Zum Begriff der Moderne

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Author: Peter Martin
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http://www.mnemopol.net .:. wissen.vernetzen.publizieren Text mit der Signatur #578 2003 verbreitet mit Unterstützung der

Zum Begriff der Moderne in „Wilhelm Meisters Wanderjahre“

Christoph Kepplinger 2003

www.oeh.ac.at

2

1. Einleitung .................................................................................. 3 2. Die Moderne als prägendes Element ...................................... 5 2.1. Die sozialgeschichtliche Betrachtung........................................................................5 2.2. Exkurs: Moral und individuelle Glückseligkeit.........................................................7 2.3. Die feudalistische Fabrik ...........................................................................................8 2.4. Die Maschinenwelt ..................................................................................................10 2.5. Rhythmus, Takt, Zeit ...............................................................................................12 2.6. Wilhelm und die Harmonie des Naturzusammenhangs...........................................13

3. Subjekte und Individualität................................................... 15 3.1. Über die Selbstbestimmung der Figuren .................................................................15 3.2. Der Sonderfall Felix.................................................................................................17

4. Textstruktur als Spiegel der Handlungsebene..................... 18 4.1. Das „verwebende“ Erzählen ....................................................................................18

5. Zusammenfassung .................................................................. 21 6.

Literaturverzeichnis .................................................................................................22

6.1. Primärliteratur..........................................................................................................22 6.2. Sekundärliteratur......................................................................................................22 6.2.1. Nicht greifbar...................................................................................................23

3

1. Einleitung Der Roman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ aus dem Spätwerk Goethes reicht sowohl mit der Zeit seines Entstehens, als auch mit der im Text erzählten Zeit in eine neue aufkeimende Epoche, welche die nach feudalen Konzepten organisierte Gesellschaftsform des 18. Jahrhunderts aus den „Lehrjahren“ ablöst. Wie sehr dieser Paradigmenwechsel, welcher sich im sozialen Kontext einerseits und im Erzählkonzept andererseits vollzieht, anhand der „Wanderjahre“ in Erscheinung tritt, soll das übergeordnete Ziel der vorliegenden Betrachtungen sein. Es ist nicht das Problem der beginnenden Industrialisierung alleine, welches die Figurenhandlung wesentlich beeinflusst. Der Übergang vom allgemein gebildeten Individualmenschen1 zum spezialisierten Gesellschaftsmenschen (Gustav Radbruch nennt diesen Wandel „den Sprung vom individualistischen zum sozialistischen Denken“2) wurde beispielsweise in der sozialistischen Rezeption am Anfang des 20. Jahrhunderts thematisiert. Ebenfalls zu beobachten ist der Diskurs zwischen moralischer Entscheidung der Einzelperson oder aber ihrem Gelenktwerden - eine Steuerung der Handlungen - die uns schließlich zu der Frage führt: können die Figuren im Text einem vorgezeichneten Schicksal durch das Auftreten von Zufällen noch entrinnen? Es ist nicht nur eine sozialhistorische Frage, sieht man sich das Heraufziehen des Maschinellen in den „Wanderjahren“ an – zahlreiche Stellen im Text zeigen eine Auseinandersetzung mit dem Eintreten der Maschine in die dargestellte Welt, es sind Stellen der Konfrontation mit

1

In den „Lehrjahren“ begegnen wir dem Versuch Wilhelms zu einer Art „Spezialist für das Allgemeine“ gebildet zu werden – ein Versuch, welcher am Ende des Romans schließlich scheitert oder zumindest verworfen wird.

2

Radbruch, Gustav: Goethe: Wilhelm Meisters sozialistische Sendung. In: Adler, Hans (Hg.): Der deutsche soziale Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1990. (=Wege der Forschung Bd. 630). S. 132.

4

diesem „Neuen“. Die strukturelle Andersartigkeit des „Romans3“ lässt den Versuch zu, das Maschinenhafte der Textgestalt an sich in eine Verbindung mit der Technik, wie sie auf der Handlungsebene dargestellt wird, zu bringen. Es wird sich herausstellen, ob ein Bogen, beginnend beim sozialhistorischen Hintergrund des 19. oder gar 20. Jahrhunderts bis hin zum literaturtheoretischen Verständnis des Buchs als Maschine (Text als Funktionieren von Verknüpfungen4) gelingt und somit die Annahme, „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ als Vorausdeutung auf viel spätere Literatur der Moderne zu verstehen, beibehalten werden kann.

3

Die Bezeichnung der „Wanderjahre“ mit der Textgattung „Roman“ wurde im laufe des Seminars berechtigterweise in Frage gestellt.

4

Ein Gedankenspiel zwischen Text und Textilien (in der Beschreibung des Weberhandwerks in den „Wanderjahren“) drängt sich auf.

5

2. Die Moderne als prägendes Element 2.1.

Die sozialgeschichtliche Betrachtung

Von allen im Zusammenhang mit den „Wanderjahren“ aufgeworfenen Fragestellungen wie der Entsagung, der Erziehung in der pädagogischen Provinz, all den weltanschaulichen Analysen stand ein Thema besonders im Zentrum der Rezeption: die Arbeit. Der Roman wurde in vielfältiger Weise als „Sozialroman“ bezeichnet - so wollte ihn Karl Grün für den Kommunismus in Anspruch nehmen5, Karl Rosenkranz trat für den Roman als sozialen Roman ein, Ferdinand Gregorovius schließlich war der erste, welcher in einer monographischen Abhandlung die „socialistischen Elemente“ freizulegen versuchte.6 Die sozialistische Rezeption oder die Deutungsversuche aus sozialer Perspektive beschränken sich in großem Maße auf jene Episode, die das Verlagswesen und die Hausweberei minutiös schildert.7 Das real existierende Elend, zu welchem sich das Weberhandwerk mit der beginnenden Industrialisierung entwickelt hatte, hat in der Literatur des 19. Jahrhunderts seinen prominentesten Niederschlag in Gerhart Hauptmanns Drama „Die Weber“8 gefunden - eine Aufarbeitung des schlesischen Weberaufstandes von 1844, welcher mit militärischer Unterstützung blutig niedergeschlagen wurde und somit die verzweifelten Bemühungen der Aufständischen, gerechtere Entlohnung zu erreichen und das Ersetzen ihrer manuellen Arbeitskraft durch mechanische Webstühle zu

5

Grün, Karl: Ueber Göthe vom menschlichen Standpunkt. 1846. In: Mandelkow: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Teil II. A.a.O. S. 284-294. zitiert nach: Blessin, Stefan: Goethes Romane. Aufbruch in die Moderne. Paderborn: Schöningh 1996. S. 254.

6

Blessin: Goethes Romane. S. 254.

7

Das wäre u.a. folgende Stelle: Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. Hg. v. Erhard Bahr. Stuttgart: Reclam, 1982. (=RUB 7827). S. 368-383 und 447-470.

8

Schwab-Felisch, Hans und Wolf Jobst Siedler (Hg.): Dichtung und Wirklichkeit. Gerhart Hauptmann. Die Weber. München: Ullstein 62002.

6

verhindern, für lange Zeit zunichte machten. Noch vor einer solchen Eskalation der Ereignisse ist das Weberhandwerk in den „Wanderjahren“ skizziert. Das beschriebene „Verlagswesen“9 sehen Wilhelm und Lenardo noch als ein Idyll, die Bedrohung durch das Maschinenwesen und die Technisierung der Handarbeit ist für sie ausgeklammert. Hervorstechend ist die familiäre Organisation der Arbeit. Das „ganze Haus“ besitzt Geltung, fungiert als „ökonomisch und sozial integrierende Institution“. In diesem Status ist der Lohn des einzelnen Arbeiters weniger berücksichtigt, als das Auskommen in der Gemeinschaft. Die Einbindung der Arbeitsprozesse in das soziale Leben (Singen, Marktgang, Austausch von Neuigkeiten) ist in dieser Form der Arbeit noch gegeben.10 Lenardos Liebe zur Originalität („[...] kein Pferd, das ich nicht selbst zugeritten.“11) sei hier als Einzelbeispiel angeführt, welches dem mit der kulturellen Modernisierung anbahnenden Angriff auf traditionelle Lebens- und Arbeitsformen noch diametral gegenübersteht. Der in logischer Folge drohende Faktor der Reproduzierbarkeit des „Originalen“ sowie Massenphänomene im „alten Kontinent“ treiben die Figur Lenardos geradezu dem Amerikaprojekt in die Arme. Dass ausgerechnet das Spinn- und Weberhandwerk in die literarische Verarbeitung dieser Thematik Eingang gefunden hat, ist darauf zurückzuführen, dass dieser Produktionszweig zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts bereits ein hohes Niveau an Automatisierung erreicht hatte. Menschliche Eingriffe in den Prozess waren nur mehr dann nötig, wenn ein Faden zu knüpfen oder ein Defekt im Mechanismus zu beheben war12. Der extreme Gegenentwurf zur

9

d.i. die Belieferung der Hauswebereien mit Wolle und die Abnahme der fertigen Webprodukte, eine Aufgabe, welche in den „Wanderjahren“ bei der „Frau Susanne“ liegt.

10

Schößler, Franziska: Goethes Lehr- und Wanderjahre. Eine Kulturgeschichte der

Moderne. Tübingen: Francke 2002. S. 285-286. 11 12

Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre. S. 158. Mumford, Lewis: Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht. Frankfurt am

Main: Fischer 31980. S. 531.

7

frühindustriellen Realität ist mit der Beschreibung des Handwerks in „Lenardos Tagebuch“ also aufgrund des Aufeinanderprallens zweier Denk- und Arbeitskonzepte verbunden. 2.2.

Exkurs: Moral und individuelle Glückseligkeit

Eine häufig zitierte Stelle, welche hingegen die Konfrontation mit der unausweichlichen Realität verdeutlicht, ist der Figur der „Frau Susanne“ in den Mund gelegt: Was mich aber drückt ist doch eine Handelssorge, leider nicht für den Augenblick, nein! für alle Zukunft. Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen.13

Es wird hier eine Wahlmöglichkeit im Text geschaffen: Entweder man nimmt das „Neue“ an und beteiligt sich oder schließt sich der Emigrationswelle nach Amerika an. Die somit geschaffene Entscheidung läuft auf die moralische Frage hinaus, ob man mit einer Beteiligung an der Maschinisierung die Verelendung vorantreiben will (Mumford weist hier auf Smiths Darstellung der Art und Weise, wie ein Arbeiter unter der Drohung des Verhungerns zu einer fügsamen Arbeitskraft herabgewürdigt wird, hin14), oder dieser Entwicklung entsagt – und auswandert. Um das Individuum hier nicht ganz an den Rand abzudrängen, muss der immer wieder angedeutete Determinismus vielleicht etwas entschärft werden: Selbstverständlich haben wir es mit Individuen zu tun, die sich voneinander in ihrem jeweils „eigenen unverantwortlichen Sein“15 unterscheiden. Wenn „Frau Susanne“ aus moralischen Gründen ihre Flucht vor dem Unausweichlichen erwägt, so ist nicht ganz klar, ob ihre schließliche Entscheidung, nicht zur Prekarisierung der

13

Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre. S. 463-464.

14

Mumford: Mythos der Maschine. S. 529.

15

Sutter, Alex: Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendiges bei Descartes,

Leibnitz, La Mettrie und Kant. Frankfurt am Main: Athenäum 1988. S. 149.

8

Arbeitsverhältnisse der Weber beizutragen, nur ein moralischer Vorwand zur Herstellung ihres eigenen individuellen Glücks ist.

Der Begriff der Arbeit, welchen die sozialistische Rezeption großteils in dramatischer Überhöhung festzumachen versuchte, wurde auch in den „Wanderjahren“ als erlösendes Element gepriesen. Ferdinand Gregorovius rühmte in seinem Aufsatz „Göthe’s Wilhelm Meister in seinen socialistischen Elementen“ von 1849 den „Ausgleich zwischen den Ständen und die Annäherung von Intelligenz und Proletariat durch die allen Wanderern gemeinsame Verpflichtung, ein Handwerk zu erlernen“16. Etwas abgeschwächter bezeichnet Max Wundt 1913 eine Beziehung zwischen dem „Wilhelm Meister“ und der „Entwicklung des modernen Lebensideals“17, weiterführend ersetzt Erich Trunz im Kommentar zur Hamburger Ausgabe die „Erlösung durch Arbeit“ durch die Feststellung, Arbeit „stiftet Zusammenhang“18. Die im 19. Jahrhundert vorherrschende Euphorie, welche vor „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ nicht halt gemacht hatte, schlägt bei Thomas Degering schließlich dahingehend um, dass der „vergesellschaftete Mensch“ zum „negativen Helden“19 des Romans absteigt. 2.3.

Die feudalistische Fabrik

Eine Reduzierung des Menschen auf die Arbeit allein, stellt Blessin fest, ist bei Goethe nicht zu finden20. In den „Lehrjahren“ ist die Herstellung des Zusammenhangs zwischen

16 17

Blessin: Goethes Romane. S. 255. Wundt, Max: Goethes Wilhelm Meister und die Entwicklung des modernen

Lebensideals. 2. Auflage 1932. zitiert nach: Blessin: Goethes Romane. S. 256. 18

Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Hamburger Ausgabe Bd. 8. S. 596. zitiert nach:

Blessin: Goethes Romane. S. 256. 19

Degering, Thomas: Das Elend der Entsagung: Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre.

1982. S. 476-503. zitiert nach: Blessin: Goethes Romane. S. 256. 20

Blessin: Goethes Romane. S. 257.

9

Mensch und Arbeit im Gegenteil noch kaum anzutreffen. Selbst an einer Stelle, in welcher die Arbeiter einer Fabrik beschrieben sind, welche dem Fabriksbesitzer durch ein selbst erarbeitetes Theaterstück ihre Ehre erweisen, ist eher das Fortwirken des noch vorhandenen Feudalwesens festzustellen, als die Definition der Menschen durch ihre Tätigkeit - ja, das Spielen einer Komödie soll die Arbeiter von einer Entmenschlichung durch rohe Sitten abhalten, das Theater oder genauer die Komödie wird hier zum Mittel menschlicher Domestizierung umgewandelt – verglichen mit der später gängigen Methode, Arbeiter durch Züchtigung und Drohung von falschen Gedanken abzubringen, scheint hier allerdings noch ein feudales „Idealverhältnis“ zu herrschen: Es ist eine große Fabrik in dem Orte, die viel Leute ernährt. Der Unternehmer, der sozusagen von aller menschlichen Gesellschaft entfernt lebt, weiß seine Arbeiter im Winter nicht besser zu beschäftigen, als daß er sie veranlaßt hat, Komödie zu spielen. Er leidet keine Karten unter ihnen und wünscht sie auch sonst von rohen Sitten abzuhalten. So bringen sie die langen Abende zu, und heute, da des Alten Geburtstag ist, geben sie ihm zu Ehren eine besondere Festlichkeit. 21

Das Theater ist „Brücke aus der wirklichen Welt in die ideale“ schreibt Christian Gottfried Körner in seinem „Horen-Brief“22 und bezieht sich hierbei auf die „Lehrjahre“. Diese Flucht, diese „Menschwerdung“ durch das Theater findet man in den „Wanderjahren“ nicht mehr vor - das Ergreifen einer spezifischen Tätigkeit, um in der Welt etwas zu gelten, tritt unter Zurückdrängung der illusorischen und beliebig wandelbaren Theaterwelt, mehr und mehr in den Vordergrund. Wenn Montan im Gespräch mit Wilhelm sagt:

21

Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Köln: Könemann 1997. S. 90.

22

zitiert nach: Rybakov, Alexei: Deutsche und Russische Literatur an der Schwelle zur

Moderne. „Wilhelm Meister“ und „Eugen Onegin“. Zur Entstehung des modernen Weltbildes. München: Sagner 2000. S. 143.

10

„Mache ein Organ aus dir und erwarte, was für eine Stelle dir die Menschheit im allgemeinen Leben wohlmeinend zugestehen werde [...]“23

so verliert dieser programmatische Satz sehr viel von seinem idealistischen Klang, wenn man das Ende des Romans vergleichend heranzieht, welches von der Stimmung geprägt ist, dass ein Zwang ökonomischer Verhältnisse bereits allgegenwärtig ist – somit ist die von Montan propagierte Spezialisierung weniger die Freiheit des entscheidenden Individuums als die Folge einer gesellschaftlichen Notgedrungenheit. 2.4.

Die Maschinenwelt

„Es wird kommen und treffen“ – so endet ein bereits genanntes Zitat. Die Problematisierung

der

unabwendbaren

Industrialisierung

ist

zentral

für

den

Paradigmenwechsel, welcher sich am Übergang von den „Lehrjahren“ zu den „Wanderjahren“ ankündigt und vollzieht. Das Technische wird als eine Naturgewalt mit einem heraufziehenden Gewitter verglichen, das in jedem Fall seine Opfer fordert. An zwei anderen Stellen ist eine erste Berührung mit dieser unbekannten Größe keinesfalls so bedrohlich dargestellt, nämlich in der Binnenerzählung „Wer ist der Verräter?“. Der „lustige Bruder“ oder Junker führt Lucidor, Lucinde und Julie durch eine unwirtliche Gegend, welche durch ihn „für zärtliche Herzen verschönert und verbessert“ ist: Nun mußte man über geackerte Stellen und holprichte Pfade, ja wohl auch auf zufällig hingeworfenen Steinen über Moorflecke wandern und sah, schon in einer gewissen Ferne, allerlei Maschinenwerk verworren aufgetürmt. Näher betrachtet, war ein großer Lust- und Spielplatz, nicht ohne Verstand, mit einem gewissen Volkssinn eingerichtet. Und so standen hier, in gehörigen Entfernungen zusammengeordnet, das große Schaukelrad, wo die Auf- und Absteigenden immer gleich horizontal ruhig sitzenbleiben, andere Schaukeleien, Schwungseile, Lusthebel, Kegel- und Zellenbahnen und was nur alles

23

Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. S. 46.

11

erdacht werden kann, um auf einem großen Triftraum eine Menge Menschen verschiedentlichst und gleichmäßig zu beschäftigen und zu erlustigen.24

Völlig konträr zur Bezeichnung der Maschinenwelt als etwas Bedrohliches findet man hier also eine künstlich technisierte Szenerie vor, mit Hilfe derer Zerstreuung und Vergnügen erzeugt wird. Der Mensch schafft sich hier seine Apparate, um damit die eigene Lustbarkeit zu steigern. Der „lustige Junker“ ist hierbei der Herr über das von ihm erschaffene und erdachte Werk, er hat es gezielt geplant – im Gegensatz zur schicksalhaften Art mit der die Maschinen der Arbeitswelt die Menschen ereilen. Die im neunten Kapitel des ersten Buches gezeigte Vergnügungsanlage vereint in einer Symbiose, die dennoch eine bedrohliche Konnotation zulässt, die sich vergnügenden Gäste mit den gezeigten Gerätschaften. So wie die industrielle Wende Arbeitssituationen geschaffen hat, in denen der menschliche Eingriff auf wenige sich wiederholende Handgriffe reduziert wurde, so werden die Menschen an dieser Textstelle Teil des Ganzen sich bewegenden Apparats: Die ganze Maschinerie, worauf sich der Bruder soviel zugute tat, war belebt und bewegt; schon führten die Räder eine Menschenzahl auf und nieder, schon wogten die Schaukeln, Mastbäume wurden erklettert, und was man nicht alles für kühnen Schwung und Sprung über den Häuptern einer unzählbaren Menge gewagt sah! Alles das hatte der Junker in Bewegung gesetzt, damit nach Tafel die Gäste fröhlich unterhalten würden.25

Etwas weiter gegriffen stellen die beiden Textstellen die unvermeidliche und willentlich herbeigeführte Koexistenz des Menschen mit der Maschine dar: Ganz anders als die Verdrängung des Menschen aus seiner Erwerbsgrundlage, dem Weberhandwerk, ist hier die Anhäufung der Vergnügungsmaschinen mit einem Nutzen für eine breite Masse verbunden, während der Aspekt der Automatisierung von Arbeit lediglich wenigen

24

Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre. S. 108-109.

25

ebenda. S. 127.

12

Nutznießern Gewinn verspricht. Drei Hypothesen stehen mit diesen beiden Phänomenen im Einklang: Der technische Entwicklungsprozess, ist er historisch erst einmal in Gang gesetzt, bricht sich mit naturgesetzlicher Gewalt seine Bahn. Maschinen entwickeln sich entsprechend einer Sachnotwendigkeit26. Der Mensch muss sich ihnen anpassen und ist ihnen ausgeliefert. Da Maschinen vom Menschen produziert sind, sind sie nichts anderes als die Materialisierung dessen, was im Kopf, in der Psyche des Menschen bereits vorhanden ist. Maschinen sind also materialisierte Projektionen menschlicher Wesensmerkmale (der „lustige

Junker“

projiziert

seine

Vergnügungsmaschinen,

die

Fabrikanten

ihre

kostensenkenden, weil Arbeitskräfte eliminierenden Produktionsmaschinen). Folglich ist nicht die Technik das größte Problem, sondern der Mensch selbst. Ein gemeinsames Drittes prägt Mensch wie Maschine zugleich: Dies sind die historischgesellschaftlichen Strukturprinzipien. Organisations- und Maschinenstruktur sind folglich versteinerte Formen sozialer Beziehungen.27

2.5.

Rhythmus, Takt, Zeit

Wo das Maschinelle die Organisation zu bestimmen beginnt, liegt die Vermutung nach einer straffen Rhythmisierung und Einteilung der Abläufe nahe. Lenardos mobilisierende Rede für

26

Die hier beschriebene Vergnügungsanlage entstammt also der Sachnotwendigkeit

„Zerstreuung“. 27

Alle drei Thesen sind entnommen aus: Beck, Johannes u.a. (Hg.): Maschinen-Menschen,

Mensch-Maschinen. Grundrisse einer sozialen Beziehung. Reinbek: Rowohlt 1986. S. 110.

13

das Kolonialprojekt in Amerika erklärt die Zeit zum universellen Maßstab für alles Handeln: Der größte Respekt wird allen eingeprägt für die Zeit, als für die höchste Gabe Gottes und der Natur und die aufmerksamste Begleiterin des Daseins. Die Uhren sind bei uns vervielfältigt und deuten sämtlich mit Zeiger und Schlag die Viertelstunden an, und um solche Zeichen möglichst zu vervielfältigen, geben die in unserm Lande errichteten Telegraphen, wenn sie sonst nicht beschäftigt sind, den Lauf der Stunden bei Tag und bei Nacht an, und zwar durch eine sehr geistreiche Vorrichtung.28

Lenardo

verkündet

die

ununterbrochene

Geschäftigkeit,

die

Maximierung

der

Produktionseffizienz durch eine straffe Organisierung der Zeitstruktur. Es ist dies der Merkwürdige Widerspruch zu den drohend heraufziehenden „Maschinen“ in der „Alten Welt“, welche im Zusammenhang mit Erwerbstätigkeit, Arbeit und Produktion ausschließlich negativ konnotiert sind. Eine maschinenartige Rhythmisierung des Lebens im Auswanderungsziel Amerika hingegen ist als Zukunftsmodell keinesfalls tabuisiert oder gar durch Ablehnung gefährdet, wobei allerdings Lenardos Bestreben nach einem „Zurück zur Originalität“ ebenfalls erheblich in die Vorstellungen von der „Neuen Welt“ einwirkt. Allerdings ist absehbar, dass auch die Auswanderer sich der Maschinisierung nicht verweigern können oder wollen. 2.6.

Wilhelm und die Harmonie des Naturzusammenhangs

An einer Schlüsselstelle, an welcher zudem der Begriff „Maschinenwesen“ erstmalig erwähnt wird, wird Wilhelm im Kontext der als unaufhaltsam akzeptierten technischen Entwicklung positioniert: Die Diskussion mit dem Astronomen über den Gebrauch von Fernrohren zeigt die Bedenken Wilhelms gegenüber diesem technischen Instrument. Für ihn ist das Naturphänomen (der Sternenhimmel) damit aus dem Zusammenhang gerissen, das Benutzen derartiger künstlicher Hilfsmittel hält er für ungünstig im Hinblick auf die

28

Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre. S. 438.

14

sittliche Wirkung. Die von ihm kritisierte Verfälschung verdeutlicht er am Beispiel der Brille: Sooft er durch diese hindurchsieht, ist er „ein anderer Mensch“ und gefällt sich selbst nicht. Durch die Brille sieht man Wilhelms Meinung zufolge mehr, als man sehen sollte, „die schärfer gesehene Welt harmoniert nicht“ mit seinem Innern.29 Die Harmonie mit dem Naturzusammenhang wird also durch den Einsatz jeglicher künstlicher Hilfsmittel zerstört und verfremdet. Walter Beller kommt angesichts dieser Ansichten Wilhelms dennoch zu dem Schluß, dass die Kritik nicht aus Kulturpessimismus oder empörter Moral formuliert wird30, da er lediglich eine bewußtere Begegnung mit dieser unabwendbaren Gegebenheit einfordert: Wir werden diese Gläser so wenig als irgendein Maschinenwesen aus der Welt bannen, aber dem Sittenbeobachter ist es wichtig, zu erforschen und zu wissen, woher sich manches in die Menschheit eingeschlichen hat, worüber man sich beklagt. So bin ich z.B. überzeugt, daß die Gewohnheit, Annäherungsbrillen zu tragen, an dem Dünkel unserer jungen Leute hauptsächlich schuld hat.31

Wilhelms Reaktion auf die Verwendung von Sehhilfen ist – gelinde ausgedrückt – ein anachronistisches Element, berücksichtigt man die Fortgeschrittenheit der Technisierung im Roman und auch die Zeit, welche den historischen Kontext zur Textentstehung bildet. Die Möglichkeit, Brillen herzustellen, womit Sehstörungen ausgeglichen werden konnten, existierte als eine der ersten in einer langen Reihe von Erfindungen bereits vor dem 16. Jahrhundert. Die Verlängerung der Lesefähigkeit und die Ermöglichung geistiger Betätigung bis ins höhere Alter, hatte eine enorme Auswirkung auf die Wissenschaft.32

29 30

ebenda. S. 135. Beller, Walter: Goethes Wilhelm Meister Romane. Bildung für eine Moderne.

Hannover: Revonnah 1995. (=Schriftstücke Bd. 2). S. 193. 31

Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre. S. 135.

32

Mumford: Mythos der Maschine. S. 323.

15

3. Subjekte und Individualität 3.1.

Über die Selbstbestimmung der Figuren

Schon in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ stellt sich besonders gegen Ende des Romans die Frage nach dem Vorhandensein individueller Entscheidungskraft. Die Entdeckung, dass hinter

den

Wegen

und

Ereignissen

stets

die

beobachtenden

Mitglieder

der

Turmgesellschaft standen, welche bisweilen sogar Wilhelms Handeln in dem Maße beeinflussten, dass er sich zuletzt selbst im Turm findet, lässt daran zweifeln, ob Figurenhandlung bei Wilhelm Meister als etwas Losgelöstes begriffen werden kann. Das Ende der „Lehrjahre“ befürwortet einen Aufbruch des Individuums, um es aus beengenden Verhältnissen zu lösen. Durch das Wandern soll Wilhelm prägende Erfahrungen machen – wobei die individuelle Lebensperspektive zunächst offengehalten wird. Der individuelle Aufbruch in den „Wanderjahren“ ist jedoch in eine kollektive Organisation eingebettet – die zunehmende Spezialisierung in der sich anbahnenden modernen Gesellschaft ist nach Friedrich Schiller die Ursache eines unglücklichen Bewusstseins der Individuen, weil sie nur mehr ein mechanisches Leben im Ganzen heranbilden können.33 Die Frage nach Individuum oder Masse lässt sich auch anhand von Textstellen im Zusammenhang mit der „Pädagogischen Provinz“ erörtern. An der Ausbildung musischer Anlagen zeigt sich, dass diese nicht der individuellen Persönlichkeitsentwicklung nützt, sondern Mittel einer gesellschaftlichen Fähigkeit ist. Lenardo gelingt es, die Auswanderer solcherart zu manipulieren, dass sie nach einem Lied über die Isolation des Individuums ein fröhliches Wanderlied zu singen beginnen. Die Ausbildung der „Pädagogischen Provinz“ erweist sich als begünstigend für einen Sog der manipulierbaren Masse.34

33

Beller: Goethes Wilhelm Meister Romane. S. 69.

34

Schwamborn, Claudia: Individualität in Goethes „Wanderjahren“. Paderborn: Schöningh

1997. S. 112.

16

Bei dem wiederholenden Chorgesange stand Lenardo auf und mit ihm alle; sein Wink setzte die ganze Tischgesellschaft in singende Bewegung;35

Ein anderes Beispiel: die Konsequenzen für Susanne-Nachodine, die sich daraus ergeben, dass sie nicht an der Plünderung und der womöglich von ihr verschuldeten Hilflosigkeit der Arbeiter teilzuhaben wünscht, lassen für einen Moment den Gedanken aufkommen, dass hier eine Figur ihr Schicksal und gleichzeitig jenes von vielen anderen Menschen in die Hand nimmt. Was aber durch die schließliche Entscheidung Susannes nicht erreicht wird, ist eine Änderung der ohnehin zu erwartenden Geschehnisse: die Verdrängung der Manufaktur durch die Industrie kann nicht verhindert werden – die Fabrik wird mit dem Geld gebaut, welches sie zurücklässt36. Der „Geschirrfasser“ verwirklicht aus Mangel an Skrupel eben das, was Susanne zur Flucht treibt. Jetzt kann natürlich leicht der Eindruck entstehen, der vorprogrammierte Fortgang der Dinge würde jede Form von Beeinflussung des Geschehens durch individuelle Entscheidungen unmöglich machen. An einem besonderen Beispiel aber lässt sich die weitaus komplexere Verstrickung von Entscheidungsmoment und später folgenden Ereignissen veranschaulichen. Auch hier ist ein Zufall von vornherein auszuklammern: Die Ausbildung Wilhelms zum Wundarzt - seine selbst ausgewählte Qualifikation37 - erfüllt an späterer Stelle jenen Nutzen, welcher der programmatischen Spezialisierung gemäß gefordert ist: Wilhelm muss von einem Boot aus mit ansehen, wie ein junger Mann mit einem Pferd die Uferböschung herabstürzt. Er eilt zur Rettung und erfüllt nun denjenigen Zweck, der ihm durch seine Ausbildung zugeteilt wurde – das Leben seines Sohnes Felix wird durch ihn gerettet. Angesichts der Konzentration von Zusammenhängen (Beziehungen) zwischen Figuren (zwischen Binnennarrationen und der „Hauptnarration“)

35

Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre. S. 347.

36

Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre. S. 290.

37

Hier setzt sich Wilhelm über die von der Gesellschaft bis dahin vorgegebene Ordnung

hinweg und bekennt sich zum niedrig stehenden Beruf des Wundarztes, was einer sozialen Selbstdegradierung gleichkommt.

17

wird die Zufälligkeit des Aufeinandertreffens von Wilhelm und Felix am Ende des Romans natürlich mehr als fraglich. Es ist der Vater, der seinem Sohn zur Hilfe kommt. Die Generationen finden und ergreifen einander. Der Schluss der „Wanderjahre“ entwirft uns ein Bild, in dem sich die einzelnen Bauteile einer Maschine verbinden und gleichsam einen „Strahl“ in die Zukunft schicken. Zahlreiche Handlungselemente zielen darauf ab, diesen versöhnlichen Ausklang herbeizuführen – Wilhelms Ausbildung und die Erziehung des Felix sowie dessen Liebe zu Hersilie sind nur zwei Schritte auf dem Weg dorthin.

3.2.

Der Sonderfall Felix

Was die Anforderungen nach Bildung und der Platzierung des Individuums in einer neuen sozialen Gesellschaft anbelangt, ist Felix eine quertreibende Kraft. Belehrung und weise Sprüche prallen von dieser Figur ab – seine Methode der Flucht ist das Versinken in einen tiefen Schlaf. Aufgrund der Parallele zu Wilhelm und Mariane in den „Lehrjahren“ – Wilhelms Ausführungen zeigen dort die gleiche ermüdende Wirkung – kann Wilhelm als derjenige charakterisiert werden, welcher mit dem Erfahren, Lernen und Lehren untrennbar verbunden ist. Anders hingegen Felix, der das Lernen und Erwerben von Fähigkeiten nie als Selbstzweck sieht, sondern stets von einer Symbolik des Schlafs und der Liebe umgeben ist. Franziska Schößler führt eine sehr schlüssige Analyse durch: Indem sie nachweist, dass der schlafende Felix, welcher wie Odysseus schlafend an

einen

angenehmen Ort gebracht wird38, einen Raum des Mythos und des östlich-archaischen öffnet39, lässt sich ein „fundamentaler Gegensatz“40 zur Ebene der Kolonialisierung einerseits und Industrialisierung andererseits erkennen.

38

Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre. S. 341.

39

Die von Felix gleich zu Beginn in der pädagogischen Provinz beobachteten Habichte

fliegen von Westen nach Osten. 40

Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre. S. 343.

18

4. Textstruktur als Spiegel der Handlungsebene 4.1.

Das „verwebende“ Erzählen

Wie lässt sich also ein Begriff der „Moderne“ an der Textgestalt selbst ablesen? Gustav Radbruch hat die Tatsache, dass es sich bei den „Wanderjahren“ um ein Alterswerk Goethes handelt, dafür verantwortlich gemacht, dass „die Form [...] nicht mehr stark genug gewesen“ ist, „den Stoff restlos zu prägen“. Und weiter: „Vor allem ist dem alternden Dichter die einheitliche Komposition des Ganzen versagt geblieben“41. Mit dieser Feststellung hat Radbruch ein wesentliches Merkmal des Textes, welches ihn als eine Vorausdeutung auf viel spätere Texte qualifiziert, ignoriert: Es ist nicht eine bloße Aneinanderreihung beliebiger Novellen (Radbruch geht soweit, das Werk vom „Denker“ statt vom „Dichter“ Goethe herstammen zu lassen), hier muss man differenzieren, um nicht „Willkür!“ zu rufen. Die Bezirke, welche uns als Konstruktionsmomente im Text begegnen bilden eine Art von „Plateaus“ auf denen und zwischen denen Handlung festzustellen ist, das sind: der Klosterbezirk des St. Joseph, der Kohlenmeiler (stiller Ort), der Bezirk der Makarie, die Pädagogische Provinz, der „große See“, die Auswanderer, das Spinn- und Weberhandwerk, der Schloßbezirk des Amtmannes, sowie dazwischen die Montage von Aphorismen und Gedichten. Diese Bezirke oder Textabschnitte bilden die Konstruktionsebenen des Textes (so wie die jeweiligen Welten, die hier entworfen werden – Platon und Rousseau in der Pädagogischen Provinz, das beginnende kapitalistische Wirtschaften im „Weber“-Kapitel, oder die Utopien der „Auswanderer“) und sind durch die Bewegung der Figuren (Wilhelm, Felix, Lenardo) miteinander verwoben.

Eine

Interdisziplinarität in der Rezeption des Textes wurde angesichts der Andeutungen auf vielfältigstes Gelehrtenwissen, sowie in einem Rezeptionsmodell des „sozialen Lesens“ bei

41

Radbruch, Gustav: Goethe: Wilhelm Meisters sozialistische Sendung. In: Adler, Hans

(Hg.): Der deutsche soziale Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1990. (=Wege der Forschung Bd. 630). S. 129.

19

Benjamin Bennett42 bereits vielfach angedacht. Die Konstruktionsebenen des Textes können so als Beispiele für verschiedene Arten des Lesens gesehen werden, eine Einladung, im Text zu springen, bestimmte Teile auszuwählen, sich auf einzelne Feststellungen im Text zu konzentrieren43 und somit den Weg zu einem Lesen der „vielfachen Eingänge“ zu gehen. Eben die Exkurshaftigkeit des Textes, die Verflechtung der voneinander unabhängig erscheinenden Novellen und Binnenerzählungen, greift voraus auf ein Schreiben, welches gegen Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich zur Entfaltung gekommen ist. Es ist das vielstimmige, multiperspektivische Schreiben, welches sich von einer strengen Romankonzeption unter Einbeziehung von lyrischen Textstellen und plötzlichen rein mimetischen Dialogen, verabschiedet hat. Die strenge Form ist aufgebrochen, das Buch ist nicht mehr ein einziges Aggregat. Gilles Deleuze und Félix Guattari umrissen 1976 diese neue Sicht mit einer (wie treffend!) Maschinenterminologie: „man fragt, womit ein Buch funktioniert, in welchen Verbindungen es Intensitäten strömen läßt, in welche Vielheiten es seine Vielheit einführt und verwandelt [...]. Wenn ein Buch also selbst eine kleine Maschine ist, in welchem meßbaren Verhältnis steht dann diese literarische Maschine zu einer Kriegsmaschine, einer Liebesmaschine, einer Revolutionsmaschine, etc.[...]“44 Die „Bezirke“ in den „Wanderjahren“ würden in diesem Fall die Verknüpfung des Buches mit solchen „Maschinen“, welche sich auf ein Außen beziehen, bedeuten. Ob Goethe dieses Postmoderne Verständnis vorwegnehmen wollte, bleibt selbstverständlich dahingestellt. Eine kleine Besonderheit stellt das Wissen des „Erzählers“ dar. In den „Wanderjahren“ sind wir mit der Erzählsituation konfrontiert, die den Leser der Erzählerperspektive insofern gleichstellt, als die Erzählerfigur an keiner Stelle vorgibt, mehr zu wissen, als dem

42

Bennett, Benjamin: Beyond Theory. Eighteenth-century German Literature and the

Poetics of Irony. London: Ithaca 1993. S. 19. zitiert nach: Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre. S. 246. 43

zitiert nach: Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre. S. 246.

44

Deleuze, Gilles und Félix Guattari: Rhizom. Berlin: Merve 1977. S. 7.

20

Leser vorliegt. Es kommt auf den Erzähler gleichfalls von außen zu, was im Text das jeweilige nächste Element bildet. Unter den Papieren, die uns zur Redaktion vorliegen, finden wir einen Schwank, den wir ohne weitere Vorbereitung hier einschalten, weil unsre Angelegenheiten immer ernsthafter werden und wir für dergleichen Unregelmäßigkeiten fernerhin keine Stelle finden möchten.45

Der Erzähler tritt zurück in die Rolle eines Redakteurs, der von der Gegebenheit seiner Materialien abhängt – oder dies zumindest vorgibt –, welche er an spontan gewählter Stelle mit dem übrigen Textmaterial verknüpft. Hier lässt sich der Brückenschlag zu programmatischen Motiven im Text ansetzen: Das verwobene Erzählen wird mit den Webstühlen und dem Webhandwerk symbolisch (einmal abgesehen von allen sozialhistorischen Hintergründen) dargestellt. Das lineare Abspulen einer Romanhandlung ist nicht gegeben, man findet Exkurse in den Text eingewoben, welche zugunsten einer Rahmenhandlung ausgesetzt und wieder fortgeführt werden können

(z.B.

Lenardos

Tagebuchaufzeichnungen),

die

Gattungstypen

sind

dementsprechend breit gestreut: Novelle, Märchen, Schwank, Tagebuch, Essay, Brief, Lied, Aphorismus, Maxime. Felix, den man als nonkonformes Element wahrnimmt, verwirklicht das Konzept des Sprunghaften und Ungezügelten, er ist das unberechenbare Moment, das eine bestehende Ordnung grundsätzlich hintergeht. Wilhelm Meister, der in den „Lehrjahren“ noch unumstritten die zentrale Figur der Handlung war, verliert spätestens mit dem Beginn der „Wanderjahre“ diesen Anspruch und wird zu einem unter vielen, das Prinzip der Vielstimmigkeit und der Mehrfachperspektive, welches in der Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts zum dominierenden Mittel wird, ist bei Goethe etwa 70 Jahre zuvor bereits zu finden und belegt erneut, wie weit dieser Text selbst noch in unsere Gegenwart hineinreicht.

45

Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre. S. 410.

21

5. Zusammenfassung Die Thematik der sozialen Umwälzungen im neunzehnten Jahrhundert und deren Spiegelung vor allem in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ hat durchaus Eingang in die Sekundärliteratur gefunden und führt dort ein Dasein, welches sich von einer reinen Instrumentalisierung Goethes durch den frühen radikalen Sozialismus der 1840er Jahre bis hin zur Erschließung einer Kulturgeschichte der Moderne in diesem Roman erstreckt. Selbstverständlich würde der Text weitaus spezifischere Analysen zur Eroberung der Arbeitswelt durch die Maschine anregen – die Stellen in den „Wanderjahren“, welche eine Betrachtung am Primärtext ermöglichen sind allerdings wider Erwarten äußerst selten in direkter Weise aufzufinden. Alleine die Erwähnung von charakteristischen Worten wie „Maschine“, „Maschinenwesen“ und „Maschinerie“ beschränkt sich auf einzelne Nachweise, die dort aber in jedem Fall eine Schlüsselwirkung und eine hohe Intensität haben. Wie die Theorien des zwanzigstens Jahrhunderts rückwirkend zu der literarischen Aufarbeitung der Industrialisierung bei Goethe in Beziehung zu setzen sind, sollte mit der Arbeit in einer ersten Form versucht werden, die an manchen Stellen eröffneten Gedankenspiele werden hoffentlich dem Prinzip der „Aggregatslosigkeit“ gerecht, welches Goethe selbst diesem Alterswerk zuzuschreiben pflegte. Die Verknüpfung und raffinierte Konstruktion des Textes anhand der „Bedeutungsebenen“ der Bezirke, mit den als Verbindungselementen fungierenden Figuren, haben zu einigen Beobachtungen geführt, die erahnen lassen, dass mit der Bezeichnung „Roman“ dieses Buch in keinem Fall abgetan sein kann. Es kommt darauf an, einen Einstieg zu finden und diesen Anhand der damit sich ergebenden Entdeckungen bis zu einer gewissen Stelle zu verfolgen, welcher hiermit erreicht ist.

22

6. Literaturverzeichnis 6.1.

Primärliteratur

Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Berlin: Aufbau 11982. Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden. Hg. von Ehrhard Bahr. Stuttgart: Reclam 1982. Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Hg. von Bettina Hesse. Köln: Könemann 1997.

6.2.

Sekundärliteratur

Beck, Johannes u.a. (Hg.): Maschinen-Menschen, Mensch-Maschinen. Grundrisse einer sozialen Beziehung. Reinbek: Rowohlt 1986. Beller, Walter: Goethes „Wilhelm Meister“-Romane: Bildung für eine Moderne. Hannover: Revonnah-Verlag 1995. (=Schriftstücke 2) Blessin, Stefan: Goethes Romane: Aufbruch in die Moderne. Paderborn; München; Wien: Schöningh 1996. Deleuze, Gilles und Félix Guattari: Rhizom. Berlin: Merve 1976. Mumford, Lewis: Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht. Frankfurt am Main: Fischer 31980. Radbruch, Gustav: Goethe: Wilhelm Meisters sozialistische Sendung. In: Adler, Hans (Hg.): Der deutsche soziale Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1990. (=Wege der Forschung, Bd. 630). S. 129-156. Rarisch, Ilsedore: Das Unternehmerbild in der deutschen Erzählliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Rezeption der frühen Industrialisierung in der belletristischen Literatur. Berlin 1977. S. 30-65.

23

Rybakov, Alexei: Deutsche und russische Literatur an der Schwelle zur Moderne: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ u. „Eugen Onegin“; zur

Entstehung des modernen

Weltbildes. München: Sagner 2000. (=Slawistische Beiträge 392). Sagave, Pierre-Paul: „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ und die sozialistische Kritik (18301848). In: Adler, Hans (Hg.): Der deutsche soziale Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1990. (=Wege der Forschung, Bd. 630). S. 157-170. Schößler, Franziska: Goethes Lehr- und Wanderjahre. Eine Kulturgeschichte der Moderne. Tübingen: Francke 2002. Schwab-Felisch, Hans und Wolf Jobst Siedler (Hg.): Dichtung und Wirklichkeit. Gerhart Hauptmann. Die Weber. München: Ullstein 62002. Schwamborn, Claudia: Individualität in Goethes „Wanderjahren“. Paderborn: Schöningh 1997. Sutter, Alex: Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendiges bei Descartes, Leibnitz, La Mettrie und Kant. Frankfurt am Main: Athenäum 1988.

6.2.1. Nicht greifbar Aschoff, Volker: Die Telegraphen in Wilhelm Meisters Wanderjahren. Ulm: Fabri-Verlag 1992. Dotzler, Bernhard J.: Papiermaschinen: Versuch über Communication & Control in Literatur und Technik. Berlin: Akad.-Verlag 1996. Eppers, Arne: Wilhelm Meisters ökonomische Wendung. In: Welfengarten. Jahrbuch für Essayismus. Jg. 6. Hannover 1996. S. 103-120. Fingerhut, Karlheinz: Eine Maschine zur Erzeugung von Interpretationen: Untersuchungen an Kafkatexten und deren Lektüren. In: Il confronto letterario. 9. Jg, Nr. 19. Fasano di Puglia 1993. S. 17-38.

24

Hesse, Hermann: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Mayer, Hans (Hg.): Goethe im zwanzigsten Jahrhundert: Spiegelungen u. Deutungen. Frankfurt am Main, 1987. S. 157180. Matsumoto, Tsuyoshi: Goethes Kritik an der Maschinenindustrie in den „Wanderjahren“ unter dem Aspekt der damaligen sozialen und ökonomischen Verhältnisse. In: Jahresberichte des Germanistischen Instituts der Kwanseigakuin-Universität Nr. 35. Uegahara 1994. S. 85-106. Rumbke, Eberhard W. J.: Goethe, die Technik und Amerika: über „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ u. andere Texte. In: Augst, Gerhard (Hg.): „Zu lebendiger Zeit...“ Festschrift für Gerhard Rimbach zum 65. Geburtstag. Siegen 1990. S. 204-222. Schößler, Franziska: Mechanische Uhr und Sonnenwende-Zeit in Goethes Roman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“. In: Recherches germaniques 27. Strasbourg 1997. S. 7592. Wägenbaur, Thomas: The post-modern momentum in Goethe’s Wilhelm Meister. In: T. W.: The moment: a history, typology and theory of the moment in philosophy and literature. Frankfurt am Main: Lang 1993. S. 298-312. (=European University Studies: Ser. 1, German language and literature; 1428)