Leseprobe aus:

Jørn Lier Horst

Wenn das Meer verstummt

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Copyright © 2007 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek

Eins

William Wisting setzte die Lampe aufs Dach und gab Gas. Das Blaulicht durchschnitt die Dunkelheit, und der alles umhüllende Nebel, der vom Meer heraufgezogen war, reflektierte den Lichtschein. Dieser Einsatz fiel nicht in sein Ressort, aber die Streife, die sich um den Notruf hätte kümmern sollen, hatte alle Hände voll mit einem Hüttenbrand auf der anderen Seite des Fjords zu tun. Außer Wisting war niemand mehr auf dem Revier gewesen, als die Meldung einging, und so war er widerwillig ausgerückt. Als er sein Ziel erreichte, wurde ihm klar, wie unvorbereitet er war. Die Scheibe in der Apothekentür war eingeschlagen. Auf der Innenseite lag ein Haufen Scherben, draußen auf der Treppe vor der Apotheke ein Mann mit bloßem Oberkörper und schwarzer Anzughose. Um seine Hüfte war ein weißes Hemd geknotet. Augenscheinlich war der Mann betrunken gestolpert und hatte im Fallen die Scheibe zerstört. Doch etwas stimmte nicht. Er lag in stabiler Seitenlage, ganz so, wie Wisting es vor vielen Jahren im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Das Aufgeräumte an der Situation, wie die Hand anständig unter das Kinn geschoben war, machte ihn stutzig. Dieser Mann war dort platziert worden! Erst dann sah Wisting das Blut. Es drang durch das Hemd, das als Verband benutzt worden war. Wisting schluckte, ehe er nach dem Funkgerät griff. 7

«Ich brauche einen Krankenwagen», sagte er mit fester Stimme. «Krankenwagen?», knisterte es aus der Zentrale. «Einen Krankenwagen zur Apotheke in Stavern», präzisierte Wisting und warf das Mikrophon auf den Beifahrersitz. Der Mann lag unbeweglich, mit geschlossenen Augen und halb geöffnetem Mund. Seine Lippen waren trocken und spröde. Er mochte so alt sein wie Wisting, Mitte vierzig vielleicht, aber er wirkte deutlich besser in Form und muskulöser, ja beinahe athletisch. Sein Gesicht war maskulin, mit klaren Zügen und dem Bartschatten eines Tages. Wisting gab dem Mann ein paar vorsichtige Klapse auf die Wange. Eine zähe, klebrige Flüssigkeit rann aus der Nase, doch sonst war keine Reaktion zu erkennen. Verzweifelt tastete Wisting nach dem Puls, aber er spürte nichts als warme, klamme Haut. Vor der Bäckerei Nalum, auf der anderen Straßenseite, standen zwei ältere Damen, jede führte einen Hund an der Leine. Vorsichtig kamen sie ein paar Schritte heran. «Wir haben schon überlegt, einen Krankenwagen zu rufen», sagte die eine. «Aber wir hatten beide kein Telefon dabei.» Wisting fiel keine passende Antwort ein. Er schaute wieder hinunter auf den Mann. Sein Blick blieb an einer kleinen Tätowierung am Unterarm hängen. Mit größter Genauigkeit war ein schmales Auge in die bleiche Haut geritzt worden. Winzige Details machten das Bild so lebendig, dass Wisting unwillkürlich den Blick abwendete. Er suchte weiter nach einem Lebenszeichen, legte die Finger an die andere Seite des Halses. Er meinte, einen schwachen Puls zu spüren, doch es konnte ebenso gut sein eigener Herzschlag sein, der in den Fingern pochte. Er legte das Ohr an den Mund des Mannes. Irgendwo in der Brust gurgelten 8

Luft und Flüssigkeit. Wisting bezweifelte, dass dies ein gutes Zeichen war, aber immerhin lebte der Mann. Das weiße Hemd, mit dem die Wunde verbunden worden war, würde bald völlig blutdurchtränkt sein. Wisting zog seinen Gürtel aus und schlang ihn um den provisorischen Verband, um den Druck auf die Wunde zu erhöhen. Dann trat er einen Schritt zurück und starrte den Verletzten an. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf den Krankenwagen zu warten. «Er lag einfach da», sagte plötzlich eine der Frauen hinter ihm. «Haben Sie noch andere Leute gesehen?», wollte Wisting wissen. Die Frauen sahen einander an. «Da kam ein Auto», meinte die eine zögerlich. «Was für eins?» Sie zauderte. «Es war klein und grau, glaube ich. Es ist so schnell gefahren … Sogar auf der falschen Straßenseite.» Wisting versuchte seine Enttäuschung über die vage Aussage zu verbergen. Etwas in der Apotheke nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Unter den Glasscherben auf der Innenseite der zerbrochenen Tür lag etwas. Etwas Haariges oder Zotteliges. Erst nach einem Augenblick erkannte er, dass es ein Troll war. Ein hässlicher Troll aus Stein, mit aufgemalten Augen und zauseligem Haar, wie man sie in Hotels oder an Flughäfen kaufen konnte. Wisting griff nach seinem Handy und begann aus alter Gewohnheit die Nummer von Finn Haber zu wählen. Dann hielt er inne. Der routinierte Kriminaltechniker war ja pensioniert. Er wurde seit neuestem durch Espen Mortensen ersetzt, der die letzten Monate mit Weiterbildung verbracht hatte. Mortensen ging sofort dran. «Kannst du arbeiten?» «Wann und wo?» 9

«Apotheke in Stavern.» «Was ist passiert?» Ehe er antwortete, warf Wisting einen Blick über die Schulter, als könnte er dort eine Erklärung für den Vorfall finden. Außer einer schwarzen Katze, die über den dunklen Asphalt davonschlich, sah er nichts. «Ich weiß es nicht», sagte er und schluckte. «Ich weiß es wirklich nicht.» Eine ungestüme Windbö trieb den Nebel durch die enge Straße. Wisting verspürte ein gewisses Unbehagen. In Gedanken malte er sich bereits den schlimmsten Fall aus. Schlimmstenfalls würde der Mann sterben. Wisting schluckte wieder. Schlimmstenfalls hatte jemand diesen Mann hier auf die Treppe gelegt, um ihn sterben zu lassen.

Zwei

Der Projektor warf ein Foto des Mannes von der Apothekentreppe an die Wand. Das Bild zeigte ihn mit geschlossenen Augen in einem Krankenhausbett. An seiner Wange klebte eine Kanüle, deren Ende in seine Nase eingeführt war. In seinem Mund steckte ein Plastikschlauch, der ihn mit Sauerstoff versorgte. Das Gesicht sah aus wie eine kalte und erstarrte Maske. Sie waren zu dritt im Sitzungszimmer. Gemeinsam mit Espen Mortensen und Torunn Borg betrachtete er das Foto. Wisting hatte auch noch Nils Hammer gebeten, an der Konferenz teilzunehmen, aber der war noch nicht erschienen. 10

Hammer war eigentlich für Drogendelikte zuständig und handelte im Großen und Ganzen nach eigenem Gutdünken, sowohl im Revier als auch bei Einsätzen. Seine Person war umstritten und viel diskutiert, dennoch war er einer der besten Ermittler, die sie hatten. Wisting holte ihn daher immer ins Team, wenn etwas Besonderes anlag. «Er ist gestern Abend spät noch nach Oslo ins Ullevål-Krankenhaus geflogen und operiert worden», begann Mortensen und deutete mit dem Kinn hinauf zum Foto. «Der Arzt hat diese Aufnahme gemacht», fuhr er fort, dann holte er Luft und fügte hinzu: «Auf den Mann ist geschossen worden.» Wisting war bereits eine Stunde zuvor über die Schussverletzungen informiert worden und hatte daraufhin eine Vormittagssitzung einberufen. Er bemerkte, dass Torunn Borg sofort aufhorchte, als sie erfuhr, dass es sich um das Opfer einer Schießerei handelte. «Sein Zustand ist nach wie vor ernst», informierte Mortensen. «Er hat gravierende innere Verletzungen.» Die Tür zum Konferenzraum wurde plötzlich aufgerissen, und Nils Hammer erschien auf der Bildfläche. «Scheiße, ihr glaubt nicht, wie das Getriebe gequalmt hat», sagte er und ließ sich auf einen Stuhl fallen. «Ich musste den ganzen Weg von Torstrand laufen», fuhr er fort und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Wisting lächelte. Hammers alter Ford war schon unzählige Male liegen geblieben. Die Instandhaltungskosten mussten sein Polizistengehalt gehörig strapazieren. «Weitermachen», bat Hammer und nickte Espen Mortensen zu. Mortensen fasste zusammen: «Er hat also einen Bauchschuss und liegt im Koma.» «Wer ist er?», unterbrach Hammer. «Wissen wir nicht», antwortete Mortensen. «Er hatte keine 11

Papiere bei sich, und wir haben keine Vermissten- oder Suchmeldungen vorliegen, die auf ihn passen.» Mortensen klickte auf dem Computer weiter, und auf der Leinwand tauchte eine Nahaufnahme der Tätowierung am Unterarm des Mannes auf. In der Vergrößerung war zu erkennen, dass es sich um eine beeindruckende Arbeit handelte. Kleine Flammen spiegelten sich in der dunklen Pupille. «Ich habe dieses Bild ebenfalls angefordert», sagte Mortensen. «Die Tätowierung ist wirklich speziell.» «Das ist irgendwie ein Stilbruch», meinte Torunn Borg. «Ich dachte immer, Männer mit Tätowierungen laufen im Alltag nicht mit Anzug rum. Vielleicht hatte er sich für irgendwas schick gemacht.» «Ich habe eher den Eindruck, dass er Model ist», wandte Mortensen ein. «Er hat einen Kurzhaarschnitt, scheint durchtrainiert und gut in Form zu sein. Nicht gerade der Typ, bei dem ich eine Tätowierung vermutet hätte.» «Wie dem auch sei, es bleiben Spekulationen», unterbrach Wisting. «Wir können das Bild allerdings in den Tattoo-Studios in der Stadt vorzeigen und uns umhören, ob jemand schon mal etwas Ähnliches gesehen hat.» Torunn Borg lächelte ihn an und gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass sie diese Aufgabe übernehmen würde. «Wann wird er wohl aufwachen?», wollte Hammer wissen. «Wir wissen es nicht», antwortete Mortensen. «Es ist nicht gesagt, dass er überhaupt wieder aufwacht.» «Es könnte also ein Mordfall werden», stellte Hammer fest. Wisting nickte. Er spürte, dass er auf der Schwelle zu einem neuen, ernsten Fall stand, doch er versuchte, die Begeisterung zu verbergen, die ihn stets überkam, wenn er wusste, dass er sich erneut als Polizist und Ermittler – und als Mensch – ausprobieren konnte. 12