Wir hielten uns mit Snickers am Leben

„Wir hielten uns mit Snickers am Leben“ Über die Prozesse, die bei der Entscheidung zur Flucht aus Syrien stattfinden Welche Prozesse finden bei d...
Author: Alexandra Geier
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„Wir hielten uns mit Snickers am Leben“

Über die Prozesse, die bei der Entscheidung zur Flucht

aus Syrien stattfinden

Welche Prozesse finden bei der Entscheidung zur Flucht aus Syrien (nach Deutschland) statt?

Von Jule Springer Seminarkurs „Migration“ Liebfrauenschule Sigmaringen Schuljahr 2015/16 17.06.16

1 Einleitung…………………………………………………………………………2 2 Syrien: (Jüngere) Geschichte und aktuelle Lage……………………....................4 2.1

Die allgemeine, grundsätzliche Lage in Syrien und wie es dazu kam…....4

2.2

Proteste im Zuge des arabischen Frühlings in Syrien…………………….6

2.3

Bürgerkrieg in Syrien…………………………………………………….11

2.4

2.5

2.3.1

Verlauf…………………………………………………………....11

2.3.2

Beteiligte………………………………………………………....12

2.3.2.1

Schiiten und Sunniten……………………………………12

2.3.2.2

Regierung………………………………………..……….13

2.3.2.3

Die politische Opposition………………………………...13

2.3.2.4

IS in Syrien……………………………………………….14

Exkurs: Nachbarstaaten………………………………...………………..17 2.4.1

Irak……………………………………………………………….18

2.4.2

Jordanien…………………………………………………………19

2.4.3

Saudi Arabien…………………………………………………….19

2.4.4

Libanon…………………………………………………………...20

Migrations-/Fluchtwege………………………………………………….21

3 Psychologie: Entscheidungsfindung……………………………………………..21 3.1

3.2

Arten von Entscheidungen……………………………………………….21 3.1.1

Intuitive und rationale Entscheidungen……………………….....22

3.1.2

Einstufige und mehrstufige Entscheidungen……………………..24

3.1.3

Motive für die Entscheidungsfindung………...………………….24

3.1.4

Art und Umfang des kognitiven Aufwands………...………….....25

Individueller Migrationsentscheidungsprozess…………………………..27

4 Interviews mit Betroffenen……………………………………………………....29 4.1

Vorgehen bei den Interviews……………………..………………………29

4.2

Einzelne Interviews……………………………..……………….……….30

4.3

Was allgemein auffällt……………………………..……………………..47

5 Fazit/Schluss………………………………………………..…………………....49 Literaturverzeichnis

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1

Einleitung

„Wir hielten uns mit Snickers und Energydrinks am Leben“. Dies war eine Aussage eines Syrers, der von seiner Flucht nach Deutschland erzählte. Es war eine von vielen erschütternden Aussagen, die mir im Laufe dieser Arbeit begegnet sind. Schokolade ist lange haltbar und liefert bei verhältnismäßig geringem Gewicht viel Energie und davon braucht man bei einer solchen Flucht viel. Energydrinks ermöglichen es, bei einem Schlafpensum von zwei Stunden am Tag, trotzdem wach zu bleiben. Wer solche Aussagen hört, dem drängt sich fast zwangsläufig die Frage auf, was Menschen dazu bringt, ihr Zuhause zu verlassen und sich auf einen Weg zu machen, bei dem eine solche Überlebensstrategie gefordert ist. Da wir dieses Jahr als vorgegebenes Thema für den Seminarkurs das Thema Migration hatten, bot es sich für mich an, zu versuchen dieser Frage in meiner eigenen Seminarkursarbeit nachzugehen. Für mich selber war das Thema deswegen interessant, weil ich finde, dass die meisten von uns

– ich selbst eingeschlossen – dafür, dass das Flüchtlingsthema in aller Munde ist, wirklich nicht viel über die Beweggründe Bescheid wissen. Jeder kennt die Bilder aus den Nachrichten, auf denen Flüchtlinge in Strömen unterwegs sind, aber kaum jemand hinterfragt das Ganze genauer. Das liegt vielleicht auch daran, dass es sich um ein sehr weitreichendes Thema handelt – so weitreichend, dass es mit einer einzigen Seminararbeit nicht einmal ansatzweise zu erfassen wäre. Für mich ging es deswegen erst einmal darum, das Thema einzugrenzen. Weil momentan die größte Gruppe der in Deutschland lebenden Flüchtlinge aus Syrien kommt, habe ich meine Arbeit auf dieses Land beschränkt. Es soll in dieser Arbeit nun also geklärt werden, was Syrer dazu bewegt, ihr Land zu verlassen. Hierbei soll aber ein besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, was sie dazu bewegt, ihr Land zu verlassen, um ausgerechnet nach Deutschland zu gehen. Um der Frage nachzugehen ist die Arbeit in drei große Themenbereiche eingeteilt: Zuerst möchte ich die Lage in Syrien darstellen, um etwas über die dortigen Verhältnisse in Erfahrung zu bringen und mögliche Gründe zu finden, die dazu führen könnten, dass so viele Menschen dieses Land verlassen oder zumindest mit dem Gedanken spielen, dies zu tun. Hierbei möchte ich aber auch noch einen Seitenblick auf umliegende Staaten werfen, die die Situation der Syrer so beeinflussen, dass sie Auswirkungen auf deren Fluchtentscheidung haben. Der nächste Teil der Arbeit befasst sich dann mit der menschlichen Psyche, genauer gesagt mit den Entscheidungsprozessen, die beim Entschluss zur Flucht stattfinden, also die

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kognitiven Prozesse, die über gehen oder bleiben entscheiden. Im dritten großen Teil werde ich dann versuchen, in Interviews mit betroffenen Flüchtlingen eine Antwort auf die Frage zu erhalten bzw. überprüfen, ob die Ergebnisse mit den Erkenntnissen der vorangegangenen Kapitel übereinstimmen.

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Syrien: (Jüngere) Geschichte und aktuelle Lage

2.1

Die allgemeine, grundsätzliche Lage in Syrien und wie es dazu kam

Der britische Diplomat Mark Sykes und sein französischer Kollege François Georges-Picot hatten 1916 im Auftrag ihrer Regierungen ein Geheimabkommen ausgehandelt, in dem festgelegt wurde,1 „wie der nahe Osten nach einem Zusammenbruch des Osmanischen

Reiches unter den beiden Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien aufgeteilt werden sollte.“2 Bei der Aufteilung wurde aber nicht auf die dort lebende Bevölkerung und ihre Stammesgrenzen geachtet. Das Resultat sind Staaten, die bis heute damit zu kämpfen haben, dass ihre Bevölkerung aus verschiedenen, oft nicht miteinander kompatiblen Stammes- oder Glaubensgruppen besteht.3 Syrien wurde Frankreich zugesprochen. Die Bevölkerung war und ist hier größtenteils sunnitisch, es sind aber auch einige Minderheiten vorhanden, unter anderem die der Alawiten.4 Alawiten sind Muslime, genauer gesagt, eine Abspaltung der Schiiten. Sie machen 6% der Bevölkerung aus.5 Auch Sunniten sind eine Glaubensrichtung des Islam.6 (Näheres unter 2. 3. 1. 1) Die französischen Besatzer teilten Syrien nun in Kleinstaaten ein. „Unter anderem einen eigenen Staat für die Alawiten mit eigener Fahne und klaren Grenzen“7 Über die Politik der einzelnen Kleinstaaten entschied dann aber jeweils ein französischer Gouverneur. „[D]a sich die sunnitische Mehrheit weitestgehend einer Zusammenarbeit [mit den Franzosen] verweigerte“8, schlossen die Franzosen die sunnitischen Kleinstaaten nach vier Jahren schon wieder zu einer Verwaltungseinheit zusammen, nur der Alawitenstaat blieb, da die Franzosen diese Minderheit für ihre Zwecke einspannen wollte.9 Sie boten den Alawiten Aufstiegschancen in der Armee und schützten sie außerdem vor den Sunniten, von denen die Alawiten verfolgt worden waren. Im Gegenzug mussten sich die Alawiten loyal gegenüber den Franzosen verhalten und ihnen helfen, gegen die Sunniten vorzugehen.10 „Der Hass der

1

Armbruster, J. (2013): Brennpunkt Nahost, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2Ebd., S.149 3 Vgl. ebd., S. 149 4 Vgl. ebd., S. 151 5 Vgl. http://www.unter-schwarzen-fluegeln.com/syrien/alawiten-sunniten/, Benutzung: 27.10.2015 6 Vgl. Seite „Sunniten“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 22. Februar 2016, 15:51 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Sunniten&oldid=151792754 (Abgerufen: 25. Februar 2016, 17:03 UTC) 7 Armbruster, J. (2013):Brennpunkt Nahost, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 149 8Ebd. 9 Vgl. ebd. 10 Vgl. ebd.

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religiösen Mehrheit war dieser religiösen Minderheit demnach sicher“11. Die Sunniten waren noch aus einem weiteren Grund zornig auf die Franzosen: Diese hatten nämlich Angst gehabt, die Türkei könnte auf Deutschlands Seite in den Krieg ziehen und bestachen deswegen die Türkei 1939 mit einer Gebietsabtretung. „Die Türkei beanspruchte nämlich ein Gebiet […] nahe der syrisch-türkischen Grenze, in dem zwar mehrheitlich Araber lebten, aber auch eine stattliche türkische Minderheit“12 Viele Araber flohen. 13 Bis heute gibt es Spannungen in diesem Grenzgebiet, weil Syrien die Gebietsabtretung bis heute nicht anerkennt.14 Nachdem Frankreich aus Syrien abgezogen worden war, kam es auch „immer wieder zu Rachefeldzügen sunnitischer Extremisten gegen alawitische Dörfer“15, da die Sunniten „ja nicht nur Ungläubige, sondern auch wegen ihrer engen Kontakte zu den Franzosen Verräter“16 waren.17 „Erst als sich der Alawit Hafiz al-Assad 1970 an die Macht im Staat geputscht hatte, fühlen sich seine Glaubensbrüder in Syrien sicher.“18 Nach dessen Tod im Jahr 2000 trat sein Sohn Baschar seine Nachfolge als Präsident von Syrien an.19 „Baschar al-Assad [hatte] zwar den Aufbau eines Internet-Netzes gefördert, Meinungsfreiheit aber nicht zugelassen.“20 Wenn er seine Vorherrschaft und damit die der Alawiten aufgegeben und dem gesamten syrischen Volk mehr Mitsprache zugeteilt hätte, wäre sein System schnell gekippt.21 Dafür hätte die sunnitische Mehrheit gesorgt, die von den Alawiten unterdrückt wurde.22 Heute sieht es mehr so aus, als ob die einzelnen Volksgruppen wieder zu ihrer alten Ordnung vor der Besatzung zurückkehren würden, als würde „Syrien also aufgeteilt in Kantone, die sich spinnefeind sind“23, was an sich schon einem Pulverfass gleichen würde. Das größere Hindernis dabei ist aber, dass die Alawiten nicht mehr nur in ihrem angestammten Gebiet leben, sondern in ganz Syrien. In den großen Städten haben sie teilweise schon eigene 11

Armbruster, J. (2013):Brennpunkt Nahost, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 152 12Ebd. S. 153 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. ebd. S. 154 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Vgl. ebd. 18 Ebd. 19 Vgl. Seite „Baschar al-Assad“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 24. Februar 2016, 11:00 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Baschar_al-Assad&oldid=151859674 (Abgerufen: 25. Februar 2016, 20:39 UTC) 20 Armbruster, J. (2013):Brennpunkt Nahost, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 155 21Vgl. ebd. 22 Vgl. ebd. S. 156 23 Ebd.

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Stadtviertel (was wieder zu Spannungen mit Sunniten führt). Die Situation ist bei den syrischen Kurden ähnlich. Sie versuchen zwar ihr angestammtes Gebiet freizukämpfen von der Zentralregierung und den arabischen Rebellen, aber gleichzeitig sind viele von ihnen inzwischen auch über das ganze Land verteilt, die dann zurückgeschickt werden müssten.24 „Nicht unbedingt nur zur Freude der dort schon lebenden Kurden.“25 Es ist vorstellbar, dass die Unterdrückung durch die Alawiten bzw. durch die alawitische Regierung für Sunniten ein Grund dafür ist, das Land zu verlassen, um freier leben zu können. Aber natürlich könnten auch die Alawiten selbst die Migration als Ausweg sehen, um dem Hass der Sunniten zu entgehen. Andererseits würde für sie aber eine Emigration weniger Sinn machen, da sie im Zielland wahrscheinlich wieder auf Sunniten treffen würden, diese ja genauso aus Syrien fliehen. Auch können alle Syrer, egal zu welcher religiösen Gruppe sie gehören, der fortwährenden politischen Spannungen leid sein und deswegen ihr Land verlassen. Dabei bleibt dann aber die Frage, warum sie es gerade jetzt bzw. in den letzten Jahren tun.

2.2

Proteste im Zuge des arabischen Frühlings in Syrien

„Als Auslöser der Kampfhandlungen gelten die Demonstrationen des Arabischen Frühlings, dessen revolutionäre Aufbruchsstimmung nach Ägypten, Libyen und Tunesien immer mehr

Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens erfasste.“26 Die Aufstände in Tunesien waren der Beginn für den sogenannten „Arabischen Frühling“, eine Reihe von Protesten und auch tatsächlichen Revolutionen in verschiedenen Ländern der arabischen Welt.27 In Tunesien lebte ein junger Mann namens Mohammed Bouazizi. Aus Geldmangel wurde er Gemüseverkäufer, anstatt einen Schulabschluss zu machen. Er versuchte mehrmals, seinem Leben eine Wendung zu geben: Er bewarb sich bei der Armee,28 versuchte über Sizilien nach Europa zu kommen, ein Jahr später noch einmal über Libyen,29 arbeitete in einem Restaurant als Hilfskraft und erstattete Anzeige, als sein Arbeitgeber den Lohn nicht ausbezahlen wollte.

24

Vgl. Armbruster, J. (2013):Brennpunkt Nahost, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 157 25Ebd. 26 http://www.welt.de/themen/syrien-konflikt/; Stand: 11. 06. 16 27 Vgl. Seite „Arabischer Frühling“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 17. April 2016, 20:31 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Arabischer_Fr%C3%BChling&oldid=153569689 (Abgerufen: 22. April 2016, 04:40 UTC) 28 Vgl. http://www.unter-schwarzen-fluegeln.com/syrien/alawiten-sunniten/, Benutzung: 27.10.2015, S. 14 29Vgl. ebd. S. 15

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Alle Versuche scheiterten. Als er dann wieder als Gemüseverkäufer arbeitete und von Polizisten schikaniert wurde, unternahm auch die Stadtverwaltung auf sein Bitten hin nichts. Daraufhin übergoss er sich am 17. Dezember 201030 mit Brennspiritus und entzündete sich vor der Stadtverwaltung.31 Obwohl er nicht der erste Tunesier war, der sich selber verbrannte,32 war seine Tat der Auslöser für eine Revolution (nämlich den arabischen Frühling), da Demonstranten Handy-Videos über Facebook ins Internet stellten, wo die Zensur der Behörden nicht greift. Das passierte auch mit einem Protestmarsch am 20. Dezember. 33 Al-Jazeera, ein im arabischen Raum weit verbreiteter und größtenteils zensurfreier Satellitensender, entdeckte diese Videos und strahlte sie noch am selben Tag aus. Daraufhin kam es erst in Boazizis Heimatregion34 „und schließlich im ganzen Land zu spontanen Protesten, die sich schnell zu Kundgebungen gegen den Diktator Ben Ali und sein Regime ausweiteten.“35 Obwohl dieser sogar Scharfschützen auf die Demonstranten schießen ließ, wuchs der beginnende Aufstand weiter an, dessen Wurzeln in „politischer Repression, endemischer

Korruption, sozialen Umbrüchen, Armut, Perspektivlosigkeit, der Sehnsucht nach Freiheit und einem Leben in Würde“36 begründet waren.37 Im Gegensatz zum Machtkonzept Sadam Husseins im Irak und dem von Ghaddafi in Libyen war das von Hafiz al-Assad durchdachter: Er38 „zeigte sich als ein ebenso intelligenter wie skrupelloser Machthaber, der Syrien mit eiserner Faust regierte, aber seine Untertanen nicht mit Großmannssucht oder fragwürdigen Ideologien heimsuchte.“39 Solange sein Machtmonopol und das der Alawiten nicht infrage gestellt wurde, hatten die anderen religiösen Gruppen im Land nichts zu befürchten.40 Im Jahr 2000 nahm Baschar al-Assad, Hafiz´ Sohn, dessen Amt ein. In der Bevölkerung galt er als Hoffnungsträger.41 Unter seiner Herrschaft gab es viele Reformen im Land, die sich auf Wirtschaft und Bildung erstreckten. Außerdem öffnete er Syrien für neue Technologien, 30

Vgl. Seite „Mohamed Bouazizi“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 15. Januar 2016, 14:58 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Mohamed_Bouazizi&oldid=150254046 (Abgerufen: 22. April 2016, 04:36 UTC) 31 Vgl. Lüders, M. (2011): Tage des Zorns, Verlag C. H. Beck oHG, München, S. 16 32Vgl. ebd. S. 16 33 Vgl. ebd. S. 17 34 Vgl. ebd. S. 17 35 Ebd. S. 17 36 Ebd. S. 17 37 Vgl. ebd. 38 Vgl. Lüders, M. (2011): Tage des Zorns, Verlag C. H. Beck oHG, München, S. 164 39Ebd. S.164 40 Vgl. ebd. S. 164 41 Vgl. ebd. S. 165

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entgegen aller Bedenkenträger, die fürchteten, man würde der Opposition die Möglichkeit geben, sich zu organisieren. Als 2001 dann allerdings auch Stimmen laut wurden, die freie Wahlen forderten,42 wurden seine Kritiker mundtot gemacht.43 „Demokratie in Syrien hieße, dass die Alawiten auf die Herrschaft verzichten oder sie wenigstens mit anderen teilen müssten.“44 „Bis zu Beginn der Unruhen Mitte März 2011 glaubten viele Beobachter [trotzdem] nicht an eine Revolte in Syrien.“45 Obwohl das Volk hier ideologisch zwar näher am Regime war als in Ägypten oder Tunesien,46 „[d]och auch in Syrien hatte sich die Wut auf Korruption, Willkürherrschaft und schlechte Lebensbedingungen angestaut, und vor allem war durch die Bilder von mutigen Demonstrationen in Tunesien, Ägypten und Libyen die Angst vor dem

Regime geschwunden.“47

42

Vgl. Lüders, M. (2011): Tage des Zorns, Verlag C. H. Beck oHG, München, S. 166 43Vgl. ebd. S. 167 44 Ebd. S. 168 45 http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54705/syrien; Stand 20.04.16 46Vgl. Lüders, M. (2011): Tage des Zorns, Verlag C. H. Beck oHG, München, S. 16 47 Ebd.

8

48

In Deraa, einer Kleinstadt an der Grenze zu Jordanien (siehe Karte oben; Dara=Deraa), schrieben am 15. März49 201150 einige Jugendliche (in einer anderen Quelle waren es Kinder51, wobei dies wahrscheinlich Ansichtssache ist) „die Parole der arabischen Revolution an eine Hauswand: Das Volk will den Sturz des Regimes“52, woraufhin sie verprügelt und verhaftet wurden.53 „Drei Tage später demonstrierten die Bewohner Deraas für deren

Freilassung.“54 Als die Behörden mit Gewalt reagierten, heizte das die Proteste nur noch mehr an. Viele Menschen starben, allein am 8. April waren es 26, aber die Proteste breiteten sich über das ganze Land aus. Die Regierung isolierte Deraa wochenlang mit Panzern von der Außenwelt und unterbrach die Strom-, Wasser- und Lebensmittelversorgung. Trotzdem beruhigte sich der 48 Karte: http://syrien.karten21.com/syrien.jpg; Stand 11.06.16 49 Vgl. Lüders, M. (2011): Tage des Zorns, Verlag C. H. Beck oHG, 50

München, S. 163 Vgl. ebd. S. 165 51 Vgl. Seite „Bürgerkrieg in Syrien“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 5. Juni 2016, 21:49 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=B%C3%BCrgerkrieg_in_Syrien&oldid=155025033 (Abgerufen: 11. Juni 2016, 14:17 UTC) 52 Lüders, M. (2011): Tage des Zorns, Verlag C. H. Beck oHG, München, S. 163 53Vgl. ebd. 54 Ebd.

9

Aufstand weder in Deraa noch in anderen Teilen des Landes.55 Obwohl in den ersten beiden Monaten der Proteste 1000 Menschen von Sicherheitskräften getötet und 10 000 inhaftiert wurden und Baschar al-Assad eine neue Regierung ernannte, um sein politisches Überleben zu sichern, gingen die Proteste weiter.56 Nur „[i]n der Hauptstadt Damaskus wie auch in der Wirtschaftsmetropole Aleppo blieb es bis zur Drucklegung [der Quelle 2011] weitgehend ruhig.“57 Bis zu den gewaltsamen Ausschreitungen in Deraa war Baschar al-Assad aber in der Öffentlichkeit gut angesehen gewesen: Er stand für Widerstandsgeist und Unabhängigkeit gegenüber Europa und den USA58 und beklagte in einem Interwiev auch das langsame Tempo beim Umsetzten demokratischer Reformen.59 Während der arabischen Revolution verschob sich das politische Kräftegleichgewicht, worauf Baschar al-Assad eine unkluge Reaktion zeigte. Unter anderem zerstörten Elitegruppen als Kampfhandlung gegen die Aufständischen ganze Dörfer im Grenzgebiet zur Türkei, woraufhin tausende Syrer in die Türkei flohen. Außerdem kam es zu Massenverhaftungen männlicher Personen im Alter von 14 bis 45 Jahren.60 Im Gegensatz zu den Aufständen z. B. in Tunesien oder Ägypten fand der syrische Aufstand nicht in den Metropolen, also Damaskus oder Aleppo, statt, sondern in der Provinz.61 „Seine sozialen Träger sind in erster Linie sunnitische Stämme einschließlich der Kurden und

ärmerer Sunniten.“62 Seit der Zeit der Aufstände ist in Deutschland die Zahl der Asylanträge, die von Syrern gestellt wurden, stark angestiegen. 2010 waren es 2.036, 2011 3.436, 2012 schon mehr als in den beiden vorangegangen Jahren zusammen, nämlich 7.930, und allein im Januar und Februar 2013 waren es schon 1.872.63 In Jahr 2014 waren es dann ca. 41.00064 und von Januar bis Juli 2015 44.417. 65 Die beginnenden Unruhen und die Tatsache, dass das Regime begann, sich gewaltsam gegen

55

Vgl. Lüders, M. (2011): Tage des Zorns, Verlag C. H. Beck oHG, München, S. 163 56Vgl. ebd. 57 Ebd. S. 163 58 Vgl. ebd. S. 168 59 Vgl. ebd. S. 169 60 Vgl. ebd. S. 174 61 Vgl. ebd. S. 175 62 Ebd. S. 175 63 Vgl. http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/2013/03/syrien-fluechtlinge.html; Stand: 15.06.16 64 http://www.bamf.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2015/20150114-0001-pressemitteilungbmi-asylzahlen-dezember.html; Stand: 15.06.16 65 https://www.bamf.de/SharedDocs/Meldungen/DE/2015/20150819-asylgeschaeftsstatistik-juli.html; Stand. 15.06.16

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das Volk zu wenden, können auch in Anbetracht der Tatsache, dass es zumindest in Teilen Syriens offensichtlich lebensgefährlich war, aus meiner Perspektive als Fluchtursache gedient haben. Unterstützt wird die Vermutung durch die Anzahl der Asylanträge in Deutschland, bei denen auch noch zu beachten ist, dass Deutschland relativ weit entfernt von Syrien liegt und somit vermutlich nicht sofort am Anfang als beliebtes Ziel für Flüchtlinge dient, da sie wohl erst einmal innerhalb des eigenen Landes und in die Nachbarländer fliehen.

2.3

Bürgerkrieg in Syrien

2.3.1 Verlauf „Aus friedlichen Demonstrationen hat sich 2011 in Syrien ein Krieg mit vielen Fronten entwickelt.“66 Als die Regierung ihre Truppen gegen die zivile Opposition einsetzte, eskalierte die Situation.67 Als ab Juli 2011 die Regierung durch die "Freie Syrische Armee" (siehe 2.3.2.3) militärisch stark unter Druck gesetzt wurde, setzte das Assad-Regime in einer „Spirale der Gewalt“68 Panzer, Flugzeuge und Raketen gegen die Bevölkerung ein.69 Im August 2012 wurden bei einem Giftgasangriff in Damaskus Hunderte von Menschen getötet, woraufhin sich die USA einschalteten und mit einem Militärschlag drohten. Nach Vermittlung Russlands und auf Beschluss des UN-Sicherheitsrats musste Syrien in die Zerstörung seines Chemiewaffenarsenals einwilligen. Seit sich die Regierung Assad entgegen aller Erwartungen seit Anfang 2013 wieder stabilisieren konnte, konnte sich keine Seite entscheidend durchsetzten.70 Die Auseinandersetzungen in Syrien entwickeln sich zunehmend zu einem Stellvertreterkrieg: Eine Reihe von ethnischen und religiösen Konflikten überlagern inzwischen das ursprüngliche Ziel einer Demokratisierung des Landes. Sie werden durch Geld, Waffen und Söldnertruppen unterstützt.71, sodass nach der Einschätzung des Journalisten Jörg Armbruster kein Frieden möglich ist.72 Die einzigen beiden Länder, die - wenn überhaupt - einen Waffenstillstand erreichen könnten, Russland und die USA, sind sich selbst uneinig: Russland gilt als ein sicheres Veto gegen Verurteilungen von Assad durch den Sicherheitsrat73 und

66

http://www.zeit.de/thema/syrien; Stand: 11.06.16

67 Vgl. http://www.welt.de/themen/syrien-konflikt/; 68 Ebd. 69 Vgl. ebd. 70 Vgl. ebd. 71

Stand: 11.06.16

Vgl. ebd. Jörg Armbruster (2013):Brennpunkt Nahost, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 185 73Vgl. ebd. S. 185 72

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unterstützt Assad bedingungslos. Außerdem liefert es Waffen an Assad.74 Die USA unterstützen dagegen Saudi Arabien und Katar, die wiederum die Rebellen unterstützen.75

Jede neue Stufe im Bürgerkrieg kann ein möglicher Fluchtauslöser für Syrer gewesen sein. Vermutlich wächst bei jeder neuen militärischen Drohung und bei jedem Anschlag die Angst und irgendeine davon bringt dann das Fass zum Überlaufen.

2.3.2 Beteiligte 2.3.2.1

Schiiten und Sunniten

Eigentlich haben Schiiten und Sunniten eine Reihe gemeinsamer elementarer religiöser Vorstellungen. Auf der anderen Seite76 sind sie aber auch grundsätzlich „durch bestimmte religiös-politische und kultisch-rechtliche Differenzen getrennt“77 Ein zentraler Streitpunkt zwischen den beiden Gruppen ist die Frage nach dem Imamat. „Im Glauben der Schia haben die Imame vom Propheten Mohammed eine Art Erbcharisma erhalten, dank dessen sie mit einer göttlichen Lichtsubstanz ausgestattete, unfehlbare und sündlose Wesen sind.“78 Dies bedeutet, dass Muslime nur dann, wenn sie aus der Blutsline von Mohammed und Ali abstammen, die Offenbarung Mohammeds und das religiöse Heil erfahren können.79 Die Schiiten folgern daraus, dass ihre Imame diejenigen sind, die die verborgene Bedeutung ihrer Religionen bewahren. Diese Einstellung lehnen die Sunniten wiederum ab, da für sie nur ein einziger Mensch sündlos gewesen sein kann, nämlich Mohammed.80 Einen weiteren Streitpunkt bilden „Ausdrucksformen schiitischer Volksfrömmigkeit“81, welche von den Sunniten als religiöse Übertreibungen gesehen werden.82

Die Sunniten halten auch Mohammeds Beziehung zu Gott für einzigartig und sehen die Aufgabe seiner Nachfolger darin, Mohammeds Erbe in Form von Offenbarungen und Verhaltensnormen zu bewahren.83 74

Vgl. Jörg Armbruster (2013):Brennpunkt Nahost, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn. S. 186 75Vgl. ebd. S. 185 76 Vgl. Buchta, W. (2015):Terror vor Europas Toren, Campus Verlag, Frankfurt am Main, S. 53 77Ebd. 78 Ebd. S. 53 79 Vgl. ebd. S. 54 80 Vgl. ebd. 81 Ebd. S. 54 82 Vgl. ebd. 83 Ebd. S. 55

12

Die Schiiten halten dagegen „die überlieferten Aussprüche […] der zwölf Imame de facto gleichwertig neben den Aussprüchen des Propheten Mohammed“84. Verglichen mit der nüchternen sunnitischen Herrschaftsdoktrin ist die schiitische Imam-Doktrin esoterisch und schwärmerisch.85 Die Vermutung liegt nun nahe, dass es zu Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten (Alawiten) kommt und die Menschen diesen Spannungen bzw. den evtl. daraus entstehenden Kämpfen entkommen wollen und dies eine mögliche Fluchtursache ist. Vor allem wenn man auch noch 2.1 beachtet. Zwar waren diese Spannungen Jahrzehnte lang keine Grund zur Flucht aber unter Umständen wurden sie in Verbindung mit dem Bürgerkrieg bedeutender.

2.3.2.2

Regierung

Baschar al-Assad und seine Regierung wollen ihre Macht erhalten. Auf ihrer Seite kämpft auch das Militär, das als einzige Kriegspartei eine Luftwaffe besitzt. Zur Armee gehören auch die verbliebenen Armee-Eliteeinheiten.86 Außerdem gibt es noch verschiedene Milizen, die eigentlich für ihre eigenen Interessen kämpfen, formal jedoch für die Regierung Assad. Sie sind für Assad inzwischen wichtiger als die reguläre Armee, da diese schon sehr viel kleiner als ursprünglich ist, weil viele Kämpfer gefallen oder desertiert sind.87 Als Fluchtreaktion auf die Gewalt durch das Regime könnten Menschen Syrien verlassen haben oder weil sie nicht mit der Regierung und deren Klammern an die Macht einverstanden sind.

2.3.2.3

Die politische Opposition

„Zur politischen Opposition Syriens gehören verschiedene Parteien und Bündnisse, die sich an den Wahlen beteiligen. Einige gab es schon vor dem Aufstand, andere sind im Zuge der Proteste entstanden und wurden dann als legale Parteien neu gegründet.“88 84

Buchta, W. (2015):Terror vor Europas Toren, Campus Verlag, Frankfurt am Main, S. 54 85Vgl. ebd. S. 55 86 Vgl. http://www.spiegel.de/politik/ausland/krieg-in-syrien-alle-wichtigen-fakten-erklaertendlich-verstaendlich-a-1057039.html#sponfakt=5 Stand: 07.06.16 87 Vgl. ebd. 88 Seite „Bürgerkrieg in Syrien“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 22. Februar 2016,

13

Ein Teil der syrischen Opposition befindet sich im Exil. Diese Opposition hat nur eine gemeinsame Aussage, nämlich „keine Lösung mit Assad“, ansonsten ist die sich selbst uneinig89 und hat auch durch ihr Exilleben den Kontakt zur Bevölkerung verloren. Und wenn jemand von ihnen zu Verhandlungen mit Assad bereit ist, „wird seine Loyalität in Frage gestellt.“90 Außerdem besteht die Opposition auch noch aus der Gruppe, die sich „Freie syrische Armee“ nennt und die aus Zivilisten und desertierten Soldaten der regulären Armee besteht.

Sie setzte die Regierungstruppen militärisch stark unter Druck.91 Nicht-islamische Milizen wie diese bekamen aber im Kampf nur wenig Unterstützung von außen, sodass sich einige der Kämpfer umorientiert haben und nun professionelle islamische Kämpfer sind, da sie so an internationale islamisch motivierte Geldgeber kommen. Andere Kämpfer kehrten zu ihren ursprünglichen Berufen zurück.92 Es besteht die Möglichkeit, dass es Syrer gab und gibt, die ihr Land verlassen haben, um nicht oder nicht mehr der Gewalt durch die Rebellen ausgeliefert zu sein oder – wenn sie auf der Seite der Regierung sind – befürchten, dass sie die Regierung stürzen und ihre eigenen Ziele durchsetzen könnten

2.3.2.4

Der IS (=Islamischer Staat)

Man könnte eigentlich denken, es müsse möglich sein, herauszufinden, wie viel der Islam mit dem Islamismus zu tun hat, also denen, die den Islam als Rechtfertigung sehen, ihre Vorstellungen nötigenfalls auch mit Gewalt durchzusetzen.93 Doch das ist es nicht, da sich beide Seiten vorwerfen, den Koran falsch zu interpretieren oder ihre Belege aus dem Zusammenhang gerissen zu haben.94

10:25 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=B%C3%BCrgerkrieg_in_Syrien&oldid=151780900 (Abgerufen: 25. Februar 2016, 19:50 UTC) 89 Vgl. Armbruster, J. (2013): Brennpunkt Nahost, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 183 90Ebd. 91 Vgl. http://www.welt.de/themen/syrien-konflikt/ Benutzung: 25.02.2016 92 http://www.spiegel.de/politik/ausland/krieg-in-syrien-alle-wichtigen-fakten-erklaert-endlich-verstaendlicha-1057039.html#sponfakt=5 Stand: 07.06.16 93 Vgl. Reuter, C. (2015): Die schwarze Macht, Deutsche Verlags-Anstalt, München, S. 197 94Vgl. ebd.

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Und der Koran lässt auch viel Interpretationsspielraum zu: Z. B. ob Selbstmordattentate erlaubt sind oder nicht. Im Koran steht nämlich das Wort „anfusakum“, was sowohl mit „euch selbst“ als auch mit „euresgleichen“ übersetzt werden kann. Übersetzt man nun den ganzen

Satz kann man zu zwei völlig unterschiedlichen Auffassungen gelangen: „Tötet nicht euch selbst“ oder „Tötet nicht euresgleichen“.95 Gerade diese Selbstmordanschläge machen den Islamischen Staat aber so gefährlich, weil die Attentäter durch nichts mehr bedroht werden können.96 „Wer nicht überleben will, ist auch nicht zu bedrohen.“97 Was aber den IS jetzt so anders macht als z. B. Al-Quaida, ist die Tatsache, dass er nicht mehr glaubt und hofft, sondern alles bis ins Detail plant.98 „Dabei wird so wenig wie möglich dem

Zufall – oder der Glaubenshoffnung – überlassen.“99 Der IS versucht z. B. mit Filmen, in denen übertriebene Grausamkeiten gezeigt werden, die Menschen dazu zu bringen, sich vor ihm zu fürchten, so dass sie bestenfalls bei einem Angriff des IS freiwillig aufgeben und er selbst es leichter hat. Eine ähnliche Strategie hat auch schon Mohammed selber angewandt; auch bei ihm haben die Menschen irgendwann angefangen, sich zu ergeben.100 Das Vorgehen des IS am Beispiel der Eroberung von Mossul 2014 (trat damit schlagartig ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit101): Der IS baute gleich nach der Eroberung ein islamisches Terrorregime nach den Regeln der Scharia auf. So wurden z. B. die bisherigen Gerichte abgeschafft und durch Scharia-Gerichte ersetzt,102 „in denen vom IS vorher ausgewählte

Religionsgelehrte Rechtsstreitigkeiten aller Art schlichteten, Strafurteile bei Verbrechen verhängten und dabei alles aus ihren eigenen schlichten Gesetzen herleiteten.“103 Auch wurden Kontrollpunkte errichtet, damit keine Polizisten oder Soldaten die Stadt verließen. Zeigten die an diesen Kontrollpunkten Ergriffenen keine Reue, wurden sie104 „enthauptet oder gekreuzigt.“105 Es wurde auch das Beutegesetz eingeführt, „nach dem im Kriegsfall der gesamte Besitz von Personen, die nach den extremen Maßstäben des IS als Ungläubige gelten, an die Eroberer

95

Vgl. Vgl. Reuter, C. (2015): Die schwarze Macht, Deutsche Verlags-Anstalt, München, S. 202 96Vgl. ebd. S. 203 97 Ebd. S. 203 98 Vgl. ebd. S. 204 99 Ebd. S. 204 100 Vgl. ebd. S. 200 101 Vgl. Buchta, W. (2015):Terror vor Europas Toren, Campus Verlag, Frankfurt am Main, S.289 102 Vgl. ebd. S. 24 103 Ebd. 104 Vgl. ebd. 105 Ebd.

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fällt.“106 Für sunnitische Gläubige, die von der neuen Ordnung abwichen, gab es spezielle „Reuebüros“107, die die vermeintlichen Sünden gegen Bezahlung von viel Geld vergaben. (Seit 2013 wichtige Finanzquelle des IS)108 „Am 18. Juli wurden die christlichen Einwohner Mossuls über an den Moscheen befestigten Lautsprecher aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Im Falle der Weigerung drohe ihnen `das Schwert´.“109 Zudem wurde festgelegt, dass christliche Häuser, sowohl von der chaldäischen Richtung als auch syrisch-katholische Christen, dem IS gehören sollten. Und auch die Yeziden wurden verfolgt.110 Auch wurden viele Fakultäten der Universität in Mossul abgeschafft, da sie nicht mit der Scharia vereinbar waren. Darunter waren z. B. Jura, Archäologie, Philosophie und Demokratie.111 Auch der übliche Begriff „Irakische Republik“ musste nun überall durch „Islamischer Staat“ ersetzt werden.112 Es wurden schon mehrere Fälle von Hinrichtungen wegen Zuwiderhandlung der neuen Gesetze bekannt.113 Mossul ist nun zwar nicht in Syrien sondern im Norden des Irak,114 aber das Vorgehen in Mossul steht in diesem Fall stellvertretend auch für Syrien, wo nämlich vorher, im März 2013, die Stadt Raqqa auf ähnliche Weise erobert wurde.115 Den Angriff auf Raqqa nutzte der IS als Sprungbrett für die Eroberung Mossuls. In der vergleichsweise kleinen Stadt kam er zu militärischer Macht, um sich dann an Mossul heranzuwagen.116 Der IS verhielt sich ganz ähnlich; auch hier gilt seit der Eroberung die Scharia, was „Körperstrafen wie öffentliche Auspeitschungen, Kreuzigungen und Enthauptungen ebenso wie willkürliche Hinrichtungen und die brutale Verfolgung sunnitischer Andersdenkender und vermeintlicher Ungläubiger und Apostaten,117 worunter der IS vor allem Schiiten fasst“118

106

Buchta, W. (2015):Terror vor Europas Toren, Campus Verlag, Frankfurt am Main, S. 25 107Ebd. S. 26 108 Vgl. ebd. S. 26 109 Ebd. S. 27 110 Vgl. ebd. 111 Vgl. Ebd. 112 Vgl. ebd. 113 Vgl. ebd. 114 Vgl. Seite „Mossul“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 14. Februar 2016, 12:35 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Mossul&oldid=151482200 (Abgerufen: 25. Februar 2016, 16:25 UTC) 115 Vgl. Buchta, W. (2015):Terror vor Europas Toren, Campus Verlag, Frankfurt am Main S. 26 116Vgl. Reuter, C. (2015): Die schwarze Macht, Deutsche Verlags-Anstalt, München, S. 7 117 Mit Apostaten sind Abtrünnige gemeint, die sich vom Glauben losgesagt haben; Vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/Apostat; Stand 07.06.16 118 Buchta, W. (2015):Terror vor Europas Toren, Campus Verlag, Frankfurt am Main, S. 26

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umfasst.119 Fußballspielen, Dominospielen, Tanzen, Musikhören in der Öffentlichkeit, Musizieren und Alkoholkonsum und -verkauf sind seither verboten. Auch das Aufführen von Zaubertricks und Zirkusakrobatik ist verboten, da es die Gläubigen vom Gebet abhält. Frauen sind zum Tragen von Kopftuch und Körperschleier verpflichtet.120 Der US-Auslandsgeheimdienst CIA ging 2014 davon aus, dass die Zahl der IS Kämpfer zwischen 20.000 und 32.000 liegt, wovon knapp die Hälfte Iraker oder Syrer sind. Die andere Hälfte stammt wohl aus über 80 Ländern, größtenteils aber aus Tunesien, Saudi-Arabien und Jordanien. Auch aus Europa kommen sie, vor allem aus Frankreich, Deutschland und dem Vereinigten Königreich.121 Die unterdrückenden Handlungen legen nahe, dass sich Menschen aus den vom IS besetzten Gebieten dem IS entziehen wollen, indem sie das Land verlassen. Die Tatsache, dass der Syrienkonflikt durch seine vielen Konfliktparteien (es ließen sich auch noch mehr davon aufzählen, auch ausländische) sehr unübersichtlich geworden ist und dadurch auch kein Ende in Sicht ist, ist ein vorstellbarer Grund, Syrien zu verlassen. Auch wenn man bedenkt, dass man, wenn so viele Konfliktparteien vorhanden sind, praktisch überall Gegner haben muss, weil die Vertretung der eigenen Meinung, sofern man eine hat, immer nur einen Bruchteil unter vielen Meinungen darstellt.

2.4

Exkurs: Nachbarstaaten

„Der syrische Bürgerkrieg strahlt gefährlich auf die Nachbarstaaten ab. Der Flächenbrand hat schon begonnen, wenn auch nur auf kleiner Flamme.“122 In diesem Kapitel möchte ich die Auswirkungen des syrischen Bürgerkriegs im Ausland bzw. den Einfluss, den das Ausland auf die Flüchtlingszahlen hat, besonders die, die sich auf Deutschland auswirken, darstellen. Dabei geht es aber nicht ausschließlich um die direkt angrenzenden Staaten, sondern auch andere „In der Nachbarschaft“, die sich als Beispiel hierfür eignen.

119

Vgl. Buchta, W. (2015):Terror vor Europas Toren, Campus Verlag, Frankfurt am Main, S.26 120Vgl. ebd. 121 Vgl. http://www.spiegel.de/politik/ausland/is-islamischer-staat-zehntausende-auslaendischekaempfer-machen-mit-a-1001193.html; Stand: 21.04.16 122 Armbruster, J. (2013): Brennpunkt Nahost, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 162

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123

2.4.1 Irak Die irakische Regierung um den Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki124 beteiligt sich am syrischen Bürgerkrieg, da sie sich nicht neutral verhält, sondern Assad unterstützt:125 Beide sind Schiiten und beide haben ein Interesse daran, ihre Macht zu erhalten.126 Die irakische sunnitische Minderheit unterstützt im Bürgerkrieg die sunnitischen Aufständischen in Syrien.127

123

Karte: http://www.bpb.de/cache/images/0/126300-st-original.jpg?B902E; Stand: 15. 06. 16 124Vgl. ebd. S. 160 125 Vgl. Armbruster, J. (2013): Brennpunkt Nahost, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 161 126Vgl. ebd. S.161 127 Vgl. ebd.

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Auch kommen immer mehr irakische Djihadisten nach Syrien.128 „Kehren sie in ihre Heimat zurück, dann sind sie so etwas wie die kampferprobte Speerspitze der sunnitischen Extremisten gegen die schiitische Bevölkerung.“129 2.4.2 Jordanien Jordanien hat über eine halbe Million syrischer Flüchtlinge aufgenommen, obwohl es kaum genügend Wasser für die eigene Bevölkerung gibt.130 „Zehn Prozent der in Jordanien lebenden Menschen sind inzwischen Flüchtlinge aus Syrien.“131 Sie leben teilweise in Flüchtlingslagern und teilweise verteilt auf die großen Städte. Sie hausen dort unter ärmlichen Verhältnissen und Kriminalität, Gewalt und Prostitution nehmen zu.132 „Die Spannungen mit der einheimischen Bevölkerung wachsen.“133 Die Jordanier müssen z. B. viel Geld für Wasser bezahlen während die Flüchtlinge es umsonst von ausländischen Hilfsorganisationen zur Verfügung gestellt bekommen. Für solche ungleichen Behandlungen sinkt das Verständnis der Jordanier, zumal sich viele Flüchtlinge auch noch zu Dumpinglöhnen auf dem jordanischen Arbeitsmarkt anbieten.134 Auch die Flüchtlinge selber sind in einer misslichen Lage. Sie haben in den Lagern schlechte Lebensverhältnisse, die UN hat ihre Hilfen nach Jordanien inzwischen auch gestoppt bzw. gekürzt und legal arbeiten dürfen die Flüchtlinge dort auch nicht. Viele sehen den einzigen Weg, dieser Situation zu entkommen, nochmal zu flüchten, größtenteils nach Deutschland.135

2.4.3 Saudi Arabien

Saudi-Arabien ist zwar kein direkter Nachbarstaat, aber für den Verlauf des Kriegs in Syrien maßgeblich verantwortlich dafür, wie schlimm der Krieg ist und wie lange er andauert, da es sich inzwischen längst um einen Stellvertreterkrieg handelt. Saudi-Arabien ist hier auf der Seite der Rebellen und hat schon viel Geld in den Sturz Assads investiert.136 „Katar und Saudi 128

Vgl. Armbruster, J. (2013): Brennpunkt Nahost, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn S. 161162 129Ebd. S. 162 130 Vgl. ebd. S. 164 131 Ebd. S. 165 132 Vgl. ebd. S. 164 133 Ebd. S. 164 134 Vgl. ebd. S. 164 135 Vgl. http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/fluechtlinge-in-jordanien-flucht-ohnewiederkehr-13881544.html Benutzung: 25.02.2016 136 Vgl. http://www.welt.de/politik/ausland/article152237285/Syrien-verkommt-zur-Spielwiese-auslaendischer-

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Arabien investieren in die sunnitischen Unterstützer.“137 Auch der Iran mischt sich in diesen Stellvertreterkrieg ein, allerdings auf der Seite der syrischen Regierung.138

2.4.4 Libanon

Laut Jörg Armbruster hält die Angst vor einem Bürgerkrieg den Libanon mehr zusammen als die staatlichen Institutionen. Auch hier gibt es Schiiten und Sunniten, zwischen denen sich immer größere Spannungen aufbauen.139 Die schiitische Partei „Hisbollah hat sich offen auf die Seite Baschar al-Assads geschlagen, die sunnitischen Parteien und Bewegungen im Libanon helfen den Aufständischen in Syrien.“140 Man kann sagen, dass der syrische Bürgerkrieg im Libanon spätestens seit zwei großen Anschlägen angekommen ist. Erst hatte sich ein sunnitischer Selbstmordattentäter in der Hisbollah-Hochburg Beiruts in die Luft gesprengt, wobei über 20 Menschen starben und über 300 verletzt worden sind,141 und dann explodierten am 23. August 2013 zwei Autobomben vor zwei Moscheen in Tripoli,142 wobei über vierzig Sunniten starben und mehrere hundert verletzt wurden. Das war vermutlich ein Racheakt für den Selbstmordanschlag.143 Die teilweise weniger zufriedenstellende Situation für Flüchtlinge in den Nachbarländern ist zwar an sich keine Fluchtursache; Da sich diese Arbeit aber auch damit beschäftigt, warum Menschen ausgerechnet nach Deutschland kommen, ist dieses Kapitel sehr wohl trotzdem relevant. Es ist vorstellbar, dass es den Menschen in diesen Ländern „nicht gefällt“ und sie deswegen z. B. nach Deutschland weiterziehen. Auf der anderen Seite könnten Länder wie Saudi-Arabien aber auch zur Fluchtursache Krieg beitragen, da dieser durch die Unterstützerländer verstärkt und auf unbestimmte Zeit verlängert wird. Ohne ein Ende in Sichtweite entschließen sich vermutlich mehr Syrer zur Flucht.

Maechte.html; Stand. 21.04.2016 Armbruster, J. (2013): Brennpunkt Nahost, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 162 138 Vgl. http://www.welt.de/politik/ausland/article152237285/Syrien-verkommt-zur-Spielwieseauslaendischer-Maechte.html; Stand. 21.04.2016 139 Vgl. ebd. S. 162 140 Ebd. 141 Vgl. ebd. S. 164 142 Vgl. ebd. S. 163 143 Vgl. ebd. S. 164 137

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2.5

Migrations- und Fluchtwege

Auch die meisten gut genutzten Flüchtlingsrouten führen über weitere Staaten. Westliche Route: Sie führt von Marokko über das Mittelmeer auf das spanische Festland. Diese Route wird hauptsächlich von Flüchtlingen aus Kamerun, Algerien und Mali genutzt.144

Zentrale Mittelmeerroute: Sie führt von Tunesien oder Libyen aus nach Italien, vor allem nach Lampedusa. Genutzt wird sie hauptsächlich von Eritreern, Somaliern und auch von Syrern.145 Westafrikanische Route: Sie wird vor allem von Flüchtlingen aus Westafrika genutzt und führt146 „auf die Kanaren, um von dort aus auf das spanische Festland zu gelangen.“147 Östliche Route: Sie geht über die Türkei nach Griechenland und wird besonders von Afghanen, Somaliern und Syrern genutzt.148 Auf dieser Route geht es für viele Flüchtlinge weiter zur mazedonischen Grenze, meistens per Bahn oder Bus. Von Mazedonien aus führt der Weg auf der sogenannten Balkanroute über Serbien, Kroatien oder Bosnien-Herzegowina nach Slowenien und von dort über Österreich nach Deutschland149

Wenn man sich überlegt, wie lang und gefährlich so ein Fluchtweg ist, ist es eher verwunderlich, dass überhaupt Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Es veranschaulicht, wie sehr all die anderen Gründe ins Gewicht schlagen müssen, um den Nachteil der Flucht selber auszugleichen. Zudem legt es die Vermutung nahe, dass hauptsächlich Männer den Fluchtweg antreten, da die körperlichen Strapazen für Frauen und Kinder noch beschwerlicher sind.

3

Psychologie: Entscheidungsfindung

3.1

Arten von Entscheidungen

Es gibt verschiedene Arten von Entscheidungen, die man anhand verschiedener Kriterien und Modelle differenzieren kann, sodass Entscheidungen bestimmten Kategorien zugeordnet werden können. Im Folgenden werden ein paar Beispiele, Entscheidungsarten voneinander zu 144

Vgl. http://www.planet-wissen.de/geschichte/menschenrechte/fluechtlinge/festung-europafluchtwege-100.html; Stand: 14.06.16 145 Vgl. ebd. 146 Vgl. http://www.planet-wissen.de/geschichte/menschenrechte/fluechtlinge/festung-europafluchtwege-100.html; Stand: 14.06.16 147 Ebd. 148 Vgl. ebd.; https://www.youtube.com/watch?v=PSxV2TBnSRk; Stand: 14. 06. 16 149 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=PSxV2TBnSRk; Stand: 14.06.16

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Unterscheiden, vorgestellt.

3.1.1 Intuitive und rationale Entscheidungen „Nur ein winzig kleiner Teil unserer Hirnaktivitäten läuft bewusst ab.“150 Sekündlich wirken bis zu 12 000 000 Sinnesreize auf einen Menschen ein, wovon aber höchstens 40 ins Bewusstsein gelangen und dann je nach Relevanz auf drei bis sieben ausgefiltert werden. Der Rest bleibt dann im Unbewussten und das, was aus diesen unterbewusst gespeicherten Informationen wieder resultiert, ist uns als Intuition bekannt,151 also schnelles Erkennen von Mustern, das auch völlig unbewusst geschehen kann und auf der Grundlage neuronaler Vernetzungen von verschiedenen Gehirnbereichen geschieht.152 Intuition setzt grundsätzlich Erfahrungen, bewusste Reflexion, Lernfähigkeit, Neugierde und Fähigkeiten zum Erkennen, Verstehen und auch Interpretieren von Emotionen voraus,153 entsteht also aus dem unbewussten Vernetzen von Emotionen, Erfahrungen und Wissen.154

„Man hat also ein Gefühl, das weniger rationalen Erkenntnissen folgt, sondern eher psychologischen Wahrnehmungen“155 Ein Beispiel für Intuition ist ausgerechnet Schach, das ja als156 „Krönung kognitiver Leistung gilt, sich aber nach Gari Kasparov vor allem durch Intuition erfolgreich spielen lässt.“157 Rein rational wäre gutes Schachspielen praktisch unmöglich, da nach spätestens drei Eröffnungszügen über 9 000 000 Positionen theoretisch möglich wären.158 Intuition trägt zusammenfassend gesagt also vor allem dann zur Entscheidungsfindung bei, wenn genügend Sinneseindrücke, bewusste und unbewusste, vorhanden sind.159 Im Laufe der Evolution haben sich verschiedene intuitive Handlungsweisen, sogenannte Heuristiken, entwickelt.160 Wiedererkennungsheuristik: Wir entscheiden uns, wenn wir die Wahl zwischen einem bekannten und einem unbekannten Objekt haben, für das bekannte.161 150

Braun, W. (2010): Die (Psycho-) Logik des Entscheidens, Huber Verlag, Bern, S.120

151

Vgl. ebd. S. 120 152 Vgl. ebd. S. 121 153 Vgl. ebd. S. 121 154 Vgl. ebd. S 121 155 Ebd. S. 121 156 Vgl. ebd. 157 Ebd. S. 120 und 121 158 Vgl. ebd. S. 121 159 Vgl. ebd. S.122 160 Vgl. ebd. S. 124 161 Vgl. Braun, W. (2010): Die (Psycho-) Logik des Entscheidens, Huber Verlag, Bern S. 125; Roth, G. (2007): Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, S. 120

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Weniger-ist-mehr-Regel: Bis etwa sieben Kriterien vergleichen wir Eigenschaften und Merkmale eines Produktes. Gehen die Alternativen darüber hinaus, sind wir verwirrt und tendieren dazu, die Entscheidung zu verweigern.162 Take-the-best-Heuristik: „Die Entscheidung fällt, wenn ein erster guter Grund für die Entscheidung gefunden wurde.“163 Satisficing-Heuristik: Sobald eine Lösung auftaucht, die gut genug erscheint, wird eine Entscheidung getroffen.164 Mehrheitsheuristik: Wir tun tendenziell das, was die Mehrheit in unserer Bezugsgruppe tut.165 Folge-dem-ersten-Impuls-Heuristik: Wir folgen bei einer Entscheidung, die Schnelligkeit erfordert, dem ersten Impuls.166 Übertragen auf die Flucht aus Syrien würde das alles bedeuten, dass der Flüchtling die Entscheidung zur Flucht im Nachhinein nicht mehr erklären kann, also keine Argumente nennen kann, warum er genau dann sein Land verlassen hat (oder auch, warum er es davor nicht getan hat) und warum. Eventuell lassen sich aber Parallelen zu einer der EntscheidungsHeuristiken ziehen.

Auf der anderen Seite gibt es noch die rationalen Entscheidungsregeln. Sie wurden von Forschern aufgestellt bzw. formuliert und es wird „die Maximierung des Nutzens in den Mittelpunkt“167 gestellt, weil davon ausgegangen wird, dass der Mensch seinen eigenen Nutzen in den Vordergrund stellt. Seine (rationale) Entscheidung ist demnach zu seinem eigenen Vorteil und er kann sie begründen.168 Es gibt nun verschiedene Modelle, nach denen rationale Entscheidungen getroffen werden. Diese sind: „Das sogenannte Fishbein-Modell, nach dem man die Alternative wählt, die die meisten Wünsche bzw. Kriterien einer Entscheidungsalternative erfüllt.“169 Beim Ideal-Abstandsmodell wählt der Entscheider die Lösung die seiner Idealvorstellung, die er schon hat, am nächsten kommt.170 162

Vgl. .; Roth, G. (2007): Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, S. 120

163 Braun, W. (2010): Die (Psycho-) Logik des Entscheidens, Huber Verlag, Bern, S. 126 164

Vgl. ebd. S. 127 Vgl. ebd. 127 166 Vgl. 127 165

167 Ebd. S. 133 168 Vgl. ebd. S. 133 169 170

Ebd. S. 133 Vgl. ebd.

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Beim konjunktiven Modell müssen verschiedene Merkmale gleichzeitig vorliegen, damit sich der Entscheider für die jeweilige Entscheidungsoption entscheidet.171 Im Gegensatz dazu muss bei der Entweder-Oder-Strategie nur eins von zwei Merkmalen oder Ausprägungen vorhanden sein.172 Beim lexikographischen Modell werden die Bewertungskriterien erst nach ihrer Wichtigkeit sortiert und dann die Entscheidungsoptionen miteinander verglichen. Wenn mehrere Optionen das wichtigste Entscheidungsmerkmal besitzen, wird nach dem zweitwichtigsten Kriterium entschieden usw.173 Eine rationale Entscheidung zur Flucht würde man also dann treffen, wenn man (im Kopf oder auch in Wirklichkeit) eine Art Pro/Kontra-Liste erstellt und die Vor- und Nachteile einer Flucht gegeneinander abwägt. Je nach den dabei verwendeten Kriterien bzw. wie viele davon in die Entscheidung einfließen, lässt sich die getroffene Entscheidung dann einem der wissenschaftlichen Modelle zuordnen.

3.1.2 Einstufige und mehrstufige Entscheidungen

Entweder wird in einem einzigen Schritt entschieden und eine Entscheidung getroffen, die dann abgeschlossen ist, oder eine Entscheidung läuft mehrstufig ab, d.h. das Ergebnis eines Schrittes ist ausschlaggebend für den nächsten Schritt.174 Im Fall der Flucht würde das bedeuten, dass man sich entweder nur die Frage stellt, ob man geht oder nicht geht und dann sozusagen „von jetzt auf gleich“ ohne weitere Überlegungen entscheidet oder aber man entscheidet schrittweise. Das hieße dann, dass man sich z. B. erst die Frage stellt, ob man gerade ein schönes Leben in seiner Heimat hat. Erst wenn man diese Frage für sich selbst mit „nein“ beantwortet hat, kann man über die nächste Frage nachdenken, die dann z. B. sein könnte, ob für einen selbst die Flucht infrage kommt.

3.1.3 Motive für die Entscheidungsfindung Grundsätzlich wird zwischen biogenen Motiven, also solchen, die „zu unserer biologischen

171

Vgl. Braun, W. (2010): Die (Psycho-) Logik des Entscheidens, Huber Verlag, Bern, S. 133 172Vgl. ebd. S. 134 173 Vgl. ebd. 174 Vgl. Jungermann, H., Pfister, H.-R., Fischer, K. (2005):Psychologie der Entscheidung, Elsevier Verlag, Neu-Ulm, S. 117

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Ausrüstung gehören, wie das Stillen von Bedürfnissen in Form von Hunger, Durst und Sexualität“175 und soziogenen Motiven unterschieden, die hauptsächlich „Anschluss bzw. Intimität, Macht und Leistung“176 sind.177 „Allerdings ist diese Unterscheidung nicht besonders strikt, denn alle soziogenen Motive müssen, um wirksam zu sein, letztendlich mit biogenen Motiven verbunden sein.“178 Bei der Flucht liegt die Vermutung nahe, dass die biogenen Motive die für die Fluchtentscheidung ausschlaggebenden sind, denn der Flüchtling möchte sein Leben retten und verlässt dafür sein persönliches Umfeld. Der Wunsch nach Anschluss, also die soziogenen Faktoren, wären hierbei also eher ein Grund, im Heimatland zu bleiben und nicht zu fliehen.

3.1.4 Art und Umfang des kognitiven Aufwands

Der kognitive Aufwand richtet sich größtenteils danach, wie präsent die für die Entscheidung wichtigen Informationen im eigenen Kopf sind.179 Ebene 1- Routiniesierte Entscheidungen (kleinster kognitiver Aufwand): Die Handlungsoptionen sind immer gleich, weswegen man „routinemäßig oder automatisch“180 daraus wählen kann. Sie werden von uns oft gar nicht als bewusste Entscheidungen wahrgenommen. Es wird lediglich die gegebene Situation mit im Gedächtnis bereits vorhandenen vergleichbaren Situationen abgeglichen.181 „Bei hinreichend hoher Ähnlichkeit wird das gespeicherte Entscheidungsschema aktiviert und die gewohnte Wahl getroffen.“182

Ist die Ähnlichkeit nicht hoch genug, dann wird auf die nächsthöhere Ebene gewechselt.183 Ein Beispiel für diese Ebene der Entscheidungsfindung wäre der morgendliche Weg zur Arbeit mit dem Auto. Man muss hier nicht bewusst an jeder Kreuzung die Entscheidung treffen, wohin man fährt.184

175

Roth, G. (2007): Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, S. 249 176Ebd. S. 249 177 Vgl. ebd. S. 249 178 Ebd. S. 249 179 Vgl. Jungermann, H., Pfister, H.-R., Fischer, K. (2005):Psychologie der Entscheidung, Elsevier Verlag, Neu-Ulm, S. 31 180 Ebd. S. 31 181 Vgl. ebd. 182 Ebd. 183 Vgl. ebd. S. 32 184 Vgl. ebd.

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Ebene 2 – Stereotype Entscheidungen: Auslöser für eine solche Entscheidungsfrage ist nicht die Gesamtsituation, sondern „die Art der möglichen Entscheidungsoptionen“185. Außerdem findet hier im Gegensatz zu Entscheidungen der ersten Ebene schon ein minimaler Bewertungsprozess statt.186 Die Bewertungen finden hauptsächlich „stereotyp, d.h. nach erlernten Bewertungsschemata“187 statt. Sie betreffen bestimmte Entscheidungsbereiche, d. h. die Wahlmöglichkeiten stammen aus genau definierten Bereichen, obwohl die Situation ganz verschieden sein kann, z.B. wählt man in irgendeinem Restaurant (es könnte jedes sein, deshalb kann die Situation ganz verschieden sein) aus verschiedenen Menüs (genau definierte Wahlmöglichkeiten) aus. Diese Art von Entscheidungen ist von Erfahrungen und/oder Gefühlen bestimmt und nicht von einem bewussten Analysieren und Abwägen der Situation.188 Ebene 3 – Reflektierte Entscheidungen: In dieser Ebene sind keine stereotyp abrufbaren Informationen im Gedächtnis des Entscheiders vorhanden. Er muss also in seinem Gedächtnis und wenn nötig auch in der Umgebung nach Informationen suchen und sich aufgrund dieser über seine Neigungen bewusst werden. Die Entscheidung wird jetzt also reflektiert, was aber nicht zwingend dazu führen muss, dass der Entscheider auch tatsächlich eine Wahl trifft. Außerdem bedeutet die Tatsache, dass es eine reflektierte Entscheidung ist, nicht, dass die Entscheidung nichts mit Emotionen zu tun hat.189 Ebene 4 – Konstruktive Entscheidungen: Hier „sind die Optionen entweder nicht vorgegeben oder nicht hinreichend genau definiert.“190 Außerdem sind die für diese Entscheidung wichtigen persönlichen Werte für den Entscheider (noch) unklar.

Bei der Fluchtentscheidung lässt sich wohl ausschließen, dass auf einer der ersten beiden Ebenen entschieden wird, da der mögliche Flüchtling in seinem Leben wahrscheinlich noch nie eine solche Entscheidung treffen musste. Es ist also auf keinen Fall Routine vorhanden. Auch, dass sich die Entscheidung zur vierten Ebene zählen lässt, ist eher unwahrscheinlich da es zwei genau definierte Optionen, nämlich gehen oder bleiben, gibt und die Vermutung auch nahe liegt, dass die persönlichen Werte klar sind. Dagegen sind die gezielte Informationssuche

185

Vgl. Jungermann, H., Pfister, H.-R., Fischer, K. (2005):Psychologie der Entscheidung, Elsevier Verlag, Neu-Ulm, S. 33 186 Vgl. ebd. S. 33 187 Ebd. S. 33 188 Vgl. ebd. S. 33 189 190

Vgl. ebd. S.34 Ebd. S. 35

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und die dadurch resultierende Reflexion, von denen in Ebene 3 ausgegangen wird, durchaus gut vorstellbar.

All dies sind verschiedene Möglichkeiten, Entscheidungen in Kategorien zu unterteilen und je nach Entscheidungsart sind dann andere Gründe von Bedeutung. Es wäre in Bezug auf diese Arbeit also interessant herauszufinden, ob die Migrationsentscheidungen verschiedener Leute miteinander vergleichbar sind oder ob sie bei jedem Menschen auf eine andere Art und Weise getroffen wird, also ob hier die Individualität jedes Menschen relevanter ist oder ob alle Migranten einen vergleichbaren Weg zur Entscheidung gegangen sind, weil ja auch die Ziele der Entscheidungen vergleichbar sind. So kann man dann vielleicht auch eine Antwort auf die Frage finden, ob es eine gemeinsame Fluchtursachen gibt oder ob verschieden Fluchtursachen auf verschiedene Arten beurteilt wieder zu ein und demselben Ergebnis kommen, nämlich der Migration nach Deutschland.

3.2

Individueller Migrationsentscheidungsprozess

Es geht hier nicht um Flucht, sondern um den allgemeinen, mehr oder weniger freiwilligen Migrationsentscheidungsprozess, also ohne einen direkten Auslöser wie Kriege, Naturkatastrophen, oder Verfolgung (politischer oder religiöser Art). Dabei wird die Entscheidung zur eigenen Migration nicht spontan getroffen und dann auch durchgeführt, sondern geht auf einen längeren, genauer überlegten Prozess zurück. Der theoretisch erstellte psychologische Prozess ist in verschiedene Phasen eingeteilt, die nicht zwingend der Realität des Entscheidungsprozesses entsprechen müssen, aber trotzdem als grober Anhaltspunkt dienen können.191 Phase 1 („soziale Umstände“192): Sie „besteht in der subjektiven Wahrnehmung belastender gesellschaftlicher Umstände (z.B. politischer, wirtschaftlicher, religiös-kultureller, sozialinteraktiver) durch die potentiellen Migranten“193, die sie auch nicht beeinflussen können.194

Dieses Problem soll gelöst werden und es wird begonnen über mögliche Alternativen nachzudenken.195 Phase 2 („Motivbildung“196): Diese Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass der potentielle

191

Vgl. Jungermann, H., Pfister, H.-R., Fischer, K. (2005):Psychologie der Entscheidung, Elsevier Verlag, Neu-Ulm, S. 199 192 Ebd. S. 199 193 Ebd. (S. 199) 194 Vgl. ebd. (S. 199) 195 Vgl. ebd. S. 199-200 196 Ebd. S. 199

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Migrant anfängt, die Migration als realistische Lösung zur Verbesserung seiner Lebenssituation anzusehen. Dazu muss geklärt werden, ob die angestrebte Verbesserung auch subjektiv möglich scheint, „ob die persönliche Zielvorstellung […] so stabil ist, dass man sich darauf stützen kann“197 und ob es Handlungsmöglichkeiten gibt, um diese Ziele zu verwirklichen.198 Phase 3 („Informationssuche“199): Es muss nun über den Zielort der Migration entschieden werden. Hierbei muss davon ausgegangen werden, dass der mögliche Migrant bestimmte Vorstellungen von den zur Auswahl stehenden Zielorten im Kopf hat, die aber nicht zwingend mit der Wirklichkeit übereinstimmen müssen, sondern sich vielmehr auf Aussagen von Verwandten und Bekannten beziehen. Trotzdem sind die Verwandten und Bekannten i. d. R. die Hauptinformationsquelle für den Migrationswilligen. Er vergleicht also nun seine eigenen Wünsche mit den zu erwartenden Möglichkeiten am jeweiligen Zielort.200 Phase 4 („Risikobereitschaft“201): In dieser Phase entwickelt der mögliche Migrant mental die Bereitschaft alle eventuellen Risiken auf sich zu nehmen, um sein Ziel zu erreichen. Nicht alle Migranten haben diese Phase durchlaufen, z. B. Kinder die mit ihren Eltern gekommen sind.

Für diese Migranten ist die Integration am Zielort besonders schwierig, da diese Phase den späteren Verlauf einer solchen entscheidend beeinflusst.202 Phase 5 („Entscheidung“203): „In dieser Phase wird die bisher vorgestellte und gedanklich vorbereitete Migration zu einer in die Tat umzusetzenden Wirklichkeit.“204 Diese Entscheidung wird normalerweise in Absprache mit der Familie getroffen und mit ihr ist die Vorbereitungsphase zur Migration beendet und die eigentliche physische Migration kann beginnen.205 Insgesamt kann man auf jeden Fall von einem Prozess ausgehen und nicht von einer spontanen Entscheidung, da die einzelnen Schritte und ihre jeweiligen Aspekte nacheinander und nicht gleichzeitig stattfinden können und jeweils eine gewisse Zeit benötigen. 206 197

Jungermann, H., Pfister, H.-R., Fischer, K. (2005):Psychologie der Entscheidung, Elsevier Verlag, NeuUlm,. S. 200 198 Vgl. ebd. S. 200 199 Ebd. S. 199 200 Vgl. ebd. S. 202 201 Ebd. S. 199 202 Vgl. ebd. S. 203 203 Ebd. S. 199 204 Ebd. S. 203 205 Vgl. ebd. S. 203 206 Vgl. ebd. S. 200, 203

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Das Modell bezieht sich zwar auf Migration im Allgemeinen und nicht auf die Flucht; Trotzdem wäre es hier interessant zu überprüfen, ob das theoretische Modell mit dem tatsächlichen Entscheidungsprozess übereinstimmt.

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Interviews mit Betroffenen

4.1

Vorgehen bei den Interviews

Ich habe mir einige Fragen zusammengestellt, die ich in den einzelnen Interviews stellen wollte, wenn auch nicht zwingend in dieser Reihenfolge. Ich wollte eher lockere Gespräche führen und die Interviewpartner erzählen lassen und die Fragen eben stellen, um einen Anhaltspunkt zu geben, worum es geht. Es war mir aber wichtiger den Gesprächspartnern die Möglichkeit zu geben, das, was sie erzählen wollten, von sich aus zu erzählen, anstatt alle Fragen zu stellen. Ich habe die Fragen teilweise situationsbedingt angepasst oder auch einzelne ausgelassen und dann nach jedem Interview den Fragenkatalog wieder leicht verbessert. Wenn sich die Möglichkeit ergeben hat, mit Nicht-syischen Flüchtlingen zu sprechen, habe ich diese genutzt und werde sie hier trotzdem aufschreiben, da die Entscheidungsprozesse i. d. R. mit denen eines Syrers vergleichbar sind und genauso wichtige Ansätze für diese Arbeit liefern können. Die Fragen, die ich gestellt habe, waren in der Regel die Folgenden: Wie alt sind Sie? Wie lange sind Sie schon hier in Deutschland? Haben sie eine Familie? Wenn ja: Wo ist sie und warum ist sie dort? Zu welcher Religion gehören Sie und was bedeutet das konkret? Wie war ihre Lebenssituation in Syrien? Was halten Sie von der jetzigen Situation (oder der, bevor Sie gegangen sind) in Syrien? Wie haben Sie den arabischen Frühling und die syrische Revolution selber erlebt?

Was haben Sie selber vom Bürgerkrieg mitbekommen? Was halten Sie von der syrischen Regierung bzw. welches ist ihre politische Meinung (wenn Sie eine haben)? Haben Sie den IS selbst erlebt und inwiefern? Wissen Sie noch etwas über die Situation in den Nachbarländern? Warum sind Sie geflohen und gab es einen konkreten Auslöser? (Wenn ja: welchen?) Wie sind Sie geflohen (Zwischenstation Flüchtlingslager in Nachbarländern → Flucht nach 29

Deutschland)? Warum ausgerechnet Deutschland? (Falls möglich:) Wie wurde die Entscheidung zur Flucht getroffen? (Im Bezug darauf, ob es mit den Entscheidungsphasen vergleichbar ist)

4.2

Einzelne Interviews

In diesem Teil der Arbeit habe ich Interviews bzw. Gespräche mit in Sigmaringen und Umgebung lebenden Syrern geführt.

So z. B ein Gespräch mit zwei jungen Syrern (20 und 23 Jahre alt), die beide seit einem Jahr und zwei Monaten in Deutschland leben und seit neuerem zusammen mit zwei weiteren Syrern in einer Wohnung leben. Beide sind aus dem gleichen Grund gekommen. Sie wollten ihren Wehrdienst bei der syrischen Armee nicht ausführen. Sie erzählten auch von ihren beiden Mitbewohnern, die aus demselben Grund nach Deutschland gekommen seien. Die grundsätzliche Situation wurde nicht als so schlimm empfunden, dass sie als Grund für die Flucht ausreichend gewesen wäre. Die Lage werde aber immer schlechter, es sei z. B. zu massiver Inflation gekommen. Mein erster Interviewpartner, der aus Damaskus (siehe Karte S. 9) kommt, erzählte aber, dass er einmal während eines Protestes in der Nähe von Damaskus mit seinem Bruder vor einem Regierungspanzer weggerannt sei, der Zivilisten angegriffen hätte. Dabei seien innerhalb von drei Stunden 3500 Leute umgekommen. Er sagte, er könne uns zwar ein Video davon zeigen, aber wir würden damit gar nicht umgehen können. Das Haus seiner Familie sei kaputt. Er sagte auch, dass er Sunnit sei, dies aber in Syrien nicht relevant für sein Leben gewesen sei, sondern Schiiten und Sunniten in seiner Heimat lediglich zwei verschiedene, trotzdem gut miteinander lebende Religionsgruppen seien. Den Bürgerkrieg dagegen schätzte er als schlimm ein, vor allem von Seiten der Regierung, die eine besondere Angst vor der Verbreitung ihres Kriegshandelns habe und deswegen unbedingt verhindern wolle, dass jemand die Kämpfe filmt. Deswegen seien die Videos, die trotzdem auf youtube und ähnlichen Plattformen auftauchen unter Lebensgefahr gedreht worden. Regierungstruppen würden die Filmenden sogar töten bevor sie die Rebellen töteten, weil sie die Verbreitung der tatsächlichen Geschehnisse als noch schlimmer betrachte, und auch deren 30

Familienmitglieder. Die Situation mit dem IS sei schlimmer als in den Nachrichten dargestellt, erzählte der Interviewpartner. Er war aber davon überzeugt, dass die Regierung mit dem IS zusammenarbeite und die Regierung lüge, wenn sie sage, dass sie gegen den IS kämpfe, was sie außerdem als Rechtfertigung für ihre Kämpfe darstelle. Laut dem Interviewpartner leugne die Regierung, dass es Rebellen gebe und auch dass Zivilisten getötet worden seien. Der IS selbst kämpfe nicht gegen die Regierung, sondern kontrolliere lediglich die Erdölvorkommen, der Interviewpartner sei aber selbst nicht auf den IS getroffen, er verwies aber auf Raqqa. Die Millionen an Häusern, die in Syrien zerstört seien, seien nicht vom IS sondern aus Flugzeugen zerstört worden, deren Herkunft er aber nicht näher benannte. Er erzählte aber, dass man wegen der Grenzüberwachung durch den IS weder über die Türkei noch über den Irak das Land verlassen könne. Er selbst kam über den Libanon nach Deutschland, weil das von Damaskus aus geographisch gesehen einfach am naheliegendsten ist. Im Libanon selbst seien aber die Mieten und sonstigen Lebensverhältnisse aufgrund des enorm hohen Anteils an syrischen Flüchtlingen in der Bevölkerung sehr hoch gewesen und sein eigentliches Ziel war ja sowieso Deutschland. Als Begründung, warum er ausgerechnet nach Deutschland kommen wollte, nannte er die schon vor den Unruhenden bestehende Partnerschaft der Hochschule, an der er im Rechnungswesenbereich ausgebildet worden war zu Deutschland (wahrscheinlich meinte er, zu einer deutschen Hochschule) und die daraus resultierende Gewissheit, dass seine Bildungsabschlüsse in Deutschland anerkannt werden würden. Die Entscheidung, Syrien überhaupt zu verlassen, war zwar mit seiner Familie abgesprochen, er schien sie aber doch weitestgehend selbst getroffen zu haben, obwohl es ihm sehr schwer fiel, seine Heimat zu verlassen und er auch am liebsten wieder dorthin zurückkehren würde. Er wollte nicht zur Armee gehen, da er es für falsch hielt, gegen das eigene Volk vorzugehen. Ein weiterer Grund, aber anscheinend nicht der Hauptgrund, sei der, dass einer seiner Brüder schon während dessen Zeit bei der Armee gestorben sei. Dies sei aber offiziell wahrscheinlich bei der Armee nicht erfasst worden. Es gebe so viele verschwundene Soldaten, dass man nicht mehr erfassen könne, wer gestorben und wer desertiert sei. Die Leute von der Armee hielten also erst einmal alle für Deserteure. Wenn sie nun auf jemanden stoßen, der zur Familie eines (angeblichen) Deserteurs gehöre, so werde dieser praktisch in Sippenhaft genommen bis der (angebliche) Deserteur wieder auftaucht. Der Interviewpartner hätte also auch inhaftiert werden können, aber mit geringen Chancen, wieder freigelassen zu werden, weil der Bruder ja nicht zurückkommen könne, er sei ja tot. Die Wehrpflicht in Syrien bestehe eigentlich ab 18 Jahren, wenn man sich aber noch in der Ausbildung befinde, beginne der Wehrdienst aber 31

erst nach deren Abschluss. Der Interviewpartner verließ Syrien aber kurz bevor er seinen Abschluss erhielt, sodass er dem Wehrdienst entkommen konnte. Die Zeugnisse hätte sein Vater ihm aber später nachgeschickt.

Den Auslöser, nämlich dass der Interviewpartner zum Militärdienst musste, hat er ja schon selbst benannt. Der Interviewpartner schien sich Gedanken darum gemacht zu haben und hat abgewogen, zwischen dem Verbleiben in der Heimat und dem Aufrechterhalten seiner moralischen Werte (nicht gegen sein eigenes Volk zu kämpfen) und hat die Entscheidung wohl sehr rational getroffen. Aber auch das Sterben des Bruders in der Armee war wahrscheinlich ein Grund für diese Entscheidung. Es ist für mich vorstellbar, dass die grundsätzliche Situation, also die Tatsache, dass Krieg herrscht, der auch noch aus dem Ausland befeuert wird, aber auch die Erinnerung an die Proteste zwar nicht der direkte Auslöser waren, aber dennoch als Ursache gesehen werden können und der Interviewpartner deswegen schon die ersten Schritte der Entscheidung im Migrationsentscheidungsprozess gegangen sein könnten (siehe unter 3.2). Zur grundsätzlich schwierigen Situation gehören auch die Inflation, das verlorene Zuhause, Einschränkung in der Meinungsfreiheit (man darf nicht filmen) und die ständige Gefahr. Die Gefahr, die während eines Krieges herrscht, die Gefahr, die von terroristischen Vereinigungen ausgeht und der Gedanke daran, dass die Regierung sie (nicht nur) diesbezüglich anlügt, sowie die schlechten Zukunftsaussichten. Auch, dass die Entscheidung mit der Familie abgesprochen war, ist eine Parallele zu den in 3.2 angeführten mentalen Schritten Ansonsten lässt sich die Art der Entscheidung zu den mehrstufigen Entscheidungen mit großem kognitiven Aufwand zuordnen. Dass der IS selber eine Bedrohung darstellt, stimmt in diesem Fall nicht mit den aus der Literatur abgeleitete Fluchtmotiven überein.

Beim zweiten Interviewpartner, der aus Daraa (=Deraa, siehe Karte S. 9) kommt, seien im Zuge der Kämpfe innerhalb eines Tages sein Cousin und sein Onkel getötet worden. Auch er kam, um dem Wehrdienst zu entgehen, was aber bei ihm nicht seine eigene Entscheidung gewesen sei. Er wäre zur Armee gegangen, wenn seine Eltern ihn nicht weggeschickt hätten, weil sie es für das Beste hielten und es in Daraa zu gefährlich wurde. Es war ihm genauso schwer gefallen, seine Heimat zu verlassen, wie dem ersten Interviewpartner. Er sei nur drei Jahre zur Schule gegangen und habe danach als LKW-Mechaniker gearbeitet. 32

Über die allgemeine Lage in seiner Heimat sagte er, dass es zwar kein Internet gebe, man aber mithilfe gewisser Tricks Internet aus den Nachbarländern bekommen könne. 19 (also fast alle) seiner Freunde seinen gestorben und zwei seiner Onkel. Das Haus der Familie sei zerstört, aber sein Vater wolle das Land trotzdem nicht verlassen. Bei diesem Interviewpartner lassen sich mehrere Gründe finden, warum er sein Land verlassen hat. Zum einen, der Wehrdienst, den er sonst hätte antreten müssen, zum anderen aber auch die offensichtliche Lebensgefahr, von der man aufgrund der vielen Toten, die er zu beklagen hat, auch ausgehen kann. Das deckt sich mit den Aussagen im ersten Kapitel der Arbeit, laut denen die Situation in Daraa als Geburtsort der Proteste, besonders schlecht war. Dabei muss man aber beachten, dass der Interviewpartner die Fluchtentscheidung anscheinend nicht selber getroffen hat. Die oben genannten Gründe, werden aber dann wohl für seine Eltern der Grund gewesen sein, ihn wegzuschicken. Man kann das aber auch als besonders stark ausgeprägte Form der Absprache mit der Familie betrachten, von der beim individuellen Migrationsentscheidungsprozess (siehe 3.2) ausgegangen wird.

Es gab ein weiteres Interview. Dieses war mit drei Syrern, einer, dessen Namen ich im nachfolgenden Text durch die Nummer 3 ersetzt habe, war 19 Jahre alt, die anderen beiden 31 Jahre alt. Einer der beiden älteren, den ich im nachfolgenden Text 1 genannt habe, kommt aus Latakia, die anderen beiden aus Damaskus (beide Städte sind auf der Karte auf Seite 9). Alle drei sind Sunniten, haben aber die Frage, ob das Auswirkungen auf ihr Leben in Syrien hatte, nicht verstanden. 1 sagte, er habe in Syrien als Automechaniker gearbeitet. Er habe einen vierjährigen Sohn und eine zweieinhalbjährige Tochter, die gerade in der Türkei seien, er wisse aber nicht, wie es seiner Familie ginge, weil sie kein Internet und keinen Strom hätten und er so keinen Kontakt aufnehmen könne. Er habe sich aber bewusst dazu entschieden, die Familie nicht gleich mitzunehmen, weil der Weg zu schwer und zu gefährlich sei. Er denkt, sein Leben und das seiner Familie sei hier in Deutschland besser, weil es in Syrien keine Zukunft mehr gebe. Er habe die Fluchtentscheidung gemeinsam mit seiner Familie gefällt und dann 2011 Syrien verlassen, um dann in die Türkei zu gehen, da er eine Nachricht erhalten hätte, in welcher ihm mitgeteilt worden sei, dass er bald zum Militär müsse. Seine Fluchtroute führte mit verschiedenen Verkehrsmitteln über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich: zu Fuß, mit dem Auto, mit dem Zug. Hier in Deutschland würde er jetzt gerne eine Ausbildung im Metallbereich machen. 2 sagte, er habe als Schreiner gearbeitet. Er habe einen einjährigen Sohn, der noch in 33

Damaskus sei. Wie 1 habe auch er seine Familie bewusst nicht sofort mitgenommen, aber die Entscheidung zur Flucht mit ihr gemeinsam getroffen. Er habe Syrien 2015 verlassen, weil er Frieden suchte. Außerdem hatte er zu diesem Zeitpunkt gerade seine Arbeitsstelle verloren. Er sei dann über die Türkei und Italien nach Deutschland gekommen, wobei er den Weg von der Türkei nach Italien mit dem Schiff gefahren sei. Er sagte, er habe sich ausgerechnet für Deutschland entschieden, weil er von Freunden gehört habe, dass die Arbeitssituation ziemlich gut sei. 3 erzählte, er habe nach seinem Hauptschulabschluss in Syrien zwei Jahre lang in Dubai gelebt und sei dann nach Deutschland gekommen. Er sei aus Syrien gegangen, weil es dort „kein Leben mehr gibt“: Es gebe dort weder Licht, noch Handy, Fernsehen oder Schule. Er sei dann gegangen, als er noch 17 Jahre alt war, um dem Wehrdienst, den er mit 18 hätte antreten müssen, zu entgehen. Er sei dann aber von Dubai aus mit dem Flugzeug nach Paris und dann mit dem Zug nach Offenburg und dann nach Karlsruhe. Als Grund dafür nannte er die Empfehlungen von Freunden aus Syrien, die schon in Deutschland waren. Er habe auch Meinungen von syrischen Freunden, die nach Schweden gezogen sind, eingeholt und sich dann entschieden, dass Deutschland besser sei. Jetzt überlegt er aber, doch wieder zurück nach Dubai zu gehen. Die beiden anderen hätten auch zur Armee gemusst, so wie das jeder männliche Syrer im Alter von 18 bis 60 Jahren müsse. Alle drei sagten, der Krieg (und der damit verbundene Wehrdienst) sei der einzige Grund gewesen, aus dem sie ihr Land verlassen haben.

Die beiden aus Damaskus sagten, dass es in Damaskus keinen IS gibt und auch 1 meinte, in Latakia sei der IS nicht. Die drei verwiesen aber auf Raqqa, Hasaka, Deir ez-Zor (siehe Karte S. 9) und Quamischli (östlich und im äußersten Norden Syriens gelegen), woanders sei der IS aber nicht. Sie hätten aber auf jeden Fall auch Angst gehabt, dass der IS auch in ihre Stätde kommen könnte. Auf die Frage, ob dies auch eine Fluchtursache dargestellt hat, antworten alle mit „ja“. 3 sagte außerdem, dass alle Menschen Frieden wollen, aber das offizielle Militär und auch die Rebellen hätten Waffen, aber eigentlich wollen beide nur Frieden. Der IS und al-Nusra, eine weitere terroristische Vereinigung, seien dann gekommen und hätten den Krieg zu einem Religionskrieg erklärt und würden jetzt Leute einfach nur aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit umbringen. Er selbst habe auch ein bisschen von der Revolution mitbekommen. Assad hält er nicht für einen sehr guten Machthaber, aber besser als alle Alternativen, von denen er IS und al-Nussra hervorhob. 2 wagte sich am Ende auch noch an eine Zukunftsprognose für Syrien: Vielleicht sei in 30 Jahren der Krieg vorbei, dann bestehe vielleicht eine Chance, dass das Leben in Syrien besser 34

werde. In der näheren Zukunft sehe es eher schlecht aus.

Wieder wird der Wehrdienst als Fluchtursache genannt und außerdem Krieg und Perspektivlosigkeit. Bei 1 war dann aber der konkrete Auslöser der Bescheid, dass er den Wehrdienst jetzt auch antreten muss. Bei 2 scheint der Verlust der Arbeit dann der entscheidende Auslöser gewesen zu sein, der ihn dann endgültig zu Flucht bewegt hat. Bei beiden sieht man, dass sie bereit waren, widrige Umstände zu ertragen und trotzdem zu bleiben, solange es noch keinen entscheidenden Auslöser gab. Außerdem war auch bei beiden zu erkennen, dass die Fluchtentscheidung in Absprache mit der Familie getroffen wurde, so wie es beim Migrationsentscheidungsprozess (siehe 3.2) angenommen wird. Bei 3 lässt sich eine allgemeine Unzufriedenheit vermuten, als er in Syrien war, Unzufriedenheit mit der Regierung und eine noch stärkere Abneigung gegen Terrororganisationen und die Entwicklung des Konflikts. Der 18. Geburtstag, der nicht mehr weit entfernt war, und die damit verbundene Wehrpflicht lassen sich als Auslöser bezeichnen.

Am dritten Interview nahmen ein Syrer (42), ein Afghane und ein Eritreer teil. Ich werde aber hier hauptsächlich die Antworten des Syrers anführen. Am Anfang war noch ein zweiter, 21 jähriger Syrer dabei, der einen fünfjährigen Bruder hat, den er gerne nach Deutschland nachholen würde. Er kommt aus Damaskus und ist Sunnit.

Auch der Hauptinterviewpartner, der aus Damaskus war, hat (genau wie der andere Syrer) einen palästinensischen Pass, weil seine Familie ursprünglich aus Palästina stammt, was er im Laufe des Interviews noch mehrmals betonte, er schien sehr stolz darauf. Von dort seien sie aber vertrieben worden, als die Israeliten das Land besetzten, unterstützt von den Engländern. Er selbst sei aber seit seiner Geburt in Damaskus aufgewachsen. Zwischendurch sei er aber sechs Jahre in Dubai gewesen. Er sei in Deutschland als erstes nach Saarbrücken gekommen. Dort habe die Tatsache, dass er formal Palästinenser ist, eine Rolle gespielt. Es gebe noch mehr in Syrien lebende Palästinenser, die aber keine syrische Staatsbürgerschaft hätten. Sie alle würden als „Unbekannte“ behandelt, wenn sie kommen, denn niemand wolle über Palästina reden, es seien wohl die meisten Leute auf der Seite Israels. Er sagte, die Tatsache, dass er Sunnit ist, habe vor fünf Jahren, also vor Ausbruch der Proteste und des Bürgerkriegs, keine Auswirkungen gehabt. Bei Ausbruch des Kriegs aber schon, da Assad als Schiit seine Verbündeten aus Iran und Libanon und Afghanistan gebracht habe, was die Sunniten gegen ihn aufgebracht habe, woraufhin sie gegen Assad gekämpft hätten. Jetzt hätten die Sunniten ein „schwieriges Gefühl“, weil sie einen anderen Präsidenten und somit

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auch eine andere Regierung wollten, weil Assad ein Diktator sei. Der Iran helfe ihm, die Rebellen zu bekämpfen. Viele Sunniten hätten nicht die gleichen Berufschancen oder allgemein Chancen auf ein glückliches Leben, weil der Machthaber eben Alawit ist und, wenn niemand etwas dagegen tut, Assads Nachfahren die Macht übernehmen werden, so wie sie Baschar von seinem Vater übernommen hat. Alle gut bezahlten Arbeitsstellen, z. B. Führungspositionen bei der Armee würden immer an Alawiten gehen und nicht an Sunniten, obwohl die ja die Bevölkerungsmehrheit bildeten. Die Sunniten seien sauer, aber Baschar und sein Vater ließen das Volk von Polizei und Geheimpolizei streng kontrollieren, sodass keiner frei reden konnte, bis mit dem arabischen Frühling die entscheidende Chance gekommen sei, aber Syrien zerstört wurde. Er weist darauf hin, dass er gerade nur die Fakten zusammenfasst und nicht seine Persönlichen Gedanken und Gefühle ausdrückt. Die Mehrheit der Bevölkerung lebe in einer der beiden Großstädte Damaskus und Aleppo, 90-95% davon seien Sunniten, die aber keine Probleme mit dem Präsidenten gehabt hätten, wie auch der Interviewpartner selbst sie nicht hatte. Er selbst habe auch nie ein Problem mit seiner Religion gehabt oder mit Christen oder sonstigen Religionen, mit denen er in Damaskus auch aufgewachsen sei. Aber in den Dörfern sei es anders, da dort lebende Sunniten nie Andersgläubige gesehen hätten. In Syrien sei Schulbildung nicht überall gut erreichbar und die Leute in den abgelegenen Dörfern gingen oft nur in eine Religionsschule (anders als in Deutschland). Aus Saudi-Arabien seinen sunnitische religiöse Lehrer in die Religionsschulen geschickt worden. Diese hätten den

Leuten beigebracht, dass Assad schlecht sei, weil er „ungläubig“ sei und ihnen vor Augen geführt, dass sie als Sunniten die Mehrheit der Bevölkerung bildeten. Also hätten Religionsgelehrte aus Saudi-Arabien leichtes Spiel gehabt, diesen Leuten beizubringen, alle Nicht-Sunniten seien ungläubig und müssten deswegen sterben, da diese Lehrer die einzige Informationsquelle gewesen seien, denn außerhalb großer Städte gäbe es keine Bildung. Saudi-Arabien und Katar, Emirate (mehrere reiche Länder mit Öl, deren Machthaber Sunniten sind) haben sehr viel Geld für die Dorf-Leute geschickt, um sie von ihren Ansichten zu überzeugen. Diese Staaten seien alle unter der Kontrolle der USA und die USA wollten Syrien zerstören, weil Syrien nicht unter ihrer Kontrolle sei, sondern ein gutes Verhältnis zu Russland habe. Und Syrien sei ein starkes Land, dass sich auch selbst versorgen kann und nicht unbedingt auf ausländische Wirtschaft angewiesen ist, was nicht zuletzt eine Leistung des Präsidenten gewesen sei. Der Interviewpartner selber denkt, es handelt sich alles um ein Machtspiel, das in Syrien ausgetragen wird. Eigentlich ginge es um einen Konflikt von mächtigen Staaten, wie USA und Russland, aber auch Europäischer Staaten. In diesem politischen Spiel solle Syrien 36

zerstört werden. Unter ironischem Lachen sagte er, dass es vor dem Krieg 23 Millionen Syrer gegeben habe, 70% davon Sunniten, und die Hälfte davon inzwischen nicht mehr da sei, weil sie gestorben oder gegangen seien. Als ich nach seiner persönlichen Meinung zu den politischen Verhältnissen fragte, antwortete der Interviewpartner, der Präsident sei bis vor fünf Jahren ein sehr guter Präsident gewesen, der auch gebildet sei, ein Augenarzt, was er in England studiert hat. Er könne jetzt nichts über das Leben armer Leute vom Land sagen, sagt er fast entschuldigend, aber er selbst (Damaskus) hat ein gutes Leben gehabt, eine gute Arbeit, ein Auto und ein Zuhause. Und bei dem Ganzen hält er es für unverhältnismäßig, ein ganzes Land zu zerstören, weil man einen einzigen Mann (Assad) loswerden will. In Damaskus sei es nicht mehr so gut wie vorher, da es eine hohe Arbeitslosigkeit und starke Inflation gebe. Er selbst habe viele hundert Menschen von seinem Fenster aus sterben sehen, daran seien aber bezahlte Kämpfer aus dem Ausland schuld, nicht die syrischen Rebellen. Über sich selbst und seine Gründe, die ihn nach Deutschland geführt haben, sagte er, dass er schon vor dem Krieg über Deutschland und seine Geschichte Bescheid gewusst habe. Er schien allgemein politisch interessiert zu sein und erzählte, er habe Bücher gelesen und außerdem werde die deutsche Geschichte in der Schule unterrichtet. Er war beeindruckt, wie Deutschland vor 70 Jahren wieder aufgebaut worden ist. Er hat die ganze Zeit geglaubt, dass er in Deutschland als Syrer gute Chancen auf ein Bleiberecht hat. In Syrien könne man mit einer einzigen Satellitenschüssel Fernsehprogramm aus der ganzen Welt sehen, also wüssten Syrer, zumindest die politisch interessierten wie er, alles über andere Länder, z. B. Deutschland. Er sei nicht im wirklichen Krieg gewesen, weil er ja aus Damaskus kommt, aber auch er habe in ständiger Gefahr gelebt. Es könne jederzeit sein, dass man getötet werde und zwar so, dass man in 1000 Einzelteile zerstückelt werde. Er habe schon Menschen ohne Kopf gesehen, oder solche, aus denen der Magen oder das Gehirn herausquoll. Dabei betonte er aber, dass Damaskus ein verhältnismäßig sicherer Ort in Syrien sei. Das alles bedeutete aber aus seiner Sicht, nicht dass er verängstigt sein muss, sondern dass die Menschen, die so etwas einmal gesehen hätten, vor nichts mehr Angst hätten. Das Problem mit dem nicht vorhandenen Strom kenne er, aber mit Stromaggregaten ginge das schon. Und außerdem, gebe es stundenweise auch den regulären Strom. Die starke Inflation sei vor allem für sowieso schon arme Leute sehr hart. Als ich nach seinen Erfahrungen während der Revolution gefragt habe, sagte er, dass er viele 37

Menschen getroffen habe, von der Regierung und auch Rebellen und er hält alle für dumm (hat er wörtlich gesagt). Einfach alle, die Menschen töten, seien dumm. Aber die Rebellen seien am dümmsten, weil es unter ihren Anführern keine gebildeten Leute gebe und auch niemanden der sein Land, also Syrien liebt. Sie seien alle von Saudi-Arabien erkauft. Sie seien keine ehrlichen Menschen, die für die Freiheit ihres Landes kämpften. Sie wollten einfach einen Präsidenten stützen, den der Interviewpartner selbst als guten Präsidenten empfunden hat, unter dem alle eine Arbeit gehabt hätten und glücklich gewesen seien. Das einzige Problem sei gewesen, dass er sich nur um die Städte und nicht um die Dörfer gekümmert habe. In Syrien war er 12 Jahre in der Schule. Er sei 6 Jahre lang in Dubai gewesen, wo er ziemlich viel Geld verdient habe, wovon er dann als er zurückkehrte, leben konnte. Er selbst hat vier Jahre lang gehofft, dass der Krieg beendet wird und wollte außerdem seine Mutter und seine Schwester nicht verlassen. So sei es dem allergrößten Teil an Syrern auch gegangen. Das sei auch der Grund dafür, warum große Mengen an syrischen Flüchtlingen erst in den letzten drei Jahren kämen und nicht schon seit fünf Jahren, als der Krieg begann. Man warte und hoffe, aber es sterben so viele, es gäbe schon ganze Städte, die zerstört seien, aber Damaskus als Stadt sei noch nicht so stark davon betroffen. Die Armee hätte auch Kontrollen in Damaskus gemacht, um ihre Gegner zu identifizieren. Zu dieser Zeit habe er schon gearbeitet, um die 5 000 Euro, die er für die Flucht gebraucht hat, zusammenzubekommen. Die Regierung will einen nicht fliehen lassen, besonders nicht Palästinenser. Er sei über die Türkei gegangen, habe aber zuerst einmal Schleuser bezahlt, die ihm geholfen hätten, dorthin zu kommen. In der Türkei seien die Lebenshaltungskosten für Ausländer auch hoch, selbst/besonders bei nur 10 Tagen Aufenthalt, bis er dann ein Boot gefunden hat, auf dem er mitfahren konnte (1100 Euro) zu einer griechischen Insel. Von dort aus nach Athen, dann Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich, Deutschland. Auf dem Landweg habe er sich dann zusammen mit anderen Flüchtlingen durch den Wald geschlagen, wo sie dann 22 Stunden am Tag gewandert sind und nur zwei Stunden geschlafen haben. Dies war nur durch das Essen von Schokolade (Snickers, wie schon in der Einleitung erwähnt) und das Trinken von Energydrinks möglich und als er dann in Slowenien angekommen sei, sei er total fertig gewesen. Sein Wissen über Deutschland habe ihn sich für dieses Land entscheiden lassen und die Tatsache, dass sein Bruder vor 25 Jahren für vier Jahre hier gelebt hat. Außerdem habe er von den Verwandten und Freunden, die geflüchtet waren (Schweden, Niederlande, Belgien) Informationen eingeholt und dann entschieden, dass Deutschland am besten sei. So ginge es 38

den meisten Syrern. Weitere Gründe waren für ihn Beachtung der Menschenrechte, die Regierung, die für eine Willkommenskultur steht, die starke Wirtschaft, die die Flüchtlinge auch tragen kann, und die Erfahrung, dass die deutsche Regierung ihre Meinung (zu den Flüchtlingen) nicht von einem Tag auf den anderen ändert. Außerdem werden einem als Flüchtling nicht alle Wertgegenstände abgenommen. Zum Thema IS konnte er noch sagen, dass er in Damaskus viele Menschen getroffen hat, die aus Raqqa dorthin geflohen sind. Diese Leute lebten teilweise schon seit Generationen in der Region um Raqqa und dann sei der IS gekommen und hätte plötzlich alles verboten und Leute auf den Straßen getötet. Sie haben ihm erzählt, dass das Tragen von Jeanshosen durch den IS verboten ist und sich Frauen komplett verschleiern müssen (auch Gesicht) und keine enge Kleidung tragen dürfen und nicht ohne männliche Familienmitglieder auf die Straße dürfen. Für Männer sei das Abrasieren ihres Bartes verboten. Musikhören, Nicht-Arabische Filme anschauen, schminken sei ebenfalls verboten. Es kämen auch Kämpfer aus anderen Ländern, z. B. Afghanistan, aber auch aus Europa und Afrika. Sie alle kämpften bis sie tot seien.

Während des Gesprächs, fragte irgendwann der anwesende Eritreer, der augenscheinlich ziemlich wütend war, die beiden Syrer, ob sie hier in Deutschland jetzt etwa glücklich seien. Der weniger ins Interview involvierte Syrer verneint nach kurzem Zögern, der Hauptinterviewpartner stimmt dagegen entschieden, er sei hier jetzt glücklich. Er erklärt, der Mann aus Eritrea sei nur deswegen so wütend, weil er im Moment kein Bleiberecht bekomme und deswegen weder arbeiten noch sich eine eigene Wohnung suchen kann und sich ungerecht behandelt fühle.

Der Afghane nannte als Grund, aus dem er sein Land verlassen hat, den Krieg jeden Tag, der auch mit sich bringe, dass man nicht mehr arbeiten gehen könne. Er sei von den Taliban gesucht worden, die ihn töten wollten, so wie sie alle Schiiten töten wollten. Ihn hätten sie besonders auf dem Schirm gehabt, weil er für die Organisation GIZ207 gearbeitet habe, wo er auch eng mit der Polizei zusammengearbeitet hatte. Deswegen hätten die Taliban ihn verdächtigt, er habe die Polizei aufgefordert, die Taliban zu töten, was er aber in Wirklichkeit gar nicht gemacht hätte. Er habe per Telefon täglich Morddrohungen von den Taliban bekommen und sie hätten ihm befohlen ihnen Geld und Gewehre zu geben. Da sei dann für ihn und seine Familie irgendwann der Punkt gewesen, an dem sie beschlossen das Land zu 207

Hierbei handelt es sich um die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit; https://www.giz.de/de/html/ueber_die_giz.html; Stand: 12.06.16

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verlassen.

Der Hauptinterviewpartner redete zwar von der Benachteiligung, die Sunniten erfahren, dies schien ihn aber nicht so extrem gestört zu haben, dass er eine Fluchtursache dargestellt haben könnte. Auch Assad reicht nicht als Fluchtgrund, da der Interviewpartner ihn ja grundsätzlich als einen guten Präsidenten betrachtet und unter seiner Herrschaft auch gut leben konnte. Schon mehr in Richtung Flucht gehen seine Gedanken zur Zerstörung Syriens, von der er immer wieder redet. Er geht fest davon aus, dass Syrien zerstört wird und bringt sich rechtzeitig in Sicherheit. Dabei muss man auch noch beachten, dass er aus einer Region (Damaskus) stammt, die nicht als Kriegsherd gilt, und trotzdem schlimme Geschichten zu erzählen hat. Der Interviewpartner konnte sich dann vorstellen, wie es in den wirklichen Kriegsgebieten Syriens aussieht, auch durch die Berichte der Binnenflüchtlinge, mit denen er geredet hat. Auch wenn er gesagt hat, dass er keine Angst mehr hat, seit er all die Geschehnisse erlebt hat, waren sie vermutlich eine der Fluchtursachen, wenn auch nur unbewusst. Dass er alle Kämpfer, egal ob für oder gegen Assad für dumm hält, kann auch zur Flucht beigetragen haben, da er sich ja dann, egal unter wessen Kontrolle seine Heimat gerade ist, immer von Dummen beherrscht wird und das wohl niemand will. Da die Familie des Hauptinterviewpartners aus Palästina stammt, liegt auch die Vermutung nahe, dass er nicht ganz so stark in Syrien verwurzelt ist wie Syrer, deren Familien seit vielen Generationen in Syrien leben. Dies könnte womöglich die Entscheidung zur Flucht begünstigt haben. Man sieht, dass es sich um einen längeren Entscheidungsprozess gehandelt hat, wahrscheinlich um eine mehrstufige Entscheidung: Zuerst hat er gemerkt, dass seine momentane, persönliche Situation nicht zufriedenstellend war und hat gewartet und gehofft, dass die Lage besser wird. Irgendwann kam dann die Erkenntnis, dass sie das nicht wurde und daraus folgte, dass er begann, Geld für die Flucht zu sparen. Erst danach konnte er endgültig das Land verlassen, nachdem er ja genügend Zeit zum Überlegen gehabt hat. Bei den Gründen, warum er ausgerechnet nach Deutschland kam, mischen sich persönliche Gründe, also der Bruder, der für eine Weile in Deutschland gelebt hat, und die Informationen durch Freunde und Verwandte, mit allgemein gültigen Gründen, also der besonders staken Deutschen Wirtschaft und der Willkommenskultur und dem damit verbundenen Bleiberecht, aber auch der Mangel an Alternativen, da in anderen Ländern die Lebenshaltungskosten für Flüchtlinge so hoch sind. Da diese Gründe auch für andere nachvollziehbar sind, kann man von einer rationalen Entscheidung sprechen. 40

Als weitere mögliche Fluchtursachen, von denen er zwar selbst nicht betroffen war, die aber für andere trotzdem bedacht werden sollten, nannte er die Arbeitslosigkeit und Inflation. Außerdem der IS, dem er zwar selbst nicht begegnet ist, aber andere Syrer offenbar schon. Es kam auch noch ein für diese Arbeit neues Argument für Deutschland zur Sprache, nämlich dass in Syrien (wie auch in Afghanistan und Eritrea) die deutsche Geschichte in den Schulen unterrichtet wird, sodass Deutschland als mögliches Fluchtziel zumindest einmal ein Begriff für die Menschen ist und nicht ein Land, von dem sie noch nie gehört haben und an das deswegen bei der Suche nach einem möglichen Zielland gar nicht gefragt wird.

Psychologisch interessant, war noch der Eritreer. An seinem Beispiel kann man sehen, dass Ungerechtigkeit wütend und unzufrieden macht. Das kann man sowohl auf den Ausbruch der syrischen Proteste beziehen (auch hier fühlten sich die Sunniten ungerecht behandelt), als auch auf syrische Flüchtlinge, die wahrscheinlich zumindest teilweise auch aus Wut und Unzufriedenheit über die ungerechte Behandlung ihr Land verlassen.

Bei dem Afghanen sieht man ganz deutlich, dass die Motive zur Entscheidung biogener Natur waren, da ganz offensichtlich Gefahr für Leib und Leben drohte. Zusätzlich zu den Morddrohungen war ja auch noch der Krieg als Ursache da, der die Möglichkeit zum Arbeiten nahm, was möglicherweise dazu führt, dass man sich nutzlos fühlt und unzufrieden wird.

Im vierten Gespräch wurde klar, wie schwierig es sein kann, Antworten zu bekommen. Der erste Interviewpartner war ein 29-jähriger Syrer aus Hama, der seit vier Monaten in Deutschland ist. In seiner Heimat sind noch seine Eltern und seine zwei Brüder und zwei Schwestern. Als er selber noch dort war, hat er als Heizungsbauer gearbeitet. Er sagte, zu seiner Familie habe er keinen Kontakt, da in der Heimat weder Telefon noch Internet funktionierten. Er sei nach Deutschland gekommen, weil er Deutschland schon vorher gemocht habe und sein Weg hierhin ging über Griechenland, Serbien und Kroatien. Er sagte, er sei Sunnit, aber als ich weiter nachfragte, machte er deutlich, dass er nicht mehr über Syrien reden möchte, sondern jetzt lieber sein Deutsch verbessern und arbeiten gehen möchte. Der zweite Interviewpartner konnte etwas besser Deutsch, aber der erste hielt ihn davon ab, viel über Syrien zu erzählen, aber es war nicht ganz klar, ob er nicht auch selber der Meinung war, dass es besser sei, nichts über Syrien zu erzählen. Er erzählte von seinen zwei Kindern, eines drei Jahre alt und das andere sechs Monate. Seine Frau und seine Kinder seien aber nicht hier in Deutschland. Seine Frau sei schwanger gewesen und wollte deswegen nachkommen, als der Interviewpartner geflohen ist, aber als sie

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dann kommen wollte, sei die Grenze geschlossen gewesen (wobei hier nicht klar wurde, welche Grenze). Er erzählte, dass er ursprünglich in die Schweiz gehen wollte, wo er auch sechs Monate lang gewesen sei, aber dort habe er kein Asyl bekommen und sei deswegen weiter nach Deutschland. Seine Flucht ging über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Deutschland und dann in die Schweiz und von dort aus nach sechs Monaten eben wieder nach Deutschland. Inzwischen hält er aber seine eigene Situation in Deutschland für besser als in der Schweiz, weil dort das System zu hart für Flüchtlinge sei. Hier würde er jetzt erst einmal jede Arbeit annehmen, wenn er nur arbeiten könnte, und sein Ziel ist es jetzt auch, als erstes sein Deutsch zu verbessern. Sobald die Situation in Syrien aber besser ist, will er zurück nach Syrien und wenn sie nicht besser wird, würde er stattdessen auch in die Türkei gehen.

Da beide Interviewpartner nichts über ihre Situation in Syrien erzählt haben, kann man nur erahnen, dass sie zumindest für den ersten Interviewten sehr schlimm gewesen sein muss. Er wollte sich nicht einmal selber daran erinnern. Es ist unklar, ob das fehlende Telefon- und Internetnetz eher für oder gegen die Flucht gesprochen hat. Auf der einen Seite ist es natürlich ein Ausdruck dafür, dass in der Heimat überhaupt nichts funktioniert hat, und es ist vorstellbar, dass das den Menschen nicht gefällt und sie deswegen gehen. Auf der anderen Seite, kann er ohne Telefon und Internet nicht einmal Kontakt zu seiner Familie halten und es ist möglicherweise noch schwerer, sie zu verlassen. Der Begründung des zweiten Interviewten, warum er nach Deutschland gekommen ist, ist so gesehen nicht neu: Auch für viele andere Syrer können die Widrigen Umstände in sonstigen Ländern als Grund dienen, nach Deutschland zu kommen. Dabei ist aber neu, dass auch die Schweiz für Flüchtlinge ein solches Land mit widrigen Umständen ist.

Im fünften Interview war der Interviewte ein Iraker. Er soll hier aber trotzdem erwähnt werden, da sich gewisse Parallelen zu Syrern ziehen lassen. Er erzählte, dass er seit sieben Monaten in Deutschland sei und dass es ihm hier gefalle. Er sei jetzt aber nicht mehr wie vorher ein Einheimischer in seinem eigenen Land, sondern ein Flüchtling in einem Land, das nicht seines sei, was die Situation schwierig mache. Trotzdem werde es leichter für ihn, je länger er da ist und er möchte gerne sein ganzes noch kommendes Leben in Deutschland verbringen, weil er schon zu viel Zeit seines Lebens durch Krieg und andere Probleme verloren habe. Er hofft jetzt auf eine bessere Zukunft in Deutschland. 42

Er sei offiziell Sunnit, halte sich aber nicht an die Regeln des Islam bzw. nur an die, die ihm gefallen. Die Religion sei für ihn nie ein großes Thema gewesen, im Gegensatz zu „verrückten Leuten“, wie er sie nannte, die nämlich einen Unterschied zwischen verschiedenen Religionen machen und behaupten, die eine sei besser als die andere; Für ihn selbst seien alle Religionen im Grunde gleich. Den IS hat er selber nicht erlebt. Auf die Frage, warum er seine Heimat verlassen hat, antwortete er ohne zu überlegen: „Wegen des Kriegs“. Sein Vater, der Pilot war und General bei der Irakischen Armee, sei in seinem Haus getötet worden. Der Interviewpartner hätte auch getötet werden sollen. Er sagte, er habe im Irak in der Geschäftsleitung eines Autohändlers gearbeitet und ihm seien drei Autos gestohlen worden und dann sei der Laden von Terroristen angezündet worden. Da habe er dann beschlossen, sein Land zu verlassen. Auf der einen Seite wäre er gerne geblieben, weil der Irak eben seine Heimat sei und man in seiner Heimat auch bleiben solle.

Auf der anderen Seite sah er keinen Grund mehr, dort zu bleiben, wo ihm „schlechte Menschen, Terroristen und Verrückte“ nach dem Leben trachteten. Letztere Argumente hätten letztendlich einfach überwogen. Er habe seine Entscheidung dann aber nicht mit seiner Familie besprochen, weil seine Mutter und sein Bruder sowieso im sichereren Teil des Irak, nämlich Kurdistan im Norden, leben würden und er so etwas mit seinen 31 Jahren auch allein entscheiden könne. Er erzählte, er sei über die von vielen Flüchtlingen genutzte Route über die Türkei, Griechenland und Mazedonien nach Deutschland gekommen. Er meinte aber auch, heute sei das einfacher als noch vor sieben Monaten, als er gekommen sei, weil die deutsche Regierung denen, die kommen wollen, helfe, indem sie Boote und Busse sende. Als Grund, warum er ausgerechnet nach Deutschland gekommen ist, nannte er die deutsche Willkommenskultur und nannte Deutschland den „Herd von Europa“, was vermutlich auf die Wirtschaft bezogen war. Als Grund für die Kämpfe im Irak wurde Öl genannt. Der Interviewpartner meinte, sein Land werde von Amerika regiert, das sich das vorhandene Öl einfach ohne Gegenleistung nehme. Die vorangegangene Regierung hält er zwar für ziemlich schlecht, aber immer noch besser als die jetzige, da es damals wenigstens nicht lebensgefährlich gewesen sei, vorher habe es einen Verbrecher gegeben, jetzt gebe es 100. Auf die Frage, ob er die Situation im Irak mit der in Syrien für vergleichbar hält, antwortete er, dass dies in der Tat der Fall sei: Überall werde getötet.

Die Entscheidung, das Land zu verlassen schien erst eher intuitiv, denn die Begründung 43

„wegen des Kriegs“ ist eher abstrakt und nicht so leicht nachvollziehbar und es wies auch nichts darauf hin, dass sie von langer Hand geplant war. Auf der anderen Seite lassen sich die unzufriedenstellende Herrschaftssituation und der Angriff auf sein Geschäft, durchaus als Fluchtursache bzw. –auslöser betrachten, auch wenn der Interviewpartner selbst sie nicht als solche benannt hat. Dass er sich nicht anschaulicher ausgedrückt hat, kann auch daran liegen, dass er innerlich mit dem Irak abgeschlossen hat und sich dort keine Zukunft mehr vorstellen kann. Neu war, dass es jetzt anscheinend leichter ist, nach Deutschland zu kommen, wobei das natürlich die steigenden Flüchtlingszahlen erklären würde.

Der nächste Interviewpartner kam aus Damaskus und hat dort im Schalungsbau gearbeitet. Er ist seit einem Jahr und neun Monaten hier, 25 Jahre alt und hat keine eigene Familie. Er selber hat fünf Brüder und drei Schwestern, die alle älter sind als er selbst. Er sagte, dass keiner von ihnen in Deutschland sei. Der älteste Bruder arbeite als Herzarzt in Dubai. Der Interviewpartner nannte als Grund, aus dem er Syrien verlassen hat, dass sein Land durch die Kämpfe kaputt sei und er nicht länger den Krieg mitansehen wolle, sondern stattdessen leben und auch arbeiten. Die Idee sei aber weniger von ihm selbst als vielmehr von seinen Eltern gekommen, die sein Leben schützen wollten und deswegen auch nicht wollten, dass er seinen Wehrdienst bei der Armee ausführen müsse. Es habe keinen konkreten Auslöser von außen für die Flucht gegeben, nur eben, dass seine Eltern gesagt hätten, dass er gehen soll. Auf die Frage, zu welcher Religion er gehört, antwortete er: „Egal. Alles ist gleich“, das Wichtigste sei, dass man gesund ist. In Syrien mache wegen der Religion außer den Terroristen auch keiner einen Unterschied zwischen den Menschen. Terroristen seien verrückt. Er meinte aber, selber keine Terroristen und auch nicht den Krieg erlebt zu haben, in Damaskus gebe es nämlich keinen Krieg, sondern nur die Armee. Später sagte der Interviewpartner aber, er habe Leute sterben gesehen und gehört. Als die Proteste 2011 ihr großes Ausmaß erreichten war der Interviewpartner bereits in Libyen, wo er dann auch bis 2014 blieb. Aber auch in Libyen habe es Terroristen gegeben, weswegen er das Land dann verlassen habe. Außerdem sei er dort selbst Ausländer gewesen, weswegen es keinen Grund gab, das Land nicht zu verlassen und in ein anderes Land zu gehen, wo er dann eben wieder ein Ausländer sein würde. Er sei dann per Schiff nach Italien gekommen, wo er dann aber keine Arbeit gefunden habe und deswegen nach Deutschland weitergezogen sei. Der Interviewpartner hielt Assad für ein Problem, da dieser ein Diktator und großer Terrorist 44

sei. Deswegen fand er die Proteste gegen den Präsidenten gut. Assad sei auch Schuld an dem Terror in Syrien, da er Terroristen kaufe. Der Interviewpartner sagte, er habe selbst gesehen, wie Terroristen aus vielen verschiedenen Ländern nach Syrien kommen, um zu kämpfen und es flögen jeden Tag ausländische Kriegsflugzeuge z. B. aus Afghanistan und dem Iran über Damaskus. Er sei weggegangen, weil ihm der Krieg und die Flugzeuge zu viel geworden seien. Außerdem sei Aleppo schon zerstört, da sei eine Zerstörung von Damaskus abzusehen.

Er meinte aber auch, dass er sofort in seine Heimat zurückkehren würde, sobald Assad nicht mehr dort sei. Seiner Meinung nach wäre dann nämlich auch der Krieg beendet.

Bei diesem Interview kam der Krieg selber als Fluchtursache schon gar nicht mehr infrage, da der Interviewpartner schon vorher das Land verlassen hat. Der Auslöser war dann die Familie. Somit hat beim Interviewpartner selber kein Entscheidungsprozess stattgefunden, sondern nur bei seinen Eltern. Über deren Beweggründe kann nur gemutmaßt werden, aber da ihr Sohn zum Militär gemusst hätte und sie sich aufgrund der Proteste wohl der Gefahr bewusst waren, die diese Arbeit für ihren Sohn birgt, wollten sie vermutlich einfach sein Leben retten.

Der Interviewpartner selber, konnte die Meinung der Eltern aber offenbar nachvollziehen, denn auch bei ihm selber scheint es schon der Wunsch nach einer Verbesserung der eigenen Lebenssituation gegeben zu haben, nur noch nicht den passenden Auslöser. Die Fluchtursachen waren also in Form von Zerstörung oder bevorstehender Zerstörung der Heimat, und dem Tod seiner Mitmenschen gegeben. Was ich daran nicht verstanden habe, war, dass er Kriegsflugzeuge gesehen hat, obwohl er bei Ausbrechen des eigentlichen Krieges gar nicht mehr im Land war. Da es sowohl in Libyen als auch in Italien Gründe gab, nicht dort zu bleiben, ist der Interviewpartner eben weitergezogen, wobei man nicht weiß, wie sehr er das durchdacht hat.

Der nächste und letzte Interviewpartner war 18 Jahre alt, seit sechs Monaten hier und kam aus Damaskus. Er erzählte, dass er dort noch zur Schule gegangen sei. Er sei allein gekommen und der Grund für seine Flucht, war, dass seine Eltern, besonders seine Mutter, ihn dazu aufgefordert hätten, das Land zu verlassen, um seine Zukunft zu sichern. Sie hätten gesagt, er müsse in ein anderes Land gehen und sich dort ein Leben aufbauen, weil so etwas inmitten des Krieges nicht möglich sei. In seiner Heimat seien nämlich die ganze Zeit Kriegsflugzeuge und außerdem wolle er selbst auch kein Blut mehr sehen oder zusehen wie seine Freunde und Nachbarn sterben. Um nach Deutschland zu kommen, habe er viel Geld gebraucht, das ihm seine Eltern und Nachbarn geliehen hätten. Seine Route führte über die Türkei, Griechenland, 45

Bulgarien und Rumänien, wobei er einen Teil (Türkei → Griechenland) mit dem Schiff zurückgelegt hat. Er war ziemlich überzeugt davon, dass er eines Tages, wenn der Krieg aus sei, nach Syrien zurückkehren werde. Es gebe dann zwar bestimmt immer noch viele Probleme in Syrien, aber er werde trotzdem zurückkehren. Seine Eltern und Geschwister seien im Libanon und er habe Kontakt zu ihnen, vermisse sie aber sehr. Assad hält der Interviewpartner für einen großen Diktator, der die Leute lange unterdrückt habe, wie auch schon sein Vater. Zum Thema Terroristen sagte der Interviewpartner, er habe selber noch keine gesehen, aber Videos von den terroristischen Aktivitäten. Diese hätten allerdings nichts mit dem Islam zu tun, sondern seien von irgendjemandem erschaffen worden. Er sagte weiter, dass er zwar keine Terroristen gesehen habe, aber viele Leute, die durch Baschar al-Assad getötet worden seien. Er habe gesehen, dass ungute Dinge passieren, wobei es ihm schwerfiel darüber zu reden (entweder wegen Sprachproblemen oder wegen der Erlebnisse). Auf die Frage, warum er ausgerechnet nach Deutschland gekommen sei, antwortete er erst, indem er die wohl aus seiner Sicht einzigen Alternativen Italien und Griechenland aufzählte. Diese seien aber im Vergleich zu Deutschland nicht so gut. Nachdem er noch einmal über die Frage nachgedacht hat, sagt er dass er vielleicht auch deswegen nach Deutschland gekommen sei, weil sein Onkel und ein Freund schon hier seien.

Auch in diesem Interview wurden die schon bekannten Fluchtursachen genannt, nämlich der Krieg, der sich durch Flugzeuge und sterbende Menschen ausdrückt und die fehlende Zukunftsperspektive, die auch ein Resultat des Krieges ist. Der tatsächliche Auslöser waren wieder die Eltern. Dass der Interviewparter sich das Geld von Eltern und Nachbarn geliehen hat und nicht erst gearbeitet hat und es sich angespart, ist ein Indiz dafür, dass es sich um eine sehr schnelle Entscheidung handelte, sodass keine Zeit mehr hatte, das Geld durch Arbeiten zu verdienen. Bei der Entscheidung für Deutschland hat der Interviewpartner nicht viele Alternativen berücksichtigt, was darauf schließen lässt, dass er entweder nicht gut informiert war und/oder eher intuitiv entschieden hat, da er sich selbst nicht sicher war, ob es eine Rolle gespielt hat, dass sein Onkel und sein Freund schon Deutschland waren (sie waren sowieso in anderen Teilen von Deutschland).

4.3

Was allgemein auffällt 46

Es fällt auf, dass die Erkenntnisse der Interviews teilweise mit den Vermutungen aus Kapitel 1 und 2 übereinstimmen, sich teilweise aber auch völlig unterscheiden. Wie schon in Kapitel 1 vermutet, haben praktisch alle Interviews den Bürgerkrieg als Fluchtursache erwähnt. Was aber vorher nicht bedacht wurde, war der damit verbundene Wehrdienst. Für einen großen Teil der Interviewten hätte der Krieg allein vielleicht gar nicht zur endgültigen Entscheidung für die Flucht ausgereicht. Auch die Vermutung der schlechten Zukunftsaussichten als Fluchtursache, wurde durch die Interviews bestätigt: In fast jedem Interview fiel im Zusammenhang mit der Frage, warum die

Syrer ihre Heimat verlassen haben, so ein Satz wie „Dort gibt es keine Zukunft“. Dagegen war der IS oder allgemein die terroristischen Vereinigungen als Fluchtursache weit weniger ausschlaggebend als angenommen. Gleiches gilt für die Unterdrückung aufgrund der Religion und auch die sonstigen Untaten, die aufgrund der Religionszugehörigkeit stattfinden: Jeder Interviewte, der sich dazu äußerte, nahm gleich davon Abstand, dass es Unterschiede oder Unfrieden zwischen den verschiedenen Religionen gibt. Dabei ist aber zu beachten, dass alle Syrer, die die Frage beantwortet haben, Sunniten waren. Bei vielen spielte auch die Familie eine größere Rolle als angenommen: Im Modell zum Migrationsentscheidungsprozess wird davon ausgegangen, dass die Entscheidung auch zusammen mit der Familie getroffen werden kann. Bei einigen der Interviewten wurde die Familie aber nicht nur zur Beratung herangezogen, sondern die Familie, vor allem die Eltern, hat eher allein entschieden. Auch die Behauptung, dass Assad mit den Terroristen zusammen arbeitet, anstatt gegen sie, fiel mehrmals, auch wenn das in der Literatur kein einziges Mal erwähnt war. Der Vergleich der kognitiven Entscheidungsprozesse der Flüchtlinge mit denen in der Literatur angeführten, war dagegen nur sehr schwer und wenn, dann auch nicht allzu umfassend, möglich, was vermutlich daran liegt, dass wohl kaum jemand, auf die einzelnen Entscheidungsschritte in seinem Kopf achtet, sie dann auch noch benennen kann und das Ganze auch noch einer völlig fremden Person erzählt. Trotzdem ließen sich einige Parallelen ziehen, z. B. waren bei den meisten Interviewten rationale Entscheidungsmuster zu erkennen. Fast alle Interviewten hatten die gleiche Fluchtroute, deren erster Teil in Kapitel 2.5 der Arbeit mit „östliche Route“ und deren zweiter Teil mit „Balkanroute“ benannt wird. Teilweise widersprechen sich die Aussagen der Interviewpartner, die einen behaupten z. B., es gebe in ihrer Heimat keinen Strom, die anderen sehen in Sachen Strom überhaupt kein Problem. Hier kann dann nicht entschieden werden, wer Recht hat. Des Weiteren muss erwähnt werden, dass die Auswahl an Interviews aus verschiedenen 47

Gründen nicht repräsentativ war. Zum einen waren es viel zu wenige, um alle Aspekte herauszufinden, zum anderen waren die Interviewpartner kein Querschnitt durch die Gesellschaft: Es war keine einzige Frau und kein Kind dabei, es kamen überproportional viele aus der syrischen Hauptstadt Damaskus und auf der anderen Seite waren aber auch Interviewpartner dabei, die gar keine Syrer waren. Außerdem waren die Interviewten überdurchschnittlich gebildet, was darin begründet ist, dass sie, um für meine Arbeit überhaupt infrage zu kommen, zumindest über Englischkenntnisse verfügen müssen, da ein Dolmetscher den Rahmen gesprengt hätte. Aber auch bei den Gebildeteren ist wegen Sprachbarrieren davon auszugehen, dass ich nicht immer alles so erfasst habe, wie es gemeint war. Bei den nicht-syrischen Interviewten war es für mich aber umso erstaunlicher, dass die Ergebnisse der Interviews größtenteils mit denen der Interviews mit Syrern übereinstimmten.

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5

Fazit/Schluss

Welche Prozesse finden nun also bei Entscheidung zur Flucht aus Syrien statt? Auf diese Frage wird es wohl nie eine endgültige Antwort geben, da jeder Mensch mit seiner ganz persönlichen Situation individuell ist und sich die Lage außerdem ständig ändert. Trotzdem können einige allgemeine Erkenntnisse festgehalten werden. So z. B., dass zwischen den von außen wirkenden, für alle sichtbaren Prozessen und den kognitiven Prozessen unterschieden werden muss: Bei den kognitiven Prozessen kann man sagen, dass die Entscheidung tendenziell eher rational und in mehreren Stufen getroffen wird und deswegen mit einem großen kognitiven Aufwand verbunden ist. Bei den Motiven überwiegen die biogenen, die sich um den Schutz von Leib und Leben drehen. Der kognitive Entscheidungsprozess bei der Flucht weist starke Parallelen zum Entscheidungsprozess auf, der bei der nicht von außen ausgelösten Migration stattfindet. Von außen können diese Fluchtentscheidungsprozesse durch Unterdrückung, Proteste gegen die Regierung und die daraus resultierende Gewalt von beiden Seiten ausgelöst werden. Die Gewalt bei den Protesten hat sich zum Bürgerkrieg entwickelt, der eine große Gefahr für das Leben der Syrer darstellt und außerdem unangenehme Nebeneffekte wie eine starke Inflation mit sich bringt, vor denen man natürlich auch flüchten kann. Außerdem haben sich verschiedene Terrororganisationen und ausländische Regierungen eingeschaltet, sodass auch die Zukunftsprognosen nicht rosig sind und man besser heute als morgen flieht. Der häufigste Prozess, der zu einer Entscheidung für Deutschland führt, ist das Abwägen aller zur Verfügung stehenden Zielländer und das anschließende Ausschließen der Alternativen. All dies sind aber nur einige Beispiele, zu denen man noch viele andere reihen könnte und trotzdem würde immer noch etwas fehlen. Selbst bei diesen Beispielen kann man nie sicher sein, ob sie alle der Wahrheit entsprechen, obwohl ich darauf geachtet habe, nur solche Quellen zu nutzen, die ich als seriös einschätze. Trotzdem denke ich, dass ich mein anfängliches Ziel erreicht habe und mir die Beweggründe der syrischen Flüchtlinge nun ein großes Stück klarer erscheinen. Außerdem hatte ich so die Möglichkeit, viele sehr interessante Gespräche zu führen, die mich teilweise persönlich sehr berührt und auch erschüttert haben. Denn bei all den Gedanken, muss man sich vor Augen halten, dass die Flüchtlinge nicht freiwillig zu Flüchtlingen geworden sind; Auch sie waren einmal Einheimische in ihrem eigenen Land und der größere Teil von ihnen hofft inständig darauf, wieder in ihre alte Heimat zurückkehren zu können 49

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„Ich erkläre hiermit, dass ich die Arbeit ohne fremde Hilfe angefertigt und nur die im Literaturverzeichnis angeführten Quellen und Hilfsmittel benutzt habe.“

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Ort, Datum

Unterschrift

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