin Hildegard Wrobel-Sachs. Nachdem die Vorauflage bereits die Neuerungen durch das FamFG, die Stundung im Insolvenzverfahren und die Änderung des § 121 ZPO berücksichtigen konnte, liegen inhaltliche Schwerpunkte der nun erschienenen Überarbeitung auf der Einarbeitung der Auswirkungen der Reform der sozialhilferechtlichen Vorschriften, die die Bedürftigkeit im Sinne der staatlichen Kostenhilferechts determinieren, sowie auf der Auswertung der ersten Rechtsprechung zum FamFG. Die Darstellung der Verfahrenskostenhilfe wurde daher deutlich ausgebaut. Eine weitere Neuauflage wird sicherlich nicht allzu lange auf sich warten lassen, hat das Bundeskabinett doch im August 2012 den Entwurf für ein Gesetz zur Änderung des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts beschlossen. Es wird im Falle seiner absehbaren Verabschiedung zahlreiche Änderungen der einschlägigen Vorschriften in ZPO und BerHG mit sich bringen. Gleichwohl ist der Titel bis dahin das bewährte hilfreiche Kompendium bei der Bearbeitung von Prozesskosten-, Verfahrenskosten- und Beratungshilfemandaten. Damit dies so bleibt, haben sich Verlag und Autoren erkennbar bemüht, eine „magische“ Preisschwelle nicht zu erreichen: Der Umfang des Buches hat lediglich um gut 10 Seiten zugelegt, so dass auch der Preis nur minimal auf 49 Euro erhöht wurde. Dr. Matthias Kilian, Köln Der Autor ist Rechtsanwalt und Direktor des Soldan Instituts. Sie erreichen den Autor unter der E-Mail-Adresse [email protected].

Bücherschau, Kilian

MN Magazin

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Mehr Freiheit bei der Pflichtfortbildung Dr. Helene Bubrowski, Berlin

Wie viel Pflichtfortbildung braucht ein Fachanwalt? 10 Seminarstunden sagt § 15 FAO. Alle Versuche der Satzungsversammlung, daraus 15 Stunden zu machen, sind bisher gescheitert. Jetzt wird über flexiblere Formen der Pflichtfortbildung nachgedacht – Online-Alternativen bieten sich an.

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Steuerdaten-CD: Der Zweck heiligt (nicht) die Mittel? Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln

Was darf der Staat, um Steuersündern auf die Spur zu kommen? Das Bundesverfassungsgericht sieht bei Steuerdaten aus Straftaten kein Beweisverwertungsverbot. Doch heißt das auch, dass der Staat zum Datenklau motivieren darf?

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Den Nationalstaat um der Demokratie willen verteidigen – oder umgekehrt? Rechtsanwalt Dr. Nicolas Lührig, Berlin

Der 69. Deutsche Juristentag endete mit einer Diskussion über die Zukunft Europas – und die Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs sowie der luxemburgische Finanzminister verteilten kräftig Seitenhiebe. Den Mahner gab Jürgen Habermas.

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Anwälte fragen nach Ethik: Bargeld als Honorar DAV-Ausschuss Anwaltliche Berufsethik

In jedem Heft des Anwaltsblatts stellt der Ausschuss Anwaltliche Berufsethik eine ethische Frage: Diesmal geht es darum, wie ein Sozius mit Bargeld als Honorar umgehen sollte. Was meinen die Leserinnen und Leser? Antworten bitte an [email protected].

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Report

Mehr Freiheit bei der Pflichtfortbildung Online-Alternativen zu Präsenzseminaren: Satzungsversammlung prüft Reform von § 15 FAO Dr. Helene Bubrowski, Berlin

MN

Report

Die rund 36.800 deutschen Fachanwälte müssen sich im Jahr zehn Stunden fortbilden. Diese Verpflichtung hat sich die Anwaltschaft in ihrem eigenen Satzungsrecht selbst auferlegt. Schon lange gibt es die Überlegung, die Pflichtfortbildung auf 15 Stunden zu erhöhen. Doch die Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer konnte sich dazu zweimal nicht durchringen. Eine neue Idee ist, den § 15 Fachanwaltsordnung (FAO) für die Online-Fortbildung großzügig zu öffnen. Der für die Fachanwaltschaften zuständige Ausschuss der Satzungsversammlung denkt über eine Reform nach. Zwei Juristen, drei Meinungen. Das stimmt nicht nur für das von Juristen anzuwendende Recht, sondern erst recht für das auf sie anzuwendende Recht. So ist es auch beim Thema Fortbildung der Fachanwälte. Hier stehen gewichtige Interessen auf dem Spiel: Es geht um Geld, um Zeit und um Qualitätssicherung. Eine Reform in diesem Bereich ist daher ein brisantes und kontroverses Unterfangen. Wie viele Stunden muss ein Fachanwalt im Jahr absolvieren, damit sein Titel nicht in Gefahr gerät? Und muss er dafür Präsenzveranstaltungen besuchen oder reichen Online-Seminare oder Selbststudium? Unter welchen Voraussetzungen kann er sicher sein, dass die örtliche Rechtsanwaltskammer seine Fortbildung anerkennt? § 15 Fachanwaltsordnung (FAO) bietet eine gewisse Orientierung. Von einem zeitlichen Minimum von zehn Stunden ist dort die Rede. Und auch wie ein Anwalt diese Stunden füllen soll, verrät die Norm: entweder durch wissenschaftliche Publikationen oder durch die hörende oder dozierende Teilnahme an anwaltlichen Fortbildungsveranstaltungen. Das Merkmal der „hörenden Teilnahme“ erfuhr eine sehr restriktive Auslegung durch die örtlichen Rechtsanwaltskammern. Ein Fortbildungsmodell wie das „Anwaltszertifikat Online“ der Deutschen Anwaltakademie, bei dem die Abonnenten alle zwei Wochen per Mail einen Newsletter mit aktueller Rechtsprechung und ausgewählten Veröffentlichungen erhalten und alle drei Monate mit Multiple-ChoiceFragen ihr Wissen überprüfen, erachtete 2008 nur die Kölner Kammer für ausreichend. Lesen und Klicken sei nicht dasselbe wie Hören, hielten die Kollegen aus den anderen Kammerbezirken entgegen. Präsenzseminar online geht schon jetzt – alles andere im Netz nicht Die Neufassung von § 15 FAO durch die Satzungsversammlung (in Kraft seit dem 1. März 2010) bestätigt diesen zurückhaltenden Ansatz und präzisiert zugleich die Voraussetzungen, unter denen eine Fortbildungsveranstaltung online anerkennungsfähig ist: Die Möglichkeit der Interaktion des Referenten mit den Teilnehmern sowie der Teilnehmer untereinander muss während der Dauer der Veranstaltung sichergestellt sein, und der Nachweis der durchgängigen Teilnahme muss erbracht werden. Auf dieser Grundlage werden „Online-Präsenzseminare“, auch „Webinare“ genannt, von den Rechtsanwaltskammern anerkannt. Die Bandbreite des derzeitigen Angebots zeigt ein Blick auf die Internetseiten der Deutschen Anwaltakademie (www.anwaltakademie.de) und der Teletax GmbH des Steuerberaterverbands (http://www.teletax.de). Die Teilnehmer folgen auf ihren Computerbildschirmen zu Hause dem Vortrag des Referenten. Dabei können sie durch Drücken eines Video-Buttons jederzeit Fragen stellen sowie über eine Chatfunktion miteinander kommunizieren. Und der teilnehmende Anwalt muss noch nicht einmal technisch besonders ausgerüstet sein: Ein internetfähiger Computer mit Lautsprecher sowie eine Internetverbindung mit einer Übertragungsrate von mindestens 1 MBit/s sind alles, was er braucht. Die persönliche Teilnahme während der Veranstaltung unterliegt einer doppelten Überprüfung: Die Zugangsdaten für das Programm werden vorab per E-Mail an das persönliche Postfach übermittelt, so dass sich nur der angemeldete Teilnehmer einloggen kann. Zusätzlich werden während der Veranstaltung Kontrollfragen gestellt, die ein Teilnehmer nur dann beantworten kann, wenn er die ganze Zeit über zugehört hat. Zum Beispiel teilt der Referent nach den ersten zehn Minuten mit, wie das Codewort am Tor zum Heckenrosental bei den Brüdern Löwenherz lautet, um zu beliebigen Zeitpunkten im Verlauf der Veranstaltung eben danach zu fragen. „Qualitativ stehen die Online-Seminare den traditionellen Präsenzseminaren in nichts nach“, meint Rechtsanwalt Philipp Wendt (Geschäftsführer der Deutschen Anwaltakademie). Er hält es für wenig sinnvoll, auf physische Anwesenheit in einem Kursraum zu bestehen. Die Interaktion zwischen Teilnehmern und Referenten sei über das Internet häufig sogar einfacher als von Gesicht zu Gesicht. AnwBl 11 / 2012

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Report

Hintergrund

Der § 15 FAO im Wortlaut Für den Erlass der Fachanwaltsordnung (FAO) ist aufgrund der Ermächtigung in § 59 b BRAO die Satzungsversammlung zuständig. Die Pflichtfortbildung der Fachanwälte ist in § 15 FAO geregelt. Sein Wortlaut seit dem 1. März 2010: (1) Wer eine Fachanwaltsbezeichnung führt, muss kalenderjährlich auf diesem Gebiet wissenschaftlich publizieren oder an anwaltlichen Fortbildungsveranstaltungen hörend oder dozierend teilnehmen. Bei Fortbildungsveranstaltungen, die nicht in Präsenzform durchgeführt werden, müssen die Möglichkeit der Interaktion des Referenten mit den Teilnehmern sowie der Teilnehmer untereinander während der Dauer der Fortbildungsveranstaltung sichergestellt sein und der Nachweis der durchgängigen Teilnahme erbracht werden. (2) Die Gesamtdauer der Fortbildung darf je Fachgebiet 10 Zeitstunden nicht unterschreiten. (3) Die Erfüllung der Fortbildungsverpflichtung ist der Rechtsanwaltskammer unaufgefordert nachzuweisen. „Präsenzveranstaltungen von Hochschullehrern und BGH-Richtern sind in fachlicher Hinsicht natürlich hervorragend, aber solche hochkarätigen Dozenten lassen längst nicht immer eine Diskussion zu“, erläutert Wendt. Eine lückenlose Kontrolle gebe es auch bei Offline-Angeboten nicht. „Ob ein Teilnehmer den Raum für ein längeres Telefonat verlässt, nachdem er sich in die Unterschriftenliste eingetragen hat, ist schlicht nicht zu überprüfen.“ Und letztlich hänge über allen Anwälten das Damoklesschwert der Anwaltshaftung. Wer sich um die Fortbildung herumdrücke, habe wenig davon. „Daher absolvieren die meisten Fachanwälte tatsächlich mehr Fortbildungsstunden als in § 15 FAO vorgeschrieben.“ Online-Fortbildung trägt dem Bedürfnis der Fachanwälte nach flexiblen und kostengünstigen Möglichkeiten Rechnung, das vorgeschriebene Stundensoll zu erfüllen. Fortbildung am eigenen Schreibtisch ist ein Erfolgsmodell. Das zeigen schon die Zahlen der Deutschen Anwaltakademie: Die Teilnehmerzahl in Online-Seminaren hat sich zwischen 2009 und 2012 verdreifacht, die Anzahl der Online-Angebote verdoppelt. Die Kosten für ein zweieinhalbstündiges Seminar der Anwaltakademie betragen etwa 90 Euro. Zwar ist ein ganztägiges Präsenzseminar auf die Stunde heruntergerechnet nicht viel teurer. Hinzu kommen aber noch die Ausgaben für Übernachtung und Anreise, und auch der Verdienstausfall ist am Ende höher.

Dr. Helene Bubrowski, Berlin Die Autorin ist Rechtsreferendarin am Kammergericht Berlin. Sie schreibt unter anderem für Anwaltsblatt und Anwaltsblatt Karriere. Sie erreichen die Autorin unter der E-Mail-Adresse [email protected].

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Fachanwaltsordnung hinkt dem technisch Machbaren hinterher „Technisch ist neben den Online-Präsenzseminaren vieles möglich“, erklärt Wendt. „Es gibt Raum für kreative Ideen.“ Doch noch hinkt die Fachanwaltsordnung dem technisch Machbaren hinterher. Rechtssicherheit in dieser Frage ist notwendig, um unnützen Aufwendungen vorzubeugen. Die Fachanwälte müssen Klarheit darüber haben, durch den Besuch welcher Seminare sie ihre Fortbildungspflicht erfüllen. Aus diesem Grund ist eine Reform von § 15 FAO im Gespräch. Die FAO ist Satzungsrecht. Die Anwälte, vertreten durch die Satzungsversammlung, haben es selbst in der Hand, sich zu modernisieren. Konkrete Änderungsvorschläge des für die Fachanwaltschaften zuständigen Ausschusses 1 der Satzungsversammlung liegen noch nicht auf dem Tisch. Über die künftige Ausgestaltung von § 15 FAO lässt sich nur mutmaßen. Denkbar ist es, Modelle wie das „Anwaltszertifikat Online“ als vollwertiges Fortbildungsprogramm anzuerkennen. Im Gegenzug könnte sich der Stundensoll auf 15 oder sogar 20 Stunden erhöhen. Richtungsweisend wäre eine Änderung des Nachweissystems. Gegenüber einer fixen Stundenvorgabe hat ein Punktesystem nach dem Vorbild der Fortbildung von Kassenärzten viele Vorteile: Es eröffnet mehr Raum für Flexibilität und vermeidet Umrechungsschwierigkeiten (wie vielen Stunden entspricht eine dreiseitige wissenschaftliche Publikation?). „Wir diskutieren derzeit die unterschiedlichen Möglichkeiten“, sagt Dr. Susanne Offermann-Burckart (Vorsitzende des Ausschusses 1 der Satzungsversammlung). Ein Vorschlag für die Satzungsversammlung sei aber erst im Jahre 2013 zu erwarten.

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Meinung & Kritik

Gefühlte Qualitätssteigerung Plädoyer für eine kreativere Pflichtfortbildung für Fachanwälte Rechtsanwalt Andreas Hagenko¨tter, Ratzeburg

„Das Mantra des Präsenzseminars predigen altgediente Berufsrechtler aus den Rechtsanwaltskammern immer und immer wieder. Woher kommt nur die Gewissheit, dass eine Anwältin, ein Anwalt in einem verpflichtenden Seminar genauer hinhört und tiefer analysiert als sonst im Berufsleben?“

Andreas Hagenkötter, Ratzeburg Der Autor ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht und für Strafrecht.. Sie erreichen den Autor unter der E-Mail-Adresse [email protected].

Niemand bestreitet, dass bei der blitzartig über alle Juristen ständig hereinbrechenden Gesetzesflut und Rechtsprechung ständige Fortbildung unumgänglich ist. Keine Anwältin, kein Anwalt kann ohne Fortbildung, ohne intensive Lektüre der Fachzeitschriften und ohne Mitlesen der Rechtsprechung anständig beraten oder vertreten – die Haftungskeule immer im Nacken. Keine Kanzlei kann sich am Markt dauerhaft mit schlechter Qualität behaupten. Daran ändert auch alles Marketing nicht. Zu Recht gibt es bisher keine sanktionierte Fortbildungspflicht für alle Anwälte. Nur Fachanwälte kennen eine Pflichtfortbildung von zehn Stunden für Seminare (§ 15 FAO). Aber machen wir uns nichts vor: Kein Zwang der Kammerwelt steigert auch nur im Ansatz die Qualität der Rechtsberatung durch die Anwaltschaft. Die Qualität des (Fach-)Anwalts hat nicht nur etwas mit der Kenntnis der Rechtsnormen und der Rechtsprechung, sondern auch etwas mit Berufserfahrung, Lebenserfahrung und vor allem mit Charakter zu tun. Anwälte sind keine reinen Rechtsanwender, sondern Problemlöser und müssen mehr können als Richter. Die Qualität beginnt dort, wo sich die beauftragte Anwältin, der mandatierte Anwalt fragt, ob man sich der gestellten Aufgabe gewachsen sieht. Zu wissen, wo die eigenen Stärken und Schwächen liegen, ist eines der wesentlichen Qualitätsmerkmale anwaltlicher Berufsausübung. Sich nur die Mandate zuzutrauen für die man die entsprechende Fachkompetenz besitzt oder sich in vertretbarer Zeit aneignen kann, ist wesentlicher als jede Fortbildungspflicht. Zur Qualität anwaltlicher Tätigkeit kommen ferner hinzu: Gradlinigkeit, Aufrichtigkeit, Fleiß, Sorgfalt und eine gewisse „intellektuelle Grundausstattung“, um es vorsichtig auszudrücken. All dies sind Dinge, die der Mensch, der den Beruf des Anwalts gewählt hat, eigentlich mitbringen oder entwickeln sollte. Als sicher darf gelten, dass alle diese Merkmale, die so wesentlich sind für die Ausübung des Anwaltsberufes, durch keine Fortbildungspflicht vermittelt werden. Kommen wir zu Normen und Rechtsprechung. Das Mantra des Präsenzseminars predigen altgediente Berufsrechtler aus den Rechtsanwaltskammern immer und immer wieder. Woher kommt nur die Gewissheit, dass eine Anwältin, ein Anwalt in einem verpflichtenden Seminar genauer hinhört und tiefer analysiert als sonst im Berufsleben? Was ist mit dem oberflächlichen Kollegen, der gestressten Kollegin? Und umgekehrt – ist es für den einen Anwalt, der die wichtigsten neuen Entscheidungen aus seinem Fachgebiet längst in Gänze gelesen hat, nicht unendlich langweilig, genau diese Entscheidung von einer anderen Anwältin viele Monate später referiert zu bekommen? Was soll das am Ende die Qualität steigern? Ein oft gehörtes und gelesenes Argument für die Fortbildungspflicht ist der Austausch mit anderen Kollegen und den Referenten. Natürlich kann der kollegiale Austausch fachlich sehr befruchtend sein, aber wie viel wird denn wirklich in Fortbildungsveranstaltungen diskutiert? Verpflichtend ist das nicht. Und ist für den kollegialen Austausch der Besuch einer Fortbildungsveranstaltungspflicht notwendig? Ist das lange Telefonat, das gemeinsame Mittagessen in der Verhandlungspause mit dem Mitverteidiger über die weiteren Schritte eines Verfahrens nicht ebenso fruchtbar? Bislang gibt es keine Nachweise dafür, dass die Qualität anwaltlicher Leistung durch die Fortbildungspflicht in Präsenzveranstaltungen verbessert werden kann. Es bleibt dabei: Nur wer lernen will, der lernt! Auch hier gilt: Mehr Mut zur Freiheit! Ich wünsche mir kreativere Fortbildungsmodelle, gerne auch mit neuen Formen der Online-Fortbildung und gestreckt über längere Zeiträume – also keine Verlängerung, sondern mehr Flexibilität bei der Fortbildungspflicht der Fachanwälte!“ AnwBl 11 / 2012

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Kommentar

Der Zweck heiligt (nicht) die Mittel? Die Schweizer Steuerdaten und der deutsche Rechtsstaat Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bu¨hren, Ko¨ln

„Unsere Rechtsordnung kennt zwar den Begriff des übergesetzlichen Notstandes, der es rechtfertigt, eine Straftat zu begehen, um ein höherwertiges Gut zu verteidigen. Die finanzielle Notlage der Staatskasse ist sicherlich kein derartiger rechtfertigender Notstand.“

Darf der Staat gestohlene Steuerdaten aus der Schweiz ankaufen? Oder – anders gefragt: Darf der Staat potentielle Täter sogar mit dem Versprechen zum „Datenklau“ motivieren, auch in Zukunft weitere Steuerdaten anzukaufen? Die juristische Auseinandersetzung über diese heikle Frage findet nur im Verborgenen statt. Der Bundesinnenminister und auch der Wirtschaftsminister des Landes Nordrhein-Westfalen berufen sich darauf, dass auch heute rechtens sein müsse, was vor drei Jahren bei den Daten aus Lichtenstein nicht beanstandet worden sei. Schließlich wird auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. November 2010 verwiesen (2 BvR 2101/09) in der es – angeblich – heißt, dass der Ankauf gestohlener Steuerdaten nicht strafbar sei. Gerade zu dieser Frage hat das Bundesverfassungsgericht sich in der vorgenannten Entscheidung nicht geäußert. Das höchste deutsche Gericht hat vielmehr lediglich festgestellt, dass die auf diese Weise beschafften Steuerdaten keinem Beweisverwertungsverbot unterliegen. Im entschiedenen Fall hatte ein Betroffener dagegen geklagt, dass aufgrund der Auswertung von Steuerdaten aus Lichtenstein bei ihm eine Wohnungsdurchsuchung durchgeführt worden war. Nach § 259 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft, wer eine Sache, die ein anderer gestohlen hat, ankauft. Steuerdaten sind keine „Sache“, so dass dieser Straftatbestand ausscheidet. Die Bundesjustizministerin hat einen Gesetzentwurf angekündigt, durch den das Strafgesetzbuch den Besonderheiten des elektronischen Rechtsverkehrs angepasst werden soll. In der Schweiz gibt es bereits einen entsprechenden Straftatbestand. In der strafrechtlichen Diskussion werden die Wirtschaftsstrafssachen meist ausgeblendet. Gemäß § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG macht sich wegen Geheimnisverwertung strafbar, wer in Schädigungsabsicht ein Geschäfts- oder Betriebsgeheimnis, das er sich unbefugt verschafft hat, unbefugt verwertet oder jemandem mitteilt. Der Bankmitarbeiter, der Steuerdaten widerrechtlich sich verschafft hat, hat sich somit auch nach deutschem Recht strafbar gemacht. Wenn dieser Mitarbeiter die CD-ROM mit Steuerdaten an die deutsche Finanzverwaltung verkauft, so verwertet er diese Geheimnisse, da seine Tätigkeit darauf gerichtet ist, die Daten wirtschaftlich zu nutzen. Ein Wirtschaftsminister, der öffentlich ankündigt, er wolle auch in Zukunft gestohlene Steuerdaten käuflich erwerben, könnte sich daher gemäß § 111 StGB strafbar machen, da nach dieser Vorschrift derjenige bestraft wird, der öffentlich zur Begehung einer Straftat auffordert. Ebenso ist an den Tatbestand der Begünstigung nach § 257 Abs. 1 StGB zu denken. Nach dieser Vorschrift wird derjenige bestraft, der einem Straftäter hilft, die Vorteile der Tat zu sichern. Die Steuerdaten als solche sind für den Täter wertlos, sie gewinnen erst dann an Wert, wenn sich ein Käufer findet, der die gestohlenen Daten auswertet. In dieses Bild passt dann auch der Ratschlag von Spitzenpolitikern, Steuersünder sollten kurzfristig Selbstanzeige erstatten, bevor die gestohlenen Steuerdateien ausgewertet sind. Dieser Hinweis liegt im Grenzbereich der Nötigung gemäß § 240 StGB. Unsere Rechtsordnung kennt zwar den Begriff des übergesetzlichen Notstandes, der es rechtfertigt, eine Straftat zu begehen, um ein höherwertiges Gut zu verteidigen. Die finanzielle Notlage der Staatskasse ist sicherlich kein derartiger rechtfertigender Notstand. Um Missverständnissen vorzubeugen: Steuerhinterziehung ist ein gemeinschädliches Verhalten, das streng und unnachsichtig zu bestrafen ist. Ein Rechtsstaat darf sich jedoch nicht krimineller Methoden bedienen, um derartige Straftaten aufzudecken und die Straftäter ihrer gerechten und verdienten Strafe zuzuführen. Dr. Hubert W. van Bühren Der Autor ist Rechtsanwalt. Er ist Präsident der Rechtsanwaltskammer Köln. Sie erreichen den Autor unter der E-Mail-Adresse [email protected].

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Gastkommentar

Der Bart des Propheten Im Spannungsfeld zwischen Grundrechten und religiösem Bekenntnis Jost Mu¨ller-Neuhof, Der Tagesspiegel

„Sicher mögen andere Motive, andere Personen, andere Umstände und ein anderes handwerkliches Niveau eine Rolle gespielt haben, in seiner Aussage war der Bomben-Mohammed des Karikaturisten so trivial und im Ergebnis so verletzend wie die Schmähung durch den MohammedFilm. Das hätte eine sensible Politik erkennen können. Leider hat sie es nicht.“

Von der strafbaren Religionsbeschimpfung ist selten die Rede, aufgeklärten Geistern gilt der Paragraph 166 des Strafgesetzbuches als alter Zopf, der abgeschnitten gehört. In der Rechtswissenschaft hält der Streit an, wo dort das Rechtsgut zu verorten ist, ein Blick in die Normgeschichte nährt Zweifel, ob der Wurmfortsatz der Gotteslästerung zu den bewahrungswürdigen Traditionen im säkularen Rechtsstaat gehören soll. Doch wer in diesen Zeiten zur Schere greift, um das Überbleibsel zu kappen, stutzt damit zugleich den Bart des Propheten. Die Diskussion um den Schmähfilm „Unschuld der Muslime“ weist den Islam und seine Anhänger als relevante Schutzgruppe der Vorschrift aus, so meint es zumindest die Bundesregierung, die einem Aufführungsverbot das Wort geredet hat. Es ist kein neues Spannungsfeld, das sich da zwischen Grundrechten und religiösem Bekenntnis auftut, auch nicht im Kontext mit Muslimen. Und doch hat sich etwas geändert. Allem voran ist es die Grundstimmung in der deutschen Politik. Man erinnert sich an Kanzlerin Angela Merkel, die noch vor zwei Jahren mit großer Geste dem Schöpfer eine Karikatur, die Mohammed mit Bombe im Turban zeigt, einen Preis verlieh; an den heutigen Bundespräsidenten Joachim Gauck, der den Zeichner damals für seine „Liebe zur Freiheit“ pries. Geändert zu haben scheint sich seither auch die Haltung in vielen Medien, die die Mohammed-Karikaturen im Namen angstloser Meinungsfreiheit noch veröffentlicht oder deren Veröffentlichung zumindest verteidigt hatten. Einst wurde gekämpft, dann wurde gekniffen. Alles, was damals an Rechtfertigung aufgeboten worden war, Mohammed in einer Zeichnung als Terroristen schildern zu dürfen – sollte es jetzt nicht mehr gelten, da Mohammed im Film als Mörder und Kinderschänder geschildert wurde? Wo ist der Unterschied? Ist das eine Kunst, das andere nicht? Mit Blick auf die Unterschiede tritt das Gemeinsame hervor. Sicher mögen andere Motive, andere Personen, andere Umstände und ein anderes handwerkliches Niveau eine Rolle gespielt haben, in seiner Aussage war der Bomben-Mohammed des Karikaturisten so trivial und im Ergebnis so verletzend wie die Schmähung durch den Mohammed-Film. Das hätte eine sensible Politik erkennen können. Leider hat sie es nicht. So wurde die Mohammed-Karikatur anerkanntes Protestsymbol von Rechtspopulisten in ganz Europa. Im sicheren Bewusstsein, Muslime rechtmäßig zu beleidigen, und hoffend auf deren gewalttätige Reaktion, die das propagierte Gewaltklischee bestätigen würde, ziehen sie seitdem mit Plakaten vor Moscheen. In solchen Situationen einmal an den ansonsten vergessenen Paragrafen 166 im Strafgesetzbuch zu denken, ist nicht verkehrt. Nur handelt man sich, wendet man ihn an, damit möglicherweise mehr Probleme ein, als man aus der Welt schafft. Es wäre verhängnisvoll, die aus religionskulturellen Gründen niedriger liegende Reizschwelle beleidigter Muslime zum Maßstab für Gefahren des öffentlichen Friedens zu machen. Denn dann müsste man auch Christen raten, sich künftig mit der Faust zu empören, wenn einer Jesus oder das Kreuz verhöhnt. Richter und Staatsanwälte tun also gut daran, Attacken auf religiöse Gefühle mit Augenmaß und im Zweifel überhaupt nicht zu sanktionieren. Allein das Vorhandensein der Norm schafft dennoch eine beruhigende Referenz für mögliche Opfer und sendet eine Botschaft an mögliche Täter. Der Staat schützt nicht nur die Freiheit des Glaubens, sondern er wendet sich auch gegen jene, die ihm mit Hass und Verachtung begegnen. Einstweilen gibt es deshalb keinen Grund, die Vorschrift aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Sie erinnert daran, dass es Grenzen gibt, auch wenn mancher sie erst spät erkennt. Jost Müller-Neuhof, Berlin Der Autor ist Journalist und schreibt für den Tagesspiegel. Sie erreichen den Autor unter der E-Mail-Adresse [email protected].

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Meinung & Kritik

Den Nationalstaat um der Demokratie willen verteidigen – oder umgekehrt? Andreas Voßkuhle, Vassilios Skouris, Jürgen Habermas und Luc Frieden diskutierten auf dem 69. Deutschen Juristentag über die Zukunft Europas Rechtsanwalt Dr. Nicolas Lu¨hrig, Berlin

69. Deutscher Juristentag

Europa am Scheideweg Der 69. Deutsche Juristentag ging am 21. September 2012 mit einer substanzreichen, pointierten und bei aller Ernsthaftigkeit durchaus kurzweiligen Podiumsdiskussion zu Ende: Nur neun Tage nach dem vorläufigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum ESM und zum Fiskalpakt diskutierten der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, der Präsident des Europäischen Gerichtshofes Prof. Dr. Vassilios Skouris, der luxemburgische Finanzminister Luc Frieden und der Philosoph Prof. Dr. Jürgen Habermas über die Zukunft Europas unter dem Motto „Europa am Scheideweg – Krise der Union oder Notwendigkeit einer europäischen Verfassung“. Moderiert wurde die Diskussion von Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Mayen, der kurz zuvor zum neuen Vorsitzenden der Ständigen Deputation des Juristentags gewählt worden war und seit einigen Jahren Vorsitzender des Verfassungsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins ist. Mit der Frage, ob die Eurokrise eine Verfassungskrise der Europäischen Union oder doch nur eine Krise der Währungsunion ist, hatten sich vor dem Juristentag im Doppelheft August/ September des Anwaltsblatts bereits Steinbeis (AnwBl 2012, 739) und Rabe (AnwBl 2012, 741) beschäftigt.

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Auf dem 62. Deutschen Anwaltstag 2011 in Strasbourg war die Stimmung noch bestens: Andreas Voßkuhle, machtbewusster Präsident des Bundesverfassungsgerichts, und Vassilios Skouris, keineswegs weniger machtbewusster Präsident des Europäischen Gerichtshofs, parlierten über die Frage, welches Gericht in Europa das letzte Wort habe. Die freundschaftliche Atmosphäre war Beleg für einen gelebten Gerichtsverbund: Jeder respektierte des anderen Gericht. Voßkuhle betonte charmant, dass das Bundesverfassungsgericht kein großer Tiger sei, der als Bettvorleger enden wolle. Die frühere Rivalität zwischen den Gerichten schien beigelegt. Etwas mehr als ein Jahr später ist das Verhältnis zwischen den Gerichtspräsidenten merklich erkaltet. Zum Abschluss des 69. Deutschen Juristentags trafen sie sich wieder auf einem Podium und Skouris spottete über die prozessuale Erfindung der „summarischen Vollprüfung“. Zuvor hatte Voßkuhle die – sehr gründlich erarbeitete und umfangreiche – Eil-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum ESM und Fiskalpakt verteidigt. Er rühmte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Demokratieprinzip in Europa, ohne die es nicht zu ESM und Fiskalpakt gekommen sei. Das „europäische Gefühl“ könne keinen Verzicht auf Verrechtlichung und demokratische Rückanbindung rechtfertigen. Sein Fazit: Es gebe eine Institutionen- und Personalkrise in Europa – weniger eine Schuldenund Währungskrise. Die selbstgesetzten Regeln hielten die Politiker nicht ein, der Bürger könnte nicht ausreichend Einfluss auf die Politik durch Wahlen nehmen und es fehle ein System der „checks and balances“ (dazu zählte Voßkuhle auch eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit). Bei so viel eloquent vorgetragener Kritik konterte Skouris trocken: „Wir sehen die Dinge offenbar etwas anders.“ Und er setzte nach, dass der Europäische Gerichtshof „etwas neidisch nach Karlsruhe schaue“, mit welcher Dramaturgie die Entscheidung zum ESM und Fiskalpakt zur Schicksalsentscheidung über Europa stilisiert worden sei. Zugleich verwies Skouris darauf, dass der Europäische Gerichtshof in der Sache noch über die gleichen Fragen wie Karlsruhe zu entscheiden habe. Es gebe eine Vorlage des irischen Supreme Court zum ESM und Fiskalpakt, von der die Öffentlichkeit aber kaum Notiz genommen habe. Ob das europäische Primärrecht verletzt sei, werde das Gericht nun prüfen in einem ordentlichen, aber beschleunigten Verfahren – „mit einer Vollprüfung“, so Skouris. Nochmals der Seitenhieb auf Voßkuhle. Dass der Schlagabtausch zwischen Voßkuhle und Skouris am Ende nicht langweilte, verdankten die Juristentagsteilnehmer Luc Frieden und Jürgen Habermas. Frieden ging Voßkuhle direkt an und kritisierte die ESM/Fiskalpakt-Entscheidung als „schwierig zu lesen und zu lang“. Das Ergebnis sei allerdings leicht nachvollziehbar – und umsetzbar. Verwundert stellte Frieden fest, dass die Richter auf dem Podium sich „politisch“ ausdrückten. Er erinnerte an die französische Tradition, dass das Recht „Ausdruck von politischen Entscheidungen“ sei, nicht wie in Deutschland von Gerichtsentscheidungen. Frieden sah keine Krise der Institutionen und Personen, vielmehr werde nun die Debatte über die Zielsetzungen von Europa geführt. Es sei absurd: Alle sagten, dass wir „ein Mehr an Europa“ bräuchten, aber nur „wenn es die anderen betrifft“. Sich selbst wolle kein Mitgliedstaat etwas vorschreiben lassen.

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Meinung & Kritik

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Auf dem Podium (v.l.n.r.): Luc Frieden, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Mayen (Moderator), Prof. Dr. Vassilios Skouris und Prof. Dr. Jürgen Habermas.

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Die Macht des Bundesverfassungsgerichts schmeckt nicht allen. Der luxemburgische Finanzminister Luc Frieden (Foto): „Ich bin der einzig demokratisch Legitimierte am Tisch.“ ...

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... Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, schlagfertig: „Ich bin einstimmig vom Bundesrat gewählt geworden.“ Darauf Frieden: „Ich bin vom Volk gewählt.“ Und zum Schluss setzte Frieden noch nach: „Ich schlage vor, dass Andreas Voßkuhle direkt vom Volk gewählt wird.“

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Für die eher leiseren Töne waren Vassilios Skouris, Präsident des Europäischen Gerichtshofs, und der Philosoph Jürgen Habermas auf dem Podium zuständig, wobei auch Skouris jede Chance ergriff, gegen Voßkuhle zu sticheln. Dieser konnte sich dafür des Zuspruchs der Teilnehmer des Juristentags sicher sein.

Dr. Nicolas Lührig Der Autor ist Rechtsanwalt sowie Geschäftsführer des Deutschen Anwaltvereins und Mitglied der Hauptgeschäftsführung. Er leitet die Redaktion des Anwaltsblatts.

Wenig Verständnis für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Europa hatte auch Jürgen Habermas. Soll „der Nationalstaat um der Demokratie willen oder nicht doch eher die Demokratie um des Nationalstaats willen“ verteidigt werden, fragte er rhetorisch. Er kritisierte die „abschirmend-souveränitätsversessene Argumentationslinie“ des Gerichts, das sein Pulver verschossen habe. Habermas erinnerte an die historische Verantwortung Deutschlands in Europa. Die ökonomischen Zwänge führten zu der Alternative, entweder mit der Preisgabe des Euros das Nachkriegsprojekt der europäischen Einigung irreparabel zu beschädigen, oder die Europäische Union – zunächst in der Euro-Zone – weiter zu vertiefen. „Man kann das eine nicht vermeiden, ohne das andere zu wollen“, mahnte Habermas. Bei aller Differenz: Es gab auch Allianzen zwischen den Kontrahenten. So monierte Habermas ein Legitimationsdefizit des Rates und der EU-Kommission – und lag damit durchaus auf einer Linie mit Voßkuhle. Und auch Skouris hatte gegen eine Verstärkung der demokratischen Legitimation nichts einzuwenden, wenn er auch in diesem Bereich keine besonderen Mängel sah, immerhin seien alle Europäischen Verträge stets in aufwendigen Verfahren ratifiziert worden. Voßkuhle wiederum mühte sich, die europafreundlichen Züge im Lissabon-Urteil zu betonen und die kritischen Töne des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Parlament in der Entscheidung gegen die deutsche Fünf-Prozent-Hürde bei Europawahlen zurück zu nehmen. „Wir leben und sind in Europa“, sagte Voßkuhle und näherte sich damit Skouris wieder an. Frieden lag dann wieder mit Voßkuhle auf einer Linie, als er einräumte, dass sich Europa juristisch nicht glücklich entwickele: Minimallösungen zerstörten Rechtskonstrukte. Kleinster gemeinsamer Nenner war der Wunsch nach einer europäischen Öffentlichkeit, die Moderator Thomas Mayen in die Diskussion geworfen hatte. Habermas kritisierte, dass „kein Gewölbe über der nationalen Öffentlichkeit“ gebaut werde. Frieden monierte, dass es keine europäische Medienlandschaft gebe, die gleiche Debatte zu Europa werde zum Beispiel in Frankreich und in Deutschland ganz unterschiedlich geführt. Skouris Hoffnungsträger für die europäische Debatte war das Europäische Parlament, dem er eine faktische Macht zusprach, die es auf dem Papier nicht habe. Voßkuhle mahnte darauf hin unter anderem starke europäische Gerichte an, eine Spitze, die Skouris sofort damit konterte, dass der Europäische Gerichtshof diese Aufgabe erfüllen werde. Am Ende blieb die Frage nach der Zukunft Europas erstaunlich offen. Voßkuhle hatte drei Varianten vorgestellt und zugleich abgelehnt: Rückbau der Integration, europäischer Bundesstaat und ein schlichtes Sich-Durchwursteln. Sein Favorit war eine vierte Lösung, eine an den Realitäten orientierte Reform „Europa 2020“. Das Europa-Modell von Habermas klang dagegen deutlich utopistischer – nicht mehr Nationalstaat, aber auch kein Bundesstaat. Frieden und Skouris vermieden dagegen Visionen. Sie scheinen zu ahnen, dass es ohnehin auf ein Weiter so hinausläuft.

Sie erreichen den Autor unter der E-Mail-Adresse [email protected].

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AnwaltsBlatt Ethic 1-2012 RZ:RZ

29.08.2012

11:04 Uhr

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Anwälte fragen nach Ethik

Ist das richtig?

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Anwälte fragen nach Ethik

Die Versuchung: Bargeld als Honorar Die Frage nach dem richtigen Handeln stellt sich im Alltag. Lesen, nachdenken, mit Kollegen diskutieren – hätten Sie geschwiegen?

Honorarversuchung I Rechtsanwalt R, Partner einer Kanzlei mit vier weiteren Partnern, mit denen sämtliche Erlöse geteilt werden, berät einen Mandanten im Erstgespräch. Für den Mandanten handelt es sich um eine wichtige Sache – aber tatsächlich ist die Sache so einfach, dass Rechtsanwalt R nach einem 15-minütigen Gespräch eine Lösung hat, mit welcher der Mandant glücklich ist und keinen weiteren Rat braucht. Auf die Frage des Mandanten, was das kosten würde, winkt Rechtsanwalt R ab und sagt, dass eigentlich eine Erstberatungsgebühr hätte vereinbart werden müssen, aber das sei zu umständlich, die Sache sei doch recht einfach gewesen und er wolle nichts berechnen. Daraufhin greift der Mandant in die Tasche und gibt ihm einen 100 Euro-Schein, als „Dankeschön“. Eine Quittung lehnt er entrüstet ab. Rechtsanwalt R möchte den Geldschein für sich, ohne seinen Partnern davon zu erzählen. Ist das richtig? Honorarversuchung II Wie oben, allerdings greift der Mandant bei der Bezahlung in die Tasche und zieht einen 100 Euro-Schein heraus, den er Rechtsanwalt R als „Dankeschön“ übergibt mit dem Hinweis, der Rat sei ihm eigentlich mehr wert gewesen, er habe aber nicht mehr Geld bei sich. Dabei fällt ihm unbemerkt ein 50 Euro-Schein zu Boden, von dem er nicht wusste, dass er ihn bei sich hatte. Nachdem er gegangen ist, findet Rechtsanwalt R den 50 Euro-Schein und steckt ihn wie den 100 Euro-Schein ein, ohne seinen Partnern davon zu erzählen. Ist das richtig?

DAV-Ausschuss Anwaltliche Berufsethik

Der DAV hat einen Ausschuss Anwaltliche Berufsethik. Dieser Ausschuss will eine Diskussion darüber führen und auslösen, ob die anwaltliche Tätigkeit auch ethischen Maßstäben unterliegt, und wenn ja, welchen. Der Vorstand des DAV hat beschlossen, keinen Ethikkodex zu formulieren. Einmal fehlt hierfür die Legitimation. Zum anderen läuft ein solcher Kodex Gefahr, beschlossen und vergessen zu werden. Eine beständige Diskussion um ethische Fragen vermag das Problembewusstsein mehr zu prägen und zu schärfen. Hiervon ausgehend wird das Anwaltsblatt auf einer Seite jeweils ein oder zwei Fallkonstellationen vorstellen, die eine Diskussion um ethische Fragen auslösen könnten. Wir sind gespannt, ob die Kolleginnen und Kollegen dieses Angebot annehmen – und werden über die Antworten berichten. Rechtsanwalt Dr. Michael Streck, Vorsitzender des DAV-Ausschusses Anwaltliche Berufsethik Dem DAV-Ausschuss Anwaltliche Berufsethik gehören an die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte Dr. Michael Streck (Vorsitzendner), Dr. Ute Döpfer, Dr. Joachim Frhr. von Falkenhausen, Niko Härting, Markus Hartung, Petra Heinicke, Hartmut Kilger, Eghard Teichmann (auch Notar) und Silke Waterschek.

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Aus der Arbeit des DAV DAV wirbt auf Deutschem Juristentag für Positionen der Anwaltschaft Deutscher Anwaltverein mit Stand, Pressekonferenz, Empfang und vielen Teilnehmern präsent – Anwaltschaft größte Teilnehmergruppe

Aus der Arbeit des DAV 912 Deutscher Anwaltverein auf dem 69. Deutschen Juristentag Rechtsanwalt Dr. Nicoals Lührig 914 DAV-Stellungnahmen 914 AG Internationaler Rechtsverkehr Initiative für Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht Rechtsanwalt Dr. Jan Curschmann 915 Deutscher Anwaltverein Erfolgreich auf allen Kanälen: Die DAV-Online-Imagewerbung 2012 Jessica Derinyar, DAV 915 Deutscher Anwaltverein Landesverbandskonferenz setzt ein Zeichen gegen Gerichtsschließungen Rechtsanwältin Nicole Pluszyk, DAV 916 AG Anwältinnen Anwältinnen organisieren sich – und wissen, wie man kultiviert feiert Rechtsanwältin Stefanie Köhnke 916 Landesverband Mecklenburg-

Vorpommern Gebührenrecht und der Umgang mit Burnout in der Anwaltschaft Rechtsanwältin Monique Köster 917 Kölner Anwaltverein DAV-Präsident Ewer: Kernwerte der Anwaltschaft bewahren Martin V. Sampedrano Gonzalez 917 DAV-Pressemitteilungen 918 DAV Förderverein für Freie Advokatur Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine – wie weit sind die Reformen? Rechtsanwalt Wolfram Rehbock 918 AG Mietrecht und Immobilien Richter des BVerfG und des BGH treffen auf die Anwaltspraxis Rechtsanwalt Thomas Hannemann 919 AG Handels- und Gesellschaftsrecht Rechtspolitik und Fortbildung: Neues von BGH & Co. Rechtsanwalt und Notar Dr. Carsten Jaeger 919 Deutsche Anwaltakademie Nachrichten 920 Mitgliederversammlung AG Insolvenzrecht und Sanierung 920 Personalien

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Mit mehr als 3.000 Teilnehmern war der 69. Deutsche Juristentag wieder eine Großveranstaltung. Die größte Teilnehmergruppe unter den Juristen war in München mit mehr als 550 Personen die Anwaltschaft – wieder einmal. Am Mittag des ersten Verhandlungstages der Abteilungen hatte der DAV zu einem Empfang eingeladen. In den sechs Abteilungen Zivilrecht, Sozialrecht, Strafrecht, Öffentliches Recht, IT-/Kommunikationsrecht und Wirtschaftsrecht wurde auf dem 69. Deutschen Juristentag über rechtspolitische Forderungen diskutiert. Der Deutsche Anwaltverein war wieder sehr präsent auf dem Juristentag. Eine Lockerung des ABG-Rechts im unternehmerischen Rechtsvekehr forderte der DAV im Vorfeld und auf dem Juristentag in der Abteilung Zivilrecht. „Das AGB-Recht stellt im unternehmerischen Rechtsverkehr heute einen empfindlichen Nachteil des deutschen Rechts dar“, betonte DAV-Vizepräsident Rechtsanwalt Dr. Friedwald Lübbert in der Pressekonferenz des DAV. Lübbert, der den verhinderten DAV-Präsidenten vertrat, nahm auch zu den Beratungen der Abteilung Strafrecht Stellung und mahnte bei Straftaten und der Strafverfolgung im Internet Mäßigung an: „Nicht alles muss strafbar sein, auch eine Vorverlagerung von Straftaten oder Gefährdungsdelikte lehnen die Anwälte ab“. Zugleich forderte er, dass das Anwaltsgeheimnis auch bei der Kommunikation über das Internet geschützt werden müsse. Zum Generalthema Bürgerbeteiligung im Planungsrecht der Abteilung öffentliches Recht warnte Lübbert davor, über eine allgemeine Bürgerbeteiligung die Grundsätze der repräsentativen Demokratie auszuhebeln. Außerdem wiederholte Lübbert vor der Presse die Forderung der Anwaltschaft nach einer RVG-Anpassung. Beim DAV-Empfang dankte Lübbert dem Deutschen Juristentag (DJT) für die gute Zusammenarbeit. Konkret erwähnte er das gemeinsame Symposium zum AGB-Recht im Januar 2012. DAV und DJT hätten die Abtei-

lung Zivilrecht des diesjährigen Juristentages gut vorbereitet. Der scheidende Präsident des Deutschen Juristentages Prof. Dr. Martin Henssler von der Universität Köln dankte dem Deutschen Anwaltverein als Interessenvertreter der Anwaltschaft für sein Engagement auf dem Juristentag. 2004 habe der Juristentag über eine Reform des Rechtsberatungsrechts diskutiert. Seine Vorschläge seien in das Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) eingeflossen, das 2008 in Kraft getreten sei. „Das RDG hat den Konkurrenzdruck in der Anwaltschaft nicht gefördert“, sagte Henssler. Das sei ein Zeichen für die richtige Mischung im RDG. Vor zwei Jahren habe der Juristentag über die Zukunft der freien Berufe beraten. Daraus sei die Gesetzesinitiative zur Schaffung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung geworden. Diese Ergebnisse in der Gesetzgebung unterstrichen die Bedueutung des Juristentags für die Anwaltschaft. Henssler äußerte aber auch Kritik an der Anwaltschaft: Bei Pro bono-Tätikgeiten sollte sich die Anwaltschaft mehr Mühe geben und alle Restriktionen beseitigen. Als Menschenrechtsverteidiger seien deutsche Anwälte eine rare Spezies. Mehr Pro Bono-Tätigkeit sei daher eine lohnende Forderung für die Anwaltsverbände. Juristentag: Nächster Präsident Anwalt Der Juristentag endete dann noch am letzten Tag mit einer für die Anwaltschaft erfreulichen Personalie. Nach 1998 wird 2014 wieder ein Rechtsanwalt Präsident des Deutschen Juristentags sein. Rechtsanwalt Prof. Dr. Thomas Mayen wurde zum Vorsitzenden der ständigen Deputation gewählt. Er ist dem DAV seit Langem als Vorsitzender des Verfassungsrechtsausschusses und der Arbeitsgemeinschaft Verwaltungsrecht Nordrhein-Westfalen verbunden. Rechtsanwalt Dr. Nicoals Lu¨hrig, Berlin

Zu den Ergebnissen des 69. Deutschen Juristentags siehe die Meldung auf Seite M 908. Alle Beschlüsse sind abrufbar unter www.djt.de.

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Aus der Arbeit des DAV

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Bei der Eröffnung des 69. Deutschen Juristentags (v.l.n.r.): Rechtsanwalt Siegfried Kauder (Vorsitzender des Rechtsausschusses des Bundestags), Rechtsanwalt Prof. Dr. Wolfgang Ewer (Präsident des DAV), Viviane Reding (EU-Justizkommissarin), Prof. Dr. Martin Henssler (Präsident des 69. Deutschen Juristentags), Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Rechtsanwalt Jerzy Montag (rechtspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen).

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Beim Empfang des DAV: Die bayrische Justizministerin Dr. Beate Merk mit Rechtsanwalt Dr. Friedwald Lübbert (Vizepräsident des DAV), der beim Empfang den DAV-Präsidenten vertrat.

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Der Präsident des Juristentages Prof. Dr. Martin Henssler sprach beim DAV-Empfang.

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Der DAV war mit einem eigenen Informationsstand auf dem DJT in München vertreten.

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Beim Empfang des DAV: Generalbundesanwalt Harald Range (l.) und Rechtsanwalt Oskar Riedmeyer (Vizepräsident des DAV) sowie ....

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... (v.l.n.r.) Rechtsanwalt Prof. Dr. Gerhard Wagner, Rechtsanwalt Dr. Rainer Klocke (Ständige Deputation des Deutschen Juristentags), Marie Luise GrafSchlicker (Bundesjustizministerium), Rechtsanwalt und Notar Herbert Peter Schons (Vizepräsident des DAV und Anwaltsblatt-Herausgeber) sowie ...

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... (v.l.n.r.) Prof. Dr. Makoto Tadaki, Prof. Dr. Katsuyoshi Kato, Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann (DAV-Vizepräsidentin und Anwaltsblatt-Herausgeberin) und Prof. Dr. Tsujimoto Norio sowie ...

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... Prof. Dr. Michael Eichberger (Richter des Bundesverfassungsgerichts, l.) und Prof. Dr. Heinz Josef Willemsen (DAV-Vorstandsmitglied und Anwaltsblatt-Herausgeber) sowie ...

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... Rechtsanwalt Dr. Cord Brügmann (DAV-Hauptgeschäftsführer, l.) und Rechtsanwalt Dr. Andreas Nadler (DJT-Generalsekretär) sowie ...

10 Armin Nack (Vorsitzender Richter am BGH, l.) und Rechtsanwalt Dr. Klaus Hahnzog sowie ... 11 ... Rechtsanwältin Dr. Tina Bergmann und Rechtsanwalt Dr. Jörg Meister sowie ...

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12 ... Thomas Heilmann (Berliner Justizsenator) und Rechtsanwältin Verena Mittendorf (Vizepräsidentin des DAV).

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AG Internationaler Rechtsverkehr DAV-Stellungnahmen

BVerfG stellt den Deal in der StPO auf dem Prüfstand (58/12) DAV-Stellungnahme mit Wirkung: Der Zweite Senat des BVerfG wird § 257c StPO zu Absprachen im Strafprozess auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand stellen. In der mündlichen Verhandlung am 7. November 2012 in Karlsruhe wird es unter anderem um die Frage gehen, ob die Regelungen zum Deal mit dem Schuldprinzip vereinbar sind. Bemerkenswert: Das Gericht will vor allem aufklären, wie der Deal in der Praxis gehandhabt wird. Vertreter aus dem Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins sollen angehört werden. Der Verfassungsrechtsausschuss und der Strafrechtsausschuss waren im Juni in einer gemeinsamen Stellungnahme zu dem Ergebnis gekommen, dass die Regelungen des Deals verfassungswidrig seien (siehe bereits AnwBl 2012, 761).

Änderungen des OWiG in der Kritik (75/12) Der Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins hat zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten und zu dem Entwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen Stellung genommen. Der Strafrechtsausschuss kritisiert insbesondere, dass der Diskussionsentwurf die Frage nach der Zulassung von Unternehmensgeldbußen nicht aufgreift und keine Vorschläge für differenzierte Zumessungsregeln unterbreitet. Nach Auffassung des Strafrechtsausschusses sollten in den Fällen Exkulpationsmöglichkeiten für das Unternehmen zu schaffen sein, in denen es bereits vor Begehung eines Gesetzesverstoßes durch Leitungspersonen angemessene betriebsinterne Verfahren eingerichtet hatte, um Straftaten und Ordnungswidrigkeiten vorzubeugen.

Neufassung der Brüssel IVerordnung (74/12) Der Deutsche Anwaltverein hat durch den Zivilverfahrensrechtsausschuss zu der Allgemeinen Ausrichtung des Rates zum Verordnungsvorschlag der EUKommission über die gerichtliche Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen Stellung genommen. Die

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Ausrichtung wird grundsätzlich begrüßt. Bei aller Vereinfachung auch durch die Abschaffung des Exequaturverfahrens, hält der DAV an seiner Auffassung fest, dass hierzu bestimmte Rahmenbedingungen gegeben sein müssen. Klärungsbedarf sieht der DAV ferner bei der zukünftigen Handhabung von Sammelverfahren und Ehrschutzfällen, die ebenfalls von der Abschaffung des Exequaturverfahrens betroffen sein sollen und in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich behandelt werden. Der DAV würde begrüßen, wenn nur einstweilige Maßnahmen in den Anwendungsbereich einbezogen werden sollen, bei denen der Beklagte zuvor angehört wurde.

Online-Nutzung von Urheberrechten an Musikwerken (72/12) Der Deutsche Anwaltverein hat durch den Ausschuss Geistiges Eigentum zum Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie über kollektive Wahrnehmung von Urheber- und verwandten Schutzrechten und die Vergabe von Mehrgebietslizenzen für die Online-Nutzung von Rechten an Musikwerken im Binnenmarkt (COM (2012) 372) eine Stellungnahme abgegeben. Darin begrüßt der DAV das Vorhaben zur Erleichterung des Lizenzverkehrs bei der Online-Nutzung und der Ermöglichung der Vergabe von Mehrgebietslizenzen, sieht aber in einigen Punkten Nachbesserungsbedarf.

Änderung des UmweltrechtsBehelfsgesetzes (57/2012) Der Umweltrechtsausschuss begrüßt in seiner Stellungnahme die nach dem Trianel-Urteil des EuGH vom 12. Mai 2011 notwendig gewordene Änderung des Umweltrechtsbehelfsgesetzes (UmwRG), durch die das Verbandsklagerecht ausgeweitet wird (da bei der Umweltverbandsklage die bisherige Beschränkung der Rügebefugnis auf Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte entfällt). Der DAV hält jedoch die geplante Neuregelung in § 2a Abs. 2 UmwRG für wenig gelungen, da unklar ist, was genau unter dem Begriff der „Beurteilungsermächtigung“ zu verstehen ist. Der DAV regt bei der Neuregelung des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO deshalb eine Klarstellung an und macht einen konkreten Vorschlag. Alle Stellungnahmen finden Sie im Internet unter www.anwaltverein.de/Interessenvertretung/ Stellungnahmen.

Initiative für Fachanwalt für Internationales Wirtschaftsrecht AG wirbt in der Satzungsversammlung für 21. Fachanwalt Die Globalisierung und Internationalisierung der Wirtschaft bringen spezielle Herausforderungen für international tätige Anwälte mit sich. Wenn die Anwaltschaft mit den Entwicklungen ihrer Mandanten mithalten will, muss sie sich für den Bereich spezialisieren und fortbilden. Denn der internationale Rechtsverkehr geht über die Tätigkeit eines Allgemeinanwalts hinaus und formt ein eigenes Fachgebiet anwaltlicher Tätigkeit. Darauf weist die Arbeitsgemeinschaft Internationaler Rechtsverkehr hin und fordert die Einführung eines entsprechenden Fachanwaltstitels. Die steigende Bedeutung internationaler wirtschaftsrechtlicher Beziehungen deutscher Unternehmen weltweit gewährleistet eine breite Nachfrage nach international-rechtlichen Beratungsleistungen. Deutschland ist eine Exportnation mit den sich daraus ergebenden vielfältigen internationalen Handelsbeziehungen. Für mittelständische Unternehmen ist es ebenso wie für Großunternehmen heutzutage selbstverständlich, Tochtergesellschaften oder jedenfalls Repräsentanzen im europäischen Ausland, vielfach auch auf anderen Kontinenten zu unterhalten. Viele Bürger haben Vermögen in anderen Ländern. Ehen zwischen Staatsangehörigen verschiedener Länder sind heute eine Selbstverständlichkeit, mit allen sich daraus ergebenden Fragen des Familiengüterrechtes und Erbrechtes. Kleine Kanzleien profitieren ... Die Einführung einer Fachanwaltsbezeichnung „Internationales Wirtschaftsrecht“ dient der Erhaltung und Ausweitung anwaltlicher Tätigkeitsfelder im Wettbewerb mit Dritten. Sie stärkt die Stellung deutscher Anwälte im Wettbewerb mit ausländischen Kollegen. Die Notwendigkeit dafür haben die im Jahre 2008 angestoßene Initiative „Law – Made in Germany“ und ihre Hintergründe mehr als deutlich gezeigt. Das deutsche Recht und mit

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Aus der Arbeit des DAV

ihm die deutsche Anwaltschaft stehen im internationalen Wettbewerb. Es geht um die Teilhabe deutscher Anwälte am großen „Kuchen“ von Beratungsleistungen mit internationalem Bezug. Dafür kann nur hilfreich sein, wenn es zukünftig einen „bar approved specialist for international business law“ gibt. Gerade für kleinere und mittlere Rechtsanwaltskanzleien stellt diese Fachanwaltschaft eine bedeutsame Spezialisierung dar. Denn die Anreize für den Erwerb eines Fachanwaltstitels sind bei Anwälten aus Kleinkanzleien deutlich stärker ausgeprägt als bei Anwälten aus größeren Sozietäten. Dies ist nach Rechtsanwalt Dr. Matthias Kilian (AnwBl 2012, 106 ff.) darauf zurückzuführen, dass „in kleineren beruflichen Zusammenschlüssen Spezialisierungen stärker auf Personen zurückgeführt werden, während in größeren Zusammenschlüssen vor allem die Kanzlei oder ein Team für eine besondere Spezialisierung steht und ein Fachanwaltstitel für die Akquise entbehrlicher ist“. ... ebenso wie der Mandant von der Qualitätsoffensive Die Mandatsarbeit mit Auslandsbezug betrifft ein in tatsächlicher Hinsicht abgrenzbares Fachgebiet, welches für große Teile der Bevölkerung von hoher Wichtigkeit ist. Es zeichnet sich durch tatsächliche und rechtliche Komplexität aus. Die mit der Einführung einer entsprechenden Fachanwaltsbezeichnung einhergehende und sichtbar werdende Spezialisierung führt zu einem Qualitätszuwachs und schärft das Profil des deutschen Anwaltes. Dem Mandanten, der den ausgewiesenen Fachmann sucht, wird die Suche erleichtert. Die Anwaltschaft kann sich durch überragende Qualität und Spezialisierung einmal mehr als alleinige Vertreterin in allen Rechtsangelegenheiten auf dem umkämpften Rechtsberatungsmarkt behaupten. Der DAV steht hinter der Initiative und unterstützt die Einführung eines 21. Fachanwaltstitels. Rechtsanwalt Dr. Jan Curschmann, Hamburg

Das Anwaltsblatt dokumentiert den Vorschlag der AG Internationaler Rechtsverkehr für einen Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht im Internet (AnwBl-Online 2012, 296, abrufbar in der Anwaltsblatt-Datenbank unter www.anwaltsblatt.de).

Deutscher Anwaltverein

Erfolgreich auf allen Kanälen: Die DAV-OnlineImagewerbung 2012 Verschiedene Kanäle für unterschiedliche Bannerformate Seit zwei Jahren konzentriert der DAV seine Maßnahmen der Imagewerbung „Vertrauen ist gut. Anwalt ist besser.“ verstärkt im Internet. Die Auswertung der Aktivitäten für das 1. Halbjahr 2012 hat gezeigt, dass die Kampagne die gesetzten Ziele wieder mehr als erfüllt hat. Unterschiedliche Werbeanzeigen und -banner liefen in verschiedenen Formaten unter anderem auf verschiedenen Seiten des Vermarkters Gruner & Jahr (z. B. Stern.de), aber auch auf Seiten von Focus.de, FAZ.net, der Wirtschaftswoche und dem Handelsblatt. Eine Kombination verschiedener Bannerformate lief auch in der Netzwerkrotation von Specific Media. Hierbei kauft ein Zwischenvermarkter bei namhaften Premiumvermarktern Platzierungen ein und kann so eine sehr hohe Reichweite zu sehr günstigen Konditionen anbieten. Unerwünschte Belegungen können von vornherein ausgeschlossen werden. Das Netzwerk optimiert seine Belegungen selbst nach der besten Klickrate. Mit über 10 Mio. Werbemitteleinblendungen erreicht Specific Media die höchste Reichweite innerhalb der Online-Imagewerbung und liefert auch absolut die meisten Klicks. Der Foul-Spot als Teil des Erfolgs Im OMS Videonetzwerk, bestehend aus über 200 regionalen Tageszeitungsund Radioportalen aus ganz Deutschland, lief unser erfolgreicher Foul-Spot in Verbindung mit zwei Werbebannern, die auch nach Beendigung des Spots eingeblendet wurden und den Besucher der Seite direkt auf anwaltauskunft.de weiterleiten konnten. Die Spots wurden fast 120.000 Mal eingeblendet und 2.500 Mal konkret geklickt mit weiterem Link auf die Deutsche Anwaltauskunft. Im Bereich der VideoSpots wurden die anvisierten Klickraten mehr als verdreifacht. Die passgenaue Auswahl des Umfelds, der Zielgruppe und die Kreation der Spots wirkten sich hier sehr positiv aus. Der Ansatz, im Internet verstärkt auf Videos zu setzen, hat sich somit wieder bestätigt.

Fazit: Fortsetzung der guten Werte Insgesamt gab es im 1. Halbjahr 2012 über 12,7 Millionen Werbemitteleinblendungen im Rahmen der DAVImagewerbung. Diese Einblendungen sind äquivalent zur Auflage einer Zeitung. Insgesamt konnten mit 36.246 zahlreiche Klicks generiert und auf die Kundenseite gelenkt werden. Die Kampagne knüpft somit also an die guten Ergebnisse des Vorjahres an. Es lässt sich festhalten, dass die DAV-Imagewerbung aufgrund einer überzeugenden Mischung aus verschiedenen Online-Werbemitteln und unterschiedlichen Kanälen die Anforderungen mehr als erfüllte, sowohl hohe Reichweite als auch hohe Aufmerksamkeit zu generieren. Damit setzt die Kampagne nahezu unverändert die guten Leistungswerte des Jahres 2011 fort. Jessica Derinyar, DAV, Berlin

Alle Informationen und Hinweise, wie Sie als Mitglied von der DAV-Imagewerbung profitieren können, finden Sie unter http://anwaltverein.de/leis tungen/werbung/werbekampagne/anzeigenpool.

Deutscher Anwaltverein

Landesverbandskonferenz setzt ein Zeichen gegen Gerichtsschließungen Die Landesverbandskonferenz des DAV tagte am 7. September 2012 in Weimar. Die Vertreter der Landesverbände im DAV haben sich auch in diesem Jahr wieder gegenseitig über ihre Aktivitäten informiert und Erfahrungen ausgetauscht. Zu den länderübergreifenden, aktuellen, rechtspolitischen Themen, die in Weimar diskutiert worden sind, gehörten unter anderem die bereits abgeschlossenen und weiterhin noch geplanten Gerichtsschließungen. Um ein Zeichen zu setzen und die Landesverbände bei ihrer Arbeit vor Ort zu unterstützen, sind entsprechende Beschlüsse gefasst worden. Mit diesen stellt sich die Landesverbandskonferenz gemeinsam gegen eine kompromisslose Sparpolitik, welche den Zugang zum Recht gefährdet. Rechtsanwa¨ltin Nicole Pluszyk, DAV, Berlin

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Aus der Arbeit des DAV

AG Anwältinnen

Anwältinnen organisieren sich – und wissen, wie man kultiviert feiert Sommerempfang der Arbeitsgemeinschaft zum ersten Mal in Köln Der Sommerempfang der Arbeitsgemeinschaft Anwältinnen fand dieses Jahr zum ersten Mal in Köln statt. Die Veranstaltung hat sich im DAV-Kalender als fester Event etabliert. Außerdem wächst die Arbeitsgemeinschaft: Das 300. Mitglied wurde in Köln begrüßt. Der Empfang wurde von den beiden Mitgliedern des geschäftsführenden Ausschusses, den Anwältinnen Eva Kuhn und Ursula Gudernatsch, sowie der Regionalbeauftragten Köln, der Anwältin Stefanie Köhnke, organisiert. Er startete mit einer Kunstführung durch den Skulpturenpark, der selbst vielen Kölner Kolleginnen nicht bekannt war. In der Helicopterlounge im Parkpavillon fand auf der Dachterrasse bei hochsommerlichen Temperaturen der Empfang mit anschließendem Abendessen statt. Der Andrang war erfreulicherweise groß. Die Anwältinnen und Anwälte waren aus ganz Deutschland nach Köln gereist. Auch der Vorstand des Deutschen Anwaltvereins sowie des Kölner Anwaltvereins und der Rechtsanwaltskammer Köln waren vertreten. Die Arbeitsgemeinschaft Anwältinnen konnte an dem Tag des Sommerempfanges das 300. Mitglied begrüßen. Ohne Frauenquote geht es nicht Bei den Vorträgen bekräftigte der Gastredner Dr. Werner Richter (Abteilungsleiter Verwaltung im nordrhein-west-

fälischen Justizministerium und insbesondere zuständig für die Anwaltschaft und die Frauenförderung) unter großem Applaus, dass das Justizministerium für die Frauenquote eintrete. Auch die von der Arbeitsgemeinschaft unterstützte „Initiative für mehr Frauen in die Aufsichtsräte“ (FidAR, mehr hierzu auf der Website unter www.dav-anwaeltinnen.de, Button Informationen) wurde als wichtiger Punkt hervorgehoben. Die Präsidentin des Verwaltungsgerichtes Köln Birgit HerkelmannMrowka fragte sich in ihrer Rede mit Blick auf die vielen Bücher und Seminare, in denen Frauen der männliche Führungs- und Kommunikationsstil als das „non-plus-ultra“ verkauft werde, zu Recht, wann es wohl die ersten Seminare für Männer gebe, in denen diese weibliches Verhalten lernen sollen. Die Vorsitzende des Kölner Anwaltvereins Pia Eckertz-Tybussek rief dazu auf, auch als Frauen mehr Seilschaften zu gründen. Der Präsident der Rechtsanwaltskammer Köln Dr. Hubert W. van Bühren gab in seiner Rede zu bedenken, dass Frauen andere Frauen nur dann unterstützen und weiterempfehlen, wenn sie sie für gut halten. Bei Männern sei dies anders. Dort empfehle man sich einfach weiter und selektiere nicht so wie Frauen oder habe keine Vorbehalte vor der Weiterempfehlung anderer Geschlechtsgenossen. Die Reden boten viel Stoff für Diskussionen. So war es ein schöner Empfang und ein gelungener Abend, bei dem „alte“ Bekanntschaften unter den doch vorwiegend weiblichen Gästen gepflegt und erneuert sowie neue Bekanntschaften geschlossen werden konnten. Rechtsanwa¨ltin Stefanie Ko¨hnke, Ko¨ln

Der geschäftsführende Ausschuss der Arbeitsgemeinschaft Anwältinnen (v.l.n.r.): Rechtsanwältin Beatrice Hesselbach, Rechtsanwältin Eva Kuhn, Rechtsanwältin Dr. Eva-Dorothee Leinemann, Rechtsanwältin und Notarin Mechthild Düsing, Rechtsanwältin Silvia C. Groppler, Rechtsanwältin und Notarin Edith Kindermann, Rechtsanwältin Dr. Barbara Mayer und Rechtsanwältin Ursula Gudernatsch.

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Landesverband Mecklenburg-Vorpommern

Gebührenrecht und der Umgang mit Burnout in der Anwaltschaft 19. Landesanwaltstag im Norden von Deutschland Der Landesanwaltverband Mecklenburg-Vorpommern veranstaltete im August seinen 19. Landesanwaltstag in Schwerin. Der diesjährige Landesanwaltstag stand nach dem großen Erfolg im Vorjahr wieder unter dem Hauptthema Gebührenrecht. Der Vorsitzende des Landesanwaltverbandes Rechtsanwalt Dietmar Stocker begrüßte rund 50 Teilnehmer. Darunter auch der Präsident der Rechtsanwaltskammer Mecklenburg-Vorpommern Rechtsanwalt Dr. Axel Schöwe. Aus dem DAV waren Vertreter des Landesverbandes Thüringen und der Vorsitzende des Schweriner Anwaltvereins Rechtsanwalt Martin Lorentz mit dabei. Rechtsanwalt Norbert Schneider, der Fachmann wenn es um die anwaltlichen Gebühren geht, referierte zu den Themen „Abrechnen mit Rechtsschutzversicherern“, „Verfahrenswerte in Familiensachen“ und „Abrechnen bei mehreren Auftraggebern“. Im Anschluss referierte ein Vertreter eines Factoringsunternehmens und ein Versicherungsmakler. Dipl.-Psych. Dipl.Soz. Ute Ulrich sorgte mit ihrem Thema „Entspannt und (trotzdem) erfolgreich. Tipps zur Vermeidung des Burnouts“ für viel Gesprächsstoff und für viele Denkanstöße für den täglichen Anwaltsalltag. Am Vorabend fand in Anlehnung an den Deutschen Anwaltstag ein „Get together“ statt. Vom Schweriner Anwaltverein ausgerichtet, konnten sich hier die Teilnehmer, Referenten und Sponsoren im Restaurant „Ruderhaus“ direkt am Schweriner See mit traumhaften Blick auf das Schweriner Schloss kennenlernen. Teilnehmer, Referenten und Sponsoren bewerteten den 19. Landesanwaltstag insgesamt positiv, so dass es im kommenden Jahr sicher wieder einen spannenden Landesanwaltstag des Landesanwaltverbandes Mecklenburg-Vorpommern geben wird. Rechtsanwa¨ltin Monique Ko¨ster, Rostock

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Aus der Arbeit des DAV

Kölner Anwaltverein

DAV-Präsident Ewer: Kernwerte der Anwaltschaft bewahren Festakt zur 125-Jahr-Feier mit der Bundesjustizministerin Der Kölner Anwaltverein ist nicht nur der mitgliederstärkste Anwaltverein des 1 DAV. Er gehört auch zu den älteren 1 Im Börsensaal der Kölner Industrie- und HandelsVereinen. kammer am Pult: Die Vorsitzende des Kölner An„Seit 125 Jahren steht der Kölner Anwaltvereins Rechtsanwältin Pia Eckertz-Tybussek. waltverein dafür, die Interessen seiner 2 Der DAV-Präsident Rechtsanwalt Prof. Dr. Wolfgang Mitglieder zu vertreten sowie für die Ewer gratulierte dem mitgliederstärksten Anwaltverein im DAV. Gewissheit, das Recht der Bürgerinnen und Bürger zu garantieren“, sagte die 3 Bei der Feier dabei (v.l.n.r.): Rechtsanwältin Pia Eckertz-Tybussek (Vorsitzende des Kölner AnwaltVorsitzende des Kölner Anwaltvereins vereins), Bundesjustizministerin Sabine Leutheus2 ser-Schnarrenberger, Rechtsanwalt Axel C. Filges (KAV) Rechtsanwältin Pia Eckertz-Ty(Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer), bussek in Ihrer Ansprache anlässlich Rechtsanwalt und Notar Ulrich Schellenberg (Vorsitzender des Berliner Anwaltvereins) und Rechtsder Jubiläumsfeier am 31. August 2012. anwalt Dr. Rainer Klocke (ehemaliger Vorsitzender Ihrer Einladung waren nicht nur zahldes Kölner Anwaltvereins). reiche Mitglieder und Freunde des Verder Jungen Sinfonie Köln inszenierte eins aus dem In- und Ausland gefolgt, auch bekannte Persönlichkeiten aus „Höhner-Medley“, zu dem die GästeJustiz und Politik gaben der Feier schar, wenn auch anfangs nur verhalten, schlussendlich jedoch stimmungsGlanz. 3 Im Ambiente des Börsen-Saals der voll mit einstimmte. Bevor es zum Industrie- und Handelskammer zu anschließenden Abendessen in das traKöln verfolgten rund 550 Gäste einen ditionelle kölsche Brauhaus „Früh am Krawatten gewiesen wurde. Rund 400 feierlichen Akt, der geprägt durch die Dom“ ging, sangen die Teilnehmer der Gäste folgten der Einladung ins Braukurzweiligen Ansprachen und das muFestveranstaltung gemeinsam die erste haus. Den Mitgliedern des KAV als sikalische Rahmenprogramm der Jun- Strophe „Die Gedanken sind frei“. Zu- auch dem Vorstand des KAV wird die gen Sinfonie Köln für Begeisterung sammen verließen sie im Anschluss harmonische Atmosphäre des Abends und Beifall sorgten. In ihrer Festrede die IHK und begaben sich auf ihren in Erinnerung bleiben. widmete sich die Bundesministerin für Weg in Richtung Dom, der von Damen Martin V. Sampedrano Gonzalez, Ko¨ln Justiz Sabine Leutheusser-Schnarren- und Herren mit roten Schals und roten berger unter anderem den technisch bedingten Veränderungen im anwaltDeutscher Anwaltverein lichen Beruf, die viele Chancen, aber auch Risiken mit sich brächten. Die Ba- _______________________________________________________________ sis der anwaltlichen Tätigkeit müsse Kein Flickenteppich elektronische Rechtsverkehr eine unangetastet bleiben, war sich die BunChance für Anwaltschaft und Justiz ist. beim elektronischen desjustizministerin mit dem PräsidenDas aber ist aus Sicht der Anwaltschaft ten des Deutschen Anwaltvereins Rechtsverkehr an bestimmte Bedingungen geknüpft. (DAV) Rechtsanwalt Prof. Dr. Wolfgang Der elektronische Rechtsverkehr muss Ewer einig. Vor allem die anwaltliche Der Deutsche Anwaltverein (DAV) appelmit möglichst geringem technischen Verschwiegenheit und Unabhängigkeit liert an die politischen EntscheidungsträAufwand in die Kanzleien eingeführt und ger in Bund und Ländern, den „Flickensowie die Anwaltsgebühren und Gebetrieben werden können. Eine hohe teppich“ des elektronischen Rechtsrichtskosten wurden in den Reden des Daten- und Rechtssicherheit muss geverkehrs bei den Gerichten auszubesJustizministers des Landes Nordrheingeben sein. Wenn der elektronische sern, bevor über Anschluss- und BenutWestfalen Thomas Kutschaty und des Rechtsverkehr tatsächlich eine für die zungszwang aller Anwältinnen und AnPräsidenten der BundesrechtsanwaltsAnwaltschaft attraktive Form bekommen wälte nachgedacht wird. Die Energie des kammer Rechtsanwalt Axel C. Filges hat, wird auch kein Anschlusszwang Gesetzgebers sollte sich darauf konzenthematisiert. Ferner gratulierte der Pränotwendig sein. Zum Thema elektrotrieren, zu einer bundeseinheitlichen sident des Oberlandesgerichts Köln Jonischer Rechtsverkehr wird der DAV Lösung bei der elektronischen Erreicham 8. November 2012 in Berlin ein hannes Riedel für die Richterschaft barkeit der Gerichte zu kommen, und DAV-Forum veranstalten. zum Jubiläum. zwar zu einem einheitlichen Termin. Ein besonderer Moment im RahQuelle: DAV-Pressemitteilung Nr. 18/12 Der DAV ist davon überzeugt, dass der men des Festaktes bescherte das von AnwBl 11 / 2012

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Aus der Arbeit des DAV

DAV Förderverein für Freie Advokatur

Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine – wie weit sind die Reformen? Premiere für den UkrainischDeutschen Juristentag Ende Mai 2012 wurde der 1. UkrainischDeutsche Juristentag in Kiew von der Gesellschaft deutscher und ukrainischer Juristen (GDUJ) gemeinsam mit der IRZ (Deutsche Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit e.V.) und dem DAV Förderverein für Freie Advokatur in Mittel- und Osteuropa e.V. veranstaltet. Diskutiert wurde über die Fragen, wie ein unabhängigeres, transparenteres und verantwortungsbewussteres Justizsystem in der Ukraine gefördert werden könne. Es ging vor allem um Rechtsstaatlichkeit. Die Veranstaltung wurde vom Vorsitzenden der Gesellschaft deutscher und ukrainischer Juristen Rechtsanwalt Wolfram Rehbock, dem Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Ukraine Dr. Hans-Jürgen Heimsoeth und durch den IRZ-Projektmanager in der Ukraine Wolfram Hertig eröffnet. Anschließend sprach im ersten Themenblock der Vorsitzende des DAVFördervereins für Freie Advokatur in Mittel- und Osteuropa Rechtsanwalt Dr. Ernst Giese „Zur Anwendbarkeit deutschen Rechts im internationalen Rechtsverkehr“. Er stellte ausführlich, auch anhand von konkreten Beispielen, die Vorzüge des deutschen materiellen Rechts und des deutschen Prozessrechts insbesondere im Vergleich zum englischen Recht heraus. Das deutsche Recht überzeuge durch seine innere Ordnung und langjährige Kommentierung, was Berechenbarkeit und Verlässlichkeit garantiere. Die Rechtsfindung sei auch zu überschaubaren Kosten möglich. Giese räumte gleichwohl ein, dass an der Vorherrschaft der englischen Sprache im internationalen Rechtsverkehr nichts vorbeiführe. Glas halbvoll oder halbleer? Heftig diskutiert wurde im weiteren Panel zum Thema „Rechtstaatlichkeit und Rolle des Gerichtsystems in der Ukraine“. Nach einer brillanten Einführung zum Inhalt, Bedeutung und Tragweite der Rule of Law durch den Leiter der Rechtsabteilung der deut918

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schen Botschaft in der Ukraine Georg Stöckl-Stillfried, entwickelte sich schnell ein Wortgefecht zwischen dem Richter des Oberverwaltungsgerichtes der Ukraine Mykola Kobyliansky und Ihor Shevchenko, Gründer der Meritokratischen Partei der Ukraine und ehemaliger Rechtsanwalt. Laut Kobyliansky begann die eigentliche Reformierung des Gerichtssystems erst in 2010, wovon die Verabschiedung des Gesetzes „Über das Gerichtssystem und den Status der Richter“ und der neuen Strafprozessordnung der Ukraine zeugt. Shevchenko ist jedoch nach wie vor davon überzeugt, dass Richterposten in der Ukraine nicht nach Eignung und Leistung besetzt werden, sondern alte Gepflogenheiten fortwirken. Der Ehrenpräsident des Deutschen Notarvereins Dr. Stefan Zimmermann, welcher seit vielen Jahren an der Reform der ukrainischen Gesetzgebung mitarbeitet, schloss das Panel mit einem ausführlichen Vortrag ab. Einzelne Rechtgebiete Danach sprachen die Teilnehmer des Juristentages über den neuen Entwurf der Strafprozessordnung der Ukraine. Dr. Olexander Banchuk, Experte des Zentrums für politisch-rechtliche Reformen und Mitglied der Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung der Strafprozessordnung in 2006 bis 2009, gab einen lebendigen Überblick zu den wesentlichen Neuerungen und stellte ihre Übereinstimmung mit internationalen Grundsätzen des Strafprozesses fest. Während des Panels zum Bodenmarkt äußerten sich die Teilnehmer zu den Fragen der Bodenreform in der Ukraine und zum lange Jahre bestehenden Veräußerungsverbot bei landwirtschaftlichen Flächen (Moratorium). Insbesondere tut man sich schwer mit dem Gedanken, Ausländer könnten fruchtbare ukrainische Erde erwerben. Das abschließende Panel widmete sich dem Wettbewerbs- und Kartellrecht der Ukraine. Im Vordergrund dieser Sitzung standen die Fragen der Harmonisierung der ukrainischen Kartellgesetzgebung und -praxis mit den EUStandards. Nach diesem erfolgreichen Auftakt und der positiven Resonanz im Anschluss an den Juristentag wird die GDUJ dieses Format sicherlich in den Folgejahren fortführen. Rechtsanwalt Wolfram Rehbock, Kiew (Ukraine)

AG Mietrecht und Immobilien

Richter des BVerfG und des BGH treffen auf die Anwaltspraxis 2. Karlsruher Immobilienrechtstag – ein großer Erfolg Über ihre Frühjahrs- und Herbsttagungen hinaus hat die AG Mietrecht und Immobilien seit dem vergangenen Jahr das Fortbildungsangebot für die Mitglieder ausgebaut und weitere Veranstaltungen organisiert. Zum zweiten Mal fand der Karlsruher Immobilienrechtstag im Mai statt. Die steigende Mitgliederzahl der Arbeitsgemeinschaft – bis April 2012 waren es 2.655 Anwältinnen und Anwälte – bestätigt den Kurs der AG Mietrecht und Immobilien. Zu Beginn des zweiten Karlsruher Immobilienrechtstags behandelte Notar Dr. Gregor Basty (München) das – in der Praxis bis zur allseits ersehnten Entscheidung des BGH nach wie vor hochaktuelle – Problem der „Abnahme von Wohnungseigentum gegenüber dem Bauträger“. Er zeigte Wertungswidersprüche der Rechtsprechung auf, soweit diese einerseits erteilte Vollmachten beanstandet, andererseits aber die Vergemeinschaftung der Abnahme für zulässig hält. Daran schloss sich ein ebenfalls eingehend diskutierter Vortrag von Prof. Dr. Reinhard Gaier (Richter des Bundesverfassungsgerichts) über „Eigentum gegen Leben“ am Beispiel von Suiziddrohungen bei der Räumungsvollstreckung an. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde ein interessanter Einblick in die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Beurteilung rein zivilrechtlicher Fragestellungen gegeben. Der Nachmittag war dann geprägt von zwei praxisnahen Vorträgen von Richtern am BGH: Zunächst Dr. Peter Günter (Mitglied des XII. Zivilsenats) mit den Dauerbrennern „Aktuelles zur Schriftform und zu GewerberaummietAGB“, dem es gelang, die doch oft vermisste „klare Linie“ bei der Vielzahl der einschlägigen BGH-Urteile aufzuzeigen. Den Abschluss bildete der Vortrag von Prof. Dr. Jürgen Schmidt-Räntsch (V. Zivilsenat) zum Thema „Erbbaurechte“. Er hat es geschafft, dieses nicht einfache Thema spannend darzustellen. Fazit: am 26. April 2013 wieder! Rechtsanwalt Thomas Hannemann, Karlsruhe

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AG Handels- und Gesellschaftsrecht

Rechtspolitik und Fortbildung: Neues von BGH & Co. 7. Deutscher Handels- und Gesellschaftsrechtstag in Berlin Mitte September 2012 fand in Berlin der 7. Deutsche Handels- und Gesellschaftsrechtstag statt, die Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Handels- und Gesellschaftsrecht im DAV. Sie bildet mit 180 Teilnehmern den Höhepunkt der Veranstaltungen der Arbeitsgemeinschaft, neben der sich ein Bilanzrechts- und ein Rechtsprechungssymposium als weitere regelmäßige Veranstaltungen etabliert haben. Beim Handels- und Gesellschaftsrechtstag ist es inzwischen gute Übung, dass der Freitagvormittag den Vertretern aus Gesetzgebung und Rechtsprechung vorbehalten ist. So berichtete zunächst Prof. Dr. Ulrich Seibert, zuständiger Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz, über die aktuellen Entwicklungen aus der Gesetzgebung. Dabei ging er besonders auf die Aktienrechtsnovelle 2012 ein. Sie bringt eine Reihe kleinerer Änderungen im Aktiengesetz und in anderen Gesetzen. Der Zeitpunkt des Inkrafttretens ist derzeit aber ungewiss; mit ihm wird nicht vor 2013 gerechnet. PartG mbB Ein anderes Gesetzgebungsvorhaben, dessen Terminplan konkret vorliegt, ist die Schaffung einer Partnerschaft mit beschränkter Berufshaftung (PartG mbB). Durch die Einführung dieser Rechtsformvariante soll Freiberuflern ermöglicht werden, eine Beschränkung ihrer Berufshaftung auf das Gesellschaftsvermögen herbeiführen zu können, ohne in das steuerlich andere System der Kapitalgesellschaft ausweichen zu müssen. Voraussetzung dafür ist, dass die Partnerschaft eine zu diesem Zweck durch Gesetz vorgegebene Berufshaftpflichtversicherung unterhält und ihrem Namen den Zusatz „mit beschränkter Berufshaftung“ hinzufügt. Die Haftung ist dann auf das Gesellschaftsvermögen beschränkt unabhängig davon, ob die Versicherung im Einzelfall eintritt oder nicht. Der Gesetzgeber hält diesen Eingriff in die Systematik der Gesellschaftsformen für

weniger einschneidend als die – alternativ erwogene – Öffnung der GmbH & Co. KG für Freiberufler mit der damit verbundenen Abschaffung des bisherigen Kaufmannsbegriffes. Anschließend berichtete der Vorsitzende des zweiten, für Gesellschaftsrecht zuständigen Zivilsenates des Bundesgerichtshofes, Prof. Dr. Alfred Bergmann, über aktuelle Entscheidungen aus dem Senat. Er betonte dabei, dass der Senat bei seinen Entscheidungen streng darauf achte, nur den konkreten Einzelfall zu entscheiden. Personen- und Kapitalgesellschaften Der Schwerpunkt der übrigen Tagungsthemen lag ebenfalls auf Fragen des Personen- und Kapitalgesellschaftsrechtes: Dazu behandelte Notar Dr. Eckhard Wälzholz die Kapitalkonten in Personengesellschaftsverträgen und Rechtsanwalt Christian Gehling die Compliance in Vorstand, Aufsichtsrat und Geschäftsführung. Besondere Aktualität erhielt der Vortrag von Rechtsanwalt Dr. Thomas Trölitzsch zum Ausschluss aus der GmbH durch die jüngste Entscheidung des Bundesgerichtshofes zu den Voraussetzungen und Wirkungen der Zwangseinziehung in der GmbH. Auf die vielfältigen Haftungsfallen bei Sachgründung und Sachkapitalerhöhung in der GmbH und der GmbH & Co. KG machte das Referat von Rechtsanwalt Dipl.-Kfm. Dr. Moritz Pöschke LL.M. (Harvard) aufmerksam. Auch das Steuerrecht darf nie fehlen: Die Mitglieder des geschäftsführenden Ausschusses Dr. Rolf Schwedhelm und Prof. Dr. Burkhard Binnewies referierten zu Umwandlungen nach dem Umwandlungssteuererlass bzw. Schenkung zwischen Gesellschaft und Gesellschafter. Die Reaktion der Teilnehmer in den Diskussionen zeigte, dass insbesondere die Themen mit insolvenzrechtlichem Bezug von großer praktischer Relevanz sind. Auf der diesjährigen Tagung beschäftigten sich Prof. Dr. Heribert Hirte, LL.M. (Berkeley) mit dem ESUG und Prof. Dr. Georg Bitter mit aktuellen Entwicklungen der Insolvenzverschleppungshaftung bei der GmbH. Wie immer rundete am Freitagabend ein Abendprogramm die Veranstaltung ab. Rechtsanwalt und Notar Dr. Carsten Jaeger, Dortmund

Deutsche Anwaltakademie

Neuer Klausurenfernkurs für Rechtsreferendare Ab November 2012 bietet die Deutsche Anwaltakademie einen Klausurenfernkurs für Rechtsreferendare zur Vorbereitung auf die zweite juristische Staatsprüfung an. Angehende Anwälte erhalten mit dem Klausurenkurs die Möglichkeit, den DAV und seine Fortbildungstochterkennenzulernen. Ausführliche Informationen unter www.assessor-examen.de.

Reform des Seehandelsrechts Das im Fünften Buch des HGB geregelte Seehandelsrecht wird vollständig neu gefasst. Zugleich werden das im Vierten Buch des HGB geregelte Transportrecht sowie das Binnenschifffahrtsrecht zum Teil geändert. Die Reform soll Anfang 2013 in Kraft treten. Das Seminar am 23. November in Hamburg gibt einen umfassenden Überblick.

Reform der Pflegeversicherung Die soziale Pflegeversicherung wird durch das Pflege-Neuausrichtungsgesetz vom 29. Juni 2012 neu justiert. Was das für die rechtliche Beratung von Versicherten, Leistungserbringern, Ärzten, Betreuern und den Angehörigen bedeutet, wird das Seminar am 16. November in Berlin behandeln.

1. Norddeutscher Verwaltungsrechtstag Der Hamburgische Anwaltverein und die Deutsche Anwaltakademie bieten mit dem 1. Norddeutschen Verwaltungsrechtstag am 29./30. November in Hamburg ein Forum für den fachlichen Austausch rund um das Verwaltungsrecht.

Verteidiger-Seminar Was bedeutet die 2010 in Kraft getretenen Reform des Untersuchungshaftrecht und die Neuregelung der Haftbedingungen für die Anwaltspraxis? Das Semiar am 16. November in Dortmund bietet Unterstützung. Weitere Informationen finden Sie im Internet unter www.anwaltakademie.de

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Aus der Arbeit des DAV

Mitgliederversammlung

AG Insolvenzrecht und Sanierung Der Geschäftsführende Ausschuss der Arbeitsgemeinschaft Insolvenzrecht und Sanierung im DAV lädt alle Mitglieder ein zu einer Mitgliederversammlung am Freitag, 7. Dezember 2012, 14:00 bis 14:45 Uhr, im Best Western IB Hotel Friedberger Warte Homburger Landstr. 4, 60389 Frankfurt/Main. Diese Mitgliederversammlung befasst sich ausschließlich mit Themen der Arbeitsgruppe Junge Insolvenzrechtler und mit der Wahl von Sprecher/Beisitzer für diese Arbeitsgruppe.

Heinrich Wilhelm Rinck 85 Rechtsanwalt Dr. Heinrich Wilhelm Rinck aus Rotenburg (Wümme) hat am 4. Oktober 2012 das 85. Lebensjahr vollendet. Rinck ist bis heute im Deutschen Anwaltverein aktiv: Seit 1987 ist er Vorsitzender des Anwaltvereins Rotenburg (Wümme), dessen Gründung er 1961 mitinitiiert hatte. Außerdem ist er Gründungsmitglied und Ehrenmitglied der Arbeitsgemeinschaft Anwaltsnotariat im DAV. Seine Verdienste wurden 2011 vom Deutschen Anwaltverein mit dem Ehrenzeichen der deutschen Rechtsanwaltschaft gewürdigt (AnwBl 2011, 559).

Tagesordnung 1. Satzungsmäßige Feststellungen: – Einladung fristgemäß bekannt gegeben – Feststellung der stimmberechtigten Mitglieder 2. Rechenschaftsbericht der Sprecherin der Arbeitsgruppe Junge Insolvenzrechtler für den Zeitraum seit 10.09.2010 3. Aussprache 4. Wahl a) des Sprechers/der Sprecherin der Arbeitsgruppe Junge Insolvenzrechtler b) der Beisitzer der Arbeitsgruppe Junge Insolvenzrechtler 5. Verschiedenes Die Mitgliederversammlung findet statt im Rahmen der 9. Veranstaltung der Arbeitsgruppe Junge Insolvenzrechtler am 7. Dezember 2012 am selben Ort. Die Teilnahme an dieser Mitgliederversammlung ist nur für Mitglieder der ARGE Insolvenzrecht und Sanierung im DAV möglich. Anfragen und Anmeldungen zu der Fachveranstaltung am 7.12.2012 richten Sie bitte an die Deutsche Anwaltakademie, jurEvent, Herrn Detlef Zabel, Littenstraße 11, 10179 Berlin, Telefon: 0 30/72 61 53-184, Fax: 0 30/726153-188, E-Mail: [email protected].

Anja Dreyer Nach 18 Jahren Führung des Ravensburger Anwaltvereins hat Rechtanwalt und Notar Dr. Thilo Wagner sein Amt an Rechtsanwältin Anja Dreyer abgegeben. Gegründet wurde der 342 Mitglieder starke Verein im Jahr 1953.

Jürgen Widder Der Landesverband Nordrhein-Westfalen hat Rechtsanwalt Jürgen Widder zum neuen Vorsitzenden gewählt. Vor ihm führte Rechtsanwalt Dr. Klaus E. Böhm 18 Jahre lang den Verband, dem 57 Vereine angehören und der über 17.000 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte vertritt. 920

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Lothar Lindenau Der Bundespräsident hat Rechtsanwalt Lothar Lindenau aus Düsseldorf das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen. Mit dem Orden werden Bürgerinnen und Bürger ausgezeichnet, die im politischen, wirtschaftlich-sozialen und geistigen Bereich Wertvolles geleistet haben. Lindenau war mehr als 20 Jahre Mitglied des Vorstandes und Präsidiums der Rechtsanwaltskammer Düsseldorf, unterstützte den Aufbau der berufsständischen Versorgungswerke der Rechtsanwälte in NRW und Sachsen-Anhalt und ist seit 2004 als stellvertretender Sprecher des Europaausschusses der Arbeitsgemeinschaft berufsständischer Versorgungseinrichtungen tätig. Er wurde bereits im Jahr 1999 für sein berufsständisches Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.

Martina Beese Die neue Vorsitzende des Anwaltvereins Lippstadt ist Rechtsanwältin Martina Beese. Sie ist die Nachfolgerin von Rechtsanwalt Marcus Duhme. Der Verein hat 77 Mitglieder und befindet sich im Landgerichtsbezirk Paderborn.

Wolfgang Jürgens Den Vorsitz des Anwaltvereins Hagen hat Rechtsanwalt und Notar Wolfgang Jürgens von Rechtsanwalt und Notar Wolfgang Ehrler, der den Verein 12 Jahre führte, übernommen. 507 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte gehören dem Verein an.

Martin Bradenbrink Personalien

gewählt. Er löst Rechtsanwalt Wolfgang Elshoff ab. Der 1980 gegründete Verein gehört zum Landgerichtsbezirk Münster und zählt 51 Mitglieder.

Der Arnsberger Anwaltverein hat Rechtsanwalt Martin Bradenbrink zum neuen Vorsitzenden gewählt. Vor ihm führte Rechtsanwalt und Notar Rüdiger Brüggemann acht Jahre lang den Verein. Der Anwaltverein existiert bereits seit 1886 und umfasst 166 Mitglieder.

Sebastian Berger Der Anwaltverein Ahlen hat Rechtsanwalt Sebastian Berger zum neuen Vorsitzenden

Dieter Fasel Der Bundespräsident hat Rechtsanwalt Dieter Fasel aus Memmingen das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen. Mit dem Orden werden Bürgerinnen und Bürger ausgezeichnet, die im politischen, wirtschaftlich-sozialen und geistigen Bereich Wertvolles geleistet haben. Während seiner Mitgliedschaft im Kammervorstand der RAK München hat sich Fasel besonders in der Öffentlichkeitsarbeit und im Gebührenrecht engagiert. Nach seinem dortigen Ausscheiden ist er seit 2008 auch Datenschutzkontrollbeauftragter für die drei bayerischen Rechtsanwaltskammern.

Thomas Krümmel Rechtsanwalt Thomas Krümmel, Mitglied im Vorstand des Berliner Anwaltsvereins, ist zum Ritter des Nationalen Verdienstordens von Frankreich ernannt worden. Frankreich zeichnet mit dem Orden Bürgerinnen und Bürger aus, die besondere Verdienste im öffentlichen, im zivilen, im militärischen oder im privaten Bereich geleistet haben. Gewürdigt wird Krümmels Engagement für die deutsch-französischen Beziehungen.

MN Rechtsprechung

Haftpflichtfragen

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Erfüllungs- und Haftpflichtansprüche: Wann greift die Berufshaftpflicht? Rechtsanwalt Bertin Chab, Allianz Versicherung, München

Die Berufshaftpflichtversicherung erfasst nur Haftpflichtansprüche. Andere Ansprüche fallen in der Regel aus dem versicherten Bereich: Das gilt vor allem für Erfüllungsansprüche. Die Abgrenzung ist nicht immer leicht, wie die Fallbeispiele des Autors zeigen.

Rechtsprechung

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Fachanwalt: Wenn die Papierform reicht, kein Fachgespräch BGH, Beschl. v. 30.5.2012 – AnwZ (BrfG) 3/12

Das Fachgespräch in der FAO bereitet einzelnen Rechtsanwaltskammern immer wieder Probleme: Der Anwaltssenat des BGH stellt erneut klar, dass das Fachgespräch kein 3. Staatsexamen ist, aber fehlende Nachweise in Theorie und Praxis ersetzen kann.

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Streithelfer wird auch bei untätiger Partei nicht Partei BGH, Beschl. v. 24.5.2012 – VI ZR 24/11

Der einfache Streithelfer hat nicht mehr Möglichkeiten als die Hauptpartei. Das kann gefährlich werden, wenn sich die Hauptpartei nicht mehr aktiv am Verfahren beteiligt – und eine Notfrist versäumt.

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Sorgerecht und Umgangsrecht: Pro Kind jeweils eine Gebühr BGH, Beschl. v. 1.8.2012 – XII ZB 456/11

Justizzentrum Erfurt

Der BGH hat entschieden, dass der Verfahrensbeistand, der sowohl in einer Sorgerechts- als auch in einer Umgangsrechtsangelegenheit bestellt worden ist, Anspruch auf jeweils eine Gebühr hat – auch wenn beides in einem einzigen Verfahren behandelt wird.

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Haftpflichtfragen

Haftpflichtfragen

Abgrenzung zwischen Erfüllungsansprüchen und Haftpflichtansprüchen Bei welchen Ansprüchen die Berufshaftpflichtversicherung greift

Haftpflichtansprüche sind – sieht man einmal von einigen Gefährdungshaftungs-Tatbeständen ab – typischerweise verschuldensabhängig. Dem Haftpflichtschuldner muss eigenes Verschulden vorzuwerfen sein oder er muss zumindest für fremdes Verschulden einstehen. Hier sieht das Gesetz bisweilen auch eine Beweislastumkehr vor. So hat im Zusammenhang mit den Haftungsnormen der §§ 64 GmbHG und 93 AktG der Haftungsschuldner darzutun, dass er die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt hat.

Rechtsanwalt Bertin Chab, Allianz Versicherung, Mu¨nchen

II. Einzelfälle aus dem Bereich der Vermögenschadenshaftpflicht-Deckung für Rechtsberater

Die Haftpflichtversicherung trägt es bereits im Titel. Durch sie soll der Versicherungsnehmer für den Fall geschützt werden, dass er sich „haftpflichtig“ macht. Andere als Haftpflichtansprüche sind nur ausnahmsweise und zusätzlich mit umfasst, fallen aber in der Regel aus dem versicherten Bereich. Das gilt insbesondere für Erfüllungsansprüche. Die Abgrenzung ist gerade in der Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung nicht immer leicht.

1. Herausgabe von Fremdgeld Nach § 667 BGB hat der Beauftragte alles, was er zur Ausführung des Auftrags erhält und was er aus der Geschäftsbesorgung erlangt, an den Auftraggeber herauszugeben. In der täglichen Anwaltspraxis würden beispielsweise an den Anwalt bezahlte, aber dann nicht verbrauchte Gerichtskosten unter die erste Alternative fallen; die zweite Alternative betrifft vor allem beim Gegner beigetriebene Forderungen. Dieser Herausgabeanspruch ist kein Haftpflichtanspruch und daher nicht vom Versicherungsschutz umfasst, gleichgültig mit welchen Einwendungen sich der Versicherungsnehmer zur Wehr setzt. Oft wird Fremdgeld nicht ausgezahlt, weil der Anwalt eigene Honoraransprüche entgegenhält. Mit derlei Auseinandersetzungen wird sich der Haftpflichtversicherer nicht beschäftigen. § 667 BGB findet über § 2218 BGB auch auf das Verhältnis zwischen Testamentsvollstrecker und Erben Anwendung; Haftpflichtansprüche sind unmittelbar auf § 2219 BGB zu stützen. Gerade hier beschränken sich die Herausgabeansprüche nicht immer auf Geldleistungen. Der Testamentsvollstrecker kann auch andere Vermögensgegenstände (Immobilien, Schmuck, Kunst) in Verwahrung haben. Wenn ihm die Herausgabe dieser Gegenstände nicht mehr möglich ist, könnte Schadenersatz verlangt werden. Dieser richtet sich dann aber auf das ausdrücklich nicht versicherte Erfüllungssurrogat.

I. Grundsätzliches zu Haftpflicht- und Erfüllungsansprüchen Sowohl die AHB als auch die AVB begrenzen den Versicherungsschutz auf die Fälle, in denen der Versicherungsnehmer „auf Grund gesetzlicher Haftpflichtbestimmungen privatrechtlichen Inhalts“ in Anspruch genommen wird. Hierbei handelt es sich nach allgemeiner Meinung um Normen, die unabhängig vom Willen der Beteiligten bei einem Verstoß des Versicherungsnehmers Schadenersatz als Rechtsfolge auslösen (zum Beispiel Lücke in Prölls/Martin, VVG, 28. Auflage, Rz. 6 zu Nr. 1 AHB 2008). Stützt der Geschädigte also seine Ansprüche auf Erfüllungs-, Nachbesserungs- oder Bereicherungsansprüche, liegt keine versicherte Inanspruchnahme vor. Auch ein Anspruch auf Erfüllungssurrogate ist in aller Regel nicht versichert (zum Beispiel AVB HV 60/06 (Allianz), die explizit vorsehen, dass Erfüllungsansprüche und Erfüllungssurrogate gemäß § 281 in Verbindung mit § 280 BGB ausgeschlossen sind). Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die Haftpflichtversicherung nicht Ansprüche ersetzt, die sich auf die Primärpflicht beziehen, also dasjenige, wozu sich der Versicherungsnehmer als originäre Leistung und Vertragsgegenstand verpflichtet hat. Die Grenzlinie lässt sich am Interesse des Anspruchstellers (in der Haftpflichtversicherung „der Dritte“) festmachen. Zielt dessen Anspruch ganz allgemein gesprochen darauf, die ursprünglich vom Schuldner versprochene Leistung tatsächlich auch zu erhalten, so liegt ein nicht versicherter Primär- oder Erfüllungsanspruch vor. Fordert er, weil er die Leistung aus irgendwelchen Gründen vom Vertragspartner nicht erhält, Ersatz (zum Beispiel im Sinne der Kosten für die Ersatzvornahme), betrifft auch das den Erfüllungsanspruch beziehungsweise dessen Surrogat. Wird aber bei ausbleibender Primärleistung vom Anspruchsteller ein weiterer Schaden reklamiert und kann er diesen auf eine Haftungsnorm stützen, so wird man von einem versicherten Anspruch ausgehen müssen, sofern keine weiteren expliziten Ausschlüsse existieren. 922

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2. Zahlung an den falschen Empfänger Es mag vielfältige Gründe dafür geben, dass ein Anwalt Fremdgelder nicht an den Mandanten auszahlt. Dass Versicherungsschutz nicht besteht, wenn er das Geld für sich selbst verbraucht hat – auch das kommt leider vor –, ist nachvollziehbar, zumal dieser Sachverhalt strafrechtliche Relevanz besitzen würde (siehe nur KG vom 23.3.2007, BRAKMitt 2008, 14). Es kommt aber auch immer wieder vor, dass Fremdgeld ausgekehrt wird, aber nicht an den wirklich Berechtigten. Das passiert etwa dann, wenn Abtretungen übersehen werden oder beim Überweisungsakt selbst Fehler unterlaufen. Fordert der Berechtigte seinerseits die Auszahlung, macht er nach wie vor seinen Herausgabeanspruch aus § 667 BGB geltend; sein Anspruch wurde noch nicht erfüllt und hat sich durch die Zahlung an den Nichtberechtigten nicht erledigt. Freilich hat der Versicherungsnehmer seinerseits noch den Anspruch gegen den Leistungsempfänger nach den Vorschriften über die ungerechtfertigte Bereicherung. Die AVB für Rechts- und Patentanwälte wie auch für Steuerberater sehen hier lediglich eine Ausnahme vor: wenn Haftpflichtfragen

MN

Haftpflichtfragen

die Fremdgelder in unmittelbarem Zusammenhang mit der jeweiligen beruflichen Tätigkeit auf einem Anderkonto eingezahlt wurden, besteht Versicherungsschutz dann, wenn über diese Beträge fahrlässig verfügt wurde und der Berechtigte nun die ihm zustehenden Gelder heraus verlangt. Es muss sich allerdings um ein echtes Anderkonto im Sinne des §§ 43 Abs. 5 S. 2 BRAO, 4 BORA handeln. 3. Ansprüche aus Treuhand Ähnliche Konstellationen ergeben sich typischerweise bei der Übernahme von Treuhandgeschäften und Mittelverwendungskontrollen (dazu Brügge in Gräfe/Brügge, Vermögensschadenhaftpflichtversicherung, Rz. B 277 und 287). Hier kommt es häufig auch zu Herausgabeansprüchen der berechtigten Treugeber, wenn das Treugut nicht vertragsgemäß verwendet wurde. Die Treugeber stützen ihre Ansprüche oft auf § 667 BGB und gleichzeitig auf die Verletzung des Treuhandvertrages mit der Folge der Schadenersatzpflicht gem. § 280 BGB. Sind solche Ansprüche nun versichert oder nicht? Begründet der Richter im Haftpflichtprozess die Verurteilung des Rechtsberaters mit einer „positiven Verletzung des Treuhandvertrages“, liegt ein Haftpflichtanspruch vor. Der Versicherer kann sich dann nicht mit Erfolg darauf berufen, dass Leistungsfreiheit besteht, weil in Wirklichkeit ein Fall des § 667 BGB gegeben sei. Der BGH (Urteil vom 28.9.2005 – IV ZR 255/04) sieht sich in einer solchen Konstellation nämlich an die Feststellungen des Haftpflichturteils gebunden, und zwar auch hinsichtlich der vom Gericht gewählten Anspruchsgrundlage. Ob im umgekehrten Fall ebenso konsequent gegen den Versicherungsnehmer entschieden würde, bleibt offen, nachdem derselbe Senat (BGH, Urteil vom 8.12.2010 – IV ZR 211/07) zugunsten eines Notars für die Bindungswirkung den äußeren Tatbestand der Pflichtwidrigkeit, nicht aber dessen rechtliche Einordnung, als maßgeblich ansah. Es ging dort um die Frage, ob der Notar beruflich tätig geworden war. 4. Der Vertreter ohne Vertretungsmacht Ob § 179 BGB eine Haftungsgrundlage darstellt, die zur Deckung über die Haftpflichtversicherung führt, ist ebenfalls noch nicht vollständig geklärt. Der Anspruch setzt Handeln eines Vertreters voraus, dem tatsächlich die Vertretungsmacht fehlte. In diesem Fall kann der Vertragspartner nach seiner Wahl Erfüllung oder Schadenersatz verlangen. Der Schadenersatz umfasst dabei in Abs. 1 das Erfüllungsinteresse, in den Fällen des Abs. 2 lediglich den Vertrauensschaden (Palandt-Ellenberger, § 179 Rz. 6). Derlei Inanspruchnahmen des Anwalts sind möglich nach übereilten Vergleichen oder wenn dieser sonstige Verbindlichkeiten für den Mandanten eingeht, ohne hierfür die Genehmigung zu erhalten. Denkbar wäre etwa die Verpflichtung zu bestimmten Nachbesserungsarbeiten bei der Beratung in Bausachen. Für die AHB hat der BGH (Urteil vom 20.11.1970 – IV ZR 1188/68 –, VersR 1971, 144) entschieden, dass es sich bei Ansprüchen nach § 179 BGB um Haftpflichtansprüche, nicht um Erfüllungsansprüche handelt. Das Urteil überzeugt nicht und hat daher zu Recht Kritik erfahren (Prölls, VersR 1971, 538). Richtigerweise wird man im Sinne der Eingangsüberlegungen zu differenzieren haben. Das reine Erfüllungsinteresse ist nicht versichert; soweit daneben oder darüber hinaus Vertrauensschäden geltend gemacht werden, besteht Versicherungsschutz (Chab in Zugehör/Fischer/Vill/Fischer/ Rinkler/Chab, Handbuch der Anwaltshaftung, Rz. 2122). Haftpflichtfragen

5. Gebührenrückforderungsansprüche Wenn der Mandant bereits bezahlte Gebühren vom Anwalt zurückfordert, kann das unterschiedliche Gründe haben. Denkbar ist eine schlichte Überzahlung, weil die Stundenanzahl nicht korrekt bestimmt wurde, der Gegenstandswert zu hoch angesetzt war oder falsche Gebührentatbestände zugrundegelegt wurden. Dann liegen nicht gedeckte Bereicherungsansprüche vor. Es ist aber auch möglich, dass Honorar mit der Begründung zurückgefordert wird, es liege eine anwaltliche Pflichtverletzung vor; bei korrektem Vorgehen hätten dem Anwalt geringere Gebühren zugestanden, so dass die Rückforderung auf § 280 BGB gestützt wird. Die einschlägigen Bedingungen (z. B. § 1 I Ziff. 1 AVB HV 60/06 der Allianz) schließen explizit die „Rückforderung von Gebühren und Honoraren“ vom Versicherungsschutz aus. Brügge (aaO., Rz. B 304) hält derlei Klauseln für rein deklaratorisch, da es sich ohnehin um einen nicht gedeckter Eigenschäden des Versicherungsnehmers handele. Der Eigenschaden wird aber nicht dadurch charakterisiert, dass der Versicherungsnehmer den Anspruch aus den Mitteln begleichen muss, die er aufgrund der Tätigkeit in der Verstoßsache selbst als Gegenleistung erhalten hat. Wenn aufgrund einer Pflichtverletzung unnötig viel Honorar bezahlt wurde, stellt auch das aus Sicht des Mandanten dessen Schaden dar. So geht auch Diller (AVB-RSW, § 1 Rz. 68) davon aus, dass es sich hier um einen „an sich versicherten Schadenersatzanspruch“ handelt. Soweit die Versicherer Gebührenrückforderungen explizit vom Versicherungsschutz ausschließen, müsse diese Klausel aber eng ausgelegt werden. Nach Wortlaut und systematischem Zusammenhang sei von vornherein nur die Rückforderung im engen Sinne nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen gemeint (Diller, aaO., Rz. 69). Diese Wortlautauslegung ist alles andere als zwingend. Wie ließe sich die Forderung des Mandanten auf Rückzahlung bereits bezahlter Gebühren denn anders bezeichnen? Es geht hier immer um die „Rück“-Forderung des Honorars ganz oder in Teilen, die eigentliche Honorarforderung ist sprachlich schon für die ursprüngliche Forderung des Rechtsberaters reserviert. Eine Einschränkung auf eine bestimmte Anspruchsgrundlage ist nicht gemeint und hätte dann – wie Diller selbst richtig bemerkt – ebenfalls keinen eigenständigen Ausschlusscharakter, sondern wäre an dieser Stelle rein deklaratorisch. Richtig verstanden ist der Ausschluss des Versicherungsschutzes also umfassend auf sämtliche denkbaren Anspruchsgrundlagen bezogen.

Bertin Chab, München Der Autor ist Rechtsanwalt und bei der Allianz Versicherungs-AG tätig. Der Beitrag gibt seine persönliche Auffassung wieder. Sie erreichen den Autor unter der E-Mail-Adresse [email protected].

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Rechtsprechung

Anwaltsrecht

Fachanwalt: Wenn die Papierform reicht, kein Fachgespräch FAO §§ 4, 5, 6, 7, 14

Für den Nachweis der theoretischen Kenntnisse und der praktischen Erfahrungen zur Verleihung eines Fachanwaltstitels tritt ein Fachgespräch nicht als eigenständige Prüfung der fachlichen Qualifikation des Bewerbers neben die in der FAO geforderten Nachweise, sondern hat Bedeutung nur als ergänzende Beurteilungsgrundlage für die Fälle, in denen die schriftlichen Unterlagen nicht ausreichen, der Nachweis im Rahmen eines Fachgesprächs aber noch aussichtsreich erscheint. (Leitsatz der Redaktion) BGH, Beschl. v. 30.5.2012 – AnwZ (Brfg) 3/12

Aus den Gründen: [1] I. Der Kläger ist seit dem 30. August 1996 zur Rechtsanwaltschaft zugelassen und Mitglied der Beklagten. Seit 2005 wird er regelmäßig von Insolvenzgerichten zum Insolvenzverwalter bestellt; einen Fachanwaltslehrgang hat er nicht besucht. Mit Schreiben vom 5. März 2007 beantragte er bei der Beklagten die Verleihung der Befugnis, die Bezeichnung „Fachanwalt für Insolvenzrecht“ zu führen. Zum Nachweis seiner besonderen theoretischen Kenntnisse berief er sich unter anderem auf verschiedene von ihm stammende Veröffentlichungen in Fachzeitschriften sowie ein von ihm für die Insolvenzrichter beim Amtsgericht C. erstelltes Merkblatt für Insolvenzplanverfahren bei geschlossenen Immobilienfonds und legte – auf Anregung des Vorsitzenden des Fachausschusses der Beklagten – eine 110seitige Zusammenstellung (mit 5 Aktenordnern) vor; diese enthielt eine Erläuterung und Zuordnung von ihm im Rahmen von 130 Insolvenzverfahren erstellter Schriftstücke (Gutachten; Berichte; Schriftsätze) zu den einzelnen Bereichen des Fachgebiets Insolvenzrecht (§ 14 FAO). Mit Bescheid vom 21. Dezember 2009 lehnte die Beklagte – entgegen dem Votum ihres Fachausschusses – den Antrag ab; der Widerspruch des Klägers wurde mit Bescheid vom 9. Juni 2010 zurückgewiesen. Zur Begründung verwies die Beklagte darauf, dass durch die Veröffentlichungen und das Merkblatt nicht alle Rechtsgebiete des § 14 FAO abgedeckt seien; die vom Kläger im Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit erworbenen praktischen Erfahrungen seien nicht geeignet, den Nachweis theoretischer Kenntnisse zu ersetzen. Auf die hiergegen gerichtete Klage hat der Anwaltsgerichtshof – unter Zurückweisung der weitergehenden Klage – die Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese verpflichtet, über den Antrag unter Beachtung der in den Urteilsgründen ausgeführten Rechtsauffassung – die Beklagte habe den Antrag nicht zurückweisen dürfen, ohne dass zuvor ein Fachgespräch (§ 7 FAO) stattgefunden habe – neu zu befinden. [2] Gegen dieses Urteil richten sich die Anträge beider Parteien auf Zulassung der Berufung. [3] II. 1. Der nach § 112 e Satz 2 BRAO, § 124 a Abs. 4 VwGO statthafte Antrag des Klägers hat Erfolg; es bestehen, soweit zum Nachteil des Klägers erkannt worden ist, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 112 e Satz 2 BRAO, § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). [4] Der Anwaltsgerichtshof hat die vom Kläger vorgelegten Arbeitsunterlagen als nur zum Nachweis praktischer Erfahrungen (§ 5 Abs. 1 g FAO) geeignet angesehen und sie als zum Beleg der notwendigen theoretischen Kenntnisse (§ 4 924

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Abs. 3 FAO) auf den anderweitig nicht abgedeckten Teilgebieten des § 14 FAO unerheblich außer Betracht gelassen. Nach der Senatsrechtsprechung sind demgegenüber zum Nachweis dieser Kenntnisse alle geeigneten Beweismittel und Erkenntnisquellen zu berücksichtigen; dementsprechend kann es auch genügen, wenn ein Antragsteller auf seine berufliche Tätigkeit zurückgreift und aussagekräftige, mit entsprechendem theoretischen Niveau bearbeitete Schriftsätze bzw. Aktenauszüge oder sonstige Arbeitsnachweise vorlegt, aus denen sich die notwendigen Kenntnisse ableiten lassen (vgl. Senatsbeschluss vom 21. November 1994 – AnwZ (B) 46/94, BRAK-Mitt. 1995, 73, 75 zur mit § 7 Abs. 3 FAO inhaltsgleichen Vorgängerregelung in § 8 Abs. 3 RAFachBezG; ferner Senatsbeschluss vom 19. Juni 2000 – AnwZ (B) 59/99, NJW 2000, 3648, 3649). [5] 2. Der nach § 112 e Satz 2 BRAO, § 124 a Abs. 4 VwGO statthafte Antrag der Beklagten ist unbegründet; die geltend gemachten Zulassungsgründe (§ 124 Abs. 2 Nr. 3, Nr. 4 VwGO) liegen nicht vor. Die maßgeblichen Rechtsfragen zum Fachgespräch sind in der Senatsrechtsprechung geklärt. Sollten, was im Rahmen der Berufung des Klägers zu klären sein wird (s. o.), die vorgelegten Unterlagen zur Abdeckung aller Fachgebiete des § 14 FAO nicht ausreichend gewesen sein, war es rechtsfehlerhaft, den Antrag des Klägers auf Verleihung der Fachanwaltsbezeichnung abzulehnen, ohne zuvor ein Fachgespräch durchzuführen. [6] Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung zu § 7 FAO in der bis zum 31. Dezember 2002 gültigen Fassung die Auffassung vertreten, dass Gegenstand eines Fachgesprächs nur die Rechtsgebiete sein können, in denen der Nachweis der in den §§ 4, 5 FAO geforderten Kenntnisse und Erfahrungen anhand der eingereichten Unterlagen noch nicht geführt ist; hat der Antragsteller ausreichende Unterlagen (§ 6 FAO) vorgelegt, ist für ein Fachgespräch kein Raum (vgl. Senatsbeschlüsse vom 23. September 2002 – AnwZ (B) 40/01, BRAK-Mitt. 2003, 25, 26 ff. und 7. März 2005 – AnwZ (B) 11/04, BRAK-Mitt. 2005, 123 f. m. w. N.; siehe auch Senatsbeschluss vom 21. Juni 1999 – AnwZ (B) 91/98, BGHZ 142, 97, 99 m. w. N. zu § 10 RAFachBezG). Das Fachgespräch tritt damit nicht als eigenständige Prüfung der fachlichen Qualifikation des Bewerbers neben die in der FAO geforderten Nachweise, sondern hat Bedeutung nur als ergänzende Beurteilungsgrundlage für die Fälle, in denen die schriftlichen Unterlagen nicht ausreichen, der Nachweis im Rahmen eines Fachgesprächs aber noch aussichtsreich erscheint (Senatsbeschluss vom 23. September 2002, aaO S. 27). Diese Rechtsprechung gilt – bei verfassungskonformer Auslegung der Bestimmung – weiterhin auch für die ab 1. Januar 2003 geltende Neufassung des § 7 FAO (vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 7. März 2005, aaO S. 124 und vom 6. März 2006 – AnwZ (B) 36/05, NJW 2006, 1513 Rn. 32). Soweit die Beklagte aus bestimmten Formulierungen des Senatsbeschlusses vom 16. April 2007 (AnwZ (B) 31/06, BRAK-Mitt. 2007, 166 Rn. 11 ff.) ableiten möchte, dass im vorliegenden Fall im Rahmen des § 4 Abs. 3 FAO eine Ersetzung des fehlenden Nachweises theoretischer Kenntnisse in einzelnen Teilbereichen des § 14 FAO durch ein Fachgespräch unmöglich sei, ist dies unzutreffend. In dem zitierten Beschluss ging es um die praktischen Erfahrungen aus „mindestens 5 eröffneten Verfahren aus dem ersten bis sechsten Teil der InsO als Insolvenzverwalter“ (§ 5 Abs. 1 g Nr. 1 FAO). Insoweit hat der Senat unter Hinweis unter anderem darauf, dass zum Nachweis dieser besonderen praktischen Kenntnisse ein FachAnwaltsrecht

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Rechtsprechung

gespräch nicht zielführend sei und die FAO in § 5 Abs. 1 g Nr. 3 und 4 auch eine spezielle Ersetzungsregelung vorsehe, eine Verpflichtung der damaligen Beklagten zur Führung eines Fachgesprächs verneint. Hieraus lässt sich für den vorliegenden Fall nichts ableiten. Im Übrigen hat der Senat in der Folgezeit ausdrücklich Fachgespräche bei Defiziten im Nachweis theoretischer Kenntnisse im Anwendungsbereich des § 4 Abs. 3 FAO für zulässig erachtet (vgl. Beschluss vom 21. Juli 2008 – AnwZ (B) 62/07, AnwBl 2008, 711, 712; siehe zur Ersetzung auch Beschluss vom 25. Februar 2008 – AnwZ (B) 14/07, NJW-RR 2008, 927 Rn. 7 ff.). Er hat lediglich im Hinblick auf die begrenzte – nicht eigenständige, sondern nur ergänzende – Funktion des Fachgesprächs (s. o.) deutlich gemacht, dass ein solches zum Nachweis nicht in Betracht kommt, wenn die vom Antragsteller im Rahmen des § 4 Abs. 3 FAO vorgelegten Unterlagen in wesentlichen Teilen unzureichend sind und deshalb kein partieller Klärungsbedarf besteht (Beschluss vom 21. Juli 2008, aaO). Hiervon kann im vorliegenden Fall, in dem allein durch die vorgelegten Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und das erstellte Merkblatt die Teilgebiete des § 14 FAO mehrheitlich abgedeckt sind, nicht gesprochen werden. [7] III. Das Verfahren wird als Verfahren über die Berufung des Klägers fortgesetzt; der Einlegung einer Berufung durch den Kläger bedarf es nicht (§ 112 e Satz 2 BRAO, § 124 a Abs. 5 Satz 5 VwGO). Anmerkung der Redaktion:

Der Beschluss fällt prozessual aus dem Rahmen, weil hier sowohl der klagende Anwalt (er will Fachanwalt für Insolvenzrecht werden) als auch die Rechtsanwaltskammer die Zulassung der Berufung gegen die Entscheidung des AGH beantragt haben. Der Anwalt hat seine Berufung bekommen, sodass der BGH jetzt klären wird, ob die Arbeitsnachweise einen Fachanwaltskurs ersetzen. Die Rechtsanwaltskammer hatte keinen Erfolg. Sie durfte den Antrag auf Verleihung des Fachanwalts nicht schlicht ablehnen. Der Leitsatz stammt aus diesem Teil des Beschlusses.

Der Volltext ist im Internet abrufbar unter www.anwaltsblatt.de (AnwBl Online 2012, 283).

Kein Fachanwalt ohne Zulassung als Rechtsanwalt

Nachweis von Fällen im Bank- und Kapitalmarkt

BRAO §§ 13, 43 c Abs. 1 Satz 1; FAO § 3

FAO §§ 5, 14 I Nr. 3

Für den Nachweis der praktischen Erfahrungen für den Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht sind mindestens fünf Fälle aus dem Bereich Zahlungsverkehr erforderlich, wobei das schlichte Führen eines Kontos – ohne Beantwortung von Rechtsfragen – nicht reicht. (Leitsatz der Redaktion) BGH, Beschl. v. 11.6.2012 – AnwZ (Brfg) 18/12

Nur ein zugelassener Rechtsanwalt ist befugt, eine Bezeichnung als Fachanwalt zu führen; auf „Vorrat“ kann die Befugnis nicht verliehen werden. (Leitsatz der Redaktion) BGH, Beschl. v. 3.8.2012 – AnwZ (Brfg) 39/11

Der Volltext ist im Internet abrufbar unter www.anwaltsblatt.de (AnwBl Online 2012, 284).

Aus den Gründen: [4] a) Der Anwaltsgerichtshof hat angenommen, dass der Kläger die in § 5 Satz 1 lit. s FAO verlangten 60 Fälle mit hinreichendem Bezug zum Bank- und Kapitalmarktrecht nachgewiesen hat. Er hat – ebenso wie die Beklagte – beanstandet, dass nicht mindestens fünf Fälle aus je drei Bereichen des § 14 l Nr. 1 bis 9 FAO entstammten. Der Kläger habe ausreichend Fälle aus den Bereichen § 14 l Nr. 1 und Nr. 2 FAO nachgewiesen, nicht jedoch aus einem der weiteren Bereiche. Dem Bereich § 14 l Nr. 3 FAO (Zahlungsverkehr) könnten allenfalls vier Fälle zugeordnet werden, von denen zwei Fälle nicht im maßgeblichen Zeitraum von drei Jahren vor Antragstellung (§ 5 FAO) bearbeitet worden seien. Anwaltsrecht

[5] Der Kläger wendet ein, sämtliche von ihm als „P.-Mandate“ bezeichneten Fälle seien auch dem Bereich „Zahlungsverkehr“ (§ 14 l Nr. 3 FAO) zuzuordnen. In jedem dieser Fälle habe er die Darlehensverträge, die Zweckerklärungen, die Zusatzvereinbarungen und die Kündigungsvoraussetzungen einschließlich der bis dahin geleisteten Zahlungen überprüft und vom Zeitpunkt der Mandatierung an die Konten fortgeschrieben, also für die P.-Bank den Zahlungsverkehr abgewickelt. Streitige Fragen zu den einzelnen Konten habe er in diesen Fällen stets selbst geklärt; die Kunden seien von der P.Bank, die keine eigene Rechtsabteilung unterhalte, an ihn weiter verwiesen worden. Die Richtigkeit seines schon in erster Instanz gehaltenen Vortrags habe er durch eine Bescheinigung der P.-Bank sowie durch Zeugen unter Beweis gestellt. [6] Damit hat der Kläger nach wie vor nicht dargelegt, dass er auf dem Gebiet des Zahlungsverkehrs (§ 14 l Nr. 3 FAO) als Rechtsanwalt Fälle bearbeitet hat. Sein allgemein gehaltener Vortrag zur Abwicklung der P.-Mandate lässt nicht erkennen, ob und in welchem Umfang er im jeweiligen Einzelfall Rechtsfragen zu beantworten hatte. Das schlichte Führen eines Kontos genügt den Anforderungen des § 5 FAO nicht. [7] b) Der Anwaltsgerichtshof hat offengelassen, ob reine Zwangsvollstreckungs- und Zwangsversteigerungsmandate, denen eine bereits titulierte Forderung zugrunde liegt, als rechtsförmliche Verfahren anerkannt werden können. Der Kläger meint, diese Frage hätte entschieden werden müssen; die Anzahl der Fälle aus dem Bereich „Zahlungsverkehr“ (§ 14 l Nr. 3 FAO) hätte sich dann wesentlich erhöht. Die P.Mandate, um die es hier ging, lassen sich diesem Bereich jedoch gerade nicht zuordnen. Ob es sich um rechtsförmliche Verfahren handelte, ist deshalb unerheblich.

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Anwaltshaftung

Streithelfer wird auch bei untätiger Partei nicht Partei ZPO §§ 66, 67, 544 Abs. 1 Satz 2

Der einfache Streithelfer (§ 66 ZPO) kann ein Rechtsmittel nur solange einlegen, wie die Rechtsmittelfrist für die Hauptpartei läuft. Das gilt auch für die Frist zur Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in einem Berufungsurteil, wenn sich die Hauptpartei bereits im Berufungsverfahren nicht mehr aktiv beteiligt hat (im Anschluss an BAG, Beschluss vom 17. August 1984 – 3 AZR 597/83, AP Nr. 2 zu § 67 ZPO). BGH, Beschl. v. 24.5.2012 – VII ZR 24/11

Aus den Gründen: [3] 1. Nach ständiger Rechtsprechung kann der – unselbständige – Streithelfer ein Rechtsmittel nur innerhalb der für die von ihm unterstützte Hauptpartei laufenden Rechtsmittelfrist einlegen (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2001 – XII ZB 194/99, NJW 2001, 1355; Urteil vom 15. Juni 1989 – VII ZR 227/88, BauR 1989, 642 = ZfBR 1989, 252, jeweils m. w.dN.). Dies gilt ohne Rücksicht darauf, ob und wann dem Streithelfer selbst das anzufechtende Urteil zugestellt worden ist (BGH, Urteil vom 15. Juni 1989 – VII ZR 227/88, aaO). Denn das Rechtsmittel eines Streithelfers ist stets ein Rechtsmittel für die Hauptpartei. Dieser nimmt nur fremde Rechte wahr. Selbst bei einem von der Hauptpartei und dem Streithelfer eingelegten Rechtsmittel handelt es sich nur um ein Rechtsmittel (BGH, Urteil vom 15. Juni 1989 – VII ZR 227/88, aaO m. w. N.). [4] 2. a) Dies verkennt auch die Beschwerde nicht. Sie meint jedoch, hier liege ein abweichend zu behandelnder Sonderfall vor. Denn der Streithelfer sei infolge der ihm gegenüber erfolgten Streitverkündung faktisch zur eigentlichen Prozesspartei geworden. Er allein habe gegen das die Klage abweisende Urteil des Landgerichts Berufung eingelegt und das Berufungsverfahren betrieben. Seine Berufung sei durch das angefochtene Urteil zurückgewiesen worden; er habe hiernach die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen. Daraus folge die Zustellungsbedürftigkeit der Entscheidung an den Streithelfer und damit auch seine Befugnis, selbständig Rechtsmittel gegen jene Entscheidung einzulegen. Habe der Streithelfer das zugrundeliegende Verfahren ohne Mitwirkung der Hauptpartei betrieben und sei er selbst durch die Entscheidung beschwert, müsse er auch selbständig Rechtsmittel gegen die ihn beschwerende Entscheidung einlegen können, wobei es bei der Frage der Fristwahrung auf die Zustellung an ihn ankomme. [5] b) Dem kann nicht gefolgt werden. Entgegen der Auffassung der Beschwerde handelte es sich auch bei der nur vom Streithelfer eingelegten und geführten Berufung nicht um eine solche des Streithelfers selbst, sondern nach wie vor (nur) um ein Rechtsmittel der Hauptpartei. Lediglich aus den bei ihr vorliegenden Umständen bestimmt sich etwa, ob die zu erreichende Rechtsmittelsumme und die erforderliche Beschwer gegeben sind. Auch die Frage, ob ein Vorbringen des Streithelfers etwa verspätet ist, ist so zu beurteilen, als wenn es von der Partei selbst stammen würde (BGH, Urteil vom 15. Juni 1989 – VII ZR 227/88, aaO). [6] Legt nur der Streithelfer ein Rechtsmittel ein, so wird er gleichwohl nicht selbst Partei. Vielmehr wirkt sein Rechtsmittel für die von ihm unterstützte Partei und bringt sie in 926

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die Stellung des Rechtsmittelklägers (BAG, Beschluss vom 17. August 1984 – 3 AZR 597/83, AP Nr. 2 zu § 67 ZPO, juris m. w. N.). Die prozessualen Befugnisse des Streithelfers können nicht weiter reichen als die Befugnisse der Hauptpartei. Hat deshalb die Partei eine für sie gesetzte Notfrist versäumt, so kann die ausgeschlossene Prozesshandlung auch nicht durch den Streithelfer wirksam nachgeholt werden (BAG, aaO mit Verweis auf RGZ 18, 416, 417). Daran ändert sich nichts dadurch, dass die Hauptpartei sich bereits in der Instanz, die durch das zugestellte Urteil abgeschlossen worden ist, am Verfahren nicht mehr aktiv beteiligt hat. Auch in diesem Fall setzt die Zustellung des Urteils an den Streithelfer für ihn keine eigene Rechtsmittelfrist in Lauf, so dass die Partei auch in der Revisionsinstanz weiterhin Partei bleibt, obwohl sie den Rechtsstreit schon seit dem zweiten Rechtszug nicht mehr selbst betreibt. Daher ist die für sie gesetzte Revisionsfrist auch für den Streithelfer maßgebend (BAG, aaO juris Rn. 4). Nichts anderes gilt für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision. [7] Eine andere Entscheidung wird auch nicht dadurch gerechtfertigt, dass der Streithelfer durch die Kostenentscheidung des Berufungsgerichts selbst beschwert ist. Das folgt schon daraus, dass diese Entscheidung nach § 99 Abs. 1 ZPO nicht weitergehend angefochten werden kann als die Hauptsache. Der Volltext ist im Internet abrufbar unter www.anwaltsblatt.de (AnwBl Online 2012, 285).

WEG: Nichtzulassungsbeschwerde bei Verwerfung der Berufung als unzulässig WEG § 62 Abs. 2

§ 62 Abs. 2 WEG gilt nicht, wenn das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfen hat. BGH, Beschl. v. 19.7.2012 – V ZR 255/11

Aus den Gründen: [4] II. Das Berufungsgericht meint, die Kläger seien nicht ohne Verschulden an der Einhaltung der Berufungsfrist gehindert gewesen. Bei Erkundigung nach dem Versand des Faxes hätte ihr Anwalt nachfragen müssen, ob dieses an das richtige Gericht gefaxt worden sei. Zudem hätte ihm bei ordnungsgemäßem Handeln im Rahmen der Beglaubigung der Abschriften der Fehler seiner Angestellten auffallen müssen. Er habe sich nicht darauf verlassen dürfen, dass er den „richtigen“ Schriftsatz beglaubige, vor allem, wenn er gewusst habe, dass ein fehlerhafter Schriftsatz in der Welt sei. [5] III. 1. Die Beschwerde der Kläger zu 1 und 2 gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht gemäß § 544 Abs. 1 und 2 ZPO ist zulässig. [6] a) Der Statthaftigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde gegen die Verwerfung der Berufung steht § 62 Abs. 2 WEG, wonach für eine Übergangszeit die Nichtzulassungsbeschwerde in Wohnungseigentumssachen nach § 43 Nr. 1 bis 4 WEG ausgeschlossen ist, nicht entgegen. [7] Die mit der Zielsetzung getroffene Regelung, einer Überlastung des Bundesgerichtshofs vorzubeugen, lehnt sich an § 26 Nr. 9 EGZPO a. F. – einer mit Wirkung zum 1. September 2009 aufgehobenen Übergangsregelung zur ZPO-Reform – an (BT-Drucks. 16/887, S. 43). Danach war für eine fünfjährige Übergangsfrist die Nichtzulassungsbeschwerde gegen Urteile in Familiensachen ausgeschlossen. Anwaltshaftung

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Rechtsprechung

Durch Art. 2 Nr. 1 des ersten Justizmodernisierungsgesetzes vom 24. August 2004 (BGBl. I, S. 2198) sind sowohl § 26 Nr. 9 EGZPO a. F. als auch § 26 Nr. 8 EGZPO, wonach die Zulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde von einer bestimmten Wertgrenze abhängig ist, durch Satz 2 ergänzt worden; darin wird das die Berufung verwerfende Urteil vom Anwendungsbereich der die Nichtzulassungsbeschwerde beschränkenden Übergangsregelungen ausdrücklich ausgenommen. Hintergrund hierfür war die Vereinheitlichung der Rechtsmittelmöglichkeiten bei verwerfenden Entscheidungen des Berufungsgerichts, gegen die gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO die Rechtsbeschwerde stattfindet, wenn sie nach § 522 Abs. 1 Satz 2 und 3 ZPO als Beschluss ergangen sind. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Relevanz des gleichmäßigen und willkürfreien Zugangs zur Rechtsmittelinstanz ein weiter Rechtsschutz gegen Verwerfungsentscheidungen des Berufungsgerichts unabhängig davon gewährleistet sein, ob sie als Urteil oder als Beschluss ergehen (BT-Drucks. 15/1508, S. 22). [8] Das Fehlen einer vergleichbaren Vorschrift in § 62 Abs. 2 WEG lässt nicht den Schluss zu, dass nach dem Willen des Gesetzgebers in Wohnungseigentumssachen gegen ein die Berufung verwerfendes Berufungsurteil eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht statthaft ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Gesetz insoweit eine planwidrige Regelungslücke enthält, die durch entsprechende Anwendung von § 26 Nr. 8 Satz 2 EGZPO, der der Regelung in § 26 Nr. 9 Satz 2 EGZPO a. F. entspricht, zu schließen ist. Denn der diesen Vorschriften zugrunde liegende Gedanke der Gewährleistung einer einheitlichen Anfechtbarkeit der verwerfenden Entscheidungen des Berufungsgerichts gilt in gleicher Weise für Wohnungseigentumssachen. Es ist kein sachlicher Grund ersichtlich, warum dort gegen eine Berufungsverwerfung eine Beschwerde nur statthaft ist, wenn die Entscheidung im Wege eines Beschlusses ergangen ist, während gegen die gleiche Entscheidung, wenn sie in einem Urteil getroffen wird, die Beschwerdemöglichkeit nicht gegeben sein soll. Insoweit ist der Sachverhalt mit dem in § 26 Nr. 8 Satz 2 EGZPO geregelten Tatbestand vergleichbar, so dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gelangt (vgl. Senat, Beschluss vom 15. März 2007 – V ZB 145/06, BGHZ 171, 350, 353 m. w. N.). [9] b) Der Statthaftigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde steht auch nicht entgegen, dass der Wert der geltend gemachten Beschwer 20.000 Euro nicht übersteigt. Die Wertgrenze des § 26 Nr. 8 Satz 1 EGZPO gilt nach dessen Satz 2 nicht, wenn das Berufungsgericht die Berufung verworfen hat. [10] 2. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist jedoch unbegründet. Der Rechtsstreit der Parteien hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch erfordert er eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Denn die Berufungsverwerfung wird jedenfalls von der rechtsfehlerfreien Erwägung des Berufungsgerichts getragen, dass dem Prozessbevollmächtigten der Kläger bei ordnungsgemäßem Handeln im Rahmen der Beglaubigung der Abschriften der Fehler seiner Kanzleiangestellten hätte auffallen müssen. Der Volltext ist im Internet abrufbar unter www.anwaltsblatt.de (AnwBl Online 2012, 286).

Anwaltshaftung

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Offenkundig falsche Rechtsmittelbelehrung (hier bei „Scheinbeschluss“) FamFG §§ 17 Abs. 2, 39, 113 Abs. 1 Satz 2; ZPO §§ 160 Abs. 3 Nr. 7, 165, 311 Abs. 2

a) Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen einer inhaltlich unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung setzt die Kausalität zwischen dem Belehrungsmangel und der Fristversäumung voraus; diese kann bei einem anwaltlich vertretenen Beteiligten entfallen, wenn die durch das Gericht erteilte Rechtsbehelfsbelehrung offenkundig falsch gewesen ist und deshalb – ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Grundkenntnissen des Verfahrensrechtes und des Rechtsmittelsystems – nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermochte (Fortführung des Senatsbeschlusses vom 23. Juni 2010 – XII ZB 82/10 – FamRZ 2010, 1425). b) Urteilsersetzende Beschlüsse in Ehesachen und Familienstreitsachen sind gemäß § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG i. V. m. § 311 Abs. 2 ZPO durch das Verlesen der Beschlussformel oder durch die Bezugnahme auf die Beschlussformel zu verkünden; der Nachweis für die erfolgte Verkündung kann in diesen Fällen nach § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG i. V. m. §§ 165 Satz 1, 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO nur durch das Protokoll geführt werden. BGH, Beschl. v. 13.6.2012 – XII ZB 592/11

Aus den Gründen: [8] b) Allerdings war der Antragsgegner in erster Instanz anwaltlich vertreten. Es gehört zu den Pflichten eines mit der Vertretung im erstinstanzlichen Verfahren beauftragten Rechtsanwaltes, seinen Mandanten über den Inhalt einer im ersten Rechtszug ergangenen Entscheidung zu informieren und zutreffend über die formellen Voraussetzungen des gegebenen Rechtsmittels zu belehren; erst danach endet sein Auftrag (BGH Beschlüsse vom 27. März 2003 – IX ZR 399/99 – NJW 2003, 2022, 2023 und vom 29. Juni 2006 – IX ZR 176/04 – NJW 2006, 2779; MünchKommBGB/Heermann 5. Aufl. § 675 Rn. 32). Die Einführung der obligatorischen Rechtsbehelfsbelehrung in Verfahren nach dem FamFG hat daran nichts Grundsätzliches geändert, denn es gehört zu den allgemeinen Pflichten des Rechtsanwaltes, Fehlleistungen des Gerichts zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken (BGH Urteil vom 6. Juli 1989 – IX ZR 75/88 – NJW-RR 1989, 1109). Auch wenn das Gericht des ersten Rechtszuges entgegen seiner gesetzlichen Verpflichtung überhaupt keine oder nur eine unvollständige Rechtsbehelfsbelehrung erteilt, wird es bei einem anwaltlich vertretenen Beteiligten deshalb in der Regel am ursächlichen Zusammenhang zwischen Belehrungsmangel und Fristversäumung fehlen, weil ein anwaltlich vertretener Beteiligter für die zutreffende Information über seine Rechtsmittelmöglichkeiten keiner Unterstützung durch eine Rechtsbehelfsbelehrung bedarf (Senatsbeschluss vom 23. Juni 2010 – XII ZB 82/10 – FamRZ 2010, 1425 Rn. 11; BGH Beschluss vom 23. November 2011 – IV ZB 15/11 – FamRZ 2012, 367 Rn. 11). Anzeige

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[9] Die Fälle einer gesetzlich vorgeschriebenen, aber fehlenden bzw. unvollständigen Rechtsbehelfsbelehrung können allerdings nicht ohne weiteres mit der – hier vorliegenden – Konstellation einer inhaltlich unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung gleichgesetzt werden. Auch ein Rechtsanwalt darf grundsätzlich auf die Richtigkeit einer durch das Gericht erteilten Rechtsbehelfsbelehrung vertrauen (vgl. BGH Beschlüsse vom 23. September 1993 – LwZR 10/92 – NJW 1993, 3206, vom 16. Oktober 2003 – IX ZB 36/03 – NJW-RR 2004, 408 und vom 12. Januar 2012 – V ZB 198/11 – MDR 2012, 362 Rn. 10). Gleichwohl muss von einem Rechtsanwalt erwartet werden, dass er die Grundzüge des Verfahrensrechts und das Rechtsmittelsystem in der jeweiligen Verfahrensart kennt (vgl. Senatsbeschluss vom 3. Juli 1985 – IVb ZB 40/85 – VersR 1985, 1183, 1184; BGH Beschluss vom 11. Juni 1996 – VI ZB 10/96 – VersR 1996, 1522). Das Vertrauen in die Richtigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung kann er deshalb nicht uneingeschränkt, sondern nur in solchen Fällen in Anspruch nehmen, in denen die inhaltlich fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung zu einem unvermeidbaren, zumindest aber zu einem nachvollziehbaren und daher verständlichen Rechtsirrtum des Rechtsanwaltes geführt hat (BGH Beschluss vom 12. Januar 2012 – V ZB 198/11 – MDR 2012, 362 Rn. 10; OLG Rostock FamRZ 2011, 986; OLG Hamm FamRZ 2011, 233; vgl. auch BR-Drucks. 308/12, S. 21). Auch in den Fällen einer inhaltlich unrichtigen Rechtsmittelbelehrung kann es daher an der Ursächlichkeit zwischen Belehrungsmangel und Fristversäumung fehlen, wenn die durch das Gericht erteilte Rechtsbehelfsbelehrung offenkundig falsch gewesen ist und deshalb – ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand – nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermochte (BGH Beschluss vom 11. Juni 1996 – VI ZB 10/96 – VersR 1996, 1522). [10] Gemessen an diesen Maßstäben erscheint die vom Amtsgericht erteilte Rechtsbehelfsbelehrung kaum geeignet, bei einem Rechtsanwalt einen nachvollziehbaren oder gar unvermeidbaren Rechtsirrtum über die Form der Beschwerdeeinlegung hervorzurufen. Das Wissen um das Bestehen und die Reichweite des Anwaltszwanges in selbständigen Familienstreitsachen gehört zu den Grundkenntnissen des familiengerichtlichen Verfahrens, mit denen ein auf dem Gebiet des Familienrechts tätiger Rechtsanwalt ohne weiteres vertraut sein muss. Dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners musste sich daher auch ohne vertiefte Sachprüfung die evidente Unrichtigkeit (arg. §§ 114 Abs. 1, 64 Abs. 2 Satz 1 und 2 FamG) der vom Amtsgericht erteilten Rechtsbehelfsbelehrung aufdrängen, soweit dieser zu entnehmen war, dass die Beschwerde in einer selbständigen Familienstreitsache auch privatschriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle eingelegt werden könnte. Anmerkung der Redaktion:

Die Rechtsbehelfsbelehrung des Amtsgerichtes wird in Rn. 2 des Beschlusses wie folgt wiedergegeben: „Der Entscheidung ... ist eine Rechtsbehelfsbelehrung des Inhalts beigegeben, dass die Beteiligten durch Einreichung einer Beschwerdeschrift oder durch Erklärung der Beschwerde zur Niederschrift der Geschäftsstelle auch dann persönlich Beschwerde einlegen könnten, wenn das Beschwerdeverfahren im Übrigen dem Anwaltszwang unterliege.“

Der Volltext ist im Internet abrufbar unter www.anwaltsblatt.de (AnwBl Online 2012, 288).

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Anwaltsvergütung

Sorgerecht und Umgangsrecht: Pro Kind jeweils eine Gebühr FamFG §§ 151, 158

Der Verfahrensbeistand, der sowohl in einer Sorgerechts- als auch in der Umgangsrechtsangelegenheit bestellt worden ist, hat auch dann einen Anspruch, für beide Angelegenheiten nach § 158 FamFG vergütet zu werden, wenn das Amtsgericht diese in einem einzigen Verfahren behandelt hat (im Anschluss an die Senatsbeschlüsse vom 19. Januar 2011 – XII ZB 486/10 – FamRZ 2011, 467 und vom 17. November 2010 – XII ZB 478/10 – FamRZ 2011, 199). BGH, Beschl. v. 1.8.2012 – XII ZB 456/11

Aus den Gründen: [1] I. Die in einer Sorgerechts- und Umgangsrechtssache zum Verfahrensbeistand bestellte Beteiligte zu 4 begehrt die volle Vergütung gemäß § 158 FamFG für beide Verfahrensgegenstände. [2] Das Amtsgericht hat die Beteiligte zu 4 zunächst in einem Sorgerechtsverfahren zum Verfahrensbeistand für die beiden Kinder bestellt. In dem Beschluss heißt es, dass die Beistandschaft berufsmäßig geführt wird. Gemäß Ziffer 3 des Beschlusses wurden der Beteiligten zu 4 die zusätzlichen Aufgaben übertragen, Gespräche mit den Eltern und weiteren Bezugspersonen der Kinder zu führen sowie am Zustandekommen einer einvernehmlichen Regelung über den Verfahrensgegenstand mitzuwirken. Die Beteiligte zu 4 hat ihre Einschätzung nach Gesprächen mit den Eltern und Kindern in einem Bericht am 10. Februar 2011 niedergelegt. Vor dem Anhörungstermin im April 2011 hat der Antragsteller zusätzlich einen Umgangsrechtsantrag gestellt. In dem anschließenden Gerichtstermin hat das Amtsgericht durch Beschluss die Verfahrensbeistandschaft auf das Umgangsrecht erstreckt. Es hat im Anschluss hieran mit den Beteiligten das Umgangsrecht erörtert und die Kinder nochmals angehört. Schließlich haben die Eltern einen gerichtlichen Vergleich zum Umgangsrecht geschlossen. [3] Dem Antrag der Beteiligten zu 4, die Vergütung auf 2.200 Euro festzusetzen, hat das Amtsgericht nur in Höhe von 1.100 Euro entsprochen. Im Übrigen hat es den Antrag zurückgewiesen. Auf die hiergegen eingelegte Beschwerde der Beteiligten zu 4 hat das Oberlandesgericht die Vergütung antragsgemäß auf 2.200 Euro festgesetzt. Hiergegen wendet sich der Beteiligte zu 3, vertreten durch die Bezirksrevisorin, mit der von dem Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde. [4] II. Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet. [5] 1. Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, soweit das Amtsgericht die Verfahrensbeistandschaft auf den Verfahrensgegenstand Umgang erstreckt habe, stehe der Beteiligten zu 4 eine weitere Vergütung in Höhe von insgesamt 1.100 Euro zu. Die in der Gesetzesbegründung enthaltene Verwendung des Begriffs „Fallpauschale“ und die Formulierung „fallbezogene“ Vergütung sprächen dafür, dass der Gesetzgeber die Vergütung verfahrensgegenstandsbezogen habe gestalten wollen. Hierfür spreche auch die teleologische Auslegung des § 158 FamFG, weil es dem Gesetzgeber darauf angekommen sei, dem Verfahrensbeistand die verfassungsrechtlich gebotene auskömmliche Vergütung zukommen zu lassen. Es habe verhindert werden sollen, dass dieser durch eine unzureichende Anwaltsvergütung

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Rechtsprechung

Vergütung davon abgehalten werde, die für eine effektive Interessenvertretung der Kinder im Verfahren erforderlichen Tätigkeiten zu entfalten. Diesem Anliegen des Gesetzgebers würde eine Auslegung der gesetzlichen Regelung des § 158 Abs. 7 FamFG nicht gerecht werden, die davon ausginge, dass der Verfahrensbeistand in einem förmlichen Verfahren pro Instanz nur eine „Verfahrenspauschale“ und keine „Fallpauschale“ – je Kind – erhalten solle, unabhängig davon, wie viele und welche Verfahrensgegenstände des § 151 FamFG in dem förmlichen Verfahren zusammengefasst seien. Der Verfahrensbeistand habe als Interessenvertreter des Kindes dessen Interessen im Verfahren im Hinblick auf jeden Verfahrensgegenstand wahrzunehmen und zum Kindeswohl in Beziehung zu setzen. [6] Hier bestehe die Besonderheit, dass die Verfahrensbeistandschaft auf den Verfahrensgegenstand Umgang erst im Anhörungstermin erweitert worden sei, weshalb die Beteiligte zu 4 nach der Übertragung der Verfahrensbeistandschaft nicht mehr gesondert tätig geworden sei. Vielmehr hätten die Eltern sich noch im selben Termin einvernehmlich zum Verfahrensgegenstand Umgang verglichen. Die Beteiligte zu 4 sei im Hinblick auf die Umgangsproblematik aber zuvor schon aktiv gewesen. Ihrem Bericht sei zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin mit den Beteiligten über eine Umgangsregelung gesprochen habe. Sie habe daher auch für diese Tätigkeit die erhöhte Vergütungspauschale nach § 158 Abs. 7 Satz 3 FamFG – je Kind 550 Euro – verdient. [7] 2. Die angegriffene Entscheidung hält rechtlicher Überprüfung im Ergebnis stand. [8] Zu Recht hat das Beschwerdegericht der Beteiligten zu 4 eine gemäß § 158 Abs. 7 Satz 3 FamFG erhöhte Vergütung jeweils für beide Verfahrensgegenstände und beide Kinder, also in einer Gesamthöhe von 2.200 Euro bewilligt. [9] a) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde kommt es für das Entstehen des jeweiligen Vergütungsanspruches nicht darauf an, ob die Sorgerechts- und die Umgangsrechtsangelegenheit Gegenstand zweier formal getrennter Verfahren sind. [10] aa) Der Senat hat bereits entschieden, dass der Verfahrensbeistand in einem Kindschaftsverfahren, in dem er für mehrere Kinder bestellt ist, für jedes der von ihm betreuten Kinder die Pauschalgebühr nach § 158 Abs. 7 Satz 2 und 3 FamFG erhält (s. etwa Senatsbeschlüsse BGHZ 187, 40 = FamRZ 2010, 1891 und vom 15. September 2010 – XII ZB 268/10 – FamRZ 2010, 1896). [11] Ferner hat der Senat für Fallkonstellationen entschieden, in denen der Verfahrensbeistand in einem Sorgerechtsverfahren und parallel hierzu in einem Verfahren auf Genehmigung der freiheitsentziehenden Unterbringung für das minderjährige Kind bzw. im Hauptsacheverfahren und parallel hierzu im einstweiligen Anordnungsverfahren bestellt worden ist, dass die Pauschalen für jedes dieser Verfahren anfallen und nicht aufeinander anzurechnen sind (Senatsbeschlüsse vom 19. Januar 2011 – XII ZB 486/10 – FamRZ 2011, 467 und vom 17. November 2010 – XII ZB 478/10 – FamRZ 2011, 199). [12] Nichts anderes gilt, wenn – wie hier – verschiedene Verfahrensgegenstände, für die der Verfahrensbeistand jeweils bestellt worden ist, in einem einzigen Verfahren behandelt werden. Den Gesetzesmaterialien ist nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber mit der Norm des § 158 Abs. 7 FamFG die Vergütung des Verfahrensbeistands jeweils nur auf das Verfahren beziehen wollte (vgl. Senatsbeschluss vom Anwaltsvergütung

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15. September 2010 – XII ZB 268/10 – FamRZ 2010, 1896 Rn. 15). Dass es für das Entstehen des jeweiligen Vergütungsanspruchs nicht auf die Anzahl der Verfahren, sondern vielmehr auf die der – in § 151 FamFG aufgeführten – Verfahrensgegenstände ankommen soll, ergibt sich im Übrigen aus § 158 Abs. 4 Satz 3 FamFG. Danach kann dem Verfahrensbeistand die zusätzliche Aufgabe übertragen werden, u. a. am Zustandekommen einer einvernehmlichen Regelung über den „Verfahrensgegenstand“ mitzuwirken. [14] Soweit es in den Senatsbeschlüssen vom 17. November 2010 und vom 19. Januar 2011 (XII ZB 478/10 – FamRZ 2011, 199 Rn. 14 und – XII ZB 486/10 – FamRZ 2011, 467 Rn. 14) heißt, dass der Verfahrensbeistand im Rahmen eines konkreten Verfahrens zu bestellen ist, ist damit nicht das Verfahren im förmlichen Sinne gemeint, sondern der Verfahrensgegenstand; die Bestellung bezieht sich also sowohl auf das Kind als auch auf den jeweiligen Verfahrengegenstand, für den der Verfahrensbeistand bestellt ist. Eine Anrechnung der jeweils entstandenen Vergütungsansprüche aufeinander findet mangels entsprechenden Anrechnungsvorschriften nicht statt; das gilt auch für die erhöhte Fallpauschale nach § 158 Abs. 7 Satz 3 FamFG (so schon zum Fall parallel geführter Verfahren Senatsbeschluss vom 19. Januar 2011 – XII ZB 486/10 – FamRZ 2011, 467 Rn. 8, 16). [15] bb) Gemessen hieran war zugunsten der Beteiligten zu 4 sowohl für die Sorgerechts- als auch für die Umgangsrechtssache jeweils die Gebühr nach § 158 Abs. 7 FamFG für jedes Kind zu bewilligen. [16] Der Umstand, dass das Amtsgericht davon Abstand genommen hat, die Umgangsrechtssache als gesondertes Verfahren gemäß § 151 Nr. 2 FamFG zu betreiben, kann nicht dazu führen, die Vergütung des Verfahrensbeistandes, der für beide Angelegenheiten bestellt worden ist, auf ein Verfahren zu beschränken. Würde man dem folgen, hinge es letztlich von der Aktenführung ab, wie umfangreich die Vergütung des Verfahrensbeistandes ausfällt. [17] b) Die Gebühr nach § 158 Abs. 7 FamFG ist auch jeweils entstanden. [18] aa) Der Anspruch aus § 158 FamFG entsteht in dem Moment, in dem der Verfahrensbeistand mit der Wahrnehmung seiner Aufgaben nach § 158 Abs. 4 FamFG begonnen hat. Das bedeutet zwar, dass allein die Entgegennahme des Bestellungsbeschlusses für das Bestehen der Vergütungspauschale nicht ausreichend ist. Es genügt jedoch, dass der Verfahrensbeistand in irgendeiner Weise im Kindesinteresse tätig geworden ist (Senatsbeschlüsse vom 19. Januar 2011 – XII ZB 400/10 – FamRZ 2011, 558 Rn. 7 und vom 15. September 2010 – XII ZB 268/10 – FamRZ 2010, 1896 Rn. 30). [19] bb) Gemessen an diesen Anforderungen ist der Anspruch der Beteiligten zu 4 auch im Umgangsrechtsverfahren bereits entstanden. [20] Die Bestellung der Beteiligten zu 4 zum Verfahrensbeistand ist im Anhörungstermin auf das Umgangsrecht der Anzeige

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Rechtsprechung

Kinder erweitert worden. Im Anschluss hieran hat das Amtsgericht mit den Beteiligten das Umgangsrecht erörtert und die Kinder nochmals angehört. Hierauf haben die Eltern einen gerichtlichen Vergleich zum Umgangsrecht geschlossen. [21] Bereits aus dem Umstand, dass die Beteiligte zu 4 bei der gerichtlichen Erörterung zum Umgangsrecht als Verfahrensbeistand einbezogen war, folgt, dass sie im Kindesinteresse tätig geworden ist. Deshalb kommt es nicht mehr auf die vom Beschwerdegericht bejahte Frage an, ob sich der Verfahrensbeistand auch auf – vor seiner Bestellung ausgeführte – Tätigkeiten berufen kann. [22] c) Ebenso ist die erhöhte Vergütung des § 158 Abs. 7 Satz 3 FamFG entstanden. [23] Ausweislich des Bestellungsbeschlusses hat die Beteiligte zu 4 die Beistandschaft berufsmäßig geführt. Gemäß Ziffer 3 des Beschlusses wurden ihr die zusätzlichen Aufgaben übertragen, Gespräche mit den Eltern und weiteren Bezugspersonen der Kinder zu führen sowie am Zustandekommen einer einvernehmlichen Regelung über den Verfahrensgegenstand mitzuwirken. [24] Da sich der Gesetzgeber für eine pauschalierte Vergütung des Verfahrensbeistands und damit gegen eine aufwandsbezogene Entschädigung im Sinne von § 277 FamFG entschieden hat, ist es für das Entstehen der Vergütungspauschale unerheblich, in welchem Umfang der Verfahrensbeistand bereits tätig geworden ist (Senatsbeschluss vom 15. September 2010 – XII ZB 268/10 – FamRZ 2010, 1896 Rn. 30). Ob der Verfahrensbeistand die ihm nach § 158 Abs. 4 Satz 3 FamFG zusätzlich übertragenen Tätigkeiten schon aufgenommen haben muss, um die erhöhte Vergütung beanspruchen zu können, kann hier dahinstehen, weil die Beteiligte zu 4 durch ihre Mitwirkung bei dem Umgangsrechtsvergleich im Rahmen ihres erweiterten Aufgabenbereichs bereits tätig geworden ist.

Notarrecht

Der letzte verbliebene Bewerber muss nicht Anwaltsnotar werden BNotO §§ 6 Abs. 1, 6b Abs. 1 Halbsatz 1

Zum Abbruch der Ausschreibung einer Notarstelle, wenn sich kein geeigneter Bewerber beworben hat. BGH, Beschl. v. 23.7.2012 – NotZ(Brfg) 16/11

Anmerkung der Redaktion:

Der BGH hat einen sachlichen Grund für den Abbruch des Stellenbesetzungsverfahrens angenommen. Zu Recht habe der Dienstherr im Hinblick auf die „äußerst geringe praktische Erfahrung“ des Klägers begründete Bedenken gegen dessen fachliche Eignung für das Amt des Notars gehabt. Der Grundkurs Anwaltsnotariat der Deutschen Notarakademie, ein gutes zweites Staatsexamen und die Dauer der hauptberuflichen Tätigkeit als Rechtsanwalt reichten nicht, weil der Bewerber in den fünf Jahren vor der Bewerbung lediglich 22 Niederschriften beurkundet und innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nur zwei Vertretungen mit mindestens 14-tägiger Vertretungszeit nachgewiesen habe. Der Volltext ist im Internet abrufbar unter www.anwaltsblatt.de (AnwBl Online 2012, 294).

Fotonachweis Seiten 869, 875, 888, 894, 897, 900, 904, 905, 906, 907, 909, 920 (Beese), 923, M 368, M 370, M 374, M 394: privat; Seiten 884, 913, 920 (Rinck): Andreas Burkhardt/Berlin; Seite 902: photocase.de; Seite 916: Patrick Ruppert; Seite 917: Matthias Drobeck; Seite 920: Jan Tepass (Lindenau), Französische Botschaft/Mélodie Fenez (Krümmel); Seite 921: Landesentwicklungsgesellschaft Thüringen

Impressum

Prozessrecht

Antragsteller wird bei Vaterschaftsanfechtung Anwalt beigeordnet FamFG §§ 78 Abs. 2, 174, 177

In einem Vaterschaftsanfechtungsverfahren ist dem antragstellenden Beteiligten im Rahmen der Verfahrenskostenhilfe ein Rechtsanwalt beizuordnen. BGH, Beschl. v. 13.6.2012 – XII ZB 218/11

Aus den Gründen: [19] (1) Im Vaterschaftsanfechtungsverfahren werden an den Vortrag des Antragstellers besondere Anforderungen gestellt (vgl. § 171 Abs. 2 FamFG). Es genügt nicht, wenn er sich auf den Vortrag beschränkt, der betreffende Beteiligte sei nicht der Vater des Kindes; vielmehr müssen die Gründe für die Zweifel an der Vaterschaft im Einzelnen dargelegt werden (Senatsurteil vom 22. April 1998 – XII ZR 229/96 – FamRZ 1998, 955 ff.; siehe auch Senatsurteil vom 14. Februar 1990 – XII ZR 12/89 – FamRZ 1990, 507, 509 f.). Der Volltext ist im Internet abrufbar unter www.anwaltsblatt.de (AnwBl Online 2012, 291).

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AnwBl 11 / 2012

Herausgeber: Deutscher Anwaltverein e.V., Littenstr. 11, 10179 Berlin (Mitte), Tel. 0 30 / 72 61 52 - 0, Fax: 0 30 / 72 61 52 - 191, [email protected]. Redaktion: Dr. Nicolas Lührig (Leitung, v. i. S. d. P.), Udo Henke und Manfred Aranowski, Rechtsanwälte, Anschrift des Herausgebers. Redaktionssekretariat: Steffi Köhn, Sandra Petzschner, Kristina Wolf Verlag: Deutscher Anwaltverlag und Institut der Anwaltschaft GmbH, Wachsbleiche 7, 53111 Bonn, Tel. 02 28 / 9 19 11 - 0, Fax: 02 28 / 9 19 11 - 23; [email protected], Konto: Sparkasse Bonn Kto.-Nr. 17 532 458, BLZ 380 500 00. Anzeigen: ad sales & services, Ingrid A. Oestreich (v. i. S. d. P.), Pikartenkamp 14, 22587 Hamburg, Tel. 0 40 / 8 66 28 467, Fax: 0 40 / 8 66 28 468, [email protected]. Technische Herstellung: L.N. Schaffrath GmbH & Co. KG, Marktweg 42–50, 47608 Geldern, Tel.: 02831/396-129, Fax: 02381/396-280, [email protected]. Erscheinungsweise: Monatlich zum Monatsanfang, bei einem Doppelheft für August/September. Bezugspreis: Jährlich 140,– E (inkl. MwSt.) zzgl. Versandkosten, Einzelpreis 14,50 E (inkl. MwSt.). Für Mitglieder des Deutschen Anwaltvereins ist der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag enthalten. Bestellungen: Über jede Buchhandlung und beim Verlag; Abbestellungen müssen einen Monat vor Ablauf des Kalenderjahres beim Verlag vorliegen. Zuschriften: Für die Redaktion bestimmte Zuschriften sind nur an die Adresse des Herausgebers zu richten. Honorare werden nur bei ausdrücklicher Vereinbarung gezahlt. Copyright: Alle Urheber-, Nutzungs- und Verlagsrechte sind vorbehalten. Das gilt auch für Bearbeitungen von gerichtlichen Entscheidungen und Leitsätzen. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken oder ähnlichen Einrichtungen. Sie bedürfen zur Auswertung ausdrücklich der Einwilligung des Herausgebers. ISSN 0171-7227.

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Notarrecht

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Bcher & Internet

Europarecht

Gewerblicher Rechtsschutz

Insolvenzrecht

EU-Kommentar

Wettbewerbsrecht Markenrecht

Praxisleitfaden ESUG

Jrgen Schwarze/Ulrich Becker/Armin Hatje/Johann Schoo

J. B. Nordemann/A. Nordemann/A. Nordemann-Schiffel

Gerrit Hlzle

3. Aufl., Nomos Verlag, Baden-Baden 2012, 3000 S., geb. 978-3-8329-6329-3 225,00 Euro

Der von Jürgen Schwarze herausgegebene und mitverfasste EU-Kommentar ist in 3. Auflage erschienen. Trotz seines inzwischen auf über 3.000 Seiten angewachsenen Umfangs bringt er für den Fachmann ebenso wie für denjenigen, der sich nur gelegentlich mit dem Recht der Europäischen Union zu befassen hat, Licht in das Dunkel des unübersichtlichen, immer wieder auch in der Struktur veränderten europäischen Vertragswerks. Entsprechend dem Vertrag von Lissabon umfasst das Werk eine Kommentierung des Vertrages über die Europäische Union (EUV, ca. 330 Seiten), des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV, über 2.200 Seiten) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ca. 150 Seiten). Trotz dieses beachtlichen Umfangs sind alle Kommentierungen, die sich auf 53 hervorragend ausgewiesene Autoren verteilen, klar und präzise und in der Ausführlichkeit dem jeweiligen Sachproblem angepasst. Primus inter pares in der Qualität ist Jürgen Schwarze, u. a. mit einer exzellenten Einführung in den Reforrnvertrag von Lissabon und die Kommentierung der Vorschriften über den Gerichtshof (Art. 19 EUV und Art. 251–281 AEUV). Für das Verständnis tagespolitischer Entwicklungen außerordentlich hilfreich sind alle Ausführungen über den Euro (Art. 136 ff. AEUV), insbesondere von Michael Potacz. Die Rechtsprechung der europäischen Gerichte ist, soweit stichprobenweise nachvollzogen, hervorragend erfasst und erläutert. Es wäre zu wünschen, dass das besprochene Werk auch im nicht-deutschsprachigen Raum die Aufmerksamkeit erführe, die ihm gebührt. Rechtsanwalt Prof. Dr. Rainer Bechtold, Stuttgart

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AnwBl 11 / 2012

11. Aufl., Nomos Verlag, Baden-Baden 2012, 932 S., geb. Nomos Anwalt 978-3-8329-4172-7 78,00 Euro

Das Besondere an dem Werk: Es behandelt UWG und Kennzeichenrecht. Damit fasst es zwei Materien zusammen, die sich häufig berühren.

Arbeitsrecht Wettbewerbsverbote Jobst-Hubertus Bauer/Martin Diller 6. berarb. Aufl., C.H. Beck Verlag, Mnchen 2012, XXX, 512 S., kart. 978-3-406-63905-0 55,00 Euro

Neben inhaltlichen Überarbeitung wurde auch der Aufbau verbessert. Gleich geblieben ist die umfassende Darstellung nachvertraglicher Wettbewerbsverbote unter Berücksichtigung von arbeits-, steuer-, sozialversicherungs- und wettbewerbsrechtlichen Fragen, sowohl auf Arbeitgeber-, Arbeitnehmer- und Organmitgliedsseite.

Kreditvertragsrecht

RWS Verlag, Kln 2012, 343 S., brosch. 978-3-8145-8168-2 46,00 Euro

Das Werk erschien anlässlich des Inkrafttretens der ESUG am 1. März 2012 als Ergänzung zum RWS-Kommentar von Kübler/Prütting/Bork. Damit einher gehen grundlegende Veränderungen im Insolvenzverfahren, die neue Probleme nach sich ziehen. Die Praxis sieht sich damit konfrontiert, das neue Recht sinnvoll und effektiv anzuwenden. Dafür bietet der Praxisleitfaden ESUG eine erste Orientierung. Daneben enthält es eine detaillierte Darstellung der alten und neuen Rechtslage und ermöglicht es dem Leser so Neuerungen im direkten Vergleich schnell auszumachen.

Insolvenzrecht Aktuelle Probleme der Insolvenzanfechtung Reinhard Bork/Markus Gehrlein 12. Aufl., RWS Verlag, Kln 2012, 248 S., brosch. 978-3-8145-7882-8 42,00 Euro

Kreditvertragsrecht Ralf Josten (Hrsg.) C. H. Beck Verlag, Mnchen 2012, XXX, 365 S., kart. NJW-Praxis-Band 92 978-3-406-62806-1 54,00 Euro

Neben den Grundlagen des Kreditvertragsrechts behandelt das Buch den Verbraucherkredit (nach der umgesetzten Verbraucherkreditrichtlinie vom Juni 2010), verbundene Verträge, Leistungsstörungen und Kreditsicherung.

Für die 12. Auflage haben die Autoren das Werk komplett überarbeitet und somit der Schwerpunktverschiebung im Bereich der Insolvenzanfechtung Rechnung getragen. Der Fokus des Buchs liegt auf der Vermittlung der Rechtsprechung und den sich daraus ergebenden Konsequenzen in der anwaltlichen Praxis. Ausführliche Urteilsbesprechungen und Verweise zu anderen Entscheidungen ermöglichen einen umfassenden Überblick anhand relevanter Normen aus der Insolvenzordnung.

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Insolvenzrecht

Insolvenzrecht

Rechtsschutz

Fachanwaltskommentar Insolvenzrecht

Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht

Gewerblicher Rechtsschutz

Martin Ahrens/ Markus Gehrlein/ Andreas Ringstmeier (Hrsg.)

Andreas Schmidt (Hrsg.)

Gordian Hasselblatt (Hrsg.)

1. Aufl. Luchterhand Verlag, Kln 2012, 2.600 S., geb. 978-3-472-07914-9 169,00 Euro

Es ist ein neues Werk erschienen, das sich auf rund 2.500 Seiten dem Insolvenzrecht widmet. Schwerpunkt bildet die ausführliche Kommentierung der Insolvenzordnung. Daneben werden aber auch relevante angrenzende Rechtsgebiete, beispielsweise das Insolvenzstrafrecht oder das Insolvenzrecht auf europäischer Ebene berücksichtigt. Ein Autorenteam aus Rechtsanwälten, Richtern und Wissenschaftlern sorgt für einen umfassenden Überblick über die Thematik mit dem Anspruch, möglichst nahe an der Praxis zu kommentieren. Vielversprechend.

4. Aufl. Carl Heymanns Verlag, Kln 2012, 2.700 S., geb. inkl. CD-ROM 978-3-452-27635-3 178,00 Euro

Nach drei Jahren ist eine neue Auflage des Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht erschienen. Er enthält neben den Neuerungen der vergangenen Jahre auch das zum 1. März 2012 in Kraft getretene ESUG. Der Kommentar büßt trotz seiner Ausführlichkeit wegen der klaren Gliederung und der Praxishinweise nichts an Übersichtlichkeit ein. Beispiele für die Praxis erleichtern Verständnis und Umsetzung. Europäische Regelungen und verfahrensrechtliche Bestimmungen finden ebenso Beachtung wie alle für das materielle Insolvenzrecht relevanten Gesetze.

4. berarb. Aufl. C.H. Beck Verlag, Kln 2012, XLVI, 2.290 S., geb. Mnchener Anwaltshandbuch978-3-406-63504-5 189,00 Euro

Das Werk erfuhr eine inhaltliche Aktualisierung und Überarbeitung der Kapitel untereinander. Es enthält Informationen zu sämtlichen gewerblichen Schutzrechten (technische wie nichttechnische Schutzrechte und Urheberrecht) und zum sonstigen Wettbewerbs- und Unlauterkeitsrecht sowie dem Lizenzrecht. Neben europarechtlichen Bezügen wurde Wert auf die Darstellung der prozessualen Besonderheiten sowie der angrenzenden Rechtsgebiete (wie Presserecht) gelegt. Gewohnt praxisnah ist das Handbuch auf dem Stand vom Juni 2012.

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Bcher & Internet

Bank- und Kapitalmarktrecht

Bank- und Kapitalmarktrecht

Gesellschaftsrecht

Bank- und Kapitalmarktrecht

Kapitalmarktrecht

Kapitalgesellschaftsrecht

Andreas Fandrich/ Ines Karper (Hrsg.)

Wolfgang Gro

Heribert Hirte

1. Aufl. C.H. Beck Verlag, Kln 2012, XXV, 790 S., geb. Mnchener Anwaltshandbuch 978-3-406-61392-0 139,00 Euro

Zahlungsverkehr, Kreditvertragsrecht, Recht der Kapitalanlage – diesen und weiteren Themen widmet sich das Münchener Anwaltshandbuch. Ein besonderer Fokus liegt dabei darauf, neben den rechtsberatenden und rechtsgestaltenden Tätigkeiten des Anwaltsberufs auch die verfahrensrechtlichen Besonderheiten darzustellen. Neben Kommentierungen enthält das Handbuch Praxistipps, Formulierungsbeispiele sowie Checklisten. Aufgrund der übersichtlichen Darstellung ist das Werk nicht nur für Fachanwälte, sondern auch für Einsteiger geeignet.

5. berarb. Aufl. Verlag C.H. Beck, Mnchen 2012, XII, 519 S., geb. 978-3-406-63925-8 119,00 Euro

Die fünfte Auflage des Kommentars ist Reaktion auf umfassende Änderungen am Wertpapierprospektgesetz zum 1. Juli 2012. In einem Band werden die wichtigsten Gesetze zum Kapitalmarktrecht erläutert, nämlich das Börsengesetz, die Börsenzulassungsverordnung und das Wertpapierprospektgesetz. Der Kommentar hat den Anspruch, besonders praxisnah zu sein: Knappe Erläuterungen erleichtern den Zugang, so dass eine schnelle Orientierung möglich ist. Umfangreiche Literaturhinweise erleichtern eine tiefergehende Recherche zu Einzelfragen.

7. berarb. Aufl. RWS Verlag, Kln 2012, 700 S., geb. 978-3-8145-8156-989,00 Euro

Das Werk vereint kapitalgesellschaftsrechtliche Grundlagen mit ausführlichen Erläuterungen zu den neuesten Entwicklungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung. Die systematische Gegenüberstellung von AG und GmbH ermöglicht ein leichtes Verständnis der Grundstrukturen beider Gesellschaftsformen. Dank der klaren Sprache und seines gut strukturierten Aufbaus ist das Werk auch für Leser geeignet, die mit der Materie zum ersten Mal in Berührung kommen. Hilfreich ist der Anhang mit Anspruchsgrundlagen im Aktien- und GmbH-Recht.

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Bücher & Internet

Recht für die Hosentasche – Applikationen für Smartphones Apps können prinzipiell über die zum jeweiligen Betriebssystem passenden Serviceseiten heruntergeladen werden, wie dem iTunes Store von Apple, Google Play (früher: Android Market) oder Blackberry App World. Bei den „Apps („Application) handelt es sich um Programme, die entweder auf dem mobilen Endgerät vollständig installiert werden oder zum Teil eine drahtlose Internetanbindung benötigen. Die meisten Nutzer beginnen mit Anwendungen für das Selbstmanagement (wie Terminplanungen oder Bahnverbindungen). Wichtige Aspekte im Hinblick auf den Verbreitungserfolg einer Anwendung sind beispielsweise die Datenkonsistenz zwischen den verschiedenen Geräten und die Datensicherheit als solche.

I. Gesetze 1

http://itunes.apple.com/de/app/gesetze-im-internet/ id351653840?mt=8; http://gesetze-im-android.de/

Gesetze im Internet Die App über iTunes wurde von Mathias Gisch entwickelt. Das Programm, bietet den Zugriff auf das freie Onlineportal „www.gesetze-im-internet.de. Seit einiger Zeit können einzelne Gesetze zum schnelleren Auffinden als Favorit markiert werden. Dadurch ist es möglich, sich eine eigene, bedarfsorientierte Sammlung vielbenötigter Gesetze anzulegen. Zusätzlich gibt es eine iPad-Version. Für Androidnutzer gibt es eine Entwicklung von Witoslaw Koczewski, mit der die Gesetze online verfügbar sind.

2

http://itunes.apple.com/de/app/bundesrat/ id459047522?mt=8

Bundesrat Die App informiert über Termine des Bundesrates, aktuelle Themen und bietet Pressemitteilungen. Informationen über die Plenarsitzungen sind ebenfalls enthalten. Die aktuellen Sitzungen sowie die notwendigen Parlamentaria finden sich unter anderem in der Rubrik „Plenum“. Die Bundesratsmitglieder werden unter „Mitglieder“ mit ihren Funktionen und einer Kurzbiographie vorgestellt. Die Anwendung benötigt ca. 4 Megabyte!

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http://itunes.apple.com/de/app/it-recht/ id289474473?mt=8; http://www.walhalla.de/iphone

IT-Recht Der Walhalla Fachverlag bietet kostenfrei diverse Gesetzessammlungen, wie

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AnwBl 11 / 2012 Mantel

Berufsrecht und andere. Die IT-Sammlung enthält Vorschriften zu Regelungen von Informations- und Kommunikationsdiensten, zum Elektronischen Geschäftsverkehr, Datenschutz, Urheberrecht und zur staatlichen Überwachung. Die Texte lassen sich einfach durchsuchen und mit Lesezeichen versehen. Die Gesetze sind online und offline nutzbar.

der verlinkt und man kann seine Favoriten zur Offline-Nutzung herunterladen. Wolters Kluwer bietet des Weiteren eine Referenz-App je zu Legal Tribune Online (LTO) und zur Zeitschrift für die Anwaltspraxis (ZAP).

III. Einzelanwendungen 6

http://itunes.apple.com/de/app/bu-geldrechner/ id407227659?mt=8

DAV Bußgeldrechner Zusätzlich zum reinen elektronischen Bußgeldkatalog des Deutschen Anwaltvereins stehen in der App nun die Pressemitteilungen der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht zur Verfügung. Außerdem werden ausgewählte Videos zum Thema Verkehrsrecht angeboten. Mögliche weitere Apps sind der DAVBlutalkoholrechner und der DAV-Unterhaltsrechner. Die Anwendungen wurden von e.Consult AG (www.e-consult. de) entwickelt und stehen in Google Play auch für Androidnutzer zur Verfügung.

II. Multifunktionsangebote 4

http://itunes.apple.com/de/app/datevanwalt/ id421377146?mt=8

Datev Anwalt Das kostenfreie Programm besticht durch eine optisch gelungene Umsetzung und bietet zahlreiche Berechnungsmöglichkeiten: zum Beispiel Notar- und Grundbuchkosten im Immobilienbereich, im prozessualen Umfeld Kosten und Risikoberechnungen im Zivilprozess, Scheidungskostenberechnung, sowie die Düsseldorfer Tabelle zur Berechnung des Kindesunterhaltes oder für Verkehrsrechtler eine Bußgeldtabelle und eine Promilleberechnung (Widmark-Formel).

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7.

www.jurawiki.de/AppsF%C3%BCrJuristen

Jurawiki Die einführende Übersichtsseite stellt konkrete Links zu Apps für Themen zusammen, wie für Gesetze oder Berechnungen zu Notarkosten, Unterhaltskosten, Bußgeldrechnern etc. Des Weiteren wird auf Beiträge über juristische Apps in Blogs oder Zeitschriften, wie Legal Tribune Online (LTO) verwiesen. Für den Bereich Kanzleiapps sei ergänzend darauf hingewiesen, dass z. B. der Pocket Anwalt der Kanzlei Wilde, Beuger und Solmecke auch Youtube Videos einbindet.

http://itunes.apple.com/de/app/jurion-mobile/ id434825186?mt=8

Jurion Mobile Mit der Anwendung des Wolters Kluwer Verlages steht eine Gesetz- und Urteilssammlung zur Verfügung. Es werden 90.000 Urteile und ein Rechtswörterbuch mit einer Volltextsuche und einer Lesezeichenfunktion angeboten. Die Inhalte sind miteinan-

Für das Anwaltsblatt im Internet: Rechtsanwältin

Janine Ditscheid, Dipl.-Bibliothekarin, Kln Sie erreichen die Autorin unter der E-Mail-Adresse [email protected].

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Schlusspldoyer Warum sind Sie Anwalt geworden?

Wegen der Unabhängigkeit und den Gestaltungsmöglichkeiten. Schon einmal berlegt, die Zulassung zurck zu geben?

Zum ersten Mal beim Lesen dieser Frage. Ihr grter Erfolg als Anwalt?

Dass meine Familie noch intakt ist. Ihr Stundensatz?

Je nach Lust und Laune. Ihr Traummandat?

Stellt sich den Fragen des Anwaltsblatts: Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht Dr. Klaus Olbing aus Berlin ist Vorsitzender des Steuerrechtsausschusses und Mitglied des Insolvenzrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins. Er ist seit 1993 Rechtsanwalt und ist Partner in der Sozietät Streck Mack Schwedhelm. Seine Schwerpunkte liegen auf dem Gebiet des Steuer-, Steuerstraf- und Insolvenzrechts. Er ist Mitglied im Deutschen Anwaltverein, weil ihm bis heute unverständlich ist, wie man Anwalt sein kann, ohne auch Mitglied des DAV zu werden.

Selbstanzeigenberatung bei Politikern, ansonsten das gerade bearbeitete Was sollen Ihnen Ihre Kollegen einmal nicht nachsagen?

Dass ich unzuverlässig und/oder arrogant war.

Mitglieder Service DAV-Haus Littenstr. 11, 10179 Berlin Deutscher Anwaltverein Tel.: 0 30/ 72 61 52 - 0, Fax: - 1 90 [email protected], www.anwaltverein.de Redaktion Anwaltsblatt Tel.: 0 30/ 72 61 52 - 1 03, Fax: - 1 91 [email protected] www.anwaltsblatt.de Deutsche Anwaltakademie Tel.: 0 30/ 72 61 53 - 0, Fax: - 1 11 [email protected] www.anwaltakademie.de Deutsche Anwaltadresse Tel.: 0 30/ 72 61 53 - 1 70, - 1 71, Fax: - 1 77 [email protected] DAV-Fortbildungsbescheinigung Tel.: 0 30/ 72 61 52 - 0, Fax: - 1 63 [email protected] www.dav-fortbildungsbescheinigung.de

Welches Lob wnschen Sie sich von einem Mandanten?

Arbeitsgemeinschaften im DAV Infos unter Tel.: 0 30/ 72 61 52 - 0, Fax: - 190

Ein zufriedenes Lächeln, auch wenn wir uns nicht vollständig durchgesetzt haben

DAV Bro Brssel Tel.: + 32 (2) 2 80 28 - 12, Fax: - 13 [email protected], www.anwaltverein.de/bruessel Deutscher Anwaltverlag Wachsbleiche 7, 53111 Bonn Tel.: 02 28/ 9 19 11 - 0, Fax: - 23 [email protected], www.anwaltverlag.de

Daten unkompliziert aktualisieren Aktualisieren Sie selbst auf der DAV-Onlineplattform Ihre Daten, mit denen Sie bei der Deutschen Anwaltauskunft oder im Anwaltsverzeichnis eingetragen sind. Der DAV erfasst mit seiner Deutschen Anwaltadresse nicht nur die Daten seiner Mitglieder, sondern alle zugelassenen Kolleginnen und Kollegen. Die Onlineplattform erreichen Sie ber die Startseite des DAV www.anwaltverein.de.

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