Wenn kleine Helden dringend Hilfe brauchen

K i n d e r p s y c h i s c h k r a n k e r E lt e r n l e b e n i n z w e i W e lt e n Wenn kleine Helden dringend Hilfe brauchen „Der Eindruck, das...
Author: Claudia Kaiser
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Wenn kleine Helden dringend Hilfe brauchen „Der Eindruck, dass nichts mehr planbar ist, dass nichts mehr sicher ist, dass von einem Tag auf den anderen alles umgeworfen werden kann, führt zu einem gewissen Fatalismus.“ 1 Kinder, deren Eltern mit der Diagnose Depression, bipolare Störung oder Schizophrenie leben müssen, leiden unter unberechenbaren Stimmungswechseln ihrer Eltern und ständigen Beziehungsabbrüchen. Der Berliner Jugendhilfeträger Ambulante Sozial­pädagogik Charlottenburg (AMSOC) e.V. vermittelt ehrenamtlich tätige Paten, die dem Leben dieser Kinder Stabilität geben. 2 Holger Wannenwetsch

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Gesundheitsförderung

Sie wusste, dass sie sich darum kümmern sollte. Aber sie hatte einfach keine Energie. Ihr Sohn Alex ist zwölf Jahre alt und möchte nach den in Berlin üblichen sechs Jahren Grundschule im Anschluss an die Sommerferien aufs Gymnasium. 3 Seine Mutter ist alleinerziehend und seit einigen Jahren manisch-depressiv erkrankt. Annahmeschluss für den Aufnahmeantrag war Freitag, 15 Uhr. Nur mithilfe seines Paten Johann Winkler, der ihn im Auto chauffierte, schaffte Alex diesen Termin, auch wenn beide nochmals zurückmussten, weil die Unterschrift der Mutter fehlte. 4 Befragt man erwachsene Kinder zu ihren Erfahrungen mit psychisch kranken Eltern, so zeigt sich, dass Antriebslosigkeit, Desorganisation und fehlende Sicherheit nur ein Teil des Problems sind. Es mangelt vor allem an erwachsenen Vorbildern, die die Kinder altersgerecht anleiten. Und: „Die Tabuisierung der Krankheit, die fehlende Aufklärung und die soziale Ausgrenzung und Stigmatisierung des kranken Elternteils löste bei den Kindern ein Gefühl der Einsamkeit aus, die bis zur Isolation führen kann. Die Kinder begannen zunehmend, in zwei Welten zu leben, in der Welt der Familie und in der Außenwelt.“ 5 Die Welt der Familie – Verunsicherung, Tabuisierung und Zukunftsangst. Alex’ Familie ist ein gutes Beispiel dafür, dass psychische Erkrankungen vor keiner sozialen Schicht haltmachen. Mit einem Intelligenzquotienten von 138 gilt Alex als hochbegabt. Zu seinem Vater hat er keinen Kontakt mehr, Geschwister gibt es nicht. Die Großeltern mütterlicherseits leben auch in Berlin, der Großvater ist promoviert. Beide sind psychisch erkrankt, die Großmutter war auch schon längere Zeit in einer Klinik. Bisher war Alex bei allen möglichen Leuten untergebracht, mal bei einer Freundin der Mutter, die ein paar Tage Zeit hatte, mal bei einem Bekannten. Und er war auch schon in einem Heim. Ein Bindungsabbruch reihte sich an den anderen, eine verlässliche Bezugsperson hatte Alex noch nie. Morgens macht er alles alleine. Wenn er aus dem Haus geht, hat er seine Mutter noch nicht gesehen. „An diesem Fall wird die Problematik ganz deutlich. Die psychische Erkrankung besteht schon mindestens in zweiter Generation. Die Mutter von Alex ist selbst Kind psychisch erkrankter Eltern. Sie weiß also, was das für ihren Sohn bedeutet.“ Katja Beeck, 35, ist Initiatorin und Leiterin des Bereichs „Patenschaften“ bei AMSOC. Das Risiko von Kindern eines psychisch erkrankten Elternteils, dieselbe psychische Erkrankung zu bekommen (spezifisches Erkrankungsrisiko), hängt von der Art der psychischen Erkrankung ab: Bei Schizophrenie ist das Risiko um den Faktor 13 höher als das Risiko der Gesamtbevölkerung. Bei unipolarer Depression ist

das Risiko im Vergleich zur Gesamtbevölkerung verdoppelt. Das spezifische Risiko ist also relativ deutlich erhöht, liegt jedoch absolut „nur“ bei etwa 10 %. Das allgemeine Erkrankungsrisiko jedoch, das Risiko, als Kind eines psychisch erkrankten Elternteils irgendeine psychische Auffälligkeit oder Störung zu entwickeln, ist mit 60 % sehr hoch. 6 Bei den meisten psychischen Störungen wird jedoch nicht die Krankheit selbst vererbt, sondern die Anfälligkeit dafür. Aus einer Erbanlage muss sich also nicht zwangsläufig eine Erkrankung entwickeln. Kommen allerdings belastende Umweltfaktoren hinzu, steigt das Risiko. Dazu zählen Armut, Arbeitslosigkeit in der Familie, beengte Wohnverhältnisse, sexueller Missbrauch, Misshandlungen, Streit, Trennung oder Scheidung der Eltern, alleinerziehende Betreuung, häufige Beziehungsabbrüche zu wichtigen Bezugspersonen oder deren Verlust, häufige oder längere Trennung von den Eltern in den ersten sieben Lebensjahren. Gerade familiäre Belastungen sind der Hauptauslöser für einen eigenen Krankheitsausbruch. Diese Risikofaktoren häufen sich in Familien mit einem psychisch kranken Elternteil. Deshalb tragen diese Kinder gleich zwei Kreuze: ihre Gene und ihre Umwelt.

Nur wenige psychisch erkrankte Eltern wenden sich an das Jugendamt, gehen offen mit ihrer psychi­ schen Erkrankung um und bitten um Unterstützung für ihr Kind. Bei Alex kam die Initiative für die Patenschaft durch eine engagierte Mitarbeiterin des Jugendamts. Beeck: „Nur wenige psychisch erkrankte Eltern wenden sich an das Jugendamt, gehen offen mit ihrer psychischen Erkrankung um und bitten um Unterstützung für ihr Kind.“ Dabei kommt es immer auf die bisherigen Erfahrungen der Eltern mit dem Jugendamt an. Hatten sie schon eine Familienhilfe, die sie als förderlich empfunden haben, oder einen Sachbearbeiter, mit dem sie gut zurechtkamen, klappt es wesentlich besser. Ansonsten dominiert oft die Angst, das Sorgerecht zu verlieren und das Kind entzogen zu bekommen. In der Welt der Familie verbringen die Kinder und Jugend­ lichen den größten Teil ihrer Zeit. Der psychisch erkrankte Elternteil drückt dort dem Tag seinen Stempel auf. Je nach Art seiner Erkrankung bedeutet das für die Kinder oft ein Pendeln zwischen Extremen, ein Lavieren zwischen Liebe und Aggressivität. Psychische Krankheiten sind unsichtbar, ungreifbar und ihr erneuter Ausbruch ist nicht einschätzbar. 07/2010 Die BKK | 387

Kinder psychisch kranker Eltern sind Kinder, die für ihr Alter absolut unangemessene, völlig überfordernde Aufgaben übernehmen. Kinder, die keinen Erwachsenen haben, der sie auffängt. Kinder, die häufig zwanghafte Züge entwickeln, ununterbrochen aktiv sein müssen, nicht loslassen können. Kinder, die sich wie kleine Erwachsene aufführen. Beeck: „Eines unserer Patenkinder haben wir als Zweijährige kennen gelernt. Ein Kind, das bereits in diesem Alter seine depressive Mutter emotional so versorgen musste, dass es sich wie eine Vierjährige verhielt und auch so aussah.“

Kinder psychisch kranker Eltern stützen das fami­l iäre System zum Preis ihrer Kindheit und ihrer Gesundheit. So leben betroffene Kinder nur mit der Gewissheit, dass sie sich auf nichts verlassen können. Gleichzeitig vermittelt der Erkrankte seinem Kind oft das Gefühl, an allem schuld zu sein. Er droht mit Liebesentzug, falls das Kind diese Schuld nicht abarbeitet: „Wenn du jetzt nicht putzt, dann habe ich dich nicht mehr lieb!“ 7 Die permanente Rücksichtnahme auf die Krankheit gestattet den Kindern nicht, ihr eigenes Leben nach ihren Bedürfnissen zu führen, ihren Hobbys nachzu­gehen, Freundschaften zu pflegen. Sie fordert eine vorbehaltlose Anpassung an die Wunschvorstellungen des Erkrankten. Und wehe, es dringt etwas nach außen: „Ungeschriebenes Gesetz war, die Erkrankung meiner Mutter unter allen Umständen zu verheimlichen … Es heißt einfach: Ein Nervenzusammenbruch.“ 8 Damit isoliert sich die Familie, kappt die letzte Verbindung zur Außenwelt, schneidet sich von jeder Hilfe ab. „Ein großes Sicherheitsbedürfnis und stetige Zukunftsangst sind die maßgebliche Folge meiner Erfahrungen. Ich habe aus nächster Nähe erlebt, wie schnell ein Mensch in scheinbar geordneten und sicheren Lebensumständen durch sämtliche Maschen des sozialen Netzes fallen kann. Gleichzeitig hat mir diese Tatsache klar gemacht, dass ich ganz auf mich allein gestellt bin.“ 9 Auch wenn sie bereits erwachsen sind, kommen viele aus diesem Gefängnis nicht mehr heraus, fühlen sich nach wie vor für die erkrankte Mutter zuständig: „Dieses Pflichtgefühl, da musst du hin, lässt einen lebenslang nicht los. Dieses: Ich bin verantwortlich!“ 10 388 | Die BKK 07/2010

Unter Parentifizierung versteht man eine Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind. Die Eltern nehmen ihre Funktion aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr oder nur noch unzureichend wahr und weisen stattdessen dem Kind eine völlig überfordernde Elternrolle zu. Und paradoxerweise wird dies von vielen Außenstehenden als positiv erlebt. Das Kind ist scheinbar weit entwickelt, sehr verantwortungs­ bewusst. Es ist vielleicht Klassensprecher, kümmert sich vor allem um die schwächeren Mitschüler. Für die Familie ist es das Aushängeschild. Ein Kind, das gelernt hat, dass der Laden nur läuft, wenn es sich um alles kümmert. Beeck spricht von sozial adäquatem Leiden dieser Kinder, die niemandem wehtun und deshalb niemandem auffallen. Von stillen, kleinen Helden, die unaufgefordert ganz alleine und vermeintlich selbstbewusst ihre psychisch schwer kranken Eltern versorgen. Die das familiäre System stützen zum Preis ihrer Kindheit und ihrer Gesundheit. Und die mitbekommen, dass keiner für sie da ist, wenn sie selbst Hilfe brauchen: „Als ich dann … pubertierend war, wo man sich … am meisten nach Nähe und Zuneigung sehnt, … konnte das meine Mutter überhaupt nicht geben. Ich kann mich … nicht erinnern, dass meine Mutter mich mal berührt oder in den Arm genommen hat.“ 11 Ohne eine erwachsene Bezugsperson, die ihre Grenzen respektiert und ihnen emotionale Zuwendung gibt, entwickeln Kinder oft eine gestörte Selbstwahrnehmung. Einige fügen sich später Verletzungen zu, um sich überhaupt noch zu spüren. Und brechen im Alter von 20 Jahren zusammen, oder dann, wenn sie selbst Eltern geworden sind und der Kreis sich schließt. Kinder dagegen, die nicht still leiden, sondern in ihrer Not auf sich aufmerksam machen, haben es zumindest in der Außenwahrnehmung einfacher. Als schwarze Schafe prügeln sie sich in der Schule, bekommen schlechte Noten, lassen ihrer Trauer oder Wut freien Lauf. Entscheidend ist jedoch letzten Endes nicht, welches Verhalten man beim Kind schon beobachten kann. Egal, ob als Held oder schwarzes Schaf, allein mit einem schwerwiegend psychisch erkrankten Elternteil und ohne eine emotional stabile,

Gesundheitsförderung

erwachsene Bezugsperson sind Kinder auf jeden Fall in höchstem Maße gefährdet. Viele Therapeuten psychisch erkrankter Eltern beziehen dennoch die Kinder ihrer Patienten nicht in die Behandlung ein und verstecken sich hinter ihrer Schweigepflicht. Eine Befragung unter Klinikärzten ergab, dass nur zwei Drittel der Erwachsenenpsychiater überhaupt wussten, ob ihre Patienten Kinder hatten. Und selbst wenn sie es wissen, sind gemeinsame Gespräche mit Kindern und Patienten die absolute Ausnahme. 12 Im Grunde erkrankt ein ganzes System, die Familie, aber behandelt wird nur der psychisch Kranke selbst. Manchmal gibt es sogar aktiven Widerstand bei den Therapeuten. Beeck: „Als einmal eine psychisch erkrankte Mutter kurz vor Abschluss einer Patenschaft für ihre Tochter der Psychotherapeutin von dem Plan erzählte, reagierte diese empört und sagte der Mutter, dass sie als psychisch erkrankt stigmatisiert werde, wenn sie an einem solchen Angebot teilnähme.“ Die Außenwelt – Unverständnis und Desinteresse oder Stabilität und Normalität in der Patenschaft. Auch außer­ halb der Familie ist die Situation für Kinder ohne stabile Bezugsperson schwierig. Sie erhalten oft wenig bis gar keine Unterstützung. Verwandte leben nicht vor Ort oder schieben die Verantwortung ab. Mitschüler grenzen betroffene Kinder aus, Lehrer sind nicht informiert oder reagieren nicht angemessen auf Hilferufe. Versuche, andere ins Vertrauen

Die Kinder dürfen mit ihren Paten über die psychische Erkrankung ihrer Mutter reden, müssen es aber nicht.

zu ziehen, scheitern oft kläglich, „… weil die zaghaft und vielleicht nur andeutungsweise mit dem Mut der Verzweiflung Angesprochenen den Kindern nicht geglaubt haben“. 13 Die Paten von AMSOC dagegen stärken betroffenen Kindern den Rücken, haben Verständnis für ihre Situation und bieten ihnen verlässliche Beziehungen. „Bisher hatte Alex’ Mutter immer das Problem, dass sie nicht wusste, wohin mit dem Jungen, wenn sie gespürt hat, es geht wieder los. Jetzt wissen beide, dass er dann zu meiner Frau und mir kommt und nicht bei Fremden untergebracht werden muss.“ Johann Winkler, 64, verheiratet, hatte als Niederlassungsleiter einer international tätigen Möbelspedition viel mit Lehrlingen zu tun. Er ist zweifacher Vater und dreifacher Großvater, die Kinder und Enkelkinder leben nicht in Berlin. Seit letztem Jahr ist er im Ruhestand. „Klar könnte ich jetzt den ganzen Tag Briefmarken sammeln oder mich mit dem Computer beschäftigen. Aber das würde ich dann alleine zu Hause machen. Ich brauche einfach Menschen. Mir fehlt diese junge Generation im Umfeld.“ Winkler ist der Pate von Alex. Er betreut ihn einmal die Woche und an einem Wochenende im Monat, an dem Alex bei ihm übernachtet. Bevor es so weit war, durchlief Winkler einen umfangreichen Auswahlprozess. AMSOC wählt seine Paten sehr sorgfältig aus. Sie müssen einen 15-seitigen Bewerbungsbogen ausfüllen, in dem u. a. Erfahrungen mit Kindern und psychisch erkrankten Menschen, zeitliche, räumliche und finanzielle Ressourcen und die eigene gesundheitliche und psychische Verfassung abgefragt werden. Paten, die das Bewerbungsverfahren erfolgreich durchlaufen haben, nehmen im Anschluss an einer eigens entwickelten Schulung teil. Sie werden eng fachlich begleitet und erhalten mindestens drei Jahre lang eine professionelle Supervision. Alex und seine Mutter wollten eine männliche Bezugsperson. Winkler hat auf dem Bewerbungsbogen ledig­ lich Null- bis Dreijährige als Patenkinder ausgeschlossen, „meine Frau und ich wollten nicht noch einmal windeln“. Er bringt als Ruheständler die notwendige Zeit und Flexibilität mit. Patenkinder müssen unter Umständen auch bis zu acht Wochen spontan aufgenommen werden, weil die Mutter z. B. für längere Zeit in die Psychiatrie muss. Alleinstehende, berufstätige Paten brauchen dann viel Verständnis ihres Chefs und eine entsprechend flexible Arbeitszeit. Die Kinder dürfen mit ihren Paten über die psychische Erkrankung ihrer Mutter reden, müssen es aber nicht. Die Aufarbeitung des Geschehens kann sehr wichtig sein, denn: „Kinder schaffen sich eigene Erklärungsmuster. Und die Fantasien sind in der Regel weitaus schlimmer als die Realität.“ 14 Jedes Kind entscheidet, was es seinem Paten 07/2010 Die BKK | 389

anvertrauen möchte. Winkler: „Ich warte ab. Ich sage immer, wenn was ist, mach den Mund auf. Im Moment reicht es ihm wohl, dass er bei uns er selbst sein darf und sich gehen lassen kann. Er ist froh, in einer Gemeinschaft zu sein und über etwas völlig anderes reden zu können.“ Die Kinder aufzuklären oder ihnen Bewältigungsstrategien anzubieten, ist jedoch nicht das Hauptanliegen der Patenschaft. Winkler weiß, dass seine wichtigste Aufgabe darin besteht, Alex ein Gefühl von Stabilität und Normalität zu geben. Kinder psychisch kranker Eltern, die keine verlässliche Bezugsperson an ihrer Seite haben, kennen keinen „normalen“ Familienalltag. Sie wissen nur, dass ihre Erlebnisse nicht normal sind. Beeck: „Wir können den psychisch erkrankten Elternteil nicht heilen. Aber die Paten hören den Kindern zu, nehmen sie in den Arm, geben ihnen die Botschaft mit: Was immer dich beunruhigt, wir halten das gemeinsam mit dir aus.“ Am Anfang von Patenschaften wird immer viel unternommen. Man geht gemeinsam in den Zoo oder treibt Sport, lernt sich kennen, baut Vertrauen zueinander auf. Später ist dann alles Routine, zwischen Patenkind und Pate hat sich der Alltag eingespielt. Zoobesuche sind auch dann noch angesagt, jedoch nur noch so oft, wie es eben normal ist. Gemeinsame Mahlzeiten werden wichtiger, das Patenkind übernachtet auch gelegentlich bei seinem Paten. Weiß das Patenkind, dass es notfalls und vorübergehend ganz beim Paten leben kann, nimmt das viel Druck. Winkler: „Ab und zu besucht Alex seine Großeltern. Leben könnte er dort nicht, weil die ja auch psychisch erkrankt sind. Der Großvater unternimmt dann immer sehr viel mit ihm. Mittlerweile kennt der Junge jedes Museum, weil der Großvater nicht weiß, wie er anders mit dem Jungen umgehen soll. Der Junge ist froh, wenn er alleine bei mir sitzt, wenn wir zusammen einfach nur fernsehen oder was spielen. Oder er liest was, ich sitze daneben und lese auch, das ist ‚normal’.“ Voraussetzungen für eine Patenschaft seitens der Familien. Am meisten gefährdet sind Kinder, die keine sichere Bindung zu mindestens einem gesunden Erwachsenen vorweisen können. Diese Situation ist typisch für Familien mit alleinerziehenden, psychisch erkrankten Müttern. So vermittelt AMSOC fast ausschließlich Patenschaften für die Kinder dieser Mütter. Eine schwerwiegende psychische Erkrankung der Mutter macht es für ein Kind nahezu unmöglich, eine sichere Bindung zu ihr aufzubauen. Und genau hier ist der Pate gefordert. Die Patenschaft soll die Familie allerdings nicht ersetzen, sondern sie ergänzen. Das setzt bei der erkrankten Mutter voraus, dass wenigstens zeitweise noch genügend Erziehungskompetenz vorhanden ist und das Kind grundsätzlich noch bei der Mutter wohnen kann. 390 | Die BKK 07/2010

Wir können den psychisch erkrankten Elternteil nicht heilen. Aber die Paten hören den Kindern zu, nehmen sie in den Arm, geben ihnen die Botschaft mit: Was immer dich beunruhigt, wir halten das gemeinsam mit dir aus. Bei einer einmaligen oder schub­weise verlaufenden Depression, einer bipolaren (manisch-depressiven) Störung oder einer Borderline-Persönlichkeitsstörung ist das zumeist so, bei einer chronisch verlaufenden Schizophrenie nur in seltenen Fällen. Die Fähigkeit zur Einsicht in die Krankheit und in die Notwendigkeit der Hilfe für das Kind sowie die Erlaubnis für das Kind, über die Erkrankung zu sprechen, sind weitere Teilnahmevoraussetzungen. Krankheitseinsicht lässt sich nicht erzwingen. Doch auch Kinder, deren psychisch erkrankte Eltern ihre Krankheit nicht erkennen oder erkennen wollen, benötigen dringend Hilfe. Dann sind Jugendämter und Familienrichter gefordert, Grenzen zu setzen und gefährdete Kinder auch gegen den Willen der Erkrankten wirkungsvoll zu schützen. Der Großteil der Kinder psychisch kranker Eltern bleibt ohne Unterstützung. Allein in Berlin leben etwa 40.000 betroffene Kinder und nur in ein paar wenigen Fällen kann AMSOC helfen. Beeck: „Wir müssen uns auf bestimmte Fälle konzentrieren, sonst kommen wir ganz schnell an unsere Kapazitätsgrenzen. Unsere derzeitigen 18 Patenkinder haben wirklich berührende Einzelschicksale.“ Für Deutschland variieren die Zahlenangaben sehr stark. So geht die Bundesregie-

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rung nach einer konservativen Schätzung davon aus, dass etwa 1,6 Mio. Kinder und Jugendliche von einer psychischen Krankheit eines oder beider Elternteile betroffen sind. 15 Andere Quellen sprechen sogar von drei bis vier Mio. 16

Holger Wannenwetsch, Abteilung Vertragspolitik, Ambulante ärztliche Versorgung, spectrum|K GmbH, Berlin Kontakt: [email protected] Anmerkungen

Ausblick. Die ersten Modellprojekte für Kinder psychisch erkrankter Eltern gab es in den 90er-Jahren. Sie wurden meist über Stiftungen finanziert und im Anschluss nicht in die staatliche Regelfinanzierung übernommen. Vor allem bei neuen Angeboten wie den Patenschaften gibt es keine staatliche Unterstützung. Da Stiftungen überwiegend nur zeitlich begrenzte Vorhaben fördern, bieten sie keine stabile Finanzierungsgrundlage. Stattdessen werden immer neue Projekte kreiert oder vorhandene an anderen Orten als Modell ausprobiert. Beeck spricht von einem „Projektewahnsinn“. Geldgeber interessierten sich vor allem für konkrete Sparpotenziale. Die seien aber schlecht bezifferbar, weil Prävention oft erst nach vielen Jahren Früchte trage. Nur wenn der Schaden bereits eingetreten sei, gebe es Geld. Dass eine ehrenamtliche Patenschaft möglicherweise einen Vollzeitpflegeplatz (jährliche Kosten je nach Alter des Kindes zwischen 7.200 und 9.100 €) oder eine Heimunterbringung (jährliche Kosten zwischen 36.000 und 55.000 €) einspart, ist offenbar nicht konkret genug. 17 Beecks größter Wunsch ist eine dauerhafte, verlässliche Finanzierung der Arbeit mit den Kindern psychisch kranker Eltern – auch für das Patenschaftsangebot: „Denn wer Verlässlichkeit vermitteln will, braucht selbst Verlässlichkeit.“ Pate Winkler will seinem Patenkind Alex diese Verlässlichkeit geben. Mit 18 ist Alex mündig und kann selbst entscheiden. Dann wird die Patenschaft nicht mehr über AMSOC geführt. Winkler: „Wenn sich über die Jahre das Vertrauen und die Bindung zwischen uns gut entwickeln, hält der Kontakt sicher darüber hinaus. Das ist jedenfalls mein größter Wunsch!“

1 Fritz Mattejat, Beate Lisofsky, Nicht von schlechten Eltern, Kinder psychisch Kranker, Psychiatrie-Verlag GmbH, Bonn 2009, S. 14. 2 http://www.patenschaftsprojekt.de/vgl. auch http://www.netz-und-boden.de 3 Name geändert. 4 Name geändert. 5 Albert Lenz, Riskante Lebensbedingungen von Kindern psychisch und suchtkranker Eltern – Stärkung ihrer Resilienzressourcen durch Angebote der Jugendhilfe. Expertise im Rahmen des 13. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung, Juni 2009. 6 Fritz Mattejat, Beate Lisofsky, a. a. O., S. 76 ff. 7 Ebenda, S. 24. 8 Ebenda, S. 16 und 38. 9 Ebenda, S. 52. 10 Sabine Wagenblass: Wenn Eltern in ver-rückten Welten leben, Die Entdeckung der Kinder psychisch kranker Eltern als betroffene Angehörige, in: Soziale Psychiatrie 3/2003, S. 10. 11 Ebenda, S. 9. 12 Fritz Mattejat, Beate Lisofsky, a. a. O., S. 109. 13 Ebenda, S. 60. 14 Ebenda, S. 124. 15 13. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, Deutscher Bundestag – Drucksache 16/12860 vom 30. Mai 2009, S. 108. 16 Lisa von Prondzinski: Wenn Mama immer traurig ist, Mehr Hilfen für die Kinder psychisch kranker Eltern sind nötig, im Internet abrufbar unter: http://www.wdr.de/ themen/gesundheit/krankheit/kranke_eltern/100318.jhtml. 17 Zahlen vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, Berlin.

Spendenkonto Ambulante Sozialpädagogik Charlottenburg e.V. Konto-Nr.: 30 40 75 99 36, BLZ: 100 200 00 Berliner Bank, Betreff (einmalige Spende): Zukunft Patenschaftsangebot, Betreff (jährliche Spenden): Verlässlichkeitsgeber

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