Wohlstand, Verteilung und Nachhaltigkeit: Was sollen wir messen?

Wohlstand, Verteilung und Nachhaltigkeit: Was sollen wir messen? Materialien zum Vortrag anlässlich des Museumsabends der Deutschen Bundesbank am 18. ...
Author: Louisa Hofer
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Wohlstand, Verteilung und Nachhaltigkeit: Was sollen wir messen? Materialien zum Vortrag anlässlich des Museumsabends der Deutschen Bundesbank am 18. April 2012 in Frankfurt am Main Gerhard Ziebarth Leiter des Zentralbereichs Statistik*

* Herrn Dr. Andreas Lorenz danke ich für seine sehr wertvolle Unterstützung

Einführung •

• Was hat das mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu tun?

Geht es Ihnen gut?

(ja)

(weiß nicht)

Seite 2 2012-04-11 Museumsabend

(nein)

Inhalt 1. Zur aktuellen Debatte um das „BIP“ als Wohlstandsmaß 2. Der Stiglitz-Bericht: Kritik und Antikritik a) Das System der VGR: Die gemessene Wirtschaftsleistung auf dem Prüfstand b) Die Verteilungsfrage: Weit mehr als nur Statistik c) Das Nachhaltigkeitskriterium: Ein zentrales weites Feld 3. Globale Wohlfahrtsmaße oder Indikatorensysteme? 4. Möglichkeiten und Grenzen der Wohlstandsmessung: ein Zwischenfazit

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Bericht der „Stiglitz-Kommission“ (2009)

Stiglitz, Sen, Fitoussi (2009), Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress. • Kernbotschaften: „What we measure affects what we do.“ (Seite 7) „Those attempting to guide the economy and our societies are like pilots trying to steer a course without a reliable compass.“ (Seite 9) • Wohlstandsmessung soll drei große Bereiche umfassen: Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit. • Hierzu 12 Empfehlungen zur Erweiterung und Ergänzung amtlicher Statistiken. Seite 4 2012-04-11 Museumsabend

12 Empfehlungen der Stiglitz-Kommission (1)

1. Betrachtung von Einkommen und Konsum an Stelle der Wertschöpfung. 2. Fokussierung auf Haushalte. 3. Berücksichtigung des Vermögens. 4. Messung der Verteilung von Einkommen, Konsum und Vermögen. 5. Stärkere Erfassung nicht-marktbasierter Aktivitäten. 6. Messung der Lebensqualität und ihrer Bestimmungsgründe wie beispielsweise Gesundheit, Bildungsniveau sowie Umweltbedingungen. 7. Berücksichtigung der Verteilung der Lebensqualität.

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12 Empfehlungen der Stiglitz-Kommission (2)

8. Darstellung der Wechselwirkungen zwischen den Dimensionen der Lebensqualität. 9. Bereitstellung von Informationen zur Aggregation der verschiedenen Dimensionen der Lebensqualität. 10. Erhebung des subjektiven Wohlbefindens. 11. Zusammenstellung eines „Armaturenbretts“ (dashboard) geeigneter Indikatoren für die Beurteilung der Nachhaltigkeit. 12. Berücksichtigung von Umweltaspekten der Nachhaltigkeit anhand geeigneter physikalischer Indikatoren.

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Die BIP-Debatte: Viel Bekanntes ... und so manches Neues Human Development Index (1990) OECD World Forum Palermo (2004), Istanbul (2007), Quality of Life Index (1995) Busan (2009) Ed Diener Index of Economic Wellbeing (1998) Osberg/Sharpe

Social Indicators (1966) Raymond Bauer (Hrsg.)

1920

1960

1970

List of Social Indicators (1966) OECD

1980

1990

Millennium Development Goals (2000) UNDP

2000

2010

BSP/BNE (1919-1938) Simon Kuznets

Measure of Economic Welfare (1972) Nordhaus/Tobin

Stiglitz-Sen-Fitoussi (2009) SVR/CAE-Expertise (2010)

Gross National Happiness (1972) Buthan

Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität (2011-2012) Deutscher Bundestag U. N. HappinessSummit (2012)

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Die VGR − eine Erfolgsgeschichte des 20. Jahrhunderts

 Die VGR ist keineswegs ein starres, statisches, theorieloses Gebilde, sondern ein sehr wertvolles, international etabliertes, vielschichtiges, anpassungsfähiges statistisches Informationssystem auf der Grundlage kreislauftheoretischer Überlegungen, das in einem permanenten evolutorischen Spannungsverhältnis von analytischen Anforderungen, statistisch-methodischen Möglichkeiten und Ressourcenrestriktionen steht.

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Das System der VGR (1)

• Das System der VGR ist ein über Jahrzehnte methodisch und inhaltlich weiterentwickeltes und gereiftes Herzstück der amtlichen makroökonomischen Wirtschaftsstatistik, − aus dem sich für den Analytiker und Politiker eine Vielzahl von statistischen Kennziffern und Indikatoren ableiten lässt. • Im Zentrum der politischen Wahrnehmung und medialen Berichterstattung steht in der Regel das „BIP“, obgleich dieses nur die „Spitze des Informationsberges“ darstellt. − Die Verengung in den Medien und politischen Kommentierungen auf das BIP-Ergebnis und damit das Risiko der Überbetonung dieser statistischen Größe liegt aber nicht im Wesen der VGR begründet und darf ihr nicht angelastet werden.

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Das System der VGR (2) • Zudem besteht oft ein Missverständnis über den geschäftspolitischen Auftrag der VGR. − Sie liefert im Grunde genau das, was in den diversen Rechtstexten und Richtlinien sowie Handbüchern vorgeschrieben und vereinbart worden ist. − Dafür ist die VGR konzipiert und organisiert sowie budgetiert. • Es ist also - gleichsam in einer systemimmanenten Kritik - zunächst ein Gebot der Fairness und Redlichkeit zu fragen: − Hat sie diesen Job gut gemacht? • Aus meiner Sicht lautet das Urteil: Die amtliche VGR in Deutschland (Destatis) macht einen guten Job! − Das zeigen auch unsere Revisionsanalysen mithilfe der BBk-Echtzeitdatenbank.

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Zur Kritik an der VGR (1) • Das heißt natürlich nicht, dass es in diesem komplizierten Rechenwerk keine Schwachstellen bzw. Verbesserungsmöglichkeiten gäbe, z.B.: − Die VGR als Sekundärstatistik ist nur so gut wie die ihr zugrunde liegenden Primärstatistiken es erlauben. − Keine originäre Quartalsstatistik zu den konjunkturell wichtigen Vorratsveränderungen. − Bei der Berechnung von realen Größen aus Wertangaben gibt es v.a. bei den Dienstleistungen besondere Probleme der Trennung der reinen Preiskomponente von der Qualitätskomponente. − Erfassung der Schattenwirtschaft bleibt naturgemäß ein schwieriges Terrain für die Statistik. Seite 11 2012-04-11 Museumsabend

Zur Kritik an der VGR (2) • Abgesehen davon: Das BIP-Konzept beansprucht im Übrigen auch gar nicht, ein umfassendes Wohlstandsmaß zu sein. − Der Anspruch der Statistik ist hier viel bescheidener und ehrlicher. • Das BIP-Konzept stellt ab auf die Messung der in einer bestimmten Periode im Inland vor allem über den Markt erzeugten Waren und Dienste in der Privatwirtschaft und im Staats- und Haushaltssektor für die verschiedenen Komponenten der Inlandsnachfrage und den Export (Verwendungsrechnung). − Es zeigt zudem die Wertschöpfungsbeiträge der beteiligten Wirtschaftssektoren (Entstehungsrechnung) und die damit verbundene Marktentlohnung der eingesetzten primären Produktionsfaktoren (Verteilungsrechnung).

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Zur Kritik an der VGR (3) • Es leistet damit unverzichtbare Dienste für die Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Lage, − bildet den Ausgangspunkt für makroökonomische Prognosen, − liefert wichtigen Input für die Steuerschätzung und eine fundierte Haushaltsplanung des Staates. • Trotz dieser vielfältigen Verwendungszwecke ist ihre Anwendungsbreite theorie-, konzeptions- und datenbedingt begrenzt. − Die VGR ist weder eine „Allzweckwaffe“ noch eine „Wundertüte“! • Aber weitergefragt: Können wir das BIP bzw. daraus abgeleitete Größen nicht auch als Wohlstandsmaß verwenden?

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Zur (Nicht-)Eignung des BIP als materielles Wohlstandsmaß (1) • Und hier beginnt die Krux: − Das BIP ist ein statistisch recht klares Konzept. − Wohlfahrt/Wohlstand ist ein offenes, fließendes Konstrukt, das sich einer hinreichend genauen Begriffsbestimmung entzieht. • Das BIP beschränkt sich auf die materielle Ebene der Güterversorgung, und bildet dort die Ausgangsgröße für einen Kernbereich der Lebensqualität im Sinne des damit erreichten Lebensstandards. • Lebensstandard ist vor allem eine Frage von Menge, Art, Zusammensetzung und Verteilung der verfügbaren Güterbündel. • Ins Zentrum rückt damit die Frage: Wie sind die gemessenen Marktergebnisse wohlfahrtsökonomisch zu interpretieren?

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Zur (Nicht-)Eignung des BIP als materielles Wohlstandsmaß (2) • Im BIP steckt in komprimierter Form das Ergebnis einer unüberschaubar großen Zahl von Wahlentscheidungen einer Vielzahl von Personen und Personengruppen auf den Güter- und Faktormärkten. • Der (relative Einzel-)Preis spiegelt grundsätzlich die relative Wertschätzung und die Alternativkosten des Gutes wider. − Er ist in Marktökonomien präferenzgesteuert und knappheitsbestimmt. − Er bringt, idealtypisch betrachtet, im Marktgleichgewicht den Grenznutzen des Gutes und die Grenzkosten der Produktion in Übereinstimmung. − Damit wird auch - zumindest implizit - die Freizeit erfasst, da der Reallohn aus einzelwirtschaftlicher Sicht die Opportunitätskosten der Erwerbstätigkeit zum Ausdruck bringt (Arbeit bedeutet entgangener Freizeitkonsum).

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Zur (Nicht-)Eignung des BIP als materielles Wohlstandsmaß (3) • Voraussetzungen: Gut funktionierende Märkte, keine (größeren) externen Effekte (soziale Kosten/Nutzen ≠ private Kosten/Nutzen). • Problematische Ergebnisse hingegen auf stark oligopolisierten Märkten, bei asymmetrisch verteilten Informationen oder auf stark regulierten Märkten oder bei hohen sozialen Kosten/Nutzen privatwirtschaftlicher Aktivität (externe Effekte). • Gesundheitsleistungen und Bildungsausgaben werden also durchaus statistisch erfasst, und zwar mit ihren Marktpreisen oder Kostenpreisen (Inputpreisen). • Selbst die Zukunft ist im BIP enthalten, wenn auch in ganz spezifischer Weise. − Investitionen, die über reine Abschreibungsaufwendungen für die Kapitalerhaltung hinausgehen, bedeuten Kapitalbildung.

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Zur (Nicht-)Eignung des BIP als materielles Wohlstandsmaß (4) − Kapitalbildung entsteht durch die (Netto-)Ersparnisbildung. − Ersparnisbildung bedeutet Zukunftskonsum (private Zukunftsvorsorge), wobei der Zins bzw. die sog. Zeitpräferenz der Haushalte die relative Wertschätzung von Gegenwartsund Zukunftsgütern steuern. • Auch Güter für die innere und äußere Sicherheit fließen in die BIP-Berechnungen ein. Es gibt m.E. keinen Grund, weshalb − in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat diese Kollektivgüter nicht in einem Wohlstandsmaß enthalten sein sollten. • Und die Ausgaben im Zusammenhang mit Verkehrsunfällen gehören natürlich ebenso dazu. Sicherlich, hier muss man unterscheiden zwischen dem (bilanziellen) Vermögensverlust und der kreislaufwirksamen Ausgabe für die Reparatur des beschädigten Autos. − Wer die Ausgaben für Fahrzeugreparaturen statistisch ausschließen will, muss sich fragen lassen, wie er es mit der Verbuchung von ärztlichen Behandlungen hält! Seite 17 2012-04-11 Museumsabend

Zur (Nicht-)Eignung des BIP als materielles Wohlstandsmaß (5) • Natürlich, man sollte nicht nur auf das BIP schauen. Das muss man auch gar nicht. • Die VGR bietet ein mehrstufiges Bild des Einkommenskreislaufs mit einer ganzen Reihe von weiteren Einkommensaggregaten, die für bestimmte Fragestellungen besser geeignet sind als das BIP: − das Nettonationaleinkommen, − das Volkseinkommen, − das verfügbare Einkommen der inländischen Sektoren, − das Markteinkommen und das Nettoeinkommen des Sektors private Haushalte.

Seite 18 2012-04-11 Museumsabend

Zur (Nicht-)Eignung des BIP als materielles Wohlstandsmaß (6) • Wohlstand ist zweifellos nicht nur eine Frage des Einkommens (Stromgröße). Das Vermögen (Bestandsgröße) gehört stets mit ins Bild (stock-flow-approach). − Die Geldvermögensrechnung der Bundesbank, die Auslandsvermögensrechnung der Bundesbank, die Kapitalstockrechnung und die Gebrauchsvermögensstatistik des Statistischen Bundesamtes bieten hier viele interessante und wichtige Einblicke (vgl. sektorale und gesamtwirtschaftliche Vermögensbilanzen). • Und noch ein abschließender Satz zur VGR/BIP-Kritik: − In einer bemerkenswerten Studie haben Kassenböhmer/Schmidt (2011) von RWI gezeigt, dass das BIP auch in vielen Fällen hoch korreliert ist mit anderen sozialen Indikatoren. − Der zusätzliche Informationsgehalt von potentiell wohlfahrtsrelevanten Sozialindikatoren muss also stets überprüft werden (Gefahr der Doppelzählung). − Das BIP ist ein durchaus nützliches Wohlstandsmaß - aber auch hier gilt: Nobody is perfect!

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Die Verteilungsfrage (1)

• Verteilungsgrößen sind für die Messung des Lebensstandards unverzichtbar. • Das BIP ist ein verteilungsneutrales (wertneutrales) Messkonzept; die VGR stellt jedoch wichtige verteilungsrelevante Basisinformationen und gesamtwirtschaftliche Eckwerte zur Verfügung. • Das BIP hat insofern keine „Moral“ - und das ist auch gut so für eine Statistik! • Das von ihr ermittelte gesamtwirtschaftliche Verteilungsergebnis kann als Ausgangspunkt für weitere Aufgliederungen und die Berechnung diverser (Einkommens-)Verteilungsmaße genutzt werden. • Im Vordergrund des Interesses steht in der Regel die interpersonelle Einkommensverteilung (EV).

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Die Verteilungsfrage (2)

Verteilungsmaße im Vergleich • Zur Charakterisierung der interpersonellen EV können verschiedene statistische Maße herangezogen werden, mit denen die „Schiefe“ von Verteilungen und die Streuung von Einkommensgrößen um ihre Mittelwerte berechnet werden können. • Wichtig ist hierbei die Unterscheidung zwischen Ungleichheitsmaßen und sog. „Armutsmaßen“. • Ein weit verbreitetes Maß ist der auf der Lorenzkurve basierende GINI-Koeffizient. − Dieses relative, summarische Konzentrationsmaß bringt zum Ausdruck, wie stark eine vorgefundene Verteilung vom Zustand der vollständigen Gleichverteilung entfernt ist.

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Die Verteilungsfrage (3)

• Beim Konzept der relativen Einkommensarmut wird mithilfe einer Reihe von Annahmen und Setzungen der Anteil einer Personengruppe ermittelt, der eine vorgegebene sog. Armuts(gefährdungs)grenze unterschreitet (z.B. 60 % des Medians des jährlichen Haushaltsnettoeinkommens unter Berücksichtigung der jeweiligen Größe und Zusammensetzung der Haushalte). • Alternativ oder ergänzend dazu können viele andere Indikatoren aus einer gegebenen Einkommensverteilung berechnet werden. − Populär ist z.B. der Quintilsabstand: dieses Maß misst die Relation der Einkommensanteile der Verteilung zwischen den obersten 20 % und den untersten 20 % einer Personengruppe.

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Die Verteilungsfrage: Empirische Befunde für Deutschland

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Quelle: Datenreport 2011, Statistisches Bundesamt, Band I.

Das Nachhaltigkeitskriterium: ein weites zentrales Feld (1)

• Allgemeine Begriffsbestimmung: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“ Weltkommission für Umwelt und Entwicklung („Brundtland-Kommission“), 1987

• Die ökologische Ebene der Nachhaltigkeit erfasst Grundbedingungen einer lebenswerten natürlichen Umwelt. Aus Sicht der Bundesbank und des Eurosystems besteht ein vitales, hochgradiges Interesse an weiteren Dimensionen des Nachhaltigkeitspostulats:

 Preisstabilität ist ein zentrales wirtschafts- und geldpolitisches Ziel, in dem das allgemeine Prinzip der Nachhaltigkeit eine konkrete Gestalt und Ausprägung erhält.

Seite 24 2012-04-11 Museumsabend

Das Nachhaltigkeitskriterium: ein weites zentrales Feld (2) •

Die Maxime einer nachhaltigen Entwicklung im Finanzsektor hat in der jüngsten Finanzkrise ihren besonderen Stellenwert vor Augen geführt. − − − −



Das neue Regelwerk für die Bankenaufsicht (Basel III), die Etablierung eines europäischen Systemrisikorats (ESRB), das neue Mandat der BBk für die makroprudenzielle Überwachung sowie diverse andere gesetzliche Maßnahmen auf nationaler Ebene sind in ihrem Kern Instrumente und Mechanismen zum Erhalt bzw. zur Wiederherstellung eines auf Dauer funktionstüchtigen, stabilen Finanzsystems.

Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik bleibt ebenfalls eine Kernforderung auch der Geldpolitik des Eurosystems, die gedrängt von einer exzessiven Staatsverschuldung in mehreren Ländern der EWU in bisher nach Art und Umfang unbekannter Weise zins-, liquiditäts- und risikopolitisch an ihre Grenzen gegangen ist. − Der erweiterte Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie die geplante Einführung sog. nationaler Schuldenbremsen in Europa sollen eine neue Kultur der Nachhaltigkeit in den Staatsfinanzen bewirken.

Seite 25 2012-04-11 Museumsabend

Das ökologische Nachhaltigkeitspostulat (1)

• Die Umweltökonomische Gesamtrechnung (UGR) ist konzipiert als Analyseinstrument und folgt einem „Gesamtrechnungsansatz“ − Aus Basisdaten gespeiste Gesamtrechnungen erzeugen Sekundärdaten, wodurch ein System von miteinander in Beziehung stehenden Informationen entsteht. − Diese Daten können untereinander und mit den identisch gegliederten Daten der VGR in Beziehung gesetzt werden. • Außerdem: Indikatorenberichte konzipiert als Informationsinstrument in der Tradition des „Indikatorenansatzes“ − Nachhaltigkeitsindikatoren stehen in der Regel unverbunden nebeneinander. − Wechselwirkungen werden nicht unbedingt direkt erkennbar. − Werden im Auftrag der Bundesregierung durch Destatis erarbeitet und sind Bestandteil der alle vier Jahre vorgelegten Fortschrittsberichte; dienen der politischen Erfolgskontrolle.

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Das ökologische Nachhaltigkeitspostulat (2)

• Die Umweltökonomische Gesamtrechnung (UGR) wurde als eng mit der VGR verzahntes Satellitensystem konzipiert. • Sie stellt umweltbezogene Ströme und Bestände überwiegend in physischen Einheiten dar. • Und folgt den internationalen statistischen Standards des „System of Integrated Environmental and Economic Accounting (SEEA 2003).

 Die UGR ist ein systemorientierter, vollständiger und konsistenter Gesamtrechnungsansatz nach dem Vorbild der VGR. Durch konsequente Anwendung einheitlicher Konzepte, Definitionen, Abgrenzungen und Gliederungen entsteht im Verbund von VGR und UGR ein System von miteinander in Beziehung stehenden Informationen, welches eine integrierte Betrachtung der politischen, wirtschaftlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Bereiche ermöglicht und dabei Zusammenhänge und Zielkonflikte erkennbar macht.

Seite 27 2012-04-11 Museumsabend

Ökologische Indikatoren der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie

Quelle: Statistisches Bundesamt, Nachhaltige Entwicklung in Deutschland, Indikatorenbericht 2012.

Seite 28 2012-04-11 Museumsabend

Das finanzpolitische Nachhaltigkeitspostulat (1)

• Staatsverschuldung (SV) ist - wie jeder Kredit - ein Finanzinstrument, mit dem Zahlungsströme über die Zeit verteilt werden können. • Mit dieser „Zeitmaschine“ lassen sich also finanzielle Lasten von der Gegenwart in die Zukunft verschieben. • Mit zunehmendem Einsatz der SV als Mittel der Haushaltsfinanzierung oder im Rahmen von Schuldenübernahmen wird das Problem der langfristigen Schuldentragfähigkeit immer virulenter. • Im Extremfall sind die Zinslast oder das Refinanzierungsvolumen erdrückend hoch und über eine Vertrauenskrise entsteht das systemische Risiko einer Staatsinsolvenz. • Das Nachhaltigkeitsprinzip verlangt einen analytisch breiten Ansatz bei der Messung der zukünftigen Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte.

Seite 29 2012-04-11 Museumsabend

Das finanzpolitische Nachhaltigkeitspostulat (2)

• Neben der expliziten SV in Gestalt der statistisch erfassten Verbindlichkeiten sind v.a. bei umlagefinanzierten gesetzlichen Renten-, Gesundheits- und Pflegeversicherungen in demographischen Umbruchphasen Zukunftslasten versteckt, die als implizite SV betrachtet werden können. • Hinzu kommen sog. Eventualverbindlichkeiten aus Bürgschaften und Garantien, die im Eintrittsfall zukünftige Verpflichtungen des Staates darstellen, z.B. im Zusammenhang mit den europäischen „Rettungsschirmen“ EFSF und ESM. • Wie groß sind derzeit die finanzpolitischen Hypotheken aus der impliziten SV für die Zukunft? • Verschiedene Messkonzepte zur Erfassung der Schuldentragfähigkeit inzwischen entwickelt auf der Basis der Methode der Generationenbilanzierung („intergenerational accounting“). • Grundidee: Langfristige Status quo-Szenarien (keine Prognosen!) auf Basis altersspezifischer Zahlungsprofile für die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung, denen ein bestimmter Satz von Annahmen (z.B. Produktivitätsrate, Diskontierungssatz, demographische Entwicklung, Außenwanderungsströme) zugrunde liegt.

Seite 30 2012-04-11 Museumsabend

Das finanzpolitische Nachhaltigkeitspostulat (3)

• Tendenzaussagen eindeutig: Studien zeigen erhebliche Finanzierungslücken auf, d.h., zukünftige Ausgabenvolumina im Bereich der Sozialversicherungssysteme aufgrund von heutigen und zukünftigen Leistungsansprüchen und Versorgungsversprechungen stehen keine entsprechenden Abgaben gegenüber. • „Obwohl Deutschland sich mit einer grundgesetzlich verankerten Regel einen ehrgeizigen Höchstwert für das Haushaltsdefizit des Bundes in Höhe 0,35 vH in Relation zum BIP gesetzt hat, der die Einhaltung der expliziten staatlichen Verpflichtungen erleichtert, reicht dies auf Grund der impliziten Verschuldung nicht aus, um die Nachhaltigkeitslücke, wie sie hier berechnet wurde, (SVR/CAE, 2010, Seite 121) zu schließen.“ • Was ist die relevante „benchmark“?

Seite 31 2012-04-11 Museumsabend

Das finanzpolitische Nachhaltigkeitspostulat (4)

• Fiskalpolitische Nachhaltigkeitsindikatoren stellen i.d.R. darauf ab, Finanzierungslücken zu berechnen, die erforderlich sind, um in einem bestimmten Zieljahr die Schuldenquote zu stabilisieren: − Eher „weiches“ Kriterium. − Keine Aussage über ökonomisch angemessene Höhe der SV im weiteren Sinne. − Partialanalytischer Ansatz, der gesamtwirtschaftliche Rückwirkungen nicht berücksichtigt. − Wie soll die Finanzlücke geschlossen werden: primär über Einnahmen- oder Ausgabenseite? • Erkenntnis- oder Umsetzungsproblem? • Frühzeitige und dauerhafte Konsolidierung würde zu einer intergenerativ gleichmäßigeren Lastenverteilung führen.

Seite 32 2012-04-11 Museumsabend

Das Fundamentalproblem der Gewichtung und der Aggregation • Jenseits von zählen, wiegen, messen! • Wie passt das alles zusammen?

+

+

heute

-

Zeit/Risiko

=

morgen

übermorgen

Relativpreise, Diskontierungsraten, Risikoprämien

   Personengruppe A

 

 

Personengruppe B

Personengruppe C

Seite 33 2012-04-11 Museumsabend

Aggregierte Wohlfahrtsmaße oder Indikatorensysteme? (1)

• Wohlstandsmaße haben zum Ziel, in einem weitgesteckten Rahmen die quantitativen und qualitativen Komponenten der gesellschaftlichen Wohlfahrt in einem Aggregat (simple composite index) zusammenzufassen, der als „Kompass“ oder - im Falle mehrerer Indikatoren als „Armaturenbrett“ (dashboard) für gesellschaftspolitische Fragen und Entscheidungsprozesse dient. • Ein Beispiel für ein aggregiertes Wohlstandsmaß ist der sog. CIW (Canadian Index of Wellbeing). • Die wichtigsten Vorteile solcher Konstrukte werden in der guten Kommunizierbarkeit, der kompakten Darstellung in einer Zahl, einer leichten Vergleichbarkeit mit den BIP-Ergebnissen sowie seiner leichten Integration zusätzlicher Faktoren gesehen.

Seite 34 2012-04-11 Museumsabend

Canadian Index of Wellbeing (CIW)

„Not just another number“

Quelle: How are Canadians Really doing?, Canadian Index of Wellbeing, October 2011.

Seite 35 2012-04-11 Museumsabend

Aggregierte Wohlfahrtsmaße oder Indikatorensysteme? (2)

• Bevor es aber soweit ist, muss eine wahre „Herkulesaufgabe“ bewältigt werden. Drei Fundamentalprobleme stehen im Vordergrund: − Das Auswahlkriterium, − Das Gewichtungsschema, − Die Aggregationsfunktion. • Die zentrale Kritik besteht darin, dass solche Maße hochgradig normativen Charakter haben, auf einen umfangreichen, oft nicht im Einzelnen erkennbaren Annahmenkatalog beruhen und mehr Fiktion als Realität wiederspiegeln. − „Wer bestimmte Ausgaben mit plus und andere mit minus versieht oder gar mit Null, macht natürlich das, was ihm vielleicht gar nicht bewusst ist: er diktiert Wertvorstellungen, und zwar seine eigenen. Großzügig darüber zu entscheiden was andere oder die Gesellschaft insgesamt wünschenswert finden sollen, ist kennzeichnend für bestimmte Regierungsformen und kann keinesfalls das Geschäft des Statistikers sein.“ (von der Lippe/Breuer, 2010) Seite 36 2012-04-11 Museumsabend

Aggregierte Wohlfahrtsmaße oder Indikatorensysteme? (3)

• CIW ist hierfür exemplarisch: − „Offenes“ System; Daten sehr unterschiedlicher Qualität. − Gewichtung nach dem „Prinzip des unzureichenden Grundes“. − Einfacher Summenindex; impliziert bestimmte Substitutionshypothesen! • Indikatorensysteme haben demgegenüber einen nicht so hohen Anspruch, sie vermeiden zumindest partiell - die Aggregations- und Gewichtungsprobleme und sind insofern relativ transparenter und „ehrlicher“. • Ein gutes Beispiel ist hierfür die Vorgehensweise des SVR/CAE (2010). • Seine Entsprechung findet dieser Ansatz in der allgemeinen Grundidee, Satellitensysteme zur VGR zu entwickeln, die mehr dem Baukastenprinzip folgen und sich als Ergänzung zum Kernsystem der VGR verstehen.

Seite 37 2012-04-11 Museumsabend

Indikatorensystem für Wirtschaftsleistung sowie Lebensqualität und Nachhaltigkeit der Expertise von SVR/CAE (2010)

Seite 38 2012-04-11 Museumsabend

Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Conseil d‘Analyse Économique – Expertise 2010.

Eine Zwischenbilanz (1)

• Der Stiglitz-Report hat starke Impulse für die Wissenschaft und Statistik erzeugt und eine breite internationale Diskussion über die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Wohlfahrtsmessung ausgelöst. • Das System der VGR und das BIP-Konzept erfüllen als Kernbereiche der makroökonomischen Wirtschaftsstatistik einen unverzichtbaren Informationsauftrag. − Diesen als Maßstab genommen, können sie - bei aller systemimmanenten Kritik im Übrigen - auf eine insgesamt erfolgreiche Bilanz zurückblicken. − Einseitigkeiten in der Berichterstattung und der tagesaktuellen Kommentierung dürfen nicht der vielschichtigen und detailreichen VGR angelastet werden. • Neben Einkommensrechnungen sollten integrierte Vermögensbilanzen und ihr Verteilungsbild zukünftig stärker in das Blickfeld genommen werden. − Das statistische Angebot hierzu ist in Deutschland mehr als nur beachtlich.

Seite 39 2012-04-11 Museumsabend

Eine Zwischenbilanz (2)

• Bei globalen Wohlfahrtsmaßen klaffen Anspruch und Wirklichkeit noch weit auseinander: − Vieles ist noch im experimentellen Stadium. − Vieles wird schwieriger, zu vieles ist noch ungelöst. • Normative Aussagen haben in einer auf Objektivität und Realitätsgehalt bedachten Statistik nichts zu suchen. • Indikatoren- und Satellitensysteme bilden einen guten Kompromiss, mit dem auch ein erweiterter Informationsbedarf gedeckt werden kann. • Hier ist die amtliche Statistik in Deutschland breit aufgestellt und auf gutem Wege. • Das Thema Nachhaltigkeit in seinen verschiedenen Dimensionen ist ein sehr lohnendes und relevantes Zukunftsfeld der Statistik.

Seite 40 2012-04-11 Museumsabend

Fazit der Zwischenbilanz

„What we measure affects what we do.“ (J. Stiglitz, 2009)

„How we measure is equally important.“ (G. Ziebarth, 2012)

„How should we use what is measured?“ Und wie geht es Ihnen jetzt?

Seite 41 2012-04-11 Museumsabend