Werner Janisch

Das Lied des Raben

Ein Dankeschön an meine Tochter Kathrin Anna Janisch für ihre Unterstützung.

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© 2010 novum publishing gmbh ISBN 978-3-99003-142-1 Lektorat: Mag. Marion Hacke Illustrationen: Hannah Buser Die vom Autor zur Verfügung gestellten Abbildungen wurden in der bestmöglichen Qualität gedruckt. Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem ­Papier.

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A U S T R I A · G E R M A N Y · H U N G A R Y · spain · S W I T Z E R L A N D

Das Lied des Raben Der Schulbus fuhr über die graue Landstraße. Es war keine schöne gerade Straße mit einem weißen Streifen in der Mitte. Nein, die Straße war alt, gebraucht und mit unzähligen Löchern, Rissen und Asphaltflicken übersät. Sie war nicht einmal überall gleich breit oder gleich schmal. Ausweichstellen waren willkürlich immer wieder an ihren Rand geteert worden. Ihr Weg schlängelte sich über die Hochebene. Kurven, lang gezogene Bögen veränderten ihren Verlauf ohne ersichtlichen Grund. Es war nichts auf dieser Ebene, das eine Kurve oder einen Bogen nötig gemacht hätte. Kein Baum, Haus oder Felsen, dem sie hätte ausweichen müssen. Man­ che fragten sich, warum dies so war, aber die meisten benutzten die Straße nur, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Sie machten sich keine Gedanken. Was nur die wenigsten wussten! Diese Straße hatte kein Inge­ nieur geplant. Sie verlief einfach über den alten Feldweg. Dieser hatte denselben Verlauf wie die Straße gehabt. Der Weg hatte als Grenzverlauf zwischen den Feldern gedient. Mit ihren schweren Traktoren hatten die Bauern den Weg ausgefahren. Sie hatten die Grasnarbe aufgerissen und die nackte Erde war hervorgekommen. Wenn dann der Regen die Erde aufgeweicht hatte, entstanden tiefe Löcher. Mit Steinen und alten Dachplatten hatten sie dann versucht, den Feldweg zu befestigen. Vorher waren es Ochsen­ gespanne, mit ihren eisenbeschlagenen Rädern, die ihre tiefen Spuren hinterlassen hatten. Mit diesen Gespannen war die Saat ausgebracht oder dann die Ernte eingebracht worden. Knarrende, hölzerne Leiterwagen, neben denen Bauer oder Knecht herging, um die Ochsen anzutreiben. Unterwegs auch zum Markt, um die Ernte zu verkaufen oder neues Saatgut zu erwerben. Kühe, ange­ trieben von barfüßigen Buben, waren auf dem Weg zur Wiese über 5

den Karrenweg gelaufen. An den Feiertagen fuhren die Bauern mit ihren schönen Kutschen, bekleidet mit ihren Sonntagsgewändern, zur Kirche. Da sie sehr oft auf ihm verkehrten, kannten sie jeden Baum, der am Rand des Weges wuchs. Es war ihr Weg von Kind­ heit an bis zu dem Tag, an dem sie zum Friedhof gefahren wurden. Aber es gab auch Wanderer mit staubigen Schuhen, für die dieser Weg nur ein kleiner Abschnitt ihrer Reise war. Handwerksgesellen, die auf der Walz waren, wanderten auf dem Weg von Dorf zu Dorf auf der Suche nach ehrlicher Arbeit. Oft war der Weg mühsam, wenn der Wind pfiff, Regen niederprasselte oder Kälte und Schnee dem Wanderer durch die Kleider drang. Manchmal wussten die Wanderer auch nicht, was für ein Schicksal sie im nächsten Ort erwartete, und die Schritte waren langsam und zögerlich. Furcht, Angst oder Mutlosigkeit waren oft eine weit schwerere Last als der vollgepackte Rucksack, den die Wanderer auf den Rücken ge­ schnallt hatten. Es gab auch Wanderer, die auf der Flucht vor Ver­ folgung und Hunger waren, und manche wussten nicht, was es war, vor dem sie flohen. Aber genauso oft waren die Schritte der Wanderer leicht und beschwingt und man hörte sie ein fröhliches Lied singen oder eine beschwingte Weise pfeifen. Manche taten dies, um sich selbst Mut zu machen, aber andere freuten sich ein­ fach nur, weil die Sonne schien, die Bäume blühten und die Vögel zwitscherten. Oder auch weil ihr Herz leicht war, denn alles, was sie besaßen und was sie belastete, war in ihren Rucksack gepackt, den sie auf dem Rücken trugen. Im Sommer war der Weg staubig und heiß, im Herbst entstanden oft tiefe schlammige Löcher und im Winter waren die Furchen oft vom Schnee zugeweht. Aber im Winter waren so gut wie nie Wanderer zu sehen und dann lag der Weg oft einsam da, denn der Winter war nicht die Zeit für lange Wanderungen. Wer nicht unbedingt musste, blieb in seinem Heim, wenn er denn eines hatte, und schloss die Kälte aus. Das Heim war ein Hort der Geborgenheit und eine Burg gegen die Angst und niemand verließ diese ohne einen triftigen Grund, denn man konnte nicht nur die Kälte aussperren. Dann blies der eisige Nord­ wind den Schnee wie Staub über den verlassenen Weg hinweg. Aber lange bevor der Weg zwischen den Feldern verlaufen war, ging er durch einen Wald, einen großen uralten Wald. Waldbauern, 6

Jäger und Sammler nutzten ihn, um tief in ihn vorzudringen, damit sie dort ihren Geschäften nachgehen konnten. Pilze und Beeren wurden im Wald gesammelt oder Holz geschlagen. Mit Pfeil und Bogen oder einfachen Fallen wurde den Tieren nachgestellt, um den Tisch gedeckt zu haben. Ungern entfernten sie sich zu weit von dem Weg, der sie wieder nach Hause führte. Bevor der Weg zum Weg wurde und bevor die Menschen der Welt ihren Stempel aufdrückten, war er ein kleiner Pfad, den die Tiere und andere Ge­ schöpfe benutzten. Auf ihm wechselten sie von einem Platz zum anderen auf der Suche nach Nahrung oder auf der Wanderung von einem Ort zum anderen. Große Eichen, Buchen und Eschen wuchsen in dem Wald und waren die Heimat dieser Tiere und Ge­ schöpfe. Er bot ihnen Schutz und Nahrung. Über Tausende von Jahren hatte er einen Rhythmus des Wachsens, des Lebens und des Sterbens entwickelt. So wie die Jahreszeiten, bloß in anderen Zeit­ abschnitten. Alle, die in ihm wohnten, waren Regeln unterworfen, die nirgends niedergeschrieben waren und doch wie die härtesten Gesetzte befolgt wurden. Als dann die Menschen kamen, fügten auch diese sich zunächst in diese Gemeinschaft ein. Sie wurden zu einem Teil dieser. Sie hatten dort ihren Platz. Später zogen sie an den Rand des Waldes, aber sie lebten dort immer noch als Teil der Gemeinschaft. Dann geschah etwas. Die Menschen änderten sich. Sie began­ nen sich vor dem Wald zu fürchteten. Dinge wurden geflüstert, gingen von Ohr zu Ohr und streuten Misstrauen und Angst aus. Sie wagten es nicht mehr zu tief in ihn vorzudringen, denn dort gab es Dinge, die sie nicht mehr verstanden. Und alles, was die Menschen nicht verstanden oder nicht verstehen wollten, mach­ te ihnen Angst. Sie begannen den Wald zu roden, um gegen ihre Angst anzukämpfen. Der Wald, der ihnen Schutz, Geborgenheit und Nahrung gegeben hatte. Es dauerte Jahrhunderte. Es war hart, aber die Menschen waren ausdauernd und zäh. Etwas trieb sie an und keiner wusste genau, was es war. Ihre Kinder starben vor Hunger und Erschöpfung und sie begruben die Kinder in ihrer Arbeitskleidung, nahmen Axt und Schaufel auf und arbeite­ ten weiter. Mühevoll gruben sie Wurzelstöcke aus, um Weizen und andere Früchte pflanzen zu können. Und schließlich gewannen 7

sie den Kampf und der Wald wurde zurückgedrängt. Die Men­ schen lebten jetzt immer noch an seinem Rand und fürchteten sich nun sogar noch mehr vor dem Wald, der sie einst beschützt hatte. Sie betraten ihn nur noch, wenn sie jagten oder die Früchte des Waldes sammelten. Sie taten dies aber selten allein und es gab bestimmte Tage, an denen sie es gar nicht machten. In der Nacht mieden sie den Wald immer. Die Nacht war nicht die Zeit, das Heim zu verlassen. Es gab nur ein paar Frauen, die keine Angst hatten und den Wald betraten, denn sie hatten das Band zu der Gemeinschaft noch nicht durchtrennt. Aber bald misstrauten die Menschen diesen Frauen, ja sie fürchteten sich sogar vor ihnen. Und es ging nicht lange, da lebten diese am Rande der Gesell­ schaft, aber dies ist eine andere Geschichte. Ein Baum dieses alten Waldes war lange einsam auf dem ge­ rodeten Feld stehen geblieben. Eine uralte Eiche. Ihre geboge­ nen, gezwirbelten Äste reckte sie weit in den Himmel. Knorrige Wurzeln bohrten sich am Ende des Stammes in den Boden und gaben der Eiche Halt und versorgten sie mit Nahrung. Sie war zu mächtig, um gefällt zu werden. Auch wollten die Menschen die Eiche aus einem Grund, den sie selbst nicht richtig verstehen konnten, stehen lassen. Vielleicht war es die Erinnerung an eine verlorene Zeit. An ein Zeitalter, das sie selbst beendet hatten. Der Pfad und nach ihm der Karrenweg hatte einen Bogen um die Ei­ che gemacht. Der Wald war nicht mehr, aber die Eiche stand noch. Die Felder breiteten sich weit um sie herum aus. Dies war noch in einer Zeit, in der das Zwitschern der Vögel oft das lauteste Ge­ räusch war. Man konnte auch den Wind, der die Gräser und den Weizen bog, hören. Wenn tausend Millionen Halme aneinander­ stießen und aneinanderrieben. Ein Rascheln, das zum Rauschen wurde und nur von den Grillen übertönt wurde. Ab und zu ein fernes Hundegebell und später das Läuten der Kirchenglocken. Es konnte auch so still sein, dass man seine Seele atmen hörte. Oft, zur Mittagspause nach der morgendlichen Feldarbeit, trafen sich die Bauern, Mägde und Knechte unter dieser Eiche. Sie aßen und tranken, scherzten und lachten. Der Schatten, den der Baum spendete, war nur ein Grund, diesen Ort so zu mögen. Am Abend war die Eiche oft ein geheimer Treffpunkt von Menschen, die sich 8

liebten, oder Menschen, die einfach allein sein wollten, um ihre Gedanken fliegen und einem Gefühl freien Lauf zu lassen, das sie nicht mehr deuten konnten. Dies war längst vergessen. Die Eiche war von einem Sturm um­ gerissen worden. Dort, wo die Wurzel aus dem Boden herausge­ rissen war, konnte man lange noch ein großes Loch sehen. Aber jahrzehntelanges Ackern hatte die Konturen verwischt und es war jetzt nichts mehr zu sehen von dem Loch. Außer dass die Straße dort eine Kurve machte, wo keine hätte sein müssen. Der Busfahrer dachte zum tausendsten Mal nach, wieso hier eine Kurve war, und ärgerte sich zum tausendsten Mal darüber. Er ver­ fluchte zum tausendsten Mal den Straßenplaner, den es gar nicht gab. Er wusste nichts von der alten Eiche und von dem alten Wald und er wollte auch gar nichts davon wissen. Er umrundete die Kur­ ve auch zum tausendsten Mal und die Stoßdämpfer quietschten. Die Zeit bis zum nächsten Ärgern war um einen Tag verschoben. Die Straße war nicht viel breiter als der Bus. Dies war um diese frühe Morgenstunde kein Problem, da der Bus alleine unterwegs war. Auf die Wiesen seitlich der Straße hatte sich der Morgennebel gelegt. Gebüsche und Bäume bildeten kleine Inseln, die der Nebel nicht berührte. Nahe einer Baumgruppe standen drei Rehe und ästen. Als der Bus näher kam, hoben sie langsam ihre Köpfe, die vorher im Nebel versenkt waren. Alle gleichzeitig. Nur kurz, sie kannten den Bus und wussten, dass keine Gefahr drohte. Trotz­ dem schauten sie herüber. Dann versenkten sie ihre Köpfe wieder im Nebel. Der Bus war vorbeigefahren und rumpelte weiter. An einem Hof, der etwas abseits der Straße lag, leuchtete ein freund­ liches Licht aus einem Fenster und zeigte, dass für die Bauern der Arbeitstag begann. Das Muhen einiger Kühe, die schon Hunger hatten, war gedämpft zu hören. Klappernd fuhr der Bus über die unebene Straße an dem Hof vorbei auf einen Wald zu. Es war, als führe man auf eine dunkelgrüne, fast schwarze Wand zu, und das Tor war noch nicht sichtbar. Schließlich öffnete es sich. Als der Bus in den Wald fuhr und die Straße abschüssig wurde, betätigte der Schulbusfahrer die Motorenbremse und verringerte dadurch 9

die Geschwindigkeit. Die meisten der Kinder, die sich im Bus befanden, bemerkten dies kaum. Sie waren zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Nicht gemachte Schulaufgaben, unerzählte Geschichten und das Austragen von Streitigkeiten beschäftigte sie mehr. Es ging laut und lebhaft in dem Bus Marke Zetra zu. Dreißig Sitzplätze hatte der Bus, in dem fast fünfzig Kinder lach­ ten, zankten, schrien oder weinten. Eine kleine sich bewegende Gemeinschaft in der noch fast schlafenden Welt. Fast alle waren laut und tobten durch den Bus. Nur ein kleiner Junge saß allein am Fenster, schaute nach draußen und schien von alledem nichts mitzubekommen. Er saß meist alleine auf der Bank, denn er hatte nicht sehr viele Freunde. Obwohl es zu wenige Sitzplätze gab, wa­ ren die Sitze am Fenster nicht unbedingt begehrt, denn das meiste spielte sich in dem Mittelgang des Busses ab. So hatte der kleine Junge einen Sitzplatz bekommen. Die anderen Kinder schienen ihn kaum zu bemerken und das war ihm nur recht. Denn wenn sie ihn bemerkten, war es meist nicht zu seinem Vorteil. Seine Augen glitten über den dichten Waldrand. Die Dämmerung des frühen Morgens ließ jedoch noch nicht viel erkennen, aber er hat­ te scharfe Augen und er gewöhnte sich an die Dunkelheit, denn er schaute nicht ins Innere des Busses, das hell ausgeleuchtet war. Je weiter sie fuhren, desto dichter wurde der Wald. Die hohen Fichten links und rechts bildeten ein geschlossenes Dach über der schmalen Straße und verstärkten die Dunkelheit des frühen Mor­ gens noch. Am Fuße der Bäume war der Blick in den Wald durch das dichte Unterholz versperrt, und obwohl es Herbst war und die Sträucher und Bäume keine Blätter mehr hatten, blieb einem der Blick in den Wald verwehrt. Es war, als würden die Bäume, Sträu­ cher und Büsche versuchen, etwas zu verbergen. Etwas, das nicht gesehen werden wollte. Lianen hingen wie Bärte von den Bäumen und gaben dem Wald ein uraltes und gleichzeitig geheimnisvol­ les Aussehen. Die Welt der Menschen schien mit dem Rand der Straße zu Ende zu sein und eine andere Welt schien hinter dem Unterholz zu beginnen. Der Junge am Fenster nahm das alles in sich auf, in der Hoffnung, etwas von dem Geheimnis des Waldes zu erfahren. Vorne fluchte der Busfahrer und rief zwei besonders laute Streithähne zur Ruhe. Der Junge am Fenster sah kurz auf, 10

aber dann schaute er wieder nach draußen. Ihn kümmerte das nicht. Seine Gedanken waren ganz woanders. Was wohl in diesem Wald verborgen lag? Er saß fast jeden Morgen hier und schaute hi­ naus. Auch heute war sein Blick starr auf das Geschehen hinter der Fensterscheibe gerichtet. Ein umgeknickter Baum hatte an einer Stelle die dichten Sträucher zu Boden gedrückt und gab so einen Augenblick das Innere des Waldes frei. Die Sonne erhob sich in diesem Moment über den Horizont und ein erster Sonnenstrahl beschien den Waldboden. Der verträumte Junge setzte sich senk­ recht auf und öffnete leicht den Mund, ohne etwas zu sagen. Er riss seine Augen weit auf. Im hinteren Bereich des Waldes bewegte sich etwas, eine Gestalt. Nein, das war kein Tier, denn es ging auf­ recht. Es schien ein kleines Kind zu sein, aber es bewegte sich an­ ders – schneller – sicherer. Es sah fast so aus, als tanze es durch den Wald. Doch die Schatten der Bäume verdeckten immer wieder die Gestalt und der Junge war sich nicht sicher, ob er seinen Augen trauen durfte. Doch plötzlich blieb die kleine Gestalt stehen und drehte sich um. Sie sah zu dem Bus hin und dann zu dem Jungen. Ihre Augen trafen sich und beide durchzuckte ein Blitz des Er­ kennens. Die kleine Gestalt erstarrte. Auch der Junge im Bus hielt den Atem an und verharrte still. Alles wurde ganz ruhig um ihn herum. Der Junge im Bus wusste, was die kleine Gestalt war, und diese wusste, dass sie gesehen wurde. Die Zeit schien stillzuste­ hen. Doch dieser Augenblick war mit einem Augenzwinkern oder einer Ewigkeit vorbei und die kleine Gestalt verschwunden. Un­ sicher, ob er seine Entdeckung mit jemandem teilen sollte, drehte sich der Junge um. Der Lärm und das Geschrei kehrten zurück. Keiner im Bus hatte etwas bemerkt, keiner hatte nach draußen ge­ schaut. Der kleine Junge lächelte, sein Herz schlug aufgeregt und er war zufrieden, nein, er war glücklich. Der Bus fuhr weiter, doch eine Tür, die geschlossen gewesen war, hatte sich geöffnet.

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Der Wald Der Wald, durch den der Bus fuhr, war ein alter großer Wald. Und doch war es ein kümmerlicher Rest von dem, was er einst gewesen war. Einst, vor vielen Generationen. Doch etwas war von seinem Geist noch vorhanden. Die Bäume, die einst in ihm wuchsen, wa­ ren nicht aufgereiht wie Bohnenstangen. Es waren mächtige Bäu­ me und jeder beherrschte einen Teil des Waldes. Groß und stolz standen sie da und alle Lebewesen, die in ihrer Nähe wohnten, liebten, achteten oder fürchteten sie. Aber immer lebten sie unter ihrem Schutz. Kleinere Bäume wuchsen in ihrem Bereich, aber erst wenn die alten Platz machten, konnte einer von ihnen die Nachfolge antreten. Dann fielen die großen zu Boden, wo sie von Moos und Pilzen überwachsen wurden und zu einem Teil des Bo­ dens und damit wieder zu einem Teil des Waldes wurden. An den Rändern des Waldes wohnten Bauern und nutzten das Holz zum Bauen und Heizen. Ab und zu wurde ein Stück gerodet, aber das Leben war hart, und für die, die in diesem Land überlebten, war genug Platz. Das Innere des Waldes aber blieb lange unberührt. Wege und Straßen nagten nur an seinem Rand. Die Natur wurde als Feind gesehen, der Hunger, Not und Krankheit brachte. Die Menschen suchten Trost in der Gemeinschaft und später in Gott, der sie lehrte, die Natur zu beherrschen. Dies war aber nicht im­ mer so gewesen.

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Der Fuchs Tief im Wald teilte ein Bach das dichte Unterholz mit seinen un­ regelmäßigen Schleifen. Die Fichten und Tannen bildeten eine dunkelgrüne Fläche, die hier unterbrochen wurde. Bäume und Büsche standen entlang des Baches nicht besonders dicht, und die, die doch wuchsen, waren nicht sehr hoch, da der Boden zu feucht war, um ihnen Halt zu geben. Der Bach musste hier schon sehr lange fließen, denn das Bachbett war tief eingeschnitten. Jetzt hatte er sich vom Eis des Winters befreit und plätscherte lustig den Ab­ hang hinab. Tiere trafen sich hier oft, da es im Frühjahr am Bach­ ufer, wo die Sonne schien, wärmer war als im Wald. An den schat­ tigen Plätzen lag noch verharschter Schnee. Doch dort an einer Bachschleife saßen zwei kleine Gestalten und dies waren keine Tiere. Sie waren sehr klein. Nur ein sehr wachsamer ­Be­obachter könnte sie sehen. Sie saßen auf dürrem, trockenem Wintergras, das sie vor der Kälte der noch gefrorenen Erde schützte. Beide waren gleich groß oder gleich klein. Bei näherem Hinschauen sah man aber, dass sie sich sonst doch sehr unterschieden. Der eine war ein Alter mit weißem Bart und einem gegerbten ­braunen Ge­ sicht. Ihm fehlte ein Auge und eine Narbe zog sich über die Stirn, teilte die buschige Augenbraue und lief über die leere Augenhöhle nach unten. Keine Augenklappe verbarg das fehlende Auge. Das Augenlid bog sich über der Augenhöhle nach innen. Dies ver­ stärkte das so schon grimmige Aussehen noch. Er hatte einen schwarzen Umhang um die breiten Schultern gelegt. Dieser hatte eine angenähte Spitzkappe, die er aber nicht aufhatte. Sein weißes dichtes welliges Haar reichte ihm bis zu den Schultern. Ein brei­ ter Gürtel, an dem ein Dolch in einer geschwärzten ­Holzscheide hing, hielt den Umhang zusammen. Seine kräftigen Arme schauten unter dem Mantel hervor. Breite ebenfalls geschwärz­ te Metallringe lagen um die Handgelenke, und diese waren kein 13

Schmuck. Seine Füße steckten in schweren dunklen Stiefeln. Er hatte sich in möglichst bequemer Haltung niedergesetzt und ge­ noss die warmen Strahlen der Frühjahrssonne auf seinem Gesicht. Der Zweite war wesentlich jünger und er hätte freundlicher aus­ gesehen, wenn nicht ein verbissener Ausdruck auf seinen Lippen gelegen hätte. Sein Kinn war noch frei von Bartstoppeln und sein braunes Haar war kurz geschnitten. Auch seine Kleidung unter­ schied sich von der des Alten. Eine grüne leichte Jacke lag um seine Schultern und an den Füßen hatte er dünne Stoffschuhe. Er saß leicht nach vorn gebeugt und etwas von dem Alten abgewandt, als widerstrebe es ihm, sich in der Nähe des grimmig dreinschau­ enden Alten aufzuhalten. Die eine Hand hatte er voller Kieselstei­ ne, die er nach und nach in den Bach warf. An den beiden war sonst nichts Ungewöhnliches, außer dass sie wie gesagt sehr klein waren. Ein Beobachter hätte sie für Groß­ vater und Enkel halten können. Der Alte hatte sein noch intaktes Auge geschlossen und schien zu schlafen. Den Jüngeren schien irgendetwas mächtig aufzuregen, denn er maulte leise vor sich hin, sehr leise, aber er hielt es einfach nicht aus, nichts zu sagen. „Anstatt mit Holder und Stanz mit dem Boot am See Fische zu fangen, muss ich für diesen alten Trottel das Kindermädchen spie­ len“, brummte er leise vor sich hin. So leise, dass es der Alte nicht hören konnte, dachte er. „Den ganzen Winter hockt man schon in dieser kalten dunklen Höhle herum und jetzt …!“ Er sprach nicht zu Ende, aber der nächste Stein klatschte härter und lauter aufs Wasser. Ein Lächeln stahl sich auf die Lippen des Alten, aber er hielt das Auge geschlossen. Die Sonne schien und erwärmte die­ sen windgeschützten Platz, die Vögel zwitscherten und begrüßten den Frühling. Den Jungen freute es auch, draußen zu sein, er wäre bloß lieber woanders draußen gewesen. Der Frühling gebot einem, sich zu bewegen, zu rennen, zu tanzen, Boot zu fahren. Aber er hatte den Auftrag, auf den Alten aufzupassen. Wieder klatschte ein Stein ins Wasser. Die beiden hatten einen aufmerksamen Beobachter. Ein Fuchs stand auf der Anhöhe und beobachtete sie schon eine ganze Wei­ le. Es war ein ausgewachsenes kräftiges Tier. Fast so groß wie ein 14

Hund. Bewegungslos stand er da. Nur sein Schwanz wedelte ganz leicht hin und her. Sein Maul war ganz leicht geöffnet, sodass man seine scharfen Reißzähne sehen konnte. Der lange Winter hatte ihm zugesetzt. Er war hager und sein Fell war struppig. Auch er mochte diesen Platz, doch aus einem anderen Grund. Trotz seines mächtigen Hungers war er geduldig. Er wusste, wenn die beiden aufmerksam wären, wären sie verschwunden, bevor er nur in ihre Nähe kommen könnte, aber sie waren nicht aufmerksam. Der Alte schlief und der Junge machte Krach. Dummheit! Der leich­ te Wind ließ das dürre Gesträuch gerade so rascheln, um noch zusätzlich genug Geräusch zu machen, damit er nah herankom­ men könnte. Außerdem kam ihm der Wind entgegen, sodass die zwei ihn nicht riechen konnten. Aber er konnte sie riechen und sie rochen nach Futter. Zwei waren genau richtig. Den ersten mit einem schnellen Biss töten oder verletzen und dann den anderen den Hang hinab verfolgen. Drei hätten sich vielleicht gewehrt, wobei dies auch ziemlich unwahrscheinlich war. Man sah sie sehr selten, denn es gab nicht mehr sehr viel von ihnen, und wenn man mal einen sah, waren sie meist schnell verschwunden. Er kannte die beiden, den Alten und den Jungen, er hatte sie schon vorher gesehen. Und er wusste, dass es noch drei weitere in diesem Wald gab. Einer von den fünf war ungewöhnlich groß und stark und hatte immer einen Bogen dabei, aber der war nicht hier. Der hätte sich vielleicht gewehrt. Er hatte noch keinen von ihrer Art gefan­ gen, aber hatte schon von Füchsen gehört, die Füchse kannten, die vielleicht einen gefressen hatten, oder auch nicht. Das war ihm jetzt egal. Es waren meist Feiglinge, die sich verkrochen. Ein alter Fuchs hatte ihm einst erklärt, es verstoße gegen das Gesetz des Waldes, sie zu jagen. Das kümmerte ihn aber nicht. Der alte Fuchs war tot. In einem langen Winter war er an Hunger und Schwäche gestorben. „Gesetze und Regeln – hah. Die einzige Regel, die ich kenne, ist fressen, um nicht zu verhungern. Der Schwache stirbt, der Starke lebt“, dachte der große Fuchs. Er hatte Hunger und das war wichtiger als jedes Gesetz. Er verwarf diese Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das Wesentliche. Die Jagd. Er liebte die Jagd nicht nur um des Fressens willen.

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Der Bach, an dem die beiden saßen, war breit genug, um den bei­ den den Fluchtweg nach unten zu versperren oder sie bei ihrer Flucht zu behindern. Er war erfahren genug, um zu wissen, dass er mindestens einen erwischen würde, wenn er nur nah genug he­ rankäme. Der Fuchs suchte das ganze Gelände mit den Augen ab. Er ließ keinen Baum und keinen Strauch aus. Keine Amsel oder Eichelhäher in der Nähe, die die beiden hätte warnen können. Gut! Die Gelegenheit schien sich noch zu verbessern, da der eine jetzt noch mehr Lärm machte. „Mach nur Krach, kleiner Bursche“, dachte der Fuchs. Leise und geduckt begann er sich an sie heran­ zupirschen. Geschickt setzte er seine Pfoten in die nassen Stellen des alten Grases, um keinen Laut zu verursachen. Der Jagdinstinkt hatte vollkommen die Kontrolle über ihn. Alles, was er von seiner Mutter als junger Fuchs gelernt hatte, und alle Erfahrungen, die er in vielen Jahren erworben hatte, kam ihm in diesem Augenblick zugute. Das erste Mal, als er ein lebendes Tier gefangen hatte und er die Knochen unter seinem Biss brechen spürte und das warme lebendige Blut des sterbenden Tieres ihm in die Kehle floss, hatte einen Jäger aus ihm gemacht und die Wildheit in ihm geweckt. Es war ein kleines Kaninchen gewesen. Seine Mutter hatte es ihm gebracht, damit er die Jagd lernte. Es war schon verletzt gewesen, sonst hätte er es nicht erwischt. Er sah auch heute oft noch die angsterfüllten Augen. Es hatte damals noch Mitleid in ihm ge­ weckt. Doch dann hatte er es im Spiel gefangen. Das Kaninchen hatte sich verzweifelt gewehrt. Dies hatte ihn geärgert und fast wäre es ihm wieder entwischt. Und da hatte er zugebissen. Das Kaninchen hatte in seiner Todesangst gequiekt und geschrien und er hatte sich erschrocken und zuerst den Biss gelockert. Aber es hatte verzweifelt weitergeschrien und er wollte, dass es aufhörte. Er hatte fester zugebissen und es hatte aufgehört. Damit hatte er eine Grenze überschritten und war zum Jäger geworden. All die Mäuse und Kaninchen, die er dann nicht gefangen hatte, und der Hunger, den er daraufhin gehabt hatte, waren gute Lehrmeister, sodass er diesen Instinkt beherrschen gelernt hatte und nicht ein­ fach losstürmte. Langsam kam er näher. Jede Deckung nutzte er geschickt. All sein Denken, das nicht zu dieser Jagd gehörte, war ausgeschaltet. Geduld ist der Freund des guten Jägers. Sehen, hö­ 16

ren, riechen, fühlen und ein weiterer Sinn waren nur auf diesen Moment ausgerichtet. Er hätte die Augen schließen können und hätte sie doch erwischt. Langsam kam er näher und näher. Deut­ lich sah er die beiden jetzt. Er blieb wieder stehen und wendete den Kopf hin und her. Sehr langsam. Nichts zu sehen. Keiner, der sie warnen konnte, keiner der ihnen beistehen konnte. Der Fuchs überließ nichts dem Zufall. Dann schlich er leise weiter. Jetzt war er nah genug, um einen zu erwischen, auch wenn sie flohen. Doch er war ein guter Jäger und er nutzte die Zeit, um seine Position noch weiter zu verbessern. Und sie bemerkten ihn immer noch nicht, also schlich er sich noch näher heran. Der Alte rührte sich und der Fuchs blieb bewegungslos stehen. Er schien vollkommen erstarrt. Ein Vorderbein angezogen, zu Stein geworden. Aber der kleine alte Mann setzte sich nur bequemer hin. Eine Weile oder eine Ewigkeit blieb der Fuchs noch unbewegt stehen, dann setzte er das Bein vorsichtig auf und schlich weiter. In dem Moment, als er nah genug heran war, um zu springen, bemerkte ihn der Jün­ gere. Entsetzt erstarrte dieser. Die Kiesel fielen ihm aus der Hand und sein Mund klappte auf, aber kein Ton war zu hören. „Gut“, dachte der Fuchs und sprang ihn an, riss ihn um und drückte ihn mit den Pfoten zu Boden. Aus dem Augenwinkel heraus sah er den Älteren aufspringen. Damit hatte er gerechnet. Aber der floh nicht, sondern sprang in seine Richtung. Dies war die erste Über­ raschung. Statt dem Jungen die Kehle durchzubeißen, schnappte der Fuchs blitzschnell nach dem Hals des Älteren, ohne die Beine von dem jetzt zappelnden Jungen zu nehmen. Der Alte bewegte sich aber seitlich weg und mit dem gleichen Schwung riss er einen Dolch heraus und stieß ihn dem Fuchs in den Hals. Der Fuchs sah noch das silberne Ding und schon durchdrang ihn der Schmerz. Er wollte von dem Alten und dem Dolch wegschnellen, aber dieser nutzte die Bewegung des Fuchses, rammte ihm mit der Schulter in die Seite und warf den Fuchs mit seiner eigenen Bewegung um. Ohne zu zögern, sprang er ihm mit den Knien auf den Hals und riss den Dolch nach unten durch die Kehle. Der Fuchs spürte erst den Schmerz und dann, wie seine Kraft ihn sehr schnell verließ. Das konnte doch nicht sein. Er starb! Was war passiert? Der Jagd­ trieb, der sein Blut durchströmt hatte, verließ ihn. Zuerst hatte er 17

noch Furcht, dass ein zweiter Hieb kommen würde, aber auch die verließ ihn. Er wollte weg, aber in seinen Beinen war keine Kraft mehr. Wie hatte dies geschehen können? Wie war das möglich? Er sah den Alten über sich stehen und ihn auf sich hinunterbli­ cken. Da war kein Hass. Etwas anderes war in dessen Blick. Der kalte Blick eines Raubvogels, der ihm Angst einjagte. Etwas Böses. Dann verblasste das Bild des Alten und mit ihm auch die Angst. Die Gedanken des Fuchses begannen zu fliegen. Das Bild des über ihm Stehenden verschwand ganz. Er kehrte zurück zu seiner Kindheit. Eine Wiese im Sonnenschein. Die Höhle seiner Fami­ lie. Sein Zuhause. Die schönste Zeit in seinem Leben. Das Letzte, was er dachte, war, wie er an einem kalten stürmischen Herbsttag mit seinen Brüdern und seiner Schwester eng zusammengerollt in der warmen Höhle lag. Der Wind pfiff draußen kalt und grausam und sie fürchteten sich und verkrochen sich im letzten Winkel der Höhle. Sie waren allein. Wo blieb bloß ihre Mutter? Der Wind hörte sich so grausam an. Aber dann kam ihre Mutter. Er sah, wie sie im Höhleneingang stehen blieb und sie anschaute. Sie war groß und nichts konnte ihr etwas anhaben. Er meinte natürlich, sie schaue nur ihn an, ihn ganz allein. Und sie sperrte die Angst aus. Sie kam näher und legte sich zu ihnen. Er kuschelte sich ganz nah an sie heran und war überglücklich, dass er heute der Nächste an seiner Mutter war. Geborgenheit. Das Bild verblasste langsam, aber er holte es noch einmal mit Kraft zurück, denn er war stark. Er roch sie und er spürte ihre Wärme. Und jetzt sah er sie ganz deutlich, wie sie in rief. Und er kam zu ihr. Der Alte, der Osdas hieß, stand auf, atmete mehrmals tief durch, den Dolch immer noch stoßbereit in der Hand. Mit sicherem Auge suchte er den Abhang nach weiteren Angreifern ab. Die Kampfwut durchströmte seine Adern. Er war bereit für jeden weiteren Gegner. Sein Blick hatte sich mit dem Angriff geändert. Vorher war er der friedliche Alte gewesen, aber jetzt lag eine kal­ te entschlossene Wut in seinem Gesicht und noch etwas anderes. Sein Atem ging schnell. Dann wurde er langsam ruhiger und der alte Osdas kehrte zurück. Er bückte sich und reinigte den Dolch im nahen Gras. Das Blut des Fuchses färbte das trockene Gras 18

rot. Eine kleine Spur roten Blutes, das dem klaren Bach zufloss. Der Junge, der Lab hieß, lag immer noch schnell atmend mit weit aufgerissenen Augen am Boden. Das schreckliche Bild von dem Fuchs, der mit aufgerissenem Maul über ihm stand, hatte er noch klar vor Augen. Der tödliche Blick und der Atem des Jägers, den er immer noch auf dem Gesicht spürte. Und danach der Blick des alten Osdas, der fast genauso schlimm gewesen war. Es war fast so, als hätte ihn ein Raubvogel angeschaut. So hatte er Osdas noch nie gesehen. Das war zu viel für den jungen Lab gewesen. Osdas beachtete den Jungen zuerst nicht. Dann wandte er sich fast bei­ läufig Lab zu. „Komm, steh auf, junger Kämpfer. Hättest du deine Pflicht nicht versäumt, hätte ich dies nicht tun müssen“, sagte er ärgerlich, fast wütend. „Der Blutgeruch zieht noch schlimmere Jäger an. Los, gehen wir.“ Lab stand mit zitternden Knien auf. Der Tadel hatte ihn nicht erreicht, doch die Wut machte ihm Angst. Groß war noch der Schrecken und ließ ihn zittern. Mit beiden Händen griff er sich an die schmerzende Brust. Dann folgte er dem Alten, der schon losgegangen war. Sie stiegen den Hügel, den der Fuchs hinuntergeschlichen war, hinauf. Osdas sah noch die Spur des Fuchses. „Warum habe ich nicht aufgepasst, verdammt“, dachte er. Im Wald, dort, wo die Sonne selten hinschien, lag noch eine verharschte Schneedecke. Lab sah sich noch mehrfach um und schaute nach dem toten Fuchs. Er wollte sichergehen, dass er nicht geträumt hatte. Da lag er im weißen Schnee und unter seinem Kopf war ein großer dun­ kler Fleck zu sehen. Labs Glieder zitterten noch, aber langsam ließ der Schreck nach. Sie kamen in den dichteren Wald. Es war kühler hier. Geschickt suchten sie sich einen Weg, auf dem sie keine Spu­ ren hinterließen. An einer dicken Buche blieb der alte Osdas ste­ hen und drehte sich zu Lab um. „Erzähl keinem von dem Vorfall mit dem Fuchs. Es ist schlimm genug, dass ich das tun musste.“ Er schaute Lab in die Augen und dieser nickte leicht. Im Weitergehen sagte Osdas noch leise: „Die Zeit der Kämpfer ist vorbei. Es ist genug Blut in meinem Leben geflossen und ich habe so viel Tod gesehen, dass es für viele Lebensspannen reicht.“ Osdas Gang und seine Haltung änderten sich unmerklich. Er ging schleppender und wieder gebückter, wie ein alter Mann, der er ja auch war. Lab 19

übernahm schließlich wieder die Führung. Er hatte auch seinen Rhythmus wiedergefunden, aber er schaute sich immer wieder nach dem Alten um, als ob er sicher sein wollte, dass dies wirklich der alte Osdas war. Seine Bewegungen passten sich den Bewegun­ gen der Umgebung an. Bog der Wind einige Äste zur Seite, be­ wegte sich Lab in die gleiche Richtung. Alles schien sehr langsam voranzugehen und doch kamen die zwei sehr schnell vorwärts. Sie wichen geschickt jeder lebenden Pflanze aus und knickten kei­ nen Ast und kein Blatt, wobei Lab sehr viel geschickter war. Seine Schuhe waren leicht und seine Bewegungen ebenso. Er schien fast durch die Büsche zu tanzen. Osdas mit seinen schweren Stiefeln wich auch jedem Hindernis aus, doch es steckte mehr Anstren­ gung dahinter und seine Bewegungen waren weniger harmonisch. Nach einem kurzen Marsch erreichten sie ein dichtes Brombeer­ gestrüpp. Lab fand die Stelle, schob ein paar Äste leicht beiseite und die beiden waren im Gestrüpp verschwunden. Hinter einem kleinen Felsen war ein dunkler Gang. Es ging in den Berg hinein. Der Eingangsstollen war flach und dunkel und sie mussten sich bücken, um hindurchzukommen. Dahinter wur­ de es plötzlich heller und höher. Ein großer Raum tat sich auf. Der Boden des Raumes war mit trockenem Moos und Reet ausgelegt und von oben kam durch eine Öffnung Tageslicht. Die Wände waren zum Teil grob behauen, aber den größten Teil dieser Höhle hatte die Natur geformt. Matten aus geflochtenem Reet lehnten an den Wänden und machten den Raum wohnlicher. Es gab einen kurzen weiteren Durchgang, der in einen kleineren Raum führte. Die beiden gingen hindurch. Auf zwei grob behauenen Holzstäm­ men, die an einem Tisch standen, saßen drei weitere Gesellen, die die beiden Neuankömmlinge fröhlich begrüßten. „Schau her, was ich gefangen habe, Bruder“, sagte Holder, einer der drei, und hielt zwei Forellen in die Höhe. „Das gibt ein feines Abendessen. Stanz hat nicht einen Zucker an seiner Angel gehabt.“ Der Genannte hielt mit einem schiefen Mund die leeren Handflächen nach oben und sagte: „Der Fänger hat auch die Ehre, die Fische auszuneh­ men und zu putzen.“ „… und zu essen“, vervollständigte Holder. Der Dritte am Tisch hatte breite Schultern und einen Stiernacken. Sein braunes Haar war fast so lang wie das von Osdas. Zudem war 20

er sehr groß. Mit scharfem Blick musterte er die Neuankömm­ linge genau. Lab wich seinem Blick schnell aus, der schließlich bei Osdas hängen blieb, der teilnahmslos zurückschaute und sich auf die Holzbank setzte, nach einem Krug griff und sich etwas zu trin­ ken in einen Holzbecher goss. „War irgendetwas?“, fragte Borg, so hieß der Stiernacken. Lab blickte kurz hinüber zu Osdas und log dann: „Nein nichts“, und senkte dann den Blick. Borg schaute hi­ nüber zu Osdas, erhielt aber von dort keine Antwort. Osdas füllte sich schon wieder den geleerten Becher. Borg schüttelte leicht den Kopf. „Alles ruhig im Wald?“ „Ja“, antwortete Lab unsicher, ohne Borg anzuschauen. Holder und Stanz, die nichts bemerkt hatten, plapperten weiter übers Fischen. Borg sagte dann nach einer kur­ zen Pause zu den drei Jungen gewandt: „Sucht trockenes Holz, solange es noch trocken ist. Es wird wieder Schnee geben. Wir werden heute Abend wieder ein wärmendes Feuer brauchen. Der Winter ist noch nicht vorbei.“ Der Ton, mit dem dies gesagt wur­ de, ließ keinen Widerspruch zu. Lab schaute noch kurz zu Borg hin und stand dann auf. Holder legte die Fische auf den Tisch, und ohne zu murren, verließen die drei Jungen Lab, Stanz und Holder fröhlich schwatzend die Höhle und machten sich auf den Weg. Osdas griff müde nach dem Wasserkrug. Borg setzte sich auf die Bank gegenüber von Osdas an den Tisch. Als sie alleine wa­ ren, fragte Borg: „Was ist passiert?“ Borg war wesentlich jünger als Osdas, war ihm aber vom Gesicht sehr ähnlich. Er trug ein brau­ nes Hemd und braune Hosen. Er hatte, wie Lab, leichte braune Schuhe an den Füßen. Sein voller Bart war schon angegraut, aber seine Stimme war fest und sein Blick scharf. Er hätte ausgewogene Züge gehabt, wäre da nicht die mehrfach gebrochene Nase ge­ wesen. Er überragte Osdas um Haupteslänge. Osdas sagte lange nichts, schaute dann aber schließlich zu Borg auf und antwortete tonlos: „Ein Fuchs, ich hab ihn zu spät kommen gehört und Lab hat nicht aufgepasst.“ „Was ist mit dem Fuchs?“, fragte Borg jetzt etwas nervöser. „Der ist zu seinen Vätern gegangen“, antwortete Osdas ruhig. Borg schaute den Alten jetzt genau an. „Was heißt das?“ Osdas blickte Borg das erste Mal seit seiner Rückkehr di­ rekt in die Augen und zuckte mit den Schultern. Borg verstand, schüttelte den Kopf und brummte dann: „Es herrscht kein Frie­ 21

den im Wald und die Gesetze gelten nicht mehr.“ „Schon lange nicht mehr“, erwiderte Osdas. Später saßen die fünf in der Höhle um ein lustig prasselndes Feuer herum und brieten die Forellen. Dazu wurde aus Kräutern und Wurzeln in einem eisernen Topf eine Suppe gekocht. Es war schon Nacht und das Feuer warf die Schatten der fünf an die Wände der Höhle. Es war sonst kein Licht in der Höhle angezündet worden. Die Feuerstelle war mit runden Feldsteinen eingefasst, die die Wärme speicherten. Der schwache Rauch zog durch die Öffnung hoch über ihren Köpfen nach draußen. Die drei Jungen waren in eine lustige Unterhaltung übers Fischen verstrickt, eines der Lieb­ lingsthemen von Holder. Stanz, der Dickste der Gruppe, war trotz­ dem meist der Wortführer. Wie Lab hatte er auch das Haar kurz geschnitten. Stanz war auch der, der das Essen am meisten liebte, und war daher etwas dicker als die anderen. Der Humor schien ihm direkt aus dem Gesicht zu kommen. Die roten Backen und ein breiter lustiger Mund. Holder war der Kleinste und Schmäch­ tigste der Gruppe. Er war ein geschickter Handwerker und auch beim Angeln hatte er oft Erfolg. Er konnte lustig sein, aber er war auch ab und zu sehr ruhig und nachdenklich. Borg, der Anführer, war oft schweigsam. Nur wenn es um wichtige Dinge des Lebens ging, redete er mit fester, bestimmender Stimme. Osdas, der Alte, war weniger ernst, außer ihn plagten irgendwelche Beschwer­ den. Dann war er meist schlecht gelaunt. Heute aber führten die drei Jungen das Wort, wobei Lab sich am wenigsten beteiligte. Er schaute immer wieder verstohlen zu dem alten Osdas hinüber. Dieser saß nach hinten gelehnt auf einem bequemen Sitz aus Reet, der mit Moos ausgepolstert war, und hatte seine Beine weit von sich gestreckt und schien dies nicht zu bemerken. Bisher hatte Lab den Alten als manchmal lustigen, aber manch­ mal auch sehr mürrischen Kameraden gekannt. Nicht sehr zuver­ lässig, manchmal so faul, dass Borg ärgerlich wurde. Aber heute die Sache mit dem Fuchs? Er spürte und roch noch den Atem des Fuchses in seinem Gesicht und sein Herz klopfte allein schon bei diesen Gedanken schneller. Lab versuchte sich genau zu erinnern, wie Osdas den Fuchs hatte töten können. War das nur Zufall und 22

Glück gewesen und der Fuchs sehr alt? Für ihn war bisher ein Fuchs, auch wenn er alt war, ein übermächtiger tödlicher Geg­ ner gewesen, um den man einen möglichst großen Bogen machte. Auch von Osdas hatte er gedacht, dass er die Füchse fürchtete, denn bei gemeinsamen Wanderungen war auch er immer schnell verschwunden und hatte die Füchse gemieden. Aber heute war er nicht davongerannt. Der Fuchs hatte erst ihn angegriffen und Osdas hätte Zeit gehabt, zu fliehen. Aber er hatte es nicht getan. Er hatte ihm das Leben gerettet. Füchse waren gefährliche Jäger und dieser war groß gewesen. Wiesel waren ihre tödlichsten Feinde, aber die gab es hier nicht und Lab kannte sie nur von dunklen Er­ zählungen. Auch hatte Borg ihnen gezeigt, wie die Spur von Wie­ seln aussah. Vor Iltissen, Mardern und Wildkatzen hatte sie Borg ebenfalls gewarnt, aber Lab hatte auch solche noch nicht gesehen. Sogar Borg mit seiner Bärenkraft ging diesen Jägern aus dem Weg. Osdas war alt und viel schwächer. Und trotzdem, Osdas war nicht weggelaufen. Er war ihm sofort zu Hilfe geeilt, ohne zu zögern. Und danach dieser Blick. Es hatte so ausgesehen, als hätte Osdas noch weiterkämpfen wollen, ja fast so, als hätte er weitere Geg­ ner erwartet. „Es gibt Geheimnisse, die ich nicht kenne“, dachte Lab. Das rote Licht des Feuers huschte über das runzelige Gesicht des Alten. Friedlich genoss er die Ruhe. Eine kleine Spitzmaus saß hinten an der Höhlenwand, genoss ebenfalls die Wärme und die Sicherheit. Sie knabberte an einer Nuss, die sie stibitzt hatte. Immer wieder schaute sie zu den fünf hinüber. Sie war sicher, dass von ihnen keine Gefahr ausging, und doch gebot ihr ihre Natur Vorsicht. Draußen vor der Höhle pfiff der kalte Wind durch den Wald. Nur im Winter war dieses Pfeifen zu hören, wenn der Wind durch die unbelaubten Äste hindurchblies. Leichter Schneefall hatte wieder eingesetzt. Der Winter gab sich noch nicht geschla­ gen. Die Flocken tanzten vom Wind gejagt wild durch den Wald. Die Buchen und die dunklen Fichten bogen sich rauschend und ab und zu war ein lautes Knacken zu hören. Immer wieder schüt­ telten die Fichten den Schnee ab, der auf ihren Ästen lag und die Bewegungen träge machte. Kein Lebewesen war im Wald zu se­ hen. Jeder war in seinem Versteck oder Unterschlupf. Es schien Frieden zu herrschen. Aber der Schein trog. Drinnen in der Höhle 23

hörte man hin und wieder ein Pfeifen durch das Feuerloch oder ein tiefes Rauschen, wenn eine kräftigere Windböe durch den Wald blies. Es war warm und trocken hier drinnen. Die Kamerad­ schaft wärmte zusätzlich. Ein Kauz ließ seinen Ruf hören und die Spitzmaus war froh hier zu sein. Borg unterbrach das Gespräch der drei Jungen und sagte: „Ich denke, es ist Zeit für euch. Wir haben morgen noch viel Arbeit.“ Sie beendeten ihre Debatte über die richtige Technik des Forellenangelns, standen auf und zogen sich mit einem Gruß in den Nebenraum zurück, um zu schlafen. Borg und Osdas blieben zurück. Borg stocherte mit einem Stecken in der Glut des Feuers he­ rum und ließ kleine glühende Funken aufsteigen. Der starke Borg schien unsicher zu sein. Irgendetwas bedrückte ihn. Sein Wort war Gesetz hier, und niemals war er unsicher. Er war ihr unangefoch­ tener Anführer. Osdas merkte das und ihm war nicht wohl, denn er spürte, dass etwas Unangenehmes kommen musste. „Es ist an der Zeit, den Jungen die Geschichte unseres Volkes zu erzählen“, brach es aus Borg heraus. „Unsere Geschichte, unse­ re Wurzeln, sie müssen es irgendwann weitergeben können. Wir sind nur noch wenige und trotzdem dürfen wir unsere Geschich­ te nicht vergessen.“ Es dauerte lange, ehe Osdas antwortete: „Wir erzählen ihnen doch die alten Sagen des Argenvolkes. Was willst du mehr?“ „Du weißt genau, was ich meine. Die Geschichten der letzten Generationen. Das Bindeglied in unsere Zeit“, beharrte Borg. „Es sind Geschichten, und selbst du kennst sie nicht alle. Es erwächst nichts Gutes daraus, nur Hass und Tod und wieder Hass.“ Das eine Auge blickte Borg scharf an und Osdas fuhr fort: „Es gibt keinen Weg zurück. Die drei kennen es nicht anders und sind glücklich so. Wir haben hier ein schönes Leben. Wir haben einen Ort, an dem wir sicher sind, wir haben einen Wald, der uns ernährt und beschützt.“ Borg blickte ebenso scharf zurück. Er war wieder ganz der Anführer und seiner Sache sicher und antworte­ te. „Du hast heute selbst erlebt, wie sicher es ist. Wenn die Jäger den Letzten von uns gefangen haben, hört es auf. Wir sind hier nicht sicher. Essen und Schlafen, Überleben, es muss mehr geben. Die früheren Generationen haben ihre Geschichte weitergegeben über Tausende von Jahren. Willst du dies jetzt enden lassen?“ „Es 24

hat schon vor vielen Jahren aufgehört.“ „Solange noch einer von unserem Volke am Leben ist, besteht noch Hoffnung. Es gibt noch mehr von uns.“ Borgs knorriges Gesicht blickte erwartungsvoll Richtung Osdas. Der antwortete aber: „Geschichten von verlo­ renen Schlachten. Wozu führt das? Rache? Wiedergutmachung? Tote werden dadurch nicht mehr lebendig. Gewonnene Schlach­ ten, große Taten. Wenn sie den alten Helden nacheifern, werden sie bald genauso tot sein wie sie.“ „Du lebst noch und es gibt noch andere. Und ist es nicht der Sinn der Geschichte, aus Fehlern der letzten Generationen zu lernen? Sollen sie nicht die Möglich­ keit haben, daraus zu lernen? Wir dürfen uns nicht mehr Stamm nennen, wenn wir keine Wurzeln haben, und unsere Geschichten sind unsere Wurzeln. Und ist der Tod immer schlecht? Ist nicht ein unnützes Leben schlechter?“, erwiderte Borg. „Aus der Ge­ schichte lernen ist ein großes Wort. Wenige haben dies vermocht“, sagte Osdas kalt. „Wie soll man denn sonst lernen? Es sind Fehler geschehen. Erzählen wir davon, damit sie nicht mehr passieren.“ Osdas antwortete nicht und schaute Borg lange an, dann blickte er in das Feuer und sagte nichts mehr. Er saß da und dachte an die alten Zeiten. Wie er mit Schild und Axt in der ersten Schlachtrei­ he gestanden hatte. Zwischen seinen Kameraden und Brüdern. In seinem Geist hörte er den Schlachtruf der Argen und das Krachen der Äxte, wenn sie aufeinandertrafen. Und dann erinnerte er sich wieder daran, dass er alt war und nur in Ruhe und Frieden leben und sterben wollte. Er dachte an den Frühling und wie die Sonne den Bach zum Glitzern brachte. An das Grün der Buchen und das Blühen der Blumen. Er dachte an die langen unbekümmer­ ten Winterabende. Geschützt und vergessen von der großen Welt dort draußen. Klein und unwichtig. Am Feuer zu sitzen und über unbedeutende Dinge zu reden und unwichtige Sachen tun. Sich die Füße zu wärmen und über das Beereneinschlagen reden und dass der Beerenwein letztes Jahr besonders gut war und dass es vorletztes Jahr viele Pilze gegeben hatte. All diese Dinge waren ihm jetzt sehr wichtig. Das Feuer flackerte und Funken stoben auf und der Wind rauschte vor der Höhle. Dann dachte er wie­ der an die Kameraden seiner Jugend, schöne und dunkle Tage, verlorene und gewonnene Schlachten. Und ihm fielen wieder 25

Dinge ein, die lange Zeit in einem Teil seines Kopfes verborgen waren. Er wollte nicht daran denken und verdrängte diese Dinge. „Ein herabstürzender Falke.“ Osdas schloss die Augen. „Nein!“ Der Falke verschwand wieder. Dann dachte er wieder an Borgs Worte. Er wusste von der Gefahr, diese Geschichten zu erzählen. Was es bedeuten konnte für seine jungen Kameraden. Er dachte auch an den Kampf mit dem Fuchs und wie Lab erstarrt war, ohne sich zu verteidigen. Wie ein Kaninchen, angsterfüllt und bereit, sein Schicksal auf sich zu nehmen. Gelähmt von seiner Furcht. Keiner seiner Kameraden aus seiner Jugend hätte so reagiert. Sie hätten gekämpft bis zum Ende. Sie hätten dem Tod entgegenge­ lacht, auch wenn er unausweichlich gekommen wäre. „Wir sind als Krieger erzogen worden.“ Aber dies hatte auch immer wieder zu Krieg geführt. Vielleicht gibt es einen Zwischenweg. Nein, so et­ was durfte keinem Argen passieren. Angsterfüllt dem Gegner die Kehle darbieten, ohne sich zu verteidigen. Das gab den Ausschlag. Auch war er müde, sich mit Borg zu streiten. Er wusste, wie aus­ dauernd Borg war, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Er wollte keine Entscheidungen mehr treffen. Andere sollten dies für ihn tun. Nach einer langen Zeit lächelte er und sagte: „Du bist uns immer ein guter Führer gewesen, Borg. Ich bin mindestens doppelt so alt wie du, aber deine Entscheidungen habe ich immer mitgetragen und es war immer gut. Ich selbst habe viele Dinge in meinem Leben falsch gemacht. So will ich dir weiter vertrau­ en und hoffen, dass nichts Böses daraus erwächst. Lass uns auf eine Reise gehen, eine lange gefährliche Reise. Eine Wanderung ist gut für Geschichten.“ „Ja“, sagte Borg mit einem Strahlen im Gesicht. „Lass uns unsere Verwandten am Gratfluss suchen. Lass uns den Fluss hinaufwandern. Wir werden sie finden, da bin ich mir sicher.“

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Vor dem kurzen Weg Die drei Jungen waren sehr aufgeregt. Die Reisevorbereitungen dauerten nun schon mehrere Tage. Rucksäcke mussten genäht werden. Im Boot waren einige Holzplanken morsch und wurden ersetzt. Ein weiteres Ruder wurde geschnitzt. Noch nie waren die drei Jungen so fleißig gewesen. Borg sagte, sie könnten so oder so erst aufbrechen, wenn der Frühling an Macht gewonnen hätte. Nur dann würden sie auf ihrer Reise genügend Vorräte finden. Auch unternahm Borg jetzt lange einsame Wanderungen, um den ersten Teil des Wegs nach Gefahren zu erkunden. Er suchte auch befreundete Tiere auf. Dort erfuhr er Neuigkeiten vom Rand des Waldes. Vögel kannten den Bereich außerhalb des Waldes gut und Borg hatte Freunde, die ihm mit Rat und Tat beistanden. Einige flogen sogar den Bach entlang, erkundeten das Land und brachten Nachrichten zurück. Die Jungen hatten ihren Wald noch nie verlassen und fürchte­ ten sich jetzt auch ein wenig. Die Neugier aber überwog und die Vorfreude auf das Abenteuer ließ die Tage schnell vergehen. Der Schnee im Wald schmolz dahin, und die ersten Bärlauchspitzen waren zu sehen. Das erste neue Grün des Waldes. Wenn der Bär­ lauch groß war, bildete er ein riesiges grünes Feld von schwertför­ migen grünen Blättern, das später mit weißen Blüten überdeckt war. Lab ging gern durch das Bärlauchfeld. Es war wie ein ver­ zauberter Garten. Man war darin fast unsichtbar. Osdas hatte ihm das gezeigt, wie man dort verschwinden konnte. Der Knoblauch­ geruch des Bärlauchs war so intensiv, dass ein Fuchs nur wenige Schritte an einem vorbeigehen konnte, ohne einen zu riechen, und sehen konnte er einen schon gar nicht. Osdas hatte sogar ein­ mal einen Fuchs mit einem Blatt berührt, so dicht war dieser an ihm vorbeigegangen. Lab war erstarrt vor Angst, aber Osdas hatte nur gegrinst. Jetzt wusste Lab, warum. 27

Die drei Jungen waren jetzt viel unterwegs, um Wurzeln zu su­ chen und Fische zu fangen. Die Fische wurden ausgenommen und über dem Feuer geräuchert, um sie für die Reise haltbar zu machen. So würden sie den ersten Teil ihrer Fahrt rasch voran­ kommen, ohne lange nach Essbarem suchen zu müssen. Die Tage vergingen und es wurde wärmer und die Nächte wurden kürzer. Der Schnee an den schattigen Plätzen schmolz jetzt auch. Erste Knospen sprossen an den Bäumen. Vögel zwitscherten aufgeregt. Der Frühling gewann an Macht und das letzte bisschen Winter wurde von einem warmen Hauch hinweggeweht. Am letzten Abend vor dem geplanten Aufbruch saßen sie ge­ meinsam vor dem prasselnden Feuer ihrer Höhle. Der Ort schien ihnen vertrauter als jemals zuvor. Sie kannten jeden Stein und jede Wurzel, die hereinschaute. Aufgeregt plapperten die drei Jungen von diesem und von jenem. Selbst Borg war sehr gesprächig. Nur Osdas schwieg. „Wir werden den Grünwaldbach hinauffahren bis ans Ende des Grünwaldes. Das wird der leichte Teil der Reise, obwohl wir kräftig rudern müssen. Der Fluss fließt langsam, aber das Boot wird schwer beladen sein und es geht gegen die Strö­ mung. Es wäre auch möglich diesen Teil des Weges zu gehen, aber wir müssen viele Vorräte mitnehmen und die könnten wir nicht tragen. Am Ende des Waldes werden wir das Boot verstecken. Von dort ab geht es zu Fuß weiter. Die Vorräte werden dann soweit ab­ genommen haben, damit der Rest dann in unsere Rücksäcke passt. Es gibt dort eine große Ebene, die wir durchqueren müssen. Das werden wir nachts tun. Es ist dort kein Wald, der uns beschützt. Außerdem gibt es dort auch Menschen in der Nähe“, sagte Borg. „Was sind Menschen?“, fragten Lab und Holder fast gleichzei­ tig. „Das werde ich euch später erklären, dazu brauche ich viel Zeit. Nur so viel, wir meiden sie, denn sie sind gefährlich. Nicht gefährlich wie ein Fuchs oder ein Wiesel. Die Gefahr ist anderer Art. Es ist schwer zu erklären.“ „Warst du schon bei unseren Ver­ wandten am Gratfluss?“, fragte Lab weiter. „Ja, dort bin ich auf­ gewachsen. Vor vielen Jahren bin ich mit meinem Onkel hierher zum Grünwald gewandert. Ich hoffe, ich kann mich noch an den genauen Weg erinnern. Osdas hat das Land schon oft durchwan­ dert, aber das ist viele Jahrzehnte her. Ich glaube nicht, dass er den 28

Weg noch kennt. Außerdem hat das Land sich verändert.“ Borg drehte sich zu Osdas um. Der war aber eingeschlafen. „Wann hast du zuletzt von unseren Verwandten vom Gratfluss gehört?“, fragte Holder. „Vor über dreißig Jahren waren drei der Familie hier im Grünwald. Sie blieben einen Winter und wanderten dann wieder zurück. Das war das letzte Mal, als wir von ihnen hörten. Es lebte damals eine kleine Gruppe von Argen dort. Und ich bin mir sicher, es leben dort immer noch welche von unserem Volk.“ Vom Feuer war nun nur noch die rote Glut übrig geblieben und Borg schwieg lange. Dann redete er weiter: „Die Reise war damals schon gefähr­ lich und heute ist es nicht besser. Aber macht euch keine Sorgen. Wir werden es schaffen. Und jetzt schlaft. Wir werden morgen bei Sonnenaufgang losgehen.“ Er nickte den dreien noch lächelnd zu. Die erhoben sich und zogen sich mit einem Gruß zurück. Aber Schlaf fanden sie in dieser Nacht nicht. Lab lag an einem Platz, wo er durchs Feuerloch ein paar Sterne sehen konnte. Alles kam ihm seltsam vertraut vor und hierzubleiben schien ihm auf einmal wieder sehr erstrebenswert. Aber die Neugier war größer. „Was werde ich wohl alles sehen. Werden die Sterne dort, wo wir hinge­ hen, gleich sein wie hier? Was für Tiere wird es dort geben?“ Frage auf Frage ging ihm durch den Kopf und verkürzte die Nacht.

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Der kurze Weg Beim ersten Licht des Tages verließen sie die Höhle. Sie verschlos­ sen den Eingang mit mehreren schweren Steinen und gingen dann über eine kleine Lichtung Richtung Bach. In einer Reihe kletter­ ten sie vorsichtig die Böschung hinunter. Eine Amsel beobachtete die fünf, aber sie stieß keinen Alarmruf aus. Sie saß auf einer Birke und bewegte sich nicht. An ihren blassen Federn konnte man se­ hen, dass sie alt war. Sie wusste, dass von den Argen keine Gefahr drohte. Im Gegenteil, sie erhöhte ihre Aufmerksamkeit, um die fünf vor Jägern warnen zu können. Es war aber nichts zu sehen. Füchse hatte sie schon tagelang nicht mehr gesehen. Das war selt­ sam. Aber was hatten die kleinen Leute vor? Sie schienen für eine lange Wanderung gerüstet. Die Großmutter der Amsel hatte ihr einst erzählt, die kleinen Leute seien die Wächter des Waldes, und solange sie im Wald leben, hätte der Wald eine Seele und die Tiere und Pflanzen Schutz vor dem Bösen. Die Amsel hatte dies nie verstanden und ihre Großmutter konnte es ihr nicht erklären, da sie es selbst nicht wusste. Jetzt hatte sie aber doch etwas Angst. „Geht nicht, bleibt“, flüsterte sie, aber die kleinen Leute hörten sie nicht und gingen weiter. Die fünf erreichten den Bach. Das Boot war in einem Gestrüpp versteckt. Schnell machten sie es frei, legten das Gepäck ins Innere und zurrten es fest. Borg wachte darüber, dass alles gewissenhaft gemacht wurde. Dann schoben sie den Kahn ins Wasser. Einer nach dem anderen stieg in das kleine wackelige Boot. Zuletzt Hol­ der, der der sicherste Ruderer war und hinten Platz nahm. Außer Osdas nahm jeder ein Ruder zur Hand und schnell war die Mitte des Baches erreicht. Ab dort ruderten nur noch Holder und Stanz, um das Boot dort zu halten und zügig voranzukommen. Die Strö­ mung war nicht sehr stark, aber das Boot war schwer beladen und lag tief im Wasser. So mussten die beiden kräftig rudern. Borg und 30