Was ist und wozu brauchen wir Zeitpolitik?

Ulrich Mückenberger Was ist und wozu brauchen wir Zeitpolitik? Einleitungsvortrag zur Jahrestagung 2007 der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik: “...
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Ulrich Mückenberger

Was ist und wozu brauchen wir Zeitpolitik? Einleitungsvortrag zur Jahrestagung 2007 der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik: “Zeitpolitik für Lebensqualität“, München, 26. 10. 2007

Den Begriff „Zeitpolitik“ haben viele noch nie gehört, geschweige denn nachvollziehen können. Immerhin: Letztes Jahr ist er zum ersten Mal auf der Seite 1 der FAZ aufgetaucht. Anlässlich der Präsentation des 7. Familienberichts am 25. April 2006 äußerte Bundesfamilienministerin von der Leyen, „die ‚spannendste’ Botschaft des Berichts sei der Verweis auf die ‚Zeitpolitik’“ (FAZ 26.4.2006). Sie hat damit – wie vor allem der Familienbericht selbst – einen Zusammenhang zwischen Erwerbs-, sozialen und lokalen Zeiten herausgestellt, der der Zeitpolitik eigen ist und uns noch beschäftigen wird. Gewiss ist das mit „Zeitpolitik“ öffentlich Bezeichnete noch nicht völlig klar. Ministerin von der Leyen spricht fast gleichlautend von „Zeitmanagement“. Zeitpolitik meint aber mehr – und Anderes - als die individuelle Fähigkeit, den Alltag zu „handlen“. Sie fordert, nachhaltig öffentliche, wirtschaftliche und politische Zeitstrukturen mit den Bedürfnissen von Individuen, Familien und Gruppen vereinbar zu machen. Das möchte ich mit meinem Einleitungsvortrag zumindest plausibel machen.

Zeit tritt – und dieses ihr Schicksal teilt Zeitpolitik – nie allein für sich auf. Alle Abläufe und Ereignisse geschehen „in der Zeit“, und Zeiten sind immer Zeiten „von etwas“. Zeitpolitik kommt daher in unterschiedlichsten Bereichen und in unterschiedlichen Mischungen mit anderen Politiken vor. Sie kann Komplement von Sozialpolitik sein, etwa wenn es um die Erreichbarkeit personenbezogener kommunaler Dienstleistungen geht; von Familienpolitik, etwa wenn es um die zeitlichen Bedingungen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht; von Ökologie, etwa wenn es um den Einfluss von Beschleunigung auf klimatische Bedingungen geht; von Ernährungspolitik, etwa wenn es um die Verträglichkeit von „fast food“ oder Schnell-Lege-Batterien geht; von Raum- und Stadtentwicklungspolitik, etwa wenn es um die Stadt der kurzen Wege, Mischnutzung oder Revitalisierungskonzepte geht. Dass in diesen Mischungen Anliegen als „zeitpolitische“, und nicht, wie es auch ginge, jeweils als sozial-, familien- und stadtentwicklungspolitische oder ökologische verspürt und artikuliert werden, liegt daran, dass in diesen jeweiligen Bereichen Zeit als Alltagskomponente meist als besonders leidhaft (oder gelungen?) wahrgenommen und diese Leidens- (oder Glücks-) erfahrung zugleich als die Alltagsbereiche übergreifend erlebt werden: „Einheit des Alltags“ (Helga Krüger) als Maßstab gelingender Zeiterfahrung, zersplitterter, „puzzle“- oder “patchwork“-Alltag als dessen Gegenteil. Bleibt ein Anliegen bereichsspezifisch formuliert, sozial-, familien-, stadtentwicklungspolitisch oder ökologisch, so trägt seine Lösung (so sie denn bereichsspezifisch erfolgen sollte) vielleicht dem bereichsspezifischen Anliegen, nicht aber dem transversalen Charakter der alltäglichen Zeiterfahrung Rechnung. Diese Departementalisierung – sowohl der Wahrnehmung und Artikulation von Anliegen als auch ihrer gesellschaftlichen Bearbeitung – versucht Zeitpolitik zu verhindern bzw. zurückzudrängen. Dass die Gesellschaft aber selbst departementell organisiert und ihre Mitglieder dementsprechend Anliegen immer schon departementell wahrnehmen und artikulieren, macht das Vorhaben der Zeitpolitik immer wieder so schwierig, flüchtig, temporär … Es bleibt aber ein umso notwendigeres Vorhaben.

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Wenn man dem Gedankengang so weit folgt, so stellen sich die Fragen nach den Zugängen, nach den Analyse- und Problembearbeitungsmethoden der Zeitpolitik, sowie nach der Form ihrer gesellschaftlichen Institutionalisierung. Zugänge der Zeitpolitik Der zeitpolitische Zugang besteht darin, die die Menschen umgebenden gesellschaftlichen Verhältnisse, seien sie baulicher, finanzieller, bürokratischer oder sonstiger Art, radikal von den menschlichen Alltagen her zu thematisieren und nicht (oder erst sekundär) von den Eigenlogiken, also den Gestaltungspotenzialen und –grenzen, dieser Bereiche her. Dahinter steht die Annahme, dass all diese gesellschaftlichen Gestaltungsbereiche ihre Legitimität nicht aus sich selbst beziehen, sondern aus dem Lebens- und Bedarfshorizont derer, die sie (in Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft) in jeweiligen Alltagen nutzen und die mit Legitimitätsentzug drohen, wenn sie ihre Bedarfe dauerhaft ignoriert finden. - Der zeitpolitische Zugang bei Alltagen hat mehrere Implikationen. a) Jeder Alltag von Menschen geschieht in der Zeit. Arbeiten, Kommunizieren, Lieben, Pflegen, Schlafen, Ausspannen geschehen in der Zeit. Deshalb kann gutes gelingendes Leben vielfach auch an seinem zeitlichen Rahmen festgemacht werden – und wird es vielfach auch. Ist das „meine“ Zeit? „Take your time!“ sagen die Engländer im Gegensatz zu den Deutschen, die mit „Nimm Dir Zeit!“ fremdes Eigentum unterstellen. Erlebe ich eine „Einheit des Alltags“? Sind meine Zeiten vereinbar miteinander? Machen meine Zeiten Sinn? b) Entgegen dem simplen „Jeder hat pro Tag 24 Stunden“, ist Zeit in ihrem alltäglichen Gebrauch in quantitativ und qualitativ höchst ungleicher Weise vorhanden. Zunehmend beobachten wir denn auch „Zeitkonflikte“. Zu denken ist an unterschiedliche durchschnittliche Zeitbudgets von Männern und Frauen. Zu denken ist an den unterschiedlichen Zeitwert Älterer und Arbeitsloser; Älteren geht die Zeit schneller ver(loren) – „gelebte Zeit“ ist nicht „gezählte Zeit“. Zu denken ist an den Zeitdiebstahl durch Ämter, Wartezimmer, Staus. Zu denken ist an die unterschiedlichen Zeitstrukturen industrieller und dienstleistungsorientierter Quartiere. Zu denken ist an die Alltagsignoranz bestimmter Investoren, Politiker und Planer. c) Zeiten sind daher immer Gegenstand von Verteilungsprozessen und –konflikten und bei ihrer Verteilung divergieren die Kriterien sozialer Gerechtigkeit. - Diese sich heute verbreitende Erkenntnis, dass die gesellschaftliche Organisation von Zeitverteilung und Zeitkonflikten nach Gerechtigkeitsmaßstäben zu erfolgen habe, ist die Geburtsstunde der Zeitpolitik. a) Dabei kann man sich Zeitpolitik als eine zweite Generation im sozialstaatlichen Denken vorstellen. Zu der ersten Generation, die im Wesentlichen materiellen Wohlstand gestaltet und (um)verteilt, tritt die zweite hinzu (kein Ersetzungsverhältnis, wie mancher Postmoderne denken mag!), die Zeit gestaltet und (um)verteilt. b) Zeit wird dabei nicht nur (quantitativ) als Ressource verstanden, sondern auch (qualitativ) als kulturelles Medium (daher ist Zeitpolitik kritisch gegenüber dem florierenden „Zeit-Management“). c) Während vielleicht der Sozialstaat der ersten Generation noch bürokratisch –„top down“ verfahren konnte (was auch längst bestritten wird!), bedarf Zeitpolitik neben ausgewiesenen Gerechtigkeitsmaßstäben auch der systematischen Einbeziehung derer, um deren „Alltag“ es geht. - Vorschläge zur Bereitstellung von Gerechtigkeitsmaßstäben für zeitpolitische Intervention liegen mittlerweile vor. Sie firmieren unter den Titeln „Zeitwohlstand“ (J. Rinderspacher) und „Zeitsouveränität“ (B. Teriet) sowie dem „droit au temps“ (F. Ost) oder „Recht auf eigene Zeit“ (U. Mückenberger). Fünf Kriterien stehen im Vordergrund: (1) keine illegitime Fremdbestimmung über die Zeit anderer; (2) keine Diskriminierung im Zeitgebrauch; (3) keine gesellschaftliche Entwertung von Zeit; (4) Recht auf Zeitkultur, d. h. die Befähigung, 2

mit Zeit im Sinne selbst gefundener Sinnkriterien umzugehen; (5) Recht auf kollektive („gemeinsame“) Zeiten. - Bei den Bereichen, die zeitpolitisch beurteilt und korrigiert werden (z. B. Zeiten der Pflege, Arbeitszeiten, Schulzeiten, Familienzeiten), spielen solche Kriterien in unterschiedlicher Weise eine Rolle. Auf die Stadtentwicklung werden sie unter dem Stichwort „Zeiten der Stadt“ oder „lokale Zeitpolitik“ angewendet. Dabei handelt es sich um zuweilen neuartige politische Planungs-, Aushandlungs- und Beteiligungsprozesse, die zu einer, den Alltagslagen und Alltagsartikulationen von Stadtnutzern angemesseneren städtischen Zeitorganisation führen bzw. beitragen. Sie reichen von bürgerfreundlicherer Dienstleistungs- und Öffnungszeiten-Organisation (Kita, Bibliotheken, ÖPNV, Bürgerämter) über die Integration von Nutzeranliegen („voice“) in Planungsprozesse bis hin zur Entwicklung neuer städtebaulicher Konzepte wie dynamischer Baugenehmigungen (T. Sieverts) und der Integration einer Zeitleitplanung in die Bauleitplanung (vgl. „piani regolatori die tempi e degli orari“). Das ist ein großes konkretisierungs- und durchsetzungsbedürftiges Zukunftsprojekt der Stadtentwicklung. Eines, das Räume und Zeiten einschließt. Von dem ich meine, dass sich dafür zu kämpfen lohnt. Analyse- und Problembearbeitungsmethoden der Zeitpolitik Der Zeitpolitik wird von Seiten der departementalisierten gesellschaftlichen Gestaltungsbereiche öfters entgegengehalten, die zeitlichen und alltagsbezogenen Anliegen der Menschen würden ja in ihren jeweiligen Gestaltungsbereichen immer schon auch berücksichtigt. Mit diesem oder ähnlich lautendem Einwand machen viele Sozialpolitiker, Familienpolitiker, Stadtplaner und Ökologen der Zeitpolitik den Anspruch streitig, ein eigenständiges transversales Gestaltungsfeld zu sein. Vertreter der Zeitpolitik würden der Berücksichtigung zeitpolitischer Erfordernisse durch die departementellen Bereiche niemals widersprechen. Im Gegenteil: Es ist gerade Absicht der Zeitpolitik, die partikularen gesellschaftlichen Gestaltungsbereiche mit der transversalen zeitpolitischen Perspektive anzureichern und damit zugleich untereinander zu verzahnen. Skepsis ist nur angebracht, ob die departementellen Vertreter die zeitpolitischen Anliegen wirklich seriös berücksichtigen und zu berücksichtigen in der Lage sind. Diese Skepsis beruht auf der Gewissheit, dass in diesen Gestaltungsbereichen ein wissenschaftlich gesicherter zeitpolitischer Methoden- und Instrumenten-, und damit Wissensbestand derzeit gar nicht vorliegt. Folglich weist die behauptete Berücksichtigung zeitpolitischer Anliegen – wenn sie nicht einfach nur vorgeschoben ist – zumindest keinerlei wissenschaftliche Validität auf. Eine zeitpolitische Methodologie und das entsprechende Instrumentarium sind nämlich derzeit erst im Entstehen: - Die Zeitbudget-Forschung verbleibt derzeit noch auf sehr allgemeinem hoch aggregiertem Niveau und vermag genaue Aufschlüsse über den Zusammenhang örtlicher und situativer Verhältnisse und individueller und kollektiver Zeitnöte nicht zu bieten. Insoweit bleibt es bei allseits bekannten Zusammenhängen über alltägliche Erwerbs- und Pflegetätigkeiten sowie über Mobilitätsverhalten mit deren Geschlechter- und Altersspezifik. Präzises zeitpolitisches Wissen, das dem transversalen Charakter der alltäglichen Zeiterfahrung Rechnung trüge, erwächst daraus nicht. - Am Anfang steht derzeit auch noch die sog. „Chronotop-Forschung“. Man weiß, dass gewissen Orten Zeitstrukturen „einbeschrieben“ sind – etwa Hochgeschwindigkeitstrassen, Parks, Gastronomievierteln etc. Im Entstehen ist das Wissen darüber, wie solche Chronotope darstellbar sind, welche Mischungen und „Angrenzungen“ sie erlauben – überhaupt: welche normative – auf Bewahrung oder Veränderung dringende – Kraft ihnen innewohnt. 3

- Auch Herstellung, Struktur und Anwendungsweise sogenannter „chronomaps“ befinden sich noch im Entwicklungsstadium. Nach den Hägerstrand’schen Visualisierungen der 60er Jahre ist ein Quantensprung eingetreten mit den elektronischen Repräsentationen, die in den letzten 15 Jahren in Mailand, Belfort, Bremen und Hamburg (VERA) erzielt worden sind. Gegenüber den technischen Möglichkeiten bleibt jedoch der partizipatorische und politischgestalterische Anwendungszusammenhang dieser Repräsentationsmethode noch weithin unterausgearbeitet. - Fortgeschritten sind jedoch die Methoden, dem Nutzeranliegen bei gesellschaftlichen Planungsprozessen „voice“ zu verschaffen. Mit Planungszellen, Zukunftswerkstätten sind schon länger Verfahren im Gebrauch; sie sind zeitpolitisch auf Verfahren des „choice-work“ und der dreiseitigen Mediation zugespitzt worden. Welche langfristigen Lebensqualitätswirkungen solche Beteiligungsformen haben, welcher Lebensqualitätsbegriff ihnen überhaupt normativ zu Grunde gelegt werden kann, ist allerdings erst jetzt Gegenstand eines evaluativen Forschungsprojektes (HBS). - Während die Raumplanung ein fertiges technisches und juristisches Rahmenwerk vorfindet, ist die Zeitplanung in Deutschland erst punktuell entdeckt (D. Henckel). Techniken, Planungsunterlagen für die Transversalität der Zeitstrukturen menschlicher Alltage zu öffnen und offen zu halten, gar rechtliche Verpflichtungen, dies zu tun, sind der Stadtplanung in Deutschland noch völlig fremd – wie auch der Sozialplanung, der Familien-, der Verkehrsund der Bildungsplanung . Solange in so hohem Maße wissenschaftlich gesicherte methodische Kenntnis fehlt, kann überhaupt keine Rede davon sein, dass die partikularen gesellschaftlichen Gestaltungsbereiche bereits in seriöser Weise von der transversalen zeitpolitischen Perspektive angereichert und zugleich untereinander verzahnt seien. Die entsprechende Affirmation kann nur als „Widerstand“ im psychoanalytischen Sinne verstanden werden: als Problemleugnung, die sich zugleich notwendigen, auch departementellen Lernprozessen verschließt. Solange muss Zeitpolitik als ein akademisches und forschungspraktisch gerichtetes Feld errichtet, behauptet und weiterentwickelt werden, dessen Hauptaufgabe es ist, die notwendigen theoretischen, konzeptionellen, methodologischen und praxeologischen Voraussetzungen zu erarbeiten und in realexperimenteller Weise zu überprüfen und zu vertiefen, die für eine transversale gesellschaftliche Anerkennung und Verbreitung zeitpolitischer Anliegen erforderlich und geeignet sind. Form der gesellschaftlichen Institutionalisierung von Zeitpolitik Wenn man auf akademischem Gebiet die oben mitgeteilten Annahmen über den zeitpolitischen Zugang sowie die noch wissenschaftlich zu erhärtenden und zu stabilisierenden Wissens- und Methodenbestände teilt, so liegt zunächst einmal nahe, die akademische Verankerung von Zeitpolitik als wissenschaftliche Disziplin anzustreben. Die sofortige Verbindung von Zeitpolitik mit besonderen gesellschaftlichen Gestaltungsfeldern – wie das der Begriff der Raumzeitpolitik (s. ARL 2002) tut - greift derzeit zu kurz, da sie nicht dem transversalen Charakter von Zeitpolitik entspricht. Zu wünschen ist zwar, die partikularen gesellschaftlichen Gestaltungsbereiche mit der transversalen zeitpolitischen Perspektive anzureichern und damit zugleich untereinander zu verzahnen. Aber um für eine solche Perspektive die theoretischen, normativen und methodologischen Voraussetzungen zu schaffen, bedarf es einer akademischen Disziplin, die nicht von vorneherein den Paradigmen der anderen Gestaltungsbereiche unterliegt. Vielleicht teilt Zeitpolitik die Entwicklungslogik anderer transversaler Themenbereiche wie Gender, Datenschutz oder Nachhaltigkeit, die darin besteht, zunächst in Eigenständigkeit die 4

theoretischen, normativen und methodologischen Voraussetzungen des eigenen Gegenstands(-feldes) zu klären, und dann, dem transversalen Anspruch folgend, diese in die Gestaltungsbereiche zu integrieren, nach denen die Gesellschaft departementell organisiert ist. Gender-, Datenschutz- wie Nachhaltigkeits-Thema belegen jedoch, dass selbst bei hochgradiger Resorption des transversalen Themas in departementellen Politiken dessen Grundlagen- und Anwendungsreflexion in der eigenständigen Disziplin keineswegs überflüssig wird. Weiter zu überlegen ist die außerakademische gesellschaftliche Verankerung der Zeitpolitik. Die Ergebnisse der Zeitpolitik in Deutschland und Europa sind zwar nicht einfach quantifizierbar, lassen sich aber durchaus sehen. Das sind erfreuliche Ansätze. Aber überall besteht (wenn man vielleicht von Italien absieht, in dem die Zeitpolitik mittlerweile durch das Bundesgesetz von 8. März 2000 abgesichert ist) ein Mangel an Kontinuität. Dieser liegt am transversalen Charakter des behandelten Problems selbst. Von Zeitproblemen sind alle betroffen, aber dies meist individuell: an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten (Beispiel: Passverlängerung). Wie kann man bei einem Gestaltungsfeld, von dem alle betroffen sind, sich diese Betroffenheit aber nicht zu einem gesellschaftlichen Akteur zusammenfassen lässt, Kontinuität sicherstellen? Wir kennen das Problem aus Bereichen, die „Querschnittscharakter“ haben: die alle betreffen, für die deshalb aber, jedenfalls zu Beginn, niemand zuständig ist! Man denke an die Gleichbehandlung der Geschlechter, den Umwelt-, den Datenschutz, den Verbraucherschutz. Dort werden im Allgemeinen „künstliche“ Interessenvertretungen geschaffen, um in Rückkoppelung mit den Betroffenen „anwaltliche“ Vertretung zu schaffen. In Deutschland nennt man diese Vertretung „Beauftragte“. Über dreißig solche Beauftragte gibt es bereits. Sie sind oft einfach verlängerte Arme von Ämtern, Unternehmen, Bürokratien. Aber es gibt auch solche, die wissen die lebendige Fühlung zu der von ihr vertretenen Klientel zu halten und so dem vernachlässigten oder von Vernachlässigung bedrohten transversalen gesellschaftlichen Interesse öffentlich Geltung zu verschaffen. Das beste Beispiel einer „Landesbeauftragten“ ist die Leiterin der Zentralstelle für die Gleichberechtigung der Frau. Ich schlage eine Bundesbeauftragte für Zeitpolitik vor. Nicht in Konkurrenz und in der Dimension von Gleichbehandlungs- oder Bürgerbeauftragten, aber mit ähnlichen Befugnissen: gewählt von der Bürgerschaft; mit einem „Arbeitsstab“ zur Seite, der sich aus den verschiedenen Ressorts zusammensetzt; als Anlaufstelle für Bürger/innen mit zeitpolitischen Anliegen; mit Initiativ- und Rechercherechten – und entsprechenden wissenschaftlichen und finanziellen Ressourcen; zur Begutachtung einschlägiger Planungsvorhaben befugt; zur öffentlichen Berichterstattung auch dem Parlament gegenüber verpflichtet und berechtigt. Paul Virilio wollte einmal das Ministerium für Raumplanung durch das Ministerium für Zeitplanung ergänzen. Vielleicht geht das ja zu weit …

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