Was haben Kinder von den Kinderrechten? Prof. Dr. Manfred Liebel Freie Universität Berlin & Internationale Akademie Berlin (INA) Fachtagung „Menschenrecht – Bürgerrecht – Kinderrecht“ Graz, 20. Juni 2015

Verschiedene Dimensionen der Fragestellung  Kinderrechte gelten für alle Kinder gleichermaßen, aber sie können für einzelne Kinder oder Gruppen von Kindern durchaus verschiedene Bedeutungen oder verschiedenes Gewicht haben (abhängig von Lebenslagen und Interessen).  Um etwas von den Kinderrechten zu haben, müssen sie von Kindern gekannt und als bedeutsam erlebt werden (Notwendigkeit der „Kontextualisierung“).

 Um etwas von den Kinderrechten zu haben, müssen Kinder Bedingungen vorfinden, die es ihnen ermöglichen, ihre Rechte zu nutzen bzw. auszuüben.  Die entspricht einem emanzipatorischen Verständnis der Kinderrechte …

Emanzipatorisches Verständnis der Kinderrechte 

Es reicht nicht, sich Kinderrechte nur in der Weise vorzustellen oder zu praktizieren, dass sie in Gesetze gegossen werden (was gewiss auch wichtig ist), sondern sie müssen auch mit dem konkreten Leben der Kinder verbunden und von ihnen als bedeutsam erlebt werden. Sie müssen auch für alle Kinder gleichermaßen zugänglich sein und in eigenem Ermessen genutzt werden können.



Ich verstehe darunter ein lebensweltliches und emanzipatorisches Verständnis der Kinderrechte, das auf eine Gesellschaft gerichtet ist, die aus der Sicht von Kindern und mit Blick auf die (meist sehr verschiedenen) Lebenslagen von Kindern als sozial gerecht wahrgenommen werden kann.

Kinderrechte – wozu? Eine Stimme aus dem Jahr 1929 „Wir missachten das Kind, weil es nichts weiß, nichts ahnt, nichts voraussieht. (…) Um seine Meinung braucht man sich nicht zu kümmern, es ist kein Wähler: Es droht nicht, fordert nicht, sagt nichts. Schwach, klein, armselig, abhängig – ein Staatsbürger wird es erst werden. Eine nachsichtige, schroffe, brutale Geringschätzung, immer aber eine Geringschätzung. Ein Rotzjunge, ein Kind nur, ein zukünftiger Mensch, nicht ein gegenwärtiger. Eigentlich wird es erst ein Mensch.“

Kinderrechte – wie? Eine Stimme aus dem Jahr 1929 „Die Gesetzgeber von Genf haben Rechte und Pflichten verwechselt; der Ton der Deklaration klingt nach gutem Zureden, nicht nach Forderung. Es ist ein Appell an den guten Willen, eine Bitte um Wohlwollen.“

Protektionistische Traditionslinien der Kinderrechte  Genfer Deklaration der Rechte des Kindes, Völkerbund, 1924: Für die Kinder ist „ungeachtet ihrer Rasse, ihrer Nationalität und ihres Glaubens“ das Beste anzustreben. Kindern ist in Zeiten der Not vorrangig vor anderen Bürgern zu helfen.  Erklärung über die Rechte des Kindes, Vereinte Nationen, 1959: Fürsorge, Betreuung und rechtlicher Schutz sind notwendig, weil Kinder „physisch und geistig unreif“ sind. Andererseits wird erstmals das Kind als Rechtssubjekt betrachtet.

Emanzipatorische Traditionslinien der Kinderrechte  Janusz Korczak: „Magna Charta Libertatis“ (1919): „…aufhören mit dem falschen Schein unseres zärtlichen und gefühlsduseligen, geradezu gnädigen Verhältnisses zum Kind“; „Recht des Kindes auf Achtung“ (1929): Umfassende Mitsprache der Kinder ist notwendig, um dem „Despotismus“ der Erwachsenen zu begegnen  „Moskauer Deklaration der Rechte des Kindes“ (1918): Die Stellung der Kinder in der Gesellschaft stärken und ihre Gleichberechtigung mit den Erwachsenen erreichen  „Children‘s Liberation Movement“, USA, 1970er Jahre: Demokratische Rechte für die Kinder = „letzte Minderheit“  Bewegungen arbeitender Kinder und Jugendlicher in Lateinamerika, Afrika und Asien, seit den 1980er Jahren

Bedeutung der UN-Kinderrechtskonvention  Erstmals werden Kinder in völkerrechtlich verbindlicher Form als Rechtssubjekte anerkannt

 Schutz-, Förder- und Partizipationsrechte  Leitlinie 1: Kein Kind darf aufgrund irgendwelcher Eigenschaften diskriminiert werden  Leitlinie 2: Vorrangige Berücksichtigung der „best interests of the child“ (= Kindeswohl?)  Leitlinie 3: „Evolving capacities of the child“

Herausforderungen für den Umgang mit Kinderrechten  Kinderrechte als „subjektive Rechte“ bzw. „Handlungsrechte“ verstehen → moralischer Status der Kinder als „verschieden Gleiche“

 Kinderrechte mit sozialer Gerechtigkeit verbinden  Kinderrechte mit den Handlungsoptionen der Kinder vor Ort in Beziehung setzen (Lebensweltbezug)  Schutzrechte mit der Stärkung der Kompetenzen und Partizipationsmöglichkeiten sowie strukturellen Veränderungen der Lebensverhältnisse verbinden  Partizipationsrechte sollen die soziale Stellung von Kindern stärken und ihren eigenständigen Einfluss auf Entscheidungsprozesse erweitern

Weiterentwicklung der Kinderrechte  UN-KRK in einer Weise interpretieren und weiterentwickeln, die offen ist: a) für bislang nicht bedachte Problemstellungen, b) für Lebensformen sowie Sicht- und Handlungsweisen von Kindern, die im westlichen Kindheitsbild nicht vorgesehen sind  Kinderrechte als „work in progress“ verstehen, an deren Ausgestaltung und Weiterentwicklung Kinder maßgeblich mitwirken können  Kinder als Akteure mit spezifischen Kompetenzen respektieren und ihre Handlungsoptionen erweitern → von „capacities“ zu „capabilities“ (Capability Approach)

Kinderrechte und Kinderinteressen  Kinder haben Interessen, die sich von denen Erwachsener teilweise unterscheiden.  Eigene Rechte zu haben, erleichtert Kindern, ihre Interessen zu artikulieren.  Aufgrund ihres untergeordneten und abhängigen „Kindheitsstatus“ sind Kinder darauf angewiesen, dass ihre Rechte und Interessen „durch andere“ vertreten und unterstützt werden.  Die Vertretung der Kinderinteressen und Kinderrechte kann durch Kinder und Jugendliche ebenso wie durch Erwachsene erfolgen.

Kinderinteressenvertretung durch Erwachsene

Österreich: Kinder- und Jugendanwaltschaften; Kinderbeistände

 Sie kann sich nicht darauf beschränken, Kindern zu „vertreten“ und an ihrer Stelle zu handeln.  Sie muss darauf gerichtet sein, die gesellschaftliche Stellung der Kinder zu stärken und ihre eigenständigen Handlungs- und Partizipationsmöglichkeiten zu erweitern.  Sie muss mit unabhängigen und effektiven Monitoringund Beschwerde-Instanzen auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Bereichen verknüpft werden, in deren Praxis die Kinder ihrerseits eine maßgebliche und einflussreiche Rolle spielen können.

Kindereigene Interessenvertretung

… in pädagogischen Einrichtungen und im öffentlich-politischen Raum

 Kindereigene Interessenvertretungen sind unverzichtbar, da Kinder eine spezifische Sicht auf ihre Interessen und Rechte haben.  Kindereigene Interessenvertretungen können die Form von Institutionen, Organisationen oder sozialen Bewegungen haben, in denen Kinder gemeinsam für ihre und die Interessen anderer Kinder eintreten und eigene Entscheidungen treffen.

 Kindereigene Interessenvertretungen sind eine organisierte Form sozialer Partizipation, sie stärken die Stellung der Kinder in der Gesellschaft und erleichtern ihnen, ihre Rechte selbst in Anspruch zu nehmen.  Kindereigene Interessenvertretungen sind eine Form der Bürgerschaft von unten.

Lesehinweise  Manfred Liebel: Wozu Kinderrechte. Grundlagen und Perspektiven. Weinheim/München: Juventa, 2007  Waltraut Kerber-Ganse: Die Menschenrechte des Kindes. Die UN-Kinderrechtskonvention und die Pädagogik von Janusz Korczak. Opladen: Barbara Budrich, 2009  Manfred Liebel: Kinderrechte – aus Kindersicht. Wie Kinder weltweit zu ihrem Recht kommen. Berlin/Münster: LIT, 2009  Jörg Maywald: Kinder haben Rechte. Kinderrechte kennen – umsetzen – wahren. Weinheim/Basel: Beltz, 2012  Manfred Liebel: Kinder und Gerechtigkeit. Über Kinderrechte neu nachdenken. Weinheim/Basel: BeltzJuventa, 2013  Manfred Liebel (Hrsg.): Janusz Korczak – Pionier der Kinderrechte. Ein internationales Symposium. Berlin/Münster: LIT, 2013  Manfred Liebel: Kinderinteressen. Zwischen Paternalismus und Partizipation. Weinheim/Basel: Beltz-Juventa, 2015