10 Zusammenfassung der Ergebnisse und Interpretationen

Kapitel 10: Zusammenfassung der Ergebnisse und Interpretationen 10 218 Zusammenfassung der Ergebnisse und Interpretationen Zunächst wurde festgest...
Author: Erika Glöckner
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Kapitel 10: Zusammenfassung der Ergebnisse und Interpretationen

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Zusammenfassung der Ergebnisse und Interpretationen

Zunächst wurde festgestellt, dass sich auch im vorliegenden Datensatz ein statistisch bedeutsames Ausmaß sozial erwünschter Antworttendenzen zeigte. Statistisch bedeutsame Einflüsse sozialer Erwünschtheit ließen sich auch bei den Varianzen der Rohwerteverteilungen und bei den Reliabilitäten nachweisen. Es wurde deutlich, dass sozial erwünschtes Antwortverhalten individuell unterschiedlich ausgeprägt ist. Bei Einzelberechnungen zeigte sich ferner:



Frauen wiesen ein moderat erhöhtes Ausmaß sozialer Erwünschtheit auf als Männer.



Personen mit höherem Bildungsstand wiesen ein moderat höheres Ausmaß sozial erwünschter Antworten auf als Personen mit geringerem Bildungsstand.



Alter und Berufserfahrung spielten in Zusammenhang mit sozialer Erwünschtheit keine wesentliche Rolle.

Es wurde explorativ die bereits im Jahre 1973 aufgestellte und erst ein Mal geprüfte Vermutung von KUNCEL geprüft und bestätigt. Es zeigte sich:



Latenzzeiten standen in einem invers U-förmigen Zusammenhang zur Differenz von Item- und Personenparameter der Probabilistischen Testtheorie.

Auch wurde geprüft, ob sozial erwünschtes Antwortverhalten sich manifestiert in weniger Korrekturen vor Bestätigung der endgültigen Antwort. Entsprechendes war vor dem Hintergrund des Modells von NOWAKOWSKA (1970) vermutet worden. Es zeigte sich aber:



Sozial erwünschtes Antwortverhalten stand nur in einem sehr geringen Zusammenhang mit der Anzahl der Veränderungen vor Bestätigung der endgültigen Antwort auf einer Visuellen Analog-Skala.

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Es wurde geprüft, ob Personen ihr Antwortverhalten den Vorgaben von Stellenprofilen anpassen. Es zeigte sich:



Bewerber passten ihr Antwortverhalten kaum speziellen Vorgaben an.

Dieses Ergebnis wurde als situationsadäquates Verhalten interpretiert, da in Stellenanzeigen in der Regel ausschließlich positive Merkmalsausprägungen thematisiert und als gewünscht angegeben werden (vgl. Kap. 4). Möglicherweise ist es sicherer und mit kognitiv geringerem Aufwand verbunden, bei allen Items unabhängig vom Skaleninhalt sozial erwünschtes Antwortverhalten zu zeigen (vgl. ergänzend Kap. 6.5). Bezüglich der ersten Hauptfragestellung wurden in den vorliegenden Untersuchungen aufbauend auf verschiedenen theoretischen Befunden und Modellen zwei abgrenzbare Rahmenkonzepte von dem entwickelt, was in einer Bewerbungssituation erfasst werden könnte (vgl. Kap. 4). Werden die unter Anwendung der Probabilistischen Testtheorie gewonnenen Ergebnisse zusammengefasst, so zeigte sich:



In der fiktiven Bewerbungssituation wurde ein ähnliches Konstrukt erfasst wie in der „Self-Assessment“-Situation, bei der sozial erwünschtes Antwortverhalten eine deutlich geringere Rolle spielen sollte.



Ein deutlicher Unterschied bestand dagegen zu dem Konstrukt, das in einer realen Bewerbungssituation erfasst wurde.



Die Daten einer realen Bewerbungssituation wiesen mehr Nähe zu den Daten der fiktiven Bewerbungssituation auf als zu den Daten der Erhebungssituation „Self-Assessment“.

Durch die Analyse der Latenzzeiten wurde ferner herausgefunden:



Eine sozial erwünschte Antwort wurde in fiktiven Bewerbungssituationen langsamer abgegeben als eine „ehrliche“ Antwort.

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Insgesamt gesehen wiesen diese Ergebnisse darauf hin, dass sozial erwünscht antwortende Personen sich so verhalten, wie es durch einen mehr (reale Bewerbungssituation) oder weniger (fiktive Bewerbungssituation) ausgeprägten Editing-Prozess vermutet werden könnte (vgl. Kap. 4). Der Editing-Prozess postuliert nach den Vorstellungen von HANNOVER (1997), dass zunächst eine subjektiv „wahre“ Antwort generiert und nachfolgend im Sinne der Vermittlung eines günstigen Eindrucks modifiziert wird. Die Ergebnisse dieser Studie standen in Übereinstimmung mit Annahmen, die bereits 1983 von TRÄNKLE formuliert wurden. Die Ergebnisse standen nicht in Übereinstimmung mit der Vorstellung eines Konstruktwechsels (Korrektur), welcher ebenfalls Bestandteil des Modells von HANNOVER (1997) ist. Hinsichtlich der zweiten Hauptfragestellung wurden die Auswirkungen eines Selektionsmechanismus geprüft, der weniger extreme Merkmalsausprägungen fordert als die oftmals angewendete „Top-Down-Selektionsstrategie“ (vgl. Kap. 2.1.4). Die Top-Down-Selektionsstrategie fordert im Sinne einer „Je mehr, desto besser“-Heuristik extreme Merkmalsausprägung. Zunächst wurde in einem ersten Schritt anhand eines Zufallsexperiments gezeigt:



Der in vielen Studien als Erfolgskriterium genutzte Index „Quote fehlerhaft ausgewählter Bewerber“, der im Endeffekt Rangplatzveränderungen thematisiert, ist allein nicht aussagekräftig genug.

Deshalb wurden ergänzend zwei weitere Indices vorgestellt, die darüber Auskunft geben sollen, wie bedeutsam es ist, nicht die im anliegenden Fall „optimale“ Personenselektion durchgeführt zu haben (vgl. Kap. 8.2). In einem weiteren Schritt wurden diese drei Indices berechnet, wobei eine TopDown-Selektionsstrategie als Benchmark zugrunde gelegt wurde. Mit dieser Benchmark wurden anschließend verschiedene Profilselektionen verglichen, die weniger extreme Merkmalsausprägungen fordern (vgl. Kap. 8.4). Es zeigte sich:

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Das durchschnittlich festzustellende Ausmaß sozialer Erwünschtheit ist bei den untersuchten Profilselektionen erheblich geringer als bei der TopDown-Selektion.



Die Personen, die durch eine Profilselektion mit weniger extremen Skalenwerten ausgewählt werden, entsprechen eher den jeweils gewünschten Skalenwertanforderungen

als

Personen,

die

bei

einer

Top-Down-

Selektionsstrategie ausgewählt werden. Implikationen dieses Ergebnisses für die angewandte Personalauswahl wurden diskutiert (vgl. Kap. 8.5). Die Ergebnisse wurden u.a. in Beziehung gesetzt zu Befunden von MONTEL (2006). Er entwickelte aufbauend auf genetischen Algorithmen ein Computerprogramm, welches optimale Skalenprofile im Hinblick auf dichotom kodierte Kriterien (z. B. „geeignet“ vs. „nicht geeignet“) berechnen kann. Es zeigte sich in den konkreten Anwendungsbeispielen, dass bei den berechneten Optimalprofilen häufig die Extrempunkte der Skalen ausgespart und diese bei Vorliegen als Abweichung vom Sollprofil definiert wurden. Die Befunde von MONTEL (2006) könnten insofern durch diese Untersuchung eine theoretische Fundierung erhalten. Bezüglich der dritten Hauptfragestellung wurde sozial erwünschtes Antwortverhalten basierend auf den Axiomen der Klassischen Testtheorie, einem theoretischen Modell von DOUGLAS et al. (1996) und inhaltlichen Gesichtspunkten in mathematische Formeln transformiert (vgl. Kap. 9.1 und 9.2). Es wurde geprüft, ob das so entstandene mathematische Modell in der Lage ist, sozial erwünschtes Antwortverhalten angemessen – also in Übereinstimmung mit den empirischen Daten – zu simulieren (vgl. Kap. 9.3). Es zeigte sich:



Mittelwertsveränderungen wurden durch das Modell korrekt abgebildet.



Varianzveränderungen wurden durch das Modell meistens nicht korrekt abgebildet.

Es wurde geschlossen, dass die bislang vorliegenden Erkenntnisse noch nicht ausreichen, um sozial erwünschtes Antwortverhalten adäquat simulieren zu können. Es könnte sein, dass ein anderer Ratingfehler, nämlich die Tendenz

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zur Vermeidung extremer Skalenwerte, das Verhalten der Probanden beeinflusst hat (vgl. ergänzend Kap. 9.4). Möglicherweise wäre dieser Einflussfaktor noch zu berücksichtigen, um eine bessere Modellpassung zu erreichen. Denkbar wäre auch, dass Veränderungen der bei der Herleitung angenommenen Setzungen zu einer Verbesserung der Modellpassung beitragen könnten. Beispielhaft wäre hier an einen differenzierteren Zusammenhang zwischen den als unabhängig konzipierten Parametern zu denken. Z. B. könnte bei Personen mit tendenziell höherem Fähigkeitsniveau eine tendenziell höhere (Leistungs-) Motivation vorliegen.

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Ausblick

Zukünftige Forschungsarbeiten

Ein Hauptaspekt der Untersuchung war

die Beantwortung der Frage, auf welcher Selbstkonzept-Grundlage ein Bewerber einen Persönlichkeitstest in einer Bewerbungssituation beantwortet. Die Befunde zeigen, dass hier ein Editing-Prozess nahe liegt (vgl. Kap. 7.6). Weitere Befunde werden die Ergebnisse validieren müssen. Ein Vorteil könnte die hier erstmals genutzte Methodik sein, die flexibel genug ist, um sie auch auf andere Datensätze übertragen zu können. In der vorliegenden Untersuchung wurde ein anderes Bild sozialer Erwünschtheit zugrunde gelegt als das häufig der Fall ist. Zugrunde liegt der vorliegenden Untersuchung nicht die Annahme, dass soziale Erwünschtheit prinzipiell unterbunden werden könnte. Stattdessen wird basierend auf sozialpsychologischen Befunden angenommen, dass sozial erwünschte Antworttendenzen alltägliche, „normale“ Rituale sind, die bei jeder Person individuell und situationsabhängig verschieden ausgeprägt auftreten. Auch legen die im theoretischen Grundlagenteil (Kap. 1 bis 3) angeführten Befunde nahe, dass weder mathematische Korrekturmöglichkeiten noch die Verwendung bestimmter Antwortformate (Forced-Choice) erfolgversprechende Strategien darstellen. Da insofern den psychologischen, statistischen und methodischen Möglichkeiten enge Grenzen gesteckt sind, lag ein weiterer Hauptaspekt der vorliegenden Untersuchung auf der Evaluation von Selektionsstrategien, die versuchen, Personalselektionsstrategien auf das als alltäglich angenommne Selbstpräsentationsverhalten der Bewerber abzustimmen. In Bezug auf die drei entwickelten Indices sozialer Erwünschtheit gelang dies mit der Vorstellung einer Selektionsstrategie, die sich von der „Je mehr desto besser"-Heuristik abwendete. Diese Ergebnisse, die auch im Zusammenhang mit den Befunden von MONTEL (2006) zu sehen sind, bedürfen aber noch weiterer Klärung, um über die hier festzustellenden Hinweise hinaus zu eindeutigeren Beweisen zu gelangen. Weitere Forschungsarbeit scheint auch im Hinblick auf das hier entwickelte mathematische Modell nötig und nützlich. Es wäre wünschenswert, wenn das Modell noch auf andere Datensätze angewendet würde. Dadurch wäre eine

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weitergehende Evaluierung des aufgestellten Modells möglich, ohne die Gefahr einer Überanpassung der Formeln auf die bestehende Stichprobe eingehen zu müssen. Sollte ein passendes Simulationsmodell existieren, wäre nachfolgend an die Entwicklung von Testverfahren zu denken, die die hier lediglich im Hinblick auf optimale Modellpassung berechneten Motivations- und Fähigkeitsparameter empirisch a priori erfassen können. Würden hierzu Testverfahren bereitstehen, bestünde eventuell die Möglichkeit individueller Prognosen hinsichtlich des Ausmaßes, in dem eine Person sozial erwünscht antworten wird. Insgesamt eröffnet das hier dargestellte Modell verschiedene weitere Optionen:



Unter der Hypothese, dass sich eine ungefähre Stabilität der Parameter bei gleichartigen Bewerbungssituationen ergeben würde, könnten sich durch experimentelle Variationen derselben – z. B. des Motivationsparameters, möglicherweise durch verschieden hohe Geldanreize – oder durch kontrollierte Veränderungen der Merkmale der Bewerbungsteilnehmer – z. B. des Fähigkeitsparameters, der möglicherweise mit der Bildung korrespondiert – Variationen der Parameter erfassen lassen. Diese Variationen könnten helfen, die für sozial erwünschte Antworten relevanten Einflussgrößen in ihrem jeweiligen Ausmaß herauszuarbeiten. Bislang existieren hierzu lediglich Prozessmodelle (z. B. das Modell von MCFARLAND & RYAN, 2000), die eher auf dem gesunden Menschenverstand fußen als auf empirischer Basis. Es könnten sich so deutlich tiefere Einblicke in die Natur sozial erwünschten Antwortverhaltens ergeben.



Auch ließen sich die Parameter unterschiedlicher Testverfahren vergleichen, was Aufschluss über die möglicherweise vorhandenen testimmanenten Einflussgrößen geben würde. Z. B. ließe sich untersuchen, ob tatsächlich die Transparenz eines Items das Ausmaß beeinflusst, in dem es sozial erwünscht beantwortet werden kann.



Darüber hinaus könnten beliebige Datensätze per Computer angelegt und sozial erwünschtes Antwortverhalten simuliert werden. Mit diesen Datensätzen ließen sich dann weitergehende Analysen durchführen, z. B. auch eine

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Validierung der in dieser Untersuchung nachgewiesenen Vorteile einer Profilanalyse, die weniger extreme Merkmalsausprägungen als wünschenswert erachtet. Ein Wunsch an die Praxis

Es wird in der Literatur immer wieder auf die

unterschiedliche Motivationslage bei fiktiven und realen Bewerbungssituationen verwiesen (z. B. bei WEINER & GIBSON, 2000). Dass sozial erwünschtes Verhalten vergleichsweise stärker in realen Bewerbungssituationen auftritt, ist vor dem Hintergrund der Rekrutierungspolitik mancher Unternehmen aber nicht verwunderlich. Ebenso kritisch wie die in der Praxis bisweilen anzutreffende Forderung, ein zukünftiger Fließbandarbeiter solle mindestens einen durchschnittlichen Intelligenzquotienten aufweisen (W OTTAWA, persönliche Mitteilung), ist aus psychologischer Sicht die Forderung nach Mitarbeitern, die in Punkto Gewissenhaftigkeit, Leistungsmotivation etc. mindestens Prozentränge jenseits der 90 aufweisen sollen. Aus rein stochastischer Sicht wird kaum jemand über diese Voraussetzungen verfügen. Im öffentlichen Raum wird deshalb von Beratern zu Beschönigungen und zu Kreativität im Bewerbungsprozess geraten: "Nur wer weiß, was ein Personalchef hören will, bekommt den Job." (ROTTMANN, zitiert nach SpiegelOnline, 15.03.2005) Es wird vor diesem Hintergrund verständlich, dass Personen im Bewerbungskontext nicht mehr typisches Verhalten angeben, sondern sich vor einem Bewerbungstermin vermeintlich präsentabel erscheinende Stärken und Schwächen ausdenken und in Auswahlsituationen zur Wahrung ihrer Chancen sozial geteilte Antworten des „perfekten Bewerbers“ geben. Der Persönlichkeitstest kann in diesem Zusammenhang zu einem Leistungstest werden, der soziale Erwünschtheit prüft. Unternehmen rufen insgesamt ein Verhalten beim Bewerber hervor, dass sie auf der anderen Seite aber als unerwünscht und als Gefahr für die Personalauswahl empfinden. Insofern ist Unternehmen nicht nur vor dem Hintergrund der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zu empfehlen, im Anforderungsprofil realistischere Ansprüche an ihre „Wunschkandidaten“ zu stellen und dies auch nach außen zu kommunizieren. Dadurch könnte sich die Chance erhöhen, dass die Unternehmen die Bewerber auch so kennen lernen, wie sie sich „wirklich“ sehen.

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