Wenn die Sterne funkeln Eine Kurzgeschichte von Angelika Marie Hauck, aufgetischt vom Mörderklüngel* in Zusammenarbeit mit der Morgengold Frühstücksdienste Franchise GmbH

* Der Mörderklüngel ist eine Hamburger Autorengruppe

Marlene klippte den zweiten Ohrring fest. Sie hatte die Kreolen vor Monaten zwischen glitzerndem Bühnenschmuck in Jaques Artistenbedarf unweit der Reeperbahn entdeckt, aber bislang noch nicht getragen. Ob sie ihm gefallen würden? Oder war Strass zu jugendlich für ihr Alter? Sie schob das kinnlange Haar hinter die Ohren und betrachtete kritisch ihr Spiegelbild. Nein, nein, nein! Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Sie übte ein Zwinkern mit dem linken Auge. Dann verließ sie ihre Wohnung. Das Bäckerei-Café lag nicht weit entfernt. Ebenfalls im ehemaligen Hamburg 13. Dort hoffte sie ihn zu treffen. Früher konnte man an den nachgestellten Zahlen die Stadtteile ablesen. 13 stand für Universität und das großbürgerliche Harvestehude und Rotherbaum. Marlene lag nichts an der noblen Ziffer. Stattdessen erinnerte sie sich gerne an die eigene Studentenzeit und die damalige Unbeschwertheit. Davon wünschte sie sich eine Portion zurück. Gerade heute – im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Sie schaute sich im Verkaufsraum unauffällig um. Saß er wieder vor dem Panaromabild des Hamburger Hafens? Nein. Auch auf keinem anderen Platz war der graumelierte Herr von vor drei Tagen zu entdecken. Wie schade. Vielleicht kam er später zum Nachmittagskaffee. Könnte doch sein, dass er erst um 16:30 Uhr oder 17 Uhr kam. Sie drehte sich zur Vitrine: Sollte sie Apfel-Mandel-Torte nehmen oder lieber die MaracujaSahne? Wenn es um Kuchen ging, war eine Unentschiedenheit nicht problematisch. Aber im Privaten? Hätte sie an jenem Nachmittag doch nur zurückgelächelt. Der Unbekannte hatte sie mehrfach angesehen. Sie hatte es aus den Augenwinkeln genau beobachtet, den Kopf aber nicht in seine Richtung gedreht. Nur ein einziges Mal. Da hatte er ihr ein Lächeln geschenkt. Und sie? Wie ein dummer Teeny hatte sie sofort wieder auf ihren Kuchenteller gestarrt. Dabei konnte sie sich durchaus sehen lassen. Heute würde sie zurücklächeln. Gewiss. Es gab in ihrem Alter nicht mehr viele frei schwebende und zugleich ansehnliche Exemplare der Gattung Mann. Heute würde sie die Chance ergreifen. Marlene trat mit ihrem Tablett – sie hatte sich für Erdbeer-Sahne entschieden – auf die Terrasse im geschützten Hinterhof. Auch hier war er nicht zu finden. Nur eine junge Frau und ihr Kind saßen unter einem naturweißen Sonnenschirm. Die Mutter telefonierte, das Mädchen malte tief über den Tisch gebeugt in einem Malbuch. Alle anderen Plätze waren frei. Wohin sollte Marlene sich setzen? In den Halbschatten der Scheinakazie, unter den Schirm oder in die Sonne? Sie wählte einen Platz neben der großen Fensterscheibe. Hier würde der ältere Herr sie selbst von drinnen entdecken.

Sie nahm einen kleinen Bissen von ihrer Torte. Dann schloss sie die Augen und hielt das Gesicht in die Sonne. Ihre Ohrringe streiften den Hals, kratzten leicht über die Haut. Sie waren wegen ihrer Größe ungewohnt schwer. Was, wenn er sie unpassend für ihr Alter fand oder sogar daran Anstoß nahm? Na und – dann war es so. Einen Langweiler wollte sie auch nicht. „Guck mal“, hörte Marlene eine Kinderstimme in ihre Gedanken hinein. Sie öffnete die Augen. Der Graumelierte war immer noch nicht zu sehen. Und wenn er heute gar nicht kam? Ein zweites Mal: „Mama, guck mal.“ Das Mädchen vom Nachbartisch zeigte auf das Bild. Die Mutter reagierte nicht, telefonierte weiter. Was für ein niedliches Pummelchen, dachte Marlene, und dieses verstrubbelte Haar. Sie lächelte dem Kind zu. Es blickte ernst zurück. Dann kletterte es unbeholfen von seinem Stuhl, kam zielgerichtet auf Marlene zu und stellte sich vor sie. Zum Teufel mit der Warterei, dachte Marlene. „Wer bist du?“, fragte sie. „Wöle“, antwortete das Mädchen. „Das ist aber ein merkwürdiger Name.“ „Hmmmm“, brummte das Kind. Dabei angelte es umständlich nach einer Gliederkette, die unter seinem Sommerkleid verborgen war, und zog einen silbernen Löwen hervor. „Ach, du bist ein kleiner Löwe“, antwortete Marlene, „ich bin eine Löwendame. Dann sind wir schon zwei Wöle.“ Jetzt strahlte das Mädchen, lachte ein kehliges Lachen. Es schüttelte den Kopf, als wollte es eine Löwenmähne in Wallungen bringen. Ob ich das auch noch kann, fragte Marlene sich. Sie begann mit zaghaften Bewegungen, dann drehte sie ihren Kopf schneller, dass das Haar hinter den Ohren hervorrutschte und zu fliegen anfing.

Das Mädchen staunte sie an. Dann führte es wildere Bewegungen aus, hielt inne und schaute wieder auf Marlene. Die versuchte, es ihr gleichzutun. Schließlich schüttelten beide gleichzeitig ihre Köpfe. Die Kleine immer ein wenig ungestümer, Marlene gezügelter, aber angetrieben von der kindlichen Unbedarftheit. „Halt! Da wird einem ganz schwindelig“, lachte Marlene, „ich brauche eine Pause.“ Sie setzte sich gerade hin und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie holte tief Luft und überlegte. Die Freude sollte noch nicht zu Ende gehen. Was konnte sie tun? Sie hob einen Zeigefinger. „Pass auf!“ Sie tippte den rechten Ohrring an. Der wippte wie eine Affenschaukel hin und her. Die Kleine kam näher und starrte sie an. „Sterne“, flüsterte sie. „Mehr?“ Die Kleine nickte. Marlene hob die Augenbrauen. Sie gab der zweiten Kreole einen Stups. Das Mädchen quietschte. Marlene strahlte ebenfalls und gab beiden Ohrringen erneut Schwung. „Ja, lauter Sommer-Sonnen-Sterne fürs Wöle-Kind“, sagte sie. Die Kleine trat aufgeregt von einem Bein aufs andere, als wollte sie anfangen zu tanzen. Marlene hätte sie gerne auf den Arm genommen und sich mit ihr im Hof gedreht. „Lilly!“, die Stimme der Mutter drang zu ihnen herüber. Sie näherte sich und griff ihr Kind bei der Hand. „Entschuldigen Sie vielmals, meine Tochter ist immer so distanzlos.“ „Nein“, beeilte Marlene sich. Sie strich dem Mädchen durchs Haar. Es fühlte sich kräftig und trocken an. Vielleicht wie Savannengras, dachte sie. „Sie haben ein mitreißendes Kind. Lilly ist ganz wunderbar. Ich habe ihr für diesen Sternenzauber zu danken.“ Und zu der Kleinen sagte sie: „Du bist der wildeste Wöle, dem ich jemals begegnet bin.“ Lillys Augen leuchteten ein letztes Mal, dann ließ sie sich zögerlich fortziehen. Marlene stand ebenfalls auf. Sie könnte morgen noch auf den gepflegten Herren warten. Heute wollte sie Lillys Übermut wieder und wieder auskosten. Und wenn der Grauhaarige beim nächsten Mal vor ihr stünde … würde sie dann auch die Kreolen wippen lassen?

die Autorin: Angelika Marie Hauck 1951 in Cuxhaven geboren, studierte an der Universität Hamburg Psychologie, Germanistik, Hispanistik und Pädagogik. Bis 2006 als Deutsch- und Spanischlehrerin im Hamburger Schuldienst. In ihren Geschichten gilt ihr Interesse den menschlichen Schwächen. Das Schrullige, Skurrile oder Abgründige des Menschen fasziniert sie mehr als das Gefällige, der Hinterhof mehr als der Vorgarten. Für sie ist das spannend, was sich hinter der Fassade verbirgt. Mitglied der Autorengruppe „Mörderklüngel“.

Veröffentlichungen: Zwei Kurzkrimis: Ein letztes Mal Heringssalat. In: Gepfefferte Weihnachten oder: Wer hat die Gans gekillt? Hrsg. von Regula Venske und Heike Gerdes. Leda-Verlag. Leer 2010. Liebe bis in den Tod In: Strandkorbkrimis. Hrsg. von Dietlind Kreber. Windspiel Verlag. Scharbeutz 2011. Eine Krimianthologie (19 Autoren schreiben Humoriges rund um Mütter und Morde, darunter ein eigener Kurzkrimi): Mutters Mordkompott. Kriminelles zwischen Pampers und Prosecco. Hrsg. von Angelika Marie Hauck und Klaudia Jeske. Leda-Verlag.

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