Wir haben da Zusagen gemacht *

„Wir haben da Zusagen gemacht“* Anmerkungen zu den deutsch-israelischen Beziehungen I Eine der letzten Ansprachen, die der scheidende Bundespräsident ...
Author: Carin Pfeiffer
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„Wir haben da Zusagen gemacht“* Anmerkungen zu den deutsch-israelischen Beziehungen I Eine der letzten Ansprachen, die der scheidende Bundespräsident Johannes Rau hielt, beschäftigte sich mit dem Nahost-Konflikt. In seiner Rede zur Eröffnung der internationalen Konferenz „Which Way ahead – Mapping the Road to Peace in the Middle East“ am 9. Juni 2004 in Berlin äußerte er sich folgendermaßen: Doch dann kam der 28. September, aus heutiger Sicht ein schwarzer Tag. Im MitchellBericht wird der Nahostbeauftragte von Präsident Clinton, Dennis Ross, mit den Worten zitiert: ‘Ich kann mir viele schlimme Ideen vorstellen, aber mir fällt keine ein, die schlechter wäre - I can think of a lot of bad ideas, but I cannot think of a worse one.’ Dennis Ross meinte damit den Gang auf den Tempelberg, den der damalige Oppositionsführer geplant und dann auch gemacht hatte. Danach begann die zweite Intifada, die Al-Aqsa-Intifada, wie sie genannt wird. Eine Welle der Gewalt brach über die Menschen herein.1

Mit wenigen Sätzen suggeriert Johannes Rau seiner Zuhörerschaft, wer seiner Ansicht nach verantwortlich zu machen ist für die verfahrene Situation im Nahen Osten – schließlich weiß jeder der Anwesenden im Saal, wer der damalige Oppositionsführer war: niemand anderes als Israels amtierender Premierminister Sharon, der als einziger Akteur in der Rede genannt wird. So entsteht der Anschein, dass auf palästinensischer Seite niemand konkret verantwortlich zu machen sei – „die Intifada begann“. Es ist ein nicht gewöhnlicher Vorgang, wenn der sich meist vornehmer Zurückhaltung befleißigende Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland den Premier eines befreundeten Landes in solch offener Weise kritisiert. In diesem Falle kommt der Umstand hinzu, dass entgegen der Feststellung Raus, der Besuch des Tempelberges hätte die Zweite Intifada ausgelöst, es sich so verhielt, dass diese von langer Hand geplant, der seit Wochen angekündigte Besuch Sharons nur ein willkommener Anlass zum Beginn des Aufstandes war. Denn tatsächlich kommt der von Rau angeführte Mitchell-Bericht zu dem eindeutigen Ergebnis, dass der Besuch Sharons zwar zeitlich schlecht festgelegt war und der provokative Effekt hätte vorhergesehen werden müssen („poorly timed and the provocative effect should have been foreseen“2), Sharon jedoch nicht für den Ausbruch der Intifada verantwortlich gemacht

werden

könne,

die

Verantwortung

vielmehr

bei

der

Palästinensischen

Autonomiebehörde zu suchen sei.

* Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher zur umstrittenen Panzerlieferung an Saudi-Arabien, 1991 1 Bundespräsident a.D. Johannes Rau, Reden und Interviews; Band 5.2; 1.Januar-30.Juni 2004; S. 387 2 S. Mitchell-Bericht, einsehbar unter: http://usinfo.state.gov/regional/nea/mitchell.htm

1

So stellt sich also die Frage, was den Bundespräsidenten veranlasste eine solche, wenn auch weit

verbreitete,

Falschmeldung

zu

wiederholen

und

mit

ihrer

Hilfe

den

Konferenzteilnehmern eine Schuldzuweisung im Rahmen des Konfliktes nahe zu legen. Diese Frage stellt sich umso dringender, da Johannes Rau als einer der engsten Freunde Israels in der deutschen Politik gilt. Er besuchte Israel mehr als 40 Mal während seiner Laufbahn als Politiker, nachdem er das Amt des Bundespräsidenten angetreten hatte, galt sein erster Besuch diesem Land. Wenn schon ein Politiker, der als ein enger Freund des Staates Israel angesehen wird, sich auf der Eröffnung einer Konferenz, die sich einer möglichen Friedenslösung im Nahen Osten widmet, so unverblümt kritisch äußert, vermag man sich vorzustellen, wie es um das Denken dezidierter Israelkritiker unter den deutschen Politikern bestellt sein mag. In der Zwischenzeit fand der 40. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland statt. Bei den zahlreichen Veranstaltungen in diesem Zusammenhang stand vor allem die Beschwörung einer mittlerweile scheinbar eingekehrten „Normalität“ im Vordergrund, wobei die Interessenlage, aus der diese jeweils beschworen wird, sehr unterschiedlich sein dürfte. Die Frage, wie „normal“ die Beziehungen zwischen zwei Staaten, deren einer der Rechtsnachfolger des Dritten Reiches ist, nach dessen Projekt der Ermordung aller weltweit lebender Juden der andere gegründet wurde, um diesen eine sichere Heimstatt vor Verfolgung zu bieten, sein können, stand meist im Hinblick auf die Freude über die guten Beziehungen zurück. Die Interessen, die zu dieser Proklamation von Normalität führen, sind dabei durchaus verschieden. Für den Staat Israel ist es von großer Bedeutung, dass er in Deutschland einen halbwegs zuverlässigen Verbündeten in Europa finden kann, der von Zeit zu Zeit antiisraelische Beschlüsse zumindest abmildert3, die Bundesrepublik erhofft sich von einer solchen Normalität nichts weniger als die Möglichkeit, ohne geschichtlichen Ballast auf der internationalen Bühne agieren zu können. Dass sich dieser Ballast aber nicht ohne weiteres abschütteln lässt, dass die Geschichte in den wechselvollen Beziehungen der letzten Jahrzehnte immer eine bedeutende Rolle spielte, dass es Kontinuitäten in der deutschen Nachkriegsgeschichte gibt, soll im Folgenden anhand einiger Beispiele gezeigt werden.

II Der deutsche Außenminister Joseph Fischer beschwört in einem Artikel für die Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ die gewonnene Normalität anlässlich des 40jährigen 3

So wurden von der deutschen Außenpolitik mehrfach Sanktionen der EU im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit den Palästinensern und dem Siedlungsbau verhindert.

2

Jubiläums und konstatiert, dass es die ersten Kontakte mit Israel gewesen seien, die eine große

Chance

für

Deutschland

dargestellt

hätten,

da

sie

geholfen

hätten,

die

Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu beginnen. Das demokratische Deutschland konnte so unter Beweis stellen, dass es bereit war, sich seiner Verantwortung für die deutsche Schuld und für die Überlebenden der Shoah zu stellen.4

Natürlich werden von einem Außenminister salbungsvolle Worte erwartet, insbesondere im Hinblick auf anstehende Jubiläen, hier allerdings hat er sich von der historischen Wahrheit sehr weit entfernt, denn in der deutschen Nachkriegsrealität spielte die Übernahme von Verantwortung für die Überlebenden der Shoah und die Anerkennung der deutschen Schuld nur eine sehr geringe Rolle – und dies ganz unabhängig von der Frage, wie das hätte aussehen können. Es kann keineswegs als Selbstverständlichkeit betrachtet werden, dass nach den vom nationalsozialistischen Deutschland angerichteten Verbrechen überhaupt noch ein souveräner deutscher Staat weiter existierte. Die Alliierten hätten nach der Niederlage des Dritten Reiches jedes Recht und die Möglichkeit gehabt, Alternativen für die Zukunft Deutschlands jenseits staatlicher Souveränität zu finden und umzusetzen. Aus einer Vielzahl von Gründen kam es anders, so dass schließlich am 24. Mai 1949 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft trat, vier Monate später erlangte der neue Staat eine eingeschränkte Souveränität, als der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer am Vortag seine Regierung und seine Politik vorgestellt hatte. In seiner ersten Rede vor dem deutschen Bundestag äußerte sich Adenauer zu dem neu gegründeten Staat Israel gar nicht, zum Antisemitismus kurz: Lassen Sie mich (…) ein Wort zu hier und da anscheinend hervorgetretenen antisemitischen Bestrebungen sagen. Wir verurteilen diese Bestrebungen auf das Schärfste. Wir halten es für unwürdig und an und für sich unglaublich, daß nach all dem, was sich in nationalsozialistischer Zeit begeben hat, in Deutschland noch Leute sein sollen, die Juden deswegen verfolgen oder verachten, weil sie Juden sind.5

Kein Wort des Mitgefühls fand er für die Opfer des Nationalsozialismus, die nationalsozialistische Vergangenheit wurde nicht erwähnt, die Rede von „anscheinend hervorgetretenen antisemitischen Bestrebungen“ ist angesichts antisemitischer Übergriffe und des in der deutschen Bevölkerung tief verwurzelten Antisemitismus bestenfalls euphemistisch zu nennen.6

4

Fischer, Joschka; Eine große Chance für unser Land; in: Das Parlament 2005, 11.04.2005/Nr. 15 Verhandlungen des Deutschen Bundestages; 1. WP 1949, Bd. 1, S. 27 v. 20.09.1949 6 Offen geäußerter Antisemitismus wurde von den alliierten Besatzungsbehörden nicht geduldet, er musste sich ein Ventil suchen. Da auf dem Schwarzmarkt nach Kriegsende zahlreiche DPs tätig waren, diente ein öffentlicher Feldzug gegen den Schwarzmarkt als Deckmantel für antisemitische Ausfälle, ständige Berichte über Schwarzmarktdelikte von Juden wurden über die deutschen Massenmedien verbreitet und standen in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Ausmaß, ganz abgesehen davon, dass an den Schwarzmarktaktivitäten 5

3

Erst in einer Grußbotschaft zum jüdischen Neujahrsfest 1949 nahmen Adenauer und Bundespräsident Theodor Heuss gemeinsam Stellung – ob dies auf Interventionen der Hohen Kommissare zurückzuführen ist, ist ungeklärt.7 In Israel war man sich zu diesem Zeitpunkt sicher, dass von den Deutschen nichts zu erwarten sei und entschlossen, keinerlei politische, wirtschaftliche oder sonstige Beziehungen aufzunehmen. Schließlich bestand ein nicht unwesentlicher Teil der israelischen Bevölkerung aus Menschen, die der Vernichtung in Deutschland und Europa entkommen konnten. Mehr als 500.000 Juden, die vor den Nazis fliehen konnten oder nach dem Krieg aus Europa ausgewandert waren, hatten sich bis 1952 in Israel niedergelassen. Sie stellten damit einen erheblichen Anteil an der Bevölkerung und bereiteten dem neugegründeten Staat außerordentliche Probleme was Versorgung und Integration betraf.8 Chaim Weizman hatte bereits kurz nach Kriegsende in einem im Namen der Jewish Agency for Palestine verfassten Brief an die Siegermächte eine Forderung von acht Milliarden Dollar Entschädigung erhoben, eine Forderung die von Konrad Adenauer ohne weiteren Kommentar übergangen wurde.9 In einem Interview mit dem Chefredakteur der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland im November 1949 hatte Konrad Adenauer, nachdem er sich einem solchen Gespräch zunächst verweigert hatte, versprochen, Rassismus und Antisemitismus zu bekämpfen, dem Rechtsradikalismus entgegenzutreten und jüdische Einrichtungen vor Übergriffen zu schützen. Darüber hinaus sollte der wirtschaftliche Schaden, den Bürger jüdischen Glaubens erlitten hatten, „wiedergutgemacht“ werden. Als erste symbolische Geste deutscher

Entschädigungsbereitschaft

wurden

von

ihm

10

Millionen

Mark

als

»Wiedergutmachung« angeboten - etwa 1,66 Mark für jeden ermordeten Juden, wie von israelischen Zeitungen empört ausgerechnet wurde. Noch am selben Abend wurde das Angebot von einem Sprecher der israelischen Regierung abgelehnt und stieß ebenso wie der deutsche Vorschlag, zur Regelung der Entschädigung ein »Sonderreferat für jüdische Fragen« einzurichten, auf scharfen Protest in der israelischen Öffentlichkeit und bei den jüdischen Organisationen in den USA. Der Beweggrund für das Angebot Adenauers dürfte eher in der Hoffnung auf weiter geöffnete Türen, die sich der Bundeskanzler für seinen bevorstehenden ersten Staatsbesuch in den USA

keineswegs hauptsächlich Juden beteiligt waren, sondern vielmehr jedermann partizipierte, vgl. Jelinek, Yeshayahu A.; Deutschland und Israel 1945 – 1965. Ein neurotisches Verhältnis; München, 2004; S. 24f. 7 Jelinek, Yeshayahu A.; Deutschland und Israel 1945 – 1965. Ein neurotisches Verhältnis; München, 2004; S. 46, weist auf die Tagebuchaufzeichnungen Blankenhorns, eines engen Mitarbeiters Adenauers, hin, in denen von wiederholten Erörterungen des jüdischen Problems durch den Hochkommissar McCloys gegenüber der Bundesregierung die Rede ist. 8 Deutschkron, Inge; Israel und die Deutschen. Das schwierige Verhältnis; Köln, 1983; S. 17f. 9 Vgl. zur Geschichte der Reparationszahlungen, beginnend bereits vor Kriegsende: Jelinek, S. 48ff.

4

versprach, zu suchen sein, als in einem tatsächlichen tiefen Wunsch nach Aussöhnung.10 Zu diesem Zeitpunkt gab es noch immer keine öffentliche Erklärung, die weite Teile der Bevölkerung erreicht hätte, die Artikel der Allgemeinen Wochenzeitung jedenfalls hatten keine Wirkung, die, wenig verwunderlich, über kleine Kreise in Deutschland und eine gewisse Wahrnehmung im Ausland – und dort vor allem unter Juden - hinausging. Im Januar und März 1951 teilte die israelische Regierung den Siegermächten mit, dass sie sowohl von West wie von Ostdeutschland materielle Entschädigung verlange, direkte Verhandlungen allerdings nicht führen wolle. Von Seiten der Sowjetunion gab es keinerlei Reaktion, von den Westmächten wurde auf die Bonner Regierung und die Notwendigkeit zu direkten Gesprächen verwiesen.11 Ziel der Politik der USA war eine Entlastung der Bundesrepublik von Reparationszahlungen an die ehemals besetzten Länder - der „Wiederaufbau“ sollte nicht gefährdet werden. Wenn Zahlungen geleistet werden mussten, dann wurden Zahlungen an Israel bevorzugt, da diese wie der damalige Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard es formulierte, unabhängig von ihrer Höhe dem Adenauerstaat international „die Wiederherstellung der deutschen Kreditwürdigkeit“12 brächten. Wie sehr Adenauer bemüht war, von den auf dem Umweg über Israel auf den Westen zielenden Bemühungen möglichst wenig nach außen dringen zu lassen, zeigt das Ringen um jedes Wort einer öffentlichen Erklärung Adenauers vor dem Deutschen Bundestag. Über einen engen Vertrauten des Bundeskanzler, Dr. Herbert Blankenhorn, wurde ein Kontakt zu Dr. Barou, einem Vertreter der europäischen Sektion des jüdischen Weltkongresses aufgenommen und mitgeteilt, dass die Bundesregierung nun nicht abgeneigt sei, die jüdischen Forderungen zu prüfen. Ziel der Verhandlungen zwischen Blankenhorn und Barou war es, Bedingungen auszuhandeln, unter denen ein Treffen offizieller Delegationen arrangiert werden konnte.13 Adenauer war sich der antisemitischen Grundhaltung weiter Teile der deutschen Bevölkerung nur zu bewusst, um durch eine öffentliche Erklärung zur deutschen Schuld Unmut in der deutschen Öffentlichkeit zu verursachen und dadurch, dass der Blick der Weltöffentlichkeit auf den deutschen Antisemitismus gelenkt würde, sein Projekt eines deutschen Wiederaufstiegs zu gefährden. Es wäre, so erinnerte Blankenhorn sich später, nicht möglich

10

Kennzeichnend für das politische Denken Adenauers dürfte seine Warnung von 1965, man solle die »Macht der Juden, auch heute noch, insbesondere in Amerika«, nicht unterschätzen, Zitat nachgucken!!! 11 Vgl. Grossmann, K.R.; Die Ehrenschuld; Frankfurt, 1967, S. 21 12 N. Bührer, Werner; Wirtschaft in beiden deutschen Staaten (Teil I); Informationen zur politischen Bildung; Heft 256 13 Deutschkron, Israel und die Deutschen, S. 19

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gewesen, einfach eine Erklärung abzugeben, die ein Schuldbekenntnis und ein Wiedergutmachungsangebot enthalten hätte, für eine solche Erklärung hätte erst die psychologische Basis beim deutschen Volk vorbereitet werden müssen, damit es den Bemühungen der Regierung um eine Versöhnung mit den Juden zustimmte.14

Doch genau auf einer solchen Erklärung als Voraussetzung für direkte Kontakte beharrte die Regierung Ben-Gurions, ein öffentliches Schuldbekenntnis des Bundeskanzlers wurde von ihr zur Voraussetzung gemacht, um überhaupt in Gespräche eintreten zu können. Im Anschluss wurde monatelang über jedes Wort der Erklärung, die Adenauer vor dem Bundestag abgeben sollte, gestritten. Aus Sicht der deutschen Verhandlungsseite waren die geführten Debatten wohl recht erfolgreich, liest man die schließlich am 27. September 1951 – also über ein halbes Jahr nach der Note der israelischen Regierung, über zwei Jahre nach dem erwähnten Interview – vor dem

Bundestag

abgegebene

Regierungserklärung

zur

„jüdischen

Frage

und

zur

Wiedergutmachung“. Nach längeren, etwas weitschweifigen Ausführungen über die Geltung des Artikel 3 des Grundgesetzes und dem Hinweis, dass dieser Artikel jeden deutschen Staatsbürger und insbesondere

jeden

Beamten

zur

Gleichheit

aller

Menschen

verpflichte,

kommt

Bundeskanzler Adenauer darauf zu sprechen, dass diese Gesetzesnormen nur wirksam werden könnten, wenn sie zum Gemeingut des „gesamten Volkes“ werden, wobei es sich vordringlich um ein Problem der Erziehung handele. Damit diese Arbeit nicht gestört werde, habe die Bundesregierung sich entschlossen, die Kreise, die noch immer antisemitische Hetze betrieben, durch unnachsichtige Strafverfolgung zu bekämpfen. Erst im letzten Drittel der Rede kommt Adenauer auf das angekündigte Thema zu sprechen: Die Bundesregierung und mit ihr die große Mehrheit des deutschen Volkes sind sich des unermesslichen Leidens bewußt, das in der Zeit des Nationalsozialismus über die Juden in Deutschland und in den besetzten Gebieten gebracht wurde. Das deutsche Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und hat sich an ihnen nicht beteiligt.15

Die Binsenweisheit, dass jeder Bewohner des Dritten Reiches mitbekommen haben muss, dass der jüdischen Bevölkerung unermessliches Leid zugefügt wurde, wobei von ihm die Möglichkeit offen gehalten wird, dass erst nach dem Ende des Dritten Reiches davon zu erfahren war, wird verknüpft mit der wohl kaum belegbaren Aussage, dass die überwiegende Mehrheit der Deutschen diese Verbrechen verabscheut habe. Die Taktik Adenauers wird bereits deutlich: Es gab eine „Zeit des Nationalsozialismus“, für die niemand konkret haftbar gemacht werden kann, die in dieser Zeit begangenen Verbrechen wurden von der 14

Erinnerungen Blankenhorns, zit.n. Deutschkron, S. 19 Regierungserklärung vom 27.O9.1951, abgedr. in: Vogel, Rolf (Hrsg.); Der deutsch-israelische Dialog. Dokumentation eines erregenden Kapitels deutscher Außenpolitik; München, New York, London, Paris, 1988; Teil 1, Bd. I; S. 45ff.

15

6

überwiegenden Mehrheit „des deutschen Volkes“ verabscheut – hier fand regierungsseitig die Geburt

einer

Geschichtslegende

statt,

die

über

Jahrzehnte

das

öffentliche

Geschichtsbewusstsein in Deutschland prägte. Adenauer fuhr fort: Es hat in der Zeit des Nationalsozialismus im deutschen Volk viele gegeben, die mit eigener Gefährdung aus religiösen Gründen, aus Gewissensnot, aus Scham über die Schändung des deutschen Namens ihren jüdischen Mitbürgern Hilfsbereitschaft gezeigt haben.16

Wieder findet das ideologische Konstrukt Verwendung, dass es eine „Zeit des Nationalsozialismus“ gegeben habe, ohne Akteure, ohne Täter, ohne individuelle Verantwortung. Aber es gab viele, die nicht zuletzt „aus Scham über die Schändung des deutschen Namens“, Hilfsbereitschaft gezeigt hätten, womit Adenauer eine fromme Lüge verbreitete; wenige, zu wenige, deren Namen in Yad Vachem eher als in Deutschland bekannt gemacht wurden und werden, stellten sich der Barbarei entgegen. So wird von ihm die Möglichkeit einer positiven Identifikation mit dem „deutschen Namen“ angeboten, der in dieser „Zeit“ offensichtlich missbraucht wurde. Zwar wird von ihm eingeräumt, dass die „unsagbaren Verbrechen“ – wiederum im „Namen des deutschen Volkes“ begangen „zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung“ verpflichten, doch steht diese Verpflichtung unter einem Vorbehalt: Hinsichtlich des Umfangs der Wiedergutmachung (…) müssen die Grenzen berücksichtigt werden, die der deutschen Leistungsfähigkeit durch die bittere Notwendigkeit der Versorgung der zahllosen Kriegsopfer und der Fürsorge für die Flüchtlinge und Vertriebenen gezogen sind.17

Im Anschluss wird von ihm die Bereitschaft der Bundesregierung bekundet, mit Vertretern des Judentums und des Staates Israel (…) eine Lösung des materiellen Wiedergutmachungsproblems herbeizuführen, um damit den Weg zur seelischen Bereinigung unendlichen Leides zu erleichtern.18

Womit nichts anderes gesagt wird, als dass die Bundesregierung bereit sei, über Wiedergutmachung zu verhandeln – allerdings unter dem Vorbehalt, dass die deutsche Bevölkerung in materiellen Fragen vorrangig behandelt werde – ein deutlicher Hinweis, dass wenn verhandelt werden würde, hart verhandelt würde – und dass die Bundesregierung das Verhandlungszimmer nicht im Büßerhemd betreten und widerstandslos jede Forderung hinnehmen würde. Und hier war der Verhandlungsspielraum mittlerweile größer geworden, standen doch für den Umgang mit den beiden deutschen Staaten für die Siegermächte keineswegs die nationalsozialistischen Verbrechen, sondern die nach 1945 immer stärker politisches Handeln bestimmende Blockkonfrontation im Vordergrund. 16

Ebd. Ebd. 18 Ebd. 17

7

Die israelischen Interessen zielten in eine andere Richtung. Zwar waren die Versuche Entschädigungszahlungen durchzusetzen zunächst ebenso ergebnislos wie die Resolution der ersten Knesset vom Januar 1951 gegen die Wiederaufnahme der deutschen Nation in den Kreis der Völkergemeinschaft - desselben Deutschland, das sechs Millionen unseres Volkes vernichtete; kaltblütig, berechnet und mit satanischer Brutalität, reuelos - und ohne daß seither eine wesentliche Gesinnungsänderung im deutschen Volke eingetreten wäre.19

Diese scharfe Erklärung, der bis Mitte der fünfziger Jahre noch mehrere folgen sollten, hatte wie Ben Gurions Vorschlag - den Sinn, Druck auf die Westmächte und die Sowjetunion auszuüben: Israel wollte als Rechtsvertreter der ermordeten Juden anerkannt werden. Dass es von Seiten Israels überhaupt eine Bereitschaft gab, Verhandlungen mit Deutschland aufzunehmen, ist letzten Endes nur auf die äußerst prekäre Situation, in der sich der neu gegründete Staat Israel befand, zurückzuführen. Für ihn und die jüdischen Organisationen gab es lediglich die Möglichkeit die Fundamentalopposition fortzuführen, was allerdings zur Folge hätte haben können, dass die Existenz des Staates Israel zur Disposition gestellt würde, oder sich auf die von den Westmächten geforderten Verhandlungen einzulassen.20 So wurde von der Regierung Ben Gurion auf der einen Seite pragmatisch argumentiert, dass Israel es sich schlichtweg nicht leisten könne, auf deutsche Zahlungen zu verzichten -, andererseits wurde die De-facto-Anerkennung Westdeutschlands abgestritten. Teil dieses Pragmatismus war die Bezeichnung der kollektiven Entschädigung mit dem biblischen Namen „Schilumim“, worunter eine Zahlung oder Vergeltung, die nicht mit einer Verzeihung verbunden ist zu verstehen ist, durch Außenminister Moshe Sharett. Aber es war in Israel bei der Beobachtung der Entwicklung in Deutschland nicht unbemerkt geblieben, dass ein Antrag, der von der SPD am 22. Februar 1951 im Bundestag eingebracht wurde, in dem es hieß, dass Deutschland den Alliierten die Anerkennung Israels als rechtmäßigem Nachfolger allen herrenlosen Eigentums und aller Entschädigungsansprüche vorschlagen solle, keine Beachtung fand. Carlo Schmid erklärte in seiner Begründung des Antrages, dass Deutschland keineswegs genug getan habe, um „unsere moralische und rechtliche Schuld“ abzutragen, und dass, gleichgültig, wie viel es in dieser Beziehung tun werde, „es nicht ausreichen (wird), um das vergessen zu machen, was geschehen ist“21 Der Appell verhallte ungehört: die Angelegenheit wurde einem Ausschuss übertragen, dort wurde sie über mehrere Monate verschleppt, bis der Gesetzentwurf in Vergessenheit geriet und nicht

19

Zit.n. Jelinek, Deutschland und Israel, S. 92ff. S. Deutschkron, S. 42ff zur erbitterten Auseinandersetzung die Debatten in Israel waren, die um die Aufnahme von Verhandlungen mit der deutschen Regierung geführt wurden, 21 Deutschkron, Inge; Israel und die Deutschen: Das schwierige Verhältnis; Köln, 1983; S. 22; 120. Sitzung des Deutschen Bundestages, 22.02.1951; Band 6, S. 4589ff. 20

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weiter behandelt wurde. Nicht zuletzt durch solche Nachrichten aus Deutschland blieb das grundsätzliche Misstrauen bestehen. Doch schließlich wurde 1952 trotz aller Proteste der linken Opposition in Israel, die fürchtete, dass den Verhandlungen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen auf dem Fuße folgen würde, trotz zahlreicher Gegner innerhalb und außerhalb des Bundestages gegen ein Abkommen mit Israel in Deutschland, das Luxemburger Abkommen unterzeichnet. Es sah deutsche Zahlungen an Israel über einen Zeitraum von 14 Jahren vor, von der ursprünglich errechneten Forderung von 37 Milliarden DM waren lediglich 3,45 Milliarden DM übrig geblieben, die Deutschland über diesen Zeitraum zu zahlen hatte – und dies vor allem in Form von Waren. Ungeachtet dieser stark reduzierten Zahlungen musste Israel – und mit ihr die „Conference of Jewish Claims against Germany“ auf weitere Ansprüche verzichten. Während der Verhandlungen waren diese von der deutschen Seite mehrere Male bis an den Rand des Scheiterns getrieben worden, erst als die deutsche Delegation in Wassenaar, dem Ort der Verhandlungen, von sich aus mit dem Abbruch der Verhandlungen gedroht hatte, da die Delegierten selber den von Adenauer vorgegebenen Kurs als Unverschämtheit gegenüber ihren Verhandlungspartnern empfanden, lenkte der Bundeskanzler ein.22 Von Seiten der Westmächte gab es während der gesamten Verhandlungen trotz dieses Verhaltens der deutschen Unterhändler keinerlei Interventionen. Proteste gab es des Öfteren von Seiten der arabischen Staaten und deutscher Firmen, die durch ein Abkommen ihre traditionell guten Geschäftsbeziehungen in Arabien nicht gefährden wollten. Die Veröffentlichung im Dezember 1951 einer im Auftrag des amerikanischen Hochkommissars zu diesem Thema durchgeführten Umfrage zeigte, dass die Ablehnung gegenüber den Zahlungen an Israel in der Bevölkerung sehr groß war: Bei der Antwort auf die Frage, welche Gruppen das größte Anrecht auf Entschädigung besäßen, standen die Juden an letzter Stelle, vor ihnen wurden Kriegerwitwen und –waisen, Bombengeschädigte und Vertriebene genannt. Lediglich 68% der Befragten antworteten auf die Frage, ob den durch den Krieg geschädigten Gruppen, unter ihnen die Juden, geholfen werden sollte, mit „Ja“. Von dieser Gruppe lehnten 21% jede Wiedergutmachung an Juden ab, 17% billigten ihnen das geringst Anrecht auf Entschädigung unter den Opfern zu, 49% stellten sie den anderen Opfergruppen gleich.23 Im Bundestag stimmte nicht einmal die Hälfte der 214 Abgeordneten der Koalitionsparteien (CDU/CSU, FDP und DP) für den Vertrag, nur die Unterstützung der SPD-Fraktion, die als

22

So schrieb der Delegationsleiter Böhm in seinem Rücktrittsgesuch vom 18.5.1952, dass die bisher versuchte „Lösung (…) nicht vereinbar mit dem politischen und moralischen Gewicht der uns obliegenden geschichtlichen Aufgabe“ sei. Zit.n.: Jelinek, Deutschland und Israel, S. 192 23 S. The Germans, public opinion polls, 1947-1966; Allensbach und Bonn, 1967, n. Deutschkron, S. 56

9

einzige Partei einstimmig für die Annahme stimmte, machte seine Ratifizierung möglich. Von der KPD wurde er abgelehnt mit der Begründung, dass allein die israelischen Industriellen, hinter denen die amerikanische Hochfinanz stünde, damit ein glänzendes Geschäft machten; von der Deutschen Partei – und diese Auffassung wurde von Teilen von CDU und FDP geteilt – wurde bemängelt, dass durch diesen Vertrag die Juden den deutschen Vertriebenen gegenüber bevorzugt behandelt würden. Die Ratifizierung des Vertrages durch das israelische Kabinett24 kam einer De-factoAnerkennung der BRD durch Israel gleich und änderte das Verhältnis zwischen beiden Staaten grundsätzlich. Denn nun war es Israel, dass auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik drängte, die sich einem solchen Ansinnen unter Berufung auf die 1955 beschlossene

„Hallstein-Doktrin“

verweigerte.

Durch

diese

Doktrin

wurde

die

Bundesrepublik darauf festlegte, die Beziehungen zu Ländern abzubrechen, die die DDR diplomatisch anerkannten. Die Drohung der arabischen Länder, diplomatische Beziehungen zur DDR aufzunehmen, falls eine solche Beziehung zwischen der Bundesrepublik und Israel zustande käme, diente als Vorwand, das israelische Angebot zurückzuweisen. Denn die Frage einer De-facto-Anerkennung der BRD durch Israel stellte sich nun nicht mehr. „Wir haben es mit einer Großmacht zu tun“, erklärte Ben Gurion in einer internen Besprechung schon 1954, „wir können uns als Staat dem Kontakt mit ihr nicht entziehen; wir können ihrer Haltung nicht gleichgültig gegenüberstehen - mit wem sie Kontakte unterhält und mit wem sie Bündnisse eingeht.“25 Die Bemühung um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik war die Konsequenz dieser Haltung, allerdings musste dabei immer der antideutschen Stimmung in der israelischen Bevölkerung Rechnung getragen werden. Neben dem Vorwand der Hallstein-Doktrin erwies sich auch die weit verbreitete antizionistisch-antisemitische Stimmung in beiden deutschen Staaten, als Hemmschuh für die Aufnahme offizieller Beziehungen. So dauerte es bis zum Austausch von Botschaftern noch bis 1965 – in diesem Jahr nahm Bundeskanzler Ludwig Erhard quasi im Alleingang auf Druck der internationalen und Teilen der bundesdeutschen Öffentlichkeit Beziehungen zu Israel auf. Das bis heute nach wie vor virulente Konstrukt, dass der Nationalsozialismus von einigen bösen Machthabern ins Werk gesetzt wurde, das individuelle Schuld abgesehen von diesen Großtätern nahezu ausgeschlossen wird, gepaart mit der Möglichkeit einer positiven Identifikation mit einem von diesen Verbrechern okkupierten Begriff von Deutschland 24 25

In Israel war eine Ratifizierung durch die Knesseth nicht notwendig. Jelinek; Deutschland und Israel, S276

10

erweist sich als – wenngleich nahe liegender – ideologischer Glücksgriff. Die sich daraus entwickelnden Inhalte der Vergangenheitsbewältigung wurden schon bald gegen den Staat Israel ins Feld geführt.

III „Wir treten ein für das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes.“26 Dieser Satz, gesprochen von Rüdiger von Wechmar, Bonns erstem Vertreter bei den Vereinten Nationen sorgte für erhebliches Aufsehen, in der israelischen Öffentlichkeit schlug er ein wie eine Bombe. Schließlich war es das erste Mal, dass ein Vertreter eines westlichen Staates sich so äußerte. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde - zumindest offiziell - auch von den deutschen Regierungen die Auffassung geteilt, dass es sich bei dem Palästina-Problem in erster Linie um ein Flüchtlingsproblem handele, für das eine humanitäre Lösung gefunden werden müsse. Dass es so etwas wie ein „Selbstbestimmungsrecht“ für ein ziemlich frisch aus der Taufe gehobenes palästinensisches Volk gebe – dies war bis zu diesem Zeitpunkt von westlichen Staatsmännern noch nicht zu vernehmen gewesen. Und es blieb natürlich ein Hinweis auf die deutsche Geschichte in diesem Zusammenhang nicht aus. Von Wechmar fuhr fort: Gerade für uns Deutsche mit unseren leidvollen Erfahrungen ist dies eine Selbstverständlichkeit. Wir betrachten es als unzulässig, Gebiete durch Gewaltanwendung zu erwerben und halten es für notwendig, dass Israel die territoriale Besetzung beendet, die es seit dem Konflikt von 1967 aufrechterhalten hat.27

Was könnte mit den „leidvollen Erfahrungen“ gemeint sein, die er für die Deutschen kollektiv in Anspruch nimmt und die dazu führen, dass es als unzulässig betrachtet wird, Gebiete durch Gewaltanwendung zu erwerben? Der deutsche Eroberungs- und Vernichtungskrieg dürfte wohl kaum darunter zu verstehen sein, da dieser zwar zu leidvollen Erfahrungen zahlloser Einwohner Europas führte, für die meisten Deutschen im Gegensatz dazu jedoch in erster Linie zunächst positive Auswirkungen hatte. Eine andere Deutung als jene, dass die Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten, aus Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei und die Folgen der deutschen Teilung darunter zu verstehen sind, ist letzten Endes nicht möglich. Es ist mehr als ein Affront, in direkter Konfrontation mit dem Staat Israel auf die „leidvollen Erfahrungen“ als Deutsche hinzuweisen, deren angesichts des zähen Widerstandes bis zum Ende nur unter großen Opfern mögliche Niederringung schließlich die einzige Möglichkeit war, die begonnene und bis zum Schluss konsequent

26

Erklärung Rüdiger Freiherr von Wechmars, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen, vom 19.11.1974, Abdruck in: Vogel, Rolf (Hrsg.); Der deutsch-israelische Dialog. Dokumentation eines erregenden Kapitels deutscher Außenpolitik; München, New York, London, Paris, 1988; Teil 1, Bd. II; S. 544f. 27 Ebd., S. 545

11

verfolgte Vernichtung der europäischen Juden vor ihrer Vollendung zu stoppen. Schlimmer noch ist es, aus dieser Niederlage einen kollektiven Opferstatus abzuleiten, der das Recht verleihen soll, moralische Urteile über das Handeln anderer Regierungen zu sprechen. Erstmals wird von einem Vertreter des Westens das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat vor den Vereinten Nationen verkündet: Als Konsequenz des Selbstbestimmungsrechts erkennen wir das Recht des palästinensischen Volkes an, selber zu entscheiden, ob es auf dem von Israel zu räumenden Gebiet eine eigene Autorität errichtet, wie es auf der arabischen Gipfelkonferenz in Rabat beschlossen worden ist, oder eine andere Lösung wählen will.28

Die Anwendung dieses Selbstbestimmungsrecht auf die Palästinenser war dabei nicht allein Ausdruck einer aus der deutschen Geschichte abgeleiteten Ideologie, sondern erfüllte auch einen realpolitischen Zweck: Mit der ständigen Betonung dieses Selbstbestimmungsrechtes ließ sich auch die deutsche Frage aktuell halten und immer wieder stellen. Die Ansprache war darüber hinaus nicht zuletzt ein Zeichen dafür, dass sich in den letzten Jahren in Deutschland einiges verändert hatte. So war durch die neue Ostpolitik der sozialliberalen Regierung einiges in Bewegung geraten: Die Hallstein-Doktrin ließ sich nicht länger halten, längst schon wurde sie nur noch äußerst inkonsequent angewendet. Erst am 18 September 1973 waren die Bundesrepublik und die DDR von den Vereinten Nationen nach langen Querelen als Mitglieder aufgenommen worden. Die enge Einbindung beider Staaten in die Blöcke des Kalten Krieges hatte zuvor die Mitgliedschaft verhindert, erst im Zuge der Entspannungspolitik war ein solcher Schritt möglich geworden. Die Haltung Deutschlands im Nahostkonflikt zeichnete sich allerdings bereits vorher ab: Als Bundeskanzler Brandt im April 1974 zu einer Reise nach Algerien und Ägypten aufbrach, wurde von ihm öffentlich auf die Problematik der Palästinenser hingewiesen und festgestellt, dass ohne die Berücksichtigung der Existenz und der Rechte der Palästinenser ein dauerhafter und gerechter Friede im Nahen Osten nicht möglich sein wird. (…) Wir sind uns heute im klaren darüber, daß dies nicht mehr nur ein humanitäres Problem ist, sondern auch eine politische Frage29

Zwar wich er Fragen nach einer Stellung der Bundesregierung zur Gründung eines palästinensischen Staates aus, indem er lediglich bemerkte, dass sie „für alle Vorschläge offen“30 bleiben sollte, doch wurde bereits zu diesem Zeitpunkt deutlich, dass die Bundesrepublik unter sozialdemokratischer Führung Versuche startete, dass Verhältnis zu Israel zu „normalisieren“.31

28

Ebd. 17./18.04.1974; Bulletin der Bundesregierung 30 S. Deutschkron, S. 390 31 Vgl. Wolffsohn, Michael; Ewige Schuld? 40 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen; München, 19882; S. 39f. 29

12

Als kurz nach dem Rücktritt Brandts der bisherige Außenminister Walter Scheel zum Bundespräsidenten gewählt wurde und ihm Hans-Dietrich Genscher im Amt nachfolgte, wurde dies in Israel mit Sympathie aufgenommen, da man sich von Genscher eine beständigere deutsche Haltung im Nahostkonflikt erhoffte. Bereits am 13. November 1974 geriet diese Hoffnung jedoch ins Wanken, als Yassir Arafat als

Führer

der

„Palästinensischen

Freiheitsbewegung“

PLO

auf

Einladung

der

Generalversammlung vor den Vereinten Nationen mit der Pistole im Halfter auftrat und stehende Ovationen der Vertreter der arabischen und Warschauer-Pakt-Staaten, aber auch vieler westlicher Vertreter erhielt. Zwar stimmte die Bundesrepublik gemeinsam mit den anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaft gegen die Aufnahme der PLO mit dem Status eines ständigen Beobachters32, bei der Abstimmung über die Resolution, die die PLO zum „Vertreter des Volkes von Palästina“ ernannte und in der diesem „Volk“ ein unveräußerliches

Rückkehrrecht

zugebilligt

wurde,

enthielt

sie

sich

jedoch

der

33

Stimme, obwohl es völlig eindeutig war, dass die Umsetzung dieses Rückkehrrechtes die Grundlage Israels als eines jüdischen Staates zerstören würde. Endgültig erschüttert wurde die Hoffnung durch die Ansprache von Wechmars, in dem die eigentlich selbstverständliche Forderung nach einer Anerkennung Israels durch seine arabischen Nachbarn nur in einem kurzen Nebensatz Erwähnung findet. Angesichts des offenen Bekenntnisses der PLO zur Zerstörung des Staates Israel34 und der Verantwortung für zahlreiche Terroranschläge, war bereits die Aufwertung der PLO durch den Auftritt bei den Vereinten Nationen als Affront erschienen. Die mehr oder minder unverhohlene Forderung nach einem Palästinenserstaat konnte in Israel nicht anders als eine Bedrohung verstanden werden, wie sonst ließe sich die Entstehung eines zusätzlichen militanten Feindes, in dessen Programm die Vernichtung des Nachbarn zu lesen stand, verstehen?

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Frankreich stimmte als einziger westlicher Staat für die Aufnahme der PLO, s. Jaeger, Kinan; Quadratur des Dreiecks. Die deutsch-israelischen Beziehungen und die Palästinenser; Schwalbach/Ts., 1997, S. 64 33 S. Deutschkron, S. 391 34 Erst 1988 erkannte die PLO die UN-Resolution 242 und damit das Existenzrecht Israels an; vgl. Tempel, Sylke; Beruf: Palästinenser. Yassir Arafat und die PLO; in: Gremliza, Hermann L. (Hg.); Hat Israel noch eine Chance? Palästina in der neuen Weltordnung; Hamburg, 2001; S. 65 – 76; S. 66; der israelische Botschafter in Bonn Johanan Meroz zitierte nach seinem Amtsantritt kurz nach der Rede von Wechmars aus dem 1968 in Kairo beschlossenen und bis zu diesem Zeitpunkt unveränderten „palästinensischen Nationalabkommen“ der PLO: „Die Juden sind kein Volk und haben daher kein Recht auf Selbstbestimmung und auf einen Staat. Nur die Palästinenser haben das Recht zur Selbstbestimmung und sie sind die Herren des ganzen Landes, das heißt nicht nur der Gebiete, die heute von Israel verwaltet werden, sondern des ganzen Gebietes, auf dem sich der Staat Israel befindet.“in: Vogel, Rolf (Hrsg.); Der deutsch-israelische Dialog. Dokumentation eines erregenden Kapitels deutscher Außenpolitik; München, New York, London, Paris, 1988; Teil 1, Bd. II; S. 546; Interview des Herausgebers mit dem Botschafter vom 20.11.1974

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Der in Israel vorherrschende Eindruck, dass die Bundesrepublik eine sehr zweideutige Politik betrieb, die auf der einen Seite immer wieder das Existenzrecht Israels beschwor35, auf der anderen Seite mit den schlimmsten Feinden des Landes das Gespräch suchte, wurde nicht zuletzt durch verschiedene Treffen bestätigt: So traf sich Dr. Gerhard Schröder, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages in Damaskus mit Yassir Arafat, Willy Brandt empfing als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands den Europa-Beauftragten der PLO, Issam Sartawi, zu einem Gespräch, „das fast die ganze Nacht andauerte“36. Dass, was in den sechziger Jahren noch nur für große Teile der Linken galt, dass nämlich die Palästinenser

als

Identifikationsfiguren

dienten,

dass

sie

als

„großer,

militanter

Heimatvertriebenenverband“ (Wolfgang Pohrt) firmierten, wurde durch die sozialliberale Koalition aus den Debattierstuben linker Studenten auf die Ebene der Regierungspolitik gehoben,

umstandslos

wurden

durch

die

deutsche

Politik

eigene

Wiedervereinigungssehnsüchte mit den palästinensischen nationalen Bestrebungen verknüpft. Auch dieses ideologische Konstrukt erweist sich als überaus haltbar, die Vermutung, dass mit der deutschen Wiedervereinigung der Grund für die auf die Palästinenser projizierten nationalen Sehnsüchte entfallen könnte, erwies sich nach 1989 sehr rasch als falsch.

IV Eine tiefe Krise erlebten die deutsch-israelischen Beziehungen in den Auseinandersetzungen zwischen dem Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem seit 1977 in Israel regierenden Menachem Begin. Bei diesen Auseinandersetzungen kamen zwei Faktoren zusammen: Begin war der erste israelische Ministerpräsident, der von der Shoah direkt und persönlich betroffen war – beide Eltern wurden ermordet. Er übte keinerlei Nachsicht gegenüber den Feinden Israels und machte aus seiner Antipathie gegenüber Deutschland keinen Hehl. Schmidt hingegen wollte an dem bereits von Brandt eingeschlagenen Normalisierungskurs festhalten und möglichst auf „Sühnesymbolik“37 verzichten. Schmidt und Genscher planten, bundesdeutsche Leopard 2-Panzer an Saudi-Arabien zu liefern, also an einen der erbittersten Feinde des Staates Israel, der überdies die PLO finanzierte. Saudi-Arabien begründete sein Interesse mit der Gefahr, in der sich das Land nach dem Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan befinde. Schmidt ließ gegenüber dem Außenminister Saudi-Arabiens durchblicken, dass zwar nach der aktuellen Beschlusslage eine

35

So erklärte Außenminister Genscher der Bild-Zeitung am 25.11.1974: „Wir werden Israel nicht im Stich lassen.“ 36 Willy Brandt im Gespräch mit Inge Deutschkron; s. Deutschkron, S. 394 37 Wolffsohn, Ewige Schuld, S. 40

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Lieferung von Waffen in Spannungsgebiete ausgeschlossen sei, man könne jedoch über eine neue Definition des Begriffes nachdenken, um eine solche Lieferung zu ermöglichen. Die Angelegenheit wurde bekannt, sofort setzte sich Israels Botschafter in Bonn, Meroz, mit Außenminister Genscher in Verbindung und sprach seine ernsten Bedenken gegen eine solche Lieferung aus. Der Oppositionsführer Shimon Peres traf in Bonn mit Kanzler Schmidt zusammen, der zusagte, im Falle von Waffenlieferungen an Saudi-Arabien auch Israel wieder zu beliefern. Israels Außenminister Jizhak Shamir warnte in einer Ansprache an die Knesset die Deutschen vor einem Waffenverkauf an einen der schärfsten Gegner Israels. Dieses Bekanntwerder führte zu einer Debatte innerhalb der SPD, in der von einigen führenden Parteimitgliedern wie z.B. Annemarie Renger, der Waffenhandel entschieden abgelehnt wurde38, so dass Schmidt die Pläne zunächst auf Eis legte. Nach einer Reise nach Riad im April 1981 äußerte sich der Bundeskanzler vor dem deutschen Fernsehen am israelischen Gedenktag für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus folgendermaßen: Wenn wir im Westen die PLO grundsätzlich als Terroristen betrachten und nicht lernen zu unterscheiden zwischen den verschiedenen Fraktionen innerhalb der PLO (…), dann ist das die sicherste Methode, die PLO in die Arme Moskaus zu treiben. Dies ist keine Vernunft. Ganz abgesehen davon, dass es für mich auch eine moralische Frage ist, ob wir gegenüber den Vertriebenen und Flüchtlingen von der Westbank und von der Ostbank (…) uns auf den Standpunkt stellen, das ginge uns weniger an. Für mich ist es eine Tragödie griechischen Ausmaßes, dass nun endlich nach zweitausend Jahren die Juden ihren eigenen Staat wieder haben begründen können und dass es nicht möglich sein soll, ihn im Einvernehmen mit den Nachbarvölkern zu konsolidieren.39

Dass dies beißende Kritik des israelischen Ministerpräsidenten heraufbeschwor, ist nicht sehr erstaunlich. Abgesehen davon, dass die Palästinenser wiederum als Projektionsfläche deutscher Wünsche dienen, ist der Versuch einer feinsinnigen Unterscheidung innerhalb der PLO, die ja (s. Fußnote 33) aus ihrer feindlichen Haltung Israel gegenüber keinen Hehl machten, ausgerechnet an diesem Tag zumindest eine ausgesprochene Taktlosigkeit. Darüber hinaus präsentiert Schmidt indirekt eine Variante des Themas von der besonderen deutschen Verantwortung für den Nahen Osten. Weil es ohne den Nationalsozialismus kein Israel gäbe, und Israel das Flüchtlingsleid der Palästinenser verursacht habe, ergibt sich eine Mitverantwortung Deutschlands für das Wohlergehen der palästinensischen Bevölkerung und die Notwendigkeit einer Wiedergutmachung an den Palästinensern durch die Befürwortung ihres Rechtes auf Selbstbestimmung und Staatlichkeit. Die Reaktion Begins ließ nicht auf sich warten:

38

Der Waffenhandel wurde von ihr als eine „Frage der moralischen Qualität“ bezeichnet, schließlich hätten die Lieferungen nicht nur eine Verschlechterung der Beziehungen zu Israel zur Folge, sondern würden dort objektiv den Eindruck erwecken, die Deutschen setzten sich über israelische Sicherheitsinteressen hinweg, n. Der Spiegel, Nr. 3 / 1981 S.??? 39 Zit.n. Deutschkron, S. 418

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Dem deutschen Volk im Jahre 1981 zu sagen, dass es für die Araber eine Verpflichtung habe, dagegen dem deutschen Volk nicht zu sagen, dass es in dieser und in allen kommenden Generationen dem israelischen Volk verpflichtet sei! (…) Es ist nackte Arroganz und Frechheit, meiner Generation, der Generation der Vernichtung und der jüdischen Wiedergeburt zu sagen, dass Deutschland Schuld gegenüber den Arabern habe. Begin griff Schmidt persönlich an: Hier geht es um die Arroganz eines Mannes, der in einem bestimmten Saal in Anwesenheit Hitlers Zeuge war, als Generäle, die 1944 den Teufel ausmerzen wollten, an Klavierseiten aufgehängt wurden. Ich glaube, dass ich nicht der einzige bin, der weiß, wer dort anwesend war.40

In Bonn lösten die Vorwürfe Begins einhellige Empörung aus, auch die Opposition stellte sich hinter Schmidt.41 Die teilweise heftigen Reaktionen dürften nicht allein auf die Beliebtheit des Bundeskanzlers zurückzuführen sein, sondern können auch dahingehend gedeutet werden, dass die individuelle Teilhabe am Nationalsozialismus nach wie vor mit einem Tabu belegt war, an dem nicht gerührt werden durfte. Nach Angaben einer israelischen Zeitung hatte Schmidt in einem Gespräch in Paris eine öffentliche Entschuldigung von Begin verlangt und gesagt, er werde Israel erst besuchen, wenn eine solche Entschuldigung geleistet worden sei. Eine solche Entschuldigung wurde von Begin rigoros abgelehnt, statt dessen fügte er hinzu, dass er sich in seiner ersten Erklärung gegen Schmidt geirrt habe, als er Schmidt der Teilnahme an einer Filmvorführung der Erhängung der Generale bezichtigt habe. Tatsächlich sei es eine Gerichtsverhandlung gewesen. Außerdem solle Schmidt sich wie Brandt nach Warschau begeben, um dort um Verzeihung zu bitten für das, was seine Landsleute unter dem Naziregime dort verübt hätten42, als Schmidt seinem persönlichen Eid treu blieb, den er Adolf Hitler als sein Soldat, Offizier seiner Armee geleistet habe.43 Wiederum reagierten die deutschen Medien überwiegend äußerst negativ. Als in dieser Atmosphäre die israelische Armee mit einer Invasion in den Libanon begann, um gegen die von dort ausgehenden Angriffe durch die PLO vorzugehen, war die Verurteilung Israels in den deutschen Medien nahezu einhellig. Kanzler Schmidt meinte: Menschen werden wahllos getötet, Frauen und Kinder, die mit diesem Krieg nichts zu tun haben!44 Jürgen Möllemann nannte Begin einen Kriegsverbrecher und forderte, dass man ihn vor ein internationales Tribunal stellen sollte. Die Forderung, dass die Bundesrepublik ihre Beziehungen zu Israel endlich normalisieren müsse, fand, vom „Spiegel“ aufgestellt, der in 40

Ebd. So sagte z.B. Oppositionsführer Helmut Kohl, dass seine Partei diese Angriffe entschieden zurückweise, s. ebd. 42 Begin stammte ursprünglich aus einer polnischen Familie 43 Deutschkron, S. 421 44 Die Welt, 14.08.1982 41

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diesem Zusammenhang Beirut mit Guernica verglich45, allgemeine Zustimmung. Wiederum diente Israel als Projektionsfläche, denn Beirut war mitnichten Guernica, Menschen wurden nicht wahllos getötet.46

V Natürlich beruhigten sich die Gemüter nach diesen Aufwallungen in beiden Ländern wieder. Allerdings zeigt dieser Zwischenfall, wie einfach sich deutsche Wünsche und Ängste Israel zuschreiben lassen und wie eindeutig die Palästinenser in der Rolle der Schwachen und Vertriebenen gesehen werden. Ebenso deutlich ist aber auch, dass es immer wieder Menschen gab und gibt, die sich gegen diese einfache Zuordnung zur Wehr setzten und damit auch des öfteren Erfolg haben konnten. Leicht ließe sich eine Skandalchronik bundesdeutschen Verhaltens in der Beziehung zum Staat Israel erstellen, von dem Skandal um deutsche Raketentechniker in Ägypten zu Beginn der 60er Jahre, über das Verhalten nach dem Anschlag auf die israelische Mannschaft bei den olympischen Spielen 1972, bis zu der Panzerlieferung der Bundesrepublik an Saudi-Arabien 1991. Aktuelle Beispiele wären die Haltung einer relativen Indifferenz gegenüber iranischen Atomwaffen und die Sondierung von Möglichkeiten zur Aufnahme von Gesprächen mit der erst vor wenigen Jahren – und dies auch nur teilweise – als terroristische Organisation gebrandmarkten Hamas.47 Und natürlich wäre auch die Positionierung des deutschen Außenministers Joseph Fischer zu nennen, der sich einerseits als standhafter Freund Israels geriert, andererseits eine Politik der beständigen Aufwertung der islamistischen Organisationen betreibt.48 Mit seiner eigenen Variante der Freundschaft zu Israel hat der deutsche Außenminister eine Argumentationsfigur eingeführt, die er in einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine im

45

Der Spiegel, Nr. 26 / 1982 Die ersten Zahlen von 10.000 Toten und 600.000 Vertriebenen wurden Mitte Juni 1982 vom palästinensischen Roten Halbmond in Umlauf gebracht, dessen Leitung Yassir Arafats Bruder Fathi inne hatte. Francesco Noseda vom Internationalen Roten Kreuz, der anfangs die falsche Zahl übernommen hatte, stellte diese zwar später richtig, konnte allerdings die ersten Angaben bis heute nicht vollständig aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängen. Vgl. zu den Zahlen: New York Times, 25.06.1982 47 Die antisemitische Hamas denunzierte zwar die Friedenspläne des Nahost-Quartetts als „zionistische Verschwörung“ und torpedierte die Anfänge des Friedensprozesses mit einer Serie von Selbstmordattentaten, dennoch weigerte sich der Europäische Ministerrat am 3. Juli 2003, die Konten der Hamas einzufrieren und die Organisation auf die Liste terroristischer Organisationen zu setzen. Die Aktivitäten des politischen Flügels der Hamas seien „legitim“, betonte der Sprecher der EU-Kommission, Reijo Kempinnen, da er soziale Dienste leiste und Kliniken betreibe. „Dass die Hamas in ihrer Gänze eine Terrororganisation sei, ist gewiss nicht unsere Position.“ Philip Carmel, Under pressure from France, E.U. decides against Hamas ban, in: JTA (Global News Service of the Jewish People), 6. Juli 2003; zit.n. Küntzel, Matthias; Vom Fischer-Plan zur Road Map: Zum deutschen Debüt im Nahost-Konflikt; veröffentlicht unter: http://www.matthiaskuentzel.de 48 S. ebd. 46

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Juni 2002 darlegte49. Danach habe sich Deutschland mit dem Holocaust selbst beraubt, seine eigene Kultur und Gesellschaft. Das Holocaust-Mahnmal sei ein Symbol dieses Verlustes, den Deutschland sich durch seine Barbarei selbst zugefügt habe und der bis heute nachwirke. Daraus resultiere, dass das deutsch-jüdische Verhältnis immer „etwas ganz Besonderes“ bleibe und deswegen bedürfe es der Sensibilität und einer anhaltenden Selbstvergewisserung. Nur wenn es diese Selbstverständlichkeit des Miteinanders gäbe, dann werde eine Kritik möglich, die das „prekäre deutsch-jüdische Verhältnis nicht an den Wurzeln“ angreife. Und so verstanden sei ein Schweigen zu den aktuellen Vorgängen in Nahost, Deutschland und Europa unmöglich, welches heute viele Juden in Deutschland zu Recht verstöre. Kritik an Israel, die auf Verpflichtung aus unserer Geschichte, auf Vertrauen und Freundschaft gründet, ist kein Antisemitismus – und sie zwingt auch deutsche Juden nicht zu einer bedingungslosen Solidarisierung mit allem, was in Israel demokratisch beschlossen wird.50

Diese Aussage lässt sich, setzt man sie in Beziehung zur vorangegangenen, dass sich „in diesen Monaten“ manches finde, was gerade Freunde Israels im Interesse des Landes zur Kritik nötige, nur begreifen als Aufforderung an die deutschen Juden, in die aus Fischers Sicht notwendige Kritik an Israel einzustimmen. Mit der Ansicht, dass Israel unbedingt zu kritisieren sei, steht der Außenminister keineswegs allein da, sondern kann sich in Überstimmung mit einem Großteil seiner Landsleute wähnen – die letzten Umfragen zeigen eine erschreckend hohe Zustimmung zu antiisraelischen Aussagen 51. Auch wenn es unterhalb der staatlichen Beziehungsebene ein breites Geflecht von wissenschaftlichen Kooperationen, Städtepartnerschaften, persönlichen Freundschaften und kulturellem Austausch gibt: das grundsätzliche Problem bleibt bestehen. Nach wie vor gibt es eine grundsätzliche, tiefe Missachtung bei weiten Teilen der politischen Elite und noch größeren

Teilen

der

vergangenheitspolitischen

deutschen

Bevölkerung

Kontinuitäten,

die

dem

bereits

Staat in

der

Israel

gegenüber.

Die

Gründungsphase

der

Bundesrepublik erkennbar waren, und die mit dem rot-grünen Projekt zur endgültigen Abwicklung der Vergangenheit ihre Fortsetzung finden, bestehen kaum verändert fort.

49

Fischer, Joseph; Deutschland, Deine Juden. Wider die neue Sprachlosigkeit im deutsch jüdischen Verhältnis; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.05.2002 50 Ebd. 51 Vgl. z.B. Heyder, Aribert /Iser, Julia / Schmidt, Peter; Israelkritik oder Antisemitismus? Meinungsbildung zwischen Öffentlichkeit, Medien und Tabu; in Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.); Deutsche Zustände. Folge 3; Frankfurt a.M., 2005; S. 144 - 165

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