Wandern auf der piemontesischen Seite des Nationalparks

Werner Bätzing | Michael Kleider Werner Bätzing, geboren 1949, Professor für Kulturgeografie an der Universität Erlangen-Nürnberg mit Schwerpunkt Alp...
Author: Hede Bader
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Werner Bätzing | Michael Kleider

Werner Bätzing, geboren 1949, Professor für Kulturgeografie an der Universität Erlangen-Nürnberg mit Schwerpunkt Alpenraum, beschäftigt sich seit 1977 wandernd und analysierend mit den piemontesischen Alpen. Im Rotpunktverlag: Grande Traversata delle Alpi GTA, 2 Bände (6. Auflage 2011), Orte guten Lebens (2009) und zusammen mit Evelyn Hanzig-Bätzing Entgrenzte Welten (2005).



Gran Paradiso Wandern auf der piemontesischen Seite des Nationalparks Auf königlichen Wegen im Gran Paradiso Die Landschaft ist steil und wild. Es dominiert die großartige Hoch­ gebirgsnatur mit scharfen Gipfelgraten und steilen Felswänden aus königlichen Jagdwege und andere historische Pfade mit fantastischen Aussichten ermöglichen es den Wandernden, eine faszinierende Gebirgslandschaft mit artenreicher Flora und Fauna zu erleben, die aber auch eindrückliche Zeugnisse menschlichen Lebens im Hochgebirge bereithält, etwa weitläufige Alpgebiete, gut erhaltene

Bätzing/Kleider im Rotpunktverlag:

Ortschaften und religiöse Bauwerke.

Die Ligurischen Alpen Naturparkwandern zwischen Hochgebirge und Mittelmeer

in der Autonomen Region Valle d’Aosta und in der Region Piemont.

240 Seiten, Klappenbroschur, 2011 ISBN 978-3-85869-432-4, Fr. 34.– /€ 26,–

Der Nationalpark Gran Paradiso liegt zu beinahe gleich großen Teilen Während der valdostanische Teil gut erschlossen ist, liegt der piemon­ tesische Teil noch ganz im Abseits. Dieser Wanderführer beschreibt eine neuntägige Wanderung, die erst am Rande des Nationalparks

Die Seealpen Naturpark-Wanderungen zwischen Piemont und Côte d’Azur 224 Seiten, Klappenbroschur, 2010 (2. Aufl.) ISBN 978-3-85869-434-8, Fr. 34.– /€ 26,– Valle Stura Rundwanderung durch ein einsames Tal der piemontesischen Alpen 216 Seiten, Klappenbroschur, 2008 ISBN 978-3-85869-370-9, Fr. 31.– /€ 24,–

Gran Paradiso

hartem Gneis-Gestein, Gletschern, Schuttfeldern, Karseen. Die

Die Routen auf einen Blick 1 Der Ausgangsort



2 Im obersten Soana-Tal 1 Piamprato–Colle della Borra–San Besso–Bordone/Valprato 1a Bordone/Valprato–Santuario San Besso–Valico Balma-Arietta–Bordone/Valprato 2 Bordone/Valprato–Punkt 1562 m–Ronco Canavese 2a Ronco Canavese–Gran­ge Pian Lavina–Bivacco Davito und zurück



3 In den Seitentälern des Orco-Tals 3 Ronco Canavese–Talosio 3a Talosio–Alpe Oregge 4 Talosio–San Lorenzo di Piantonetto 4a San Lorenzo–Rifugio Pocchiola Meneghello



4 Im Kerngebiet des Orco-Tals 5 San Lorenzo di Piantonetto–Noasca 5a Noasca–Casa reale di caccia al Gran Piano di Noasca 6 Noasca–Ceresole Reale (Fonti Minerali) 6a Ceresole Reale Capoluogo–Casotto Cialme



5 Auf königlichem Jagdsteig zum Piano del Nivolet 7 Ceresole Reale–Rifugio Chivasso 7a Rifugio Chivasso–Mont Taou Blanc



6 Zwischen Gran Paradiso und Tre Levanne 8 Rifugio Chivasso–Rifugio Guglielmo Jervis 9 Rifugio Guglielmo Jervis–Ceresole Reale 9a Rifugio Jervis–Villa di Ceresole



7 Eine hochalpine Route im Herzen des Gran Paradiso V1 San Lorenzo–Rifugio Pocchiola Meneghello V2 Rifugio Pocchiola Meneghello–Rifugio Pontese ����������������������������� V3 Rifugio Pontese–Bivacco Ivrea ������������������������������������ V4 Bivacco Ivrea–Bivacco Giraudo ��������� V5 Bivacco Giraudo–Rifugio Chivasso ������������������� ����

entlang, dann durch den Nationalpark vom Soana-Tal ins Orco-Tal führt. Vom Ende jeder Tagesetappe wird jeweils ein Tagesausflug in den Kern des Nationalparks beschrieben. Zusätzlich wird eine fünf­ tägige hochalpine Route im Herzen des Gran Paradiso vorgestellt.

ISBN 978-3-85869-539-0

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Bätzing | Kleider

Michael Kleider, geboren 1970, hat Geografie an der Universität ErlangenNürnberg studiert und seine Abschlussarbeit über Dronero (Maira-Tal/Provinz Cuneo) geschrieben. Seit 2002 engagiert er sich beruflich für die piemontesischen Alpen und besonders für die GTA.



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Rotpunktverlag.

Übersichtskarten auf den Umschlaginnenseiten



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Werner Bätzing Michael Kleider

Gran Paradiso Wandern auf der piemontesischen Seite des Nationalparks

Ein Wanderführer im Rotpunktverlag

Inhalt Vorwort Geleitwort

8 12

EINFÜHRUNG IN DAS GRAN-PARADISO-GEBIET Lage und Charakteristika des Gran-Paradiso-Massivs Der Parco Nazionale Gran Paradiso

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Ein großes Naturschutzgebiet in den Grajischen Alpen Ein königliches Jagdrevier wird Nationalpark

20 21

Die Täler Orco und Soana als Lebens- und Wirtschaftsraum 28 Prähistorie Politische Geschichte Die traditionelle Landwirtschaft Die traditionelle Siedlungsstruktur und Architektur Die religiösen Bauten Die frankoprovenzalische Sprache Königswege und königliche Jagdhäuser Das Gebiet der frankoprovenzialischen Sprache Alpinismus und touristische Entwicklung Die Gemeinden und die Bevölkerungsentwicklung Bevölkerungsentwicklung der auf der Wanderung durchquerten Gemeinden 1861 bis 2011 Welche Zukunft für den piemon­­te­sischen Teil des Parkgebietes ?

Natur und Landschaft

28 32 36 40 42 44 46 46 50 54 61 62

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Gesteine | Klima | Oberflächenformen | Vegetation | Tiere

WEGBESCHREIBUNGEN 1 Der Ausgangsort

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Sehenswürdigkeiten im Zentrum von Pont

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Die Geschlechtertürme von Pont

2 Im obersten Soana-Tal

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1 Piamprato–Colle della Borra–San Besso–Bordone/Valprato 96 1a Bordone/Valprato–Santuario San Besso – Valico Balma-Arietta– Bordone/Valprato 98 2 Bordone/Valprato–Punkt 1562 m–Ronco Canavese 102 2a Ronco Canavese–Gran­ge Pian Lavina–Bivacco Davito und zurück 106 Ein archaischer Heiligenkult

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3 In den Seitentälern des Orco-Tals

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3 Ronco Canavese–Talosio 3a Talosio–Alpe Oregge 4 Talosio–San Lorenzo di Piantonetto 4a San Lorenzo–Rifugio Pocchiola Meneghello

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Wasserkraft im Orco-Tal

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4 Im Kerngebiet des Orco-Tals

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5 San Lorenzo di Piantonetto–Noasca 5a Noasca–Casa reale di caccia al Gran Piano di Noasca 6 Noasca–Ceresole Reale (Fonti Minerali) 6a Ceresole Reale Capoluogo–Casotto Cialme

134 136 140 142

Die Spacia furnei des Orco-Tals

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5 Auf königlichem Jagdsteig zum Piano del Nivolet

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7 Ceresole Reale–Rifugio Chivasso 7a Rifugio Chivasso–Mont Taou Blanc

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Bergbau und Kupfer­verarbeitung

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6 Zwischen Gran Paradiso und Tre Levanne

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8 Rifugio Chivasso–Rifugio Guglielmo Jervis 9 Rifugio Guglielmo Jervis–Ceresole Reale 9a Rifugio Jervis–Villa di Ceresole

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Der Passo Galisia

Inhalt

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7 Eine hochalpine Route im Herzen des Gran Paradiso 172

V1 San Lorenzo–Rifugio Pocchiola Meneghello V2 Rifugio Pocchiola Meneghello–Rifugio Pontese V3 Rifugio Pontese–Bivacco Ivrea V4 Bivacco Ivrea–Bivacco Giraudo V5 Bivacco Giraudo–Rifugio Chivasso Die erfolgreiche Erhaltung des Alpensteinbocks

176 178 180 183 187 190

Praktische Hinweise für Wanderer Zum Gebrauch des Führers Charakteristik der Etappen Wegbeschreibungen Hinweise auf Weitwanderwege Verhaltensregeln im Gebiet des Nationalparks Ausrüstung Besucherzentren, Informationspunkte, Museen und Aus­s tellungen Besucherzentren Informationspunkte Museen Ausstellungen | Weitere Informationen | Die Unterkünfte Günstige Wanderzeiten Sprache Küche und Regionalprodukte Anreise Fahrdienst | Telefonieren in Italien | Sicherheit und Notruf Wichtige Informationen zu Aktualisierungen des Führers Kartenmaterial Literaturhinweise Bildnachweis

194 196 198 199 200 202 203 203 204 205 206 208 209 210 212 214 215 216 217 221

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Natur und Landschaft Gesteine Das kristalline Gebirgsmassiv der GranParadiso-Gruppe besteht aus Fels verschiedenen Alters und verschiedener Herkunft – sein Kern besteht jedoch aus einem kompakten und uralten Gebirgsblock, der im Erdaltertum (Paläozoikum, vor 542 bis 251 Millionen Jahren) entstanden ist. Damals ist geschmolzenes (magmatisches) Gestein unter hohem Druck an die Erdoberfläche aufgestiegen. Es hat die Erdkruste aber nicht durchbrochen, sondern ist noch unter der Erdoberfläche langsam erkaltet und hat sich zu Granit auskristallisiert. Dieses Grundgebirge wurde später in den Prozess der alpidischen Gebirgsbildung (Beginn vor etwa 65 Millionen Jahren) einbezogen. Dabei wurde das Ausgangsgestein unter hohem Druck und hoher Temperatur teilweise (aber nicht ganz wie bei magmatischen Gesteinen) aufgeschmolzen, bevor es wieder abkühlte. Bei dieser sogenannten Metamorphose (Verwandlung), die in tieferen Erdschichten stattfand, wurde der Granit in das metamorphe Gestein Gneis umgewandelt. Relikte des Ausgangsgesteins (Granit), das nicht in die Metamorphose einbezogen wurde, finden sich im oberen Piantonetto-Tal. Der Gneis, der hier hauptsächlich als geschichteter Gneis (dessen Schichten aufgrund der ungeheuren Kräfte bei der Alpenbildung oft schräg oder gar senkrecht gestellt sind) auftritt, ist dem Granit sehr ähnlich, was seine Kompaktheit und mineralogische Zusammensetzung betrifft, und man kann in ihm gut weiße Ein-

7 Der sehr harte Gneis ist das vorherrschende Gestein im Nationalpark Gran Paradiso.

5 Ein kleiner Granitblock, der sich im Aussehen vom Gneis, auf dem er hier liegt, unterscheidet.

Einführung: Natur und Landschaft

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schlüsse aus Feldspat erkennen, welche die Metamorphose »überlebt« haben. Da der Gneis sehr hart und verwitterungsbeständig ist, bildet er die höchsten Gipfel der Gran-Paradiso-Gruppe wie Gran Paradiso, 4061 m, Piccolo Paradiso, 3923 m, sowie beinahe alle Gipfel der Wasserscheide Piemont-Aosta-Tal. Aber auch der Herbetet, 3778 m, sowie das mächtige Levannenmassiv im oberen Orco-Tal, deren höchste Erhebungen (Levanna Occidentale, Levanna Centrale und Levanna Orientale) alle über 3500 Meter hoch sind, bestehen aus Gneisgesteinen. Am Rande des Gebirgsmassivs liegen auf dem Gneis mächtige Schichten metamorpher Schiefergesteine unterschiedlicher Härte. Hauptsächlich handelt es sich um Kalkschiefer, der seinen Ursprung in Meeresablagerungen aus dem Mesozoikum (Erdmittelalter, vor 251 bis 65 Millionen Jahren) hat. Zu dieser Zeit bedeckte das Tethis-Meer noch große

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Teile der heutigen Alpenfläche, und an dessen Grund lagerten sich organische (abgestorbene Lebewesen) und anorganische Elemente ab. Diese verfestigten sich unter dem Wasser- und Auflagedruck zu einem Sedimentgestein, das später, bei der Heraushebung der Alpen, der Metamorphose unterlag und zu Kalkschiefer wurde. Dieses Gestein ist wesentlich verwitterungsanfälliger als der Gneis und die anderen Schiefergesteine und bildet deutlich weichere Formen in der Landschaft aus, die zu Pässen und ausgeprägten Hochebenen führen. Deutlich ist dies zum Beispiel nordwestlich des Colle del Nivolet an der Hochebene Piani di Rosset zu erkennen. Teilweise ist der Kalkschiefer von Ophiolithen wie Serpentinit und Eklogit durchsetzt. Dies sind metamorphe und sehr harte Gesteine, die aus dem Inneren der ozeanischen Erdkruste stammen. Diese Ophiolithen sind noch aus einem anderen Grund erwähnenswert: Sie ent-

halten oft Erze, besonders Eisen und Mangan, das in zahlreichen Minen über Jahrhunderte hinweg abgebaut wurde (siehe Bergbau und Kupferverarbeitung, S. 156). Lokal kommen noch einige andere Erze wie Kupfer, Silber und Blei vor. In sehr kleinen Zonen finden wir auch Bänder von Dolomitkalken  – ebenfalls Ablagerungen des ehemaligen TethisMeeres – die sich erst durch den hohen Auflagedruck und später durch den Druck bei der Alpenbildung zu sehr harten Sedimentgesteinen verfestigten. Diese liegen in der Verwitterungsbeständigkeit zwischen Gneis und Kalkschiefer und bilden zum Beispiel den Großteil der Gipfelpyramide der Granta Parei, 3387 m. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass das Gran-Paradiso-Massiv aus einer mächtigen und harten Gneiskuppel besteht, an deren Rändern sich weicher Kalkschiefer (sanfte Landschaftsformen) und harte Ophiolithe (Gipfel der Grivola) überlagern.

7 Bildung von Cumuluswolken am späten Vormittag.

5 Aufsteigender Nebel

am Colle della Terra, 2911 m (Etappe 7/V5).

Einführung: Natur und Landschaft

Klima Wenige Gebirgsgruppen sind auf ihren beiden Seiten klimatisch so verschieden wie der Gran Paradiso: trockenes Klima bei relativ langer Sonnenscheindauer im Norden und feuchtes Klima bei relativ kurzer Sonnenscheindauer im Süden. Während die Niederschläge auf der Nordseite, im Aosta-Tal, nur etwa 750 mm/Jahr betragen, erreichen sie auf der piemontesischen Südseite durchschnittlich etwa 1300 mm im Jahr. Dafür gibt es einfache Gründe: Während im Aosta-Tal trockene Winde aus Nord-

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westen vorherrschen, und die Täler von den umgebenden, sehr hohen Gebirgen geschützt sind (inneralpine Trockenzone), ziehen in die Täler auf der Südseite der Gran-Paradiso-Gruppe (Valle Orco und Valle Soana) feuchte Luftmassen aus der angrenzenden Po-Ebene – wo es im Sommer sehr heiß ist und hohe Luftfeuchtigkeit herrscht  – und vom etwa 160 Kilometer entfernten Mittelmeer heran. Diese steigen am Rande des Gebirges, das steil und unmittelbar aus der PoEbene aufragt, auf und bringen Nebel und Wolken. Diese regnen sich dann beim Aufsteigen ab, was zu den insgesamt relativ hohen Niederschlagsmengen im piemontesischen Teil führt. Auch die Starkregenereignisse mit Überflutungen sind auf der Südseite des Gran Paradiso wesentlich häufiger. Statistisch fallen in den Monaten Mai und Oktober die meisten Niederschläge, die generell mit steigender Höhe zunehmen. Da gleichzeitig die Temperaturen mit steigender Höhe abnehmen, gibt es im Winter oft dicke Schneedecken in den höheren Lagen, die aufgrund der vielen Frosttage über einen langen Zeitraum liegen bleiben. So gibt es zum Beispiel in Locana (im Orco-Tal), auf 600 Meter Höhe, jährlich 110 Frosttage, bei einer jährlichen Durchschnittstemperatur von 10,5 Grad Celsius. Auf 2000 Meter Höhe sind es im Orco-Tal durchschnittlich bereits 203 Tage mit Frost (jährliche Durchschnittstemperatur 3,0 Grad), auf 3000 Metern sind es 276 Tage (jährliche Durch­ schnitts­temperatur –2,3 Grad) und in den Gipfelregionen 350 Tage (jährliche Durchschnittstemperatur –7,6 Grad).

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Aufgrund der niedrigen Temperaturen in großer Höhe und den hohen Niederschlägen ist die Gran-Paradiso-Gruppe in den Gipfelregionen besonders auf der Nordseite stark vergletschert. Die Klimaerwärmung in den letzten Jahrzehnten führte aber, wie auch in anderen Alpengebieten, zu starkem Gletscherschwund. Seit 1991 sind viele der kleinen Gletscher verschwunden, andere sind heute kaum noch von Schneefeldern zu unterscheiden und sind ebenfalls vom völligen Verschwinden bedroht.

Oberflächenformen Das Relief wird bestimmt vom Zusammenwirken des Ausgangsgesteins und von der angreifenden Erosion, also der Abtragung von Gestein und Boden durch Niederschläge, Fließgewässer, Gletscher und Wind. Im Gran-Paradiso-Gebiet sorgen die überwiegend harten Gesteine wie Gneis, die schwer verwitterbar sind, für steile Felswände und lange gezackte Grate, weshalb die Berge hier wild und schroff aussehen. Das Relief ist sehr steil und es bestehen sehr große Höhenunterschiede zwischen Gipfeln und Tälern. So ist der Gipfel des Gran Paradiso, 4061 m, nur etwa 25 Kilometer von Pont Canavese, 451 m, entfernt, wo die Flüsse Orco und Soana zusammenfließen und kurz darauf die Ebene erreichen. Der Grat, der die Wasserscheide zwischen der Dora Baltea und den Flüssen Orco und Soana bildet, weist fast überall Gipfelhöhen zwischen 3300 und 4000 Metern auf (nur ganz im Osten sinken sie auf 3000 bis 3100 Meter). Und es gibt nur einen

einzigen Pass, der zwischen dem Colle del Nivolet, 2636 m, im Westen und dem Colle Laris, 2584 m, im Osten (nördlich von Piamprato) niedriger als 2900 Meter ist, nämlich den Colle di Bardoney, 2833 m, oberhalb des Bivacco Davito im Soana-Tal. Weil die Erosionsbasis im Orco- und Soana-Tal deutlich niedriger als im Valsavarenche und im Cogne-Tal liegt, sind die Reliefunterschiede im piemontesischen Teil des Nationalparks noch etwas größer als im valdostanischen Teil: Zwischen dem Gipfel des Gran Paradiso, 4061 m, und der Ortschaft Pont/Valsavarenche, 1994 m, liegen fünf Kilometer, zwischen ihm und der Ortschaft Noasca/Orco, 1058 m, liegen sieben Kilometer. Oder der Torre Gran San Pietro, 3692 m, ist im

5 Luftbildaufnahme vom oberen Orco-Tal (im linken Bildbereich) und darüber hinaus nach Frankreich. Vorn im Bild die Punta Basey mit dem gleich­ namigen Gletscher. Links unten der Lago Serrù, darüber der Ghiacciaio della Capra und von rechts nach links die gletscherbedeckten Gipfel Grand Cocor, Cima della Losa, Cima della Vacca, Grande Aiguille Rousse (schon in Frankreich) und Cima del Carro.

Einführung: Natur und Landschaft

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Norden acht Kilometer von Lillaz/Cogne, 1617 m, und im Süden achteinhalb Kilometer von Noasca/Orco, 1058 m, entfernt. Die riesigen Gletscher der Eiszeiten (die letzte Eiszeit ging vor etwa 12 000– 10 000 Jahren zu Ende), die weite Teile des Gebirges bedeckten und deren Zungen bis weit in die Tiefebene reichten (die Serra di Ivrea am Alpenrand bei Ivrea ist ein riesiges natürliches Amphi-

theater aus Gletschermoränen, das der eiszeitliche Dora-Baltea-Gletscher geschaffen hat), haben die hier vorherrschenden Land­schafts­formen stark geprägt und im harten Gestein den typisch glazialen Formenschatz hinterlassen. Dieser besteht aus abgeschliffenen und teilweise senkrechten Felswänden (Gletscherschliff), aus Trog- oder U-Tälern, aus Hängetälern (Seitentäler, die mit einer felsigen Steilstufe ins Haupttal münden, zum Beispiel die Mündung des Noaschetta-Seitentals bei Noasca ins Orco-Tal), aus Karseen (vom Gletscher ausgeschliffene Mulden) oder aus Moränenablagerungen (Grund-, End- und Seitenmoränen), die oft dafür sorgen, dass auf felsig-sterilem Untergrund ein fruchtbarer Boden entstehen kann. Die heute vergletscherte Fläche ist im Aosta-Tal – trotz geringerer Niederschlä-

1923

1986

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ge – wesentlich größer als im piemontesischen Teil. Dies liegt an den kühleren Temperaturen aufgrund der Nordexposition, die hier – im obersten Gebirgsstockwerk  – die entscheidende Komponente darstellt. Deshalb liegen auch die größten Gletscher des Gran-Paradiso-Massivs alle im Aosta-Tal (Tribolazione, Gran Paradiso, Lavecrau, Money usw.). Insgesamt gibt es 66 Gletscher im Nationalpark, die insgesamt 30 Quadratkilometer Fläche bedecken (Zahlen von 2005). Davon liegen 46 Gletscher im Aosta-Tal und 20 auf der piemontesischen Seite (18 im Orco- und 2 im Soana-Tal). Von den Gletschern auf der piemontesischen Seite weisen nur 2 eine Größe von über einem Quadratkilometer auf – der Ghiacciaio di Nel (1,68 km 2; auf der Nordseite der Levanne, zwischen 2700 und 3350 Meter Höhe) und der Ghiacciaio di Noaschetta (1,89 km2; auf der Südseite der Punta Ceresole, zwischen 3200 und 3500 Meter Höhe). Ebenfalls noch recht groß ist mit 0,57 Quadratkilometern der Ghiacciaio 1999

7 Der Blockgletscher Geri im Soana-Tal.

5 Ein Fotovergleich des Capra-

Gletschers, der direkt oberhalb des Stausees Serrù liegt, zeigt den starken Rückgang der eisbedeckten Fläche in den letzten 90 Jahren auf. Die Seiten- und Endmoränen des Gletschers sind Musterbei­ spiele des glazialen Formenschatzes.

Einführung: Natur und Landschaft

2010

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di Ciardoney – einer der beiden Gletscher des Soana-Tals. Insgesamt sind im piemontesischen Teil des Nationalparks noch etwa 6 Quadratkilometer (Aosta-Tal 24 km2) der Oberfläche von Gletschern bedeckt. Doch wie in anderen Teilen der Alpen sind auch hier die Gletscher von einem massiven Rückgang betroffen, besonders in den letzten dreißig Jahren: Man schätzt den Schwund in diesem Zeitraum auf etwa ein Drittel der Gesamtmasse, und zahlreiche kleinere Gletscher sind gänzlich verschwunden, wie zum Beispiel der Ghiacciaio del Forno (der beim Abschmelzen einen Gletschersee hinterlassen hat) und der Ghiacciaio di Col Perduto (beide im Levannenmassiv). Man geht davon aus, dass in fünfzig Jahren nur noch etwa 25 Prozent der heutigen Gletschermasse im Gran-ParadisoMassiv vorhanden sein wird. Der Gletscherrückgang wird seit einigen Jahren vom Nationalpark wissenschaftlich untersucht, und die Ergebnisse sind im Internet abrufbar (www.pngp.it/natura-e-ricerca/conservazione-e-ricerca/ campagne-glaciologiche). Auf der Wetterstation vor der Gletscherzunge des Ciardoney-Gletschers ist seit 2010 eine Webcam installiert, die Echtzeitbilder und -daten sendet, die im Internet einsehbar sind (www.nimbus.it/moncalieri/ ciardoney/ciardoney.asp). Weitere Informationen zum Ciardoney-Gletscher, der seit 1986 genauer untersucht wird, finden sich ebenfalls im Internet (www. nimbus.it/moncalieri/ciardoney/ciardoney_ghiacciaio.htm). Neben den »echten« Gletschern kommen auch die sogenannten Blockglet-

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scher vor: Diese haben keinen reinen Eiskern, sondern bestehen aus Gesteinsschutt, dessen Zwischenräume mit Eis gefüllt sind. Dieses Eis ermöglicht eine gletscherartige Bewegung der Schuttmassen, die von der Form her einer Gletscherzunge stark ähneln. Dabei wird zwischen aktiven (Eismassen vorhanden, langsames Fließen talwärts) und inaktiven Blockgletschern (Eismassen großteils oder ganz geschmolzen, stationär) unterschieden. Eine besonders hohe Konzentration von Blockgletschern gibt es im Valle di Rhêmes, sie kommen aber auch auf piemontesischer Seite wie beispielsweise im Vallone del Roc oder unterhalb des winzigen Geri-Gletschers (der zweite Gletscher des Valle Soana) vor. Im Gran Paradiso bilden sich auch Oberflächenformen aufgrund von frostdynamischen Prozessen. Eine der spektakulärsten Formen sind die Steinkreise auf der Piatta di Lazin, 3050 m, einem Gipfelplateau im Soana-Tal. Hier befindet sich auf dem Permafrostboden (Dauerfrostboden) eine Bodenschicht, die einem beständigen Wechsel von Tau- und Frostperioden ausgesetzt ist. Der starke Wind (wenig Schnee und daher mangelnde Isolation) und die hohe Sonneneinstrahlung (Gipfelplateau) begünstigen hohe Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht und verstärken die Frostdynamik. Als Folge wird das Gesteinsmaterial nach Größe geordnet akkumuliert, in diesem Fall in Form von Kreisen. Das feinere Material wird in der Mitte der Kreise abgelagert, die großen Steine (meist zwischen 5 und 25 cm) bil-

den den Rand. Diese Steinkreise haben einen Durchmesser zwischen 0,5 und 5 Metern und bedecken 6400 Quadratmeter Boden.

5 Türkenbund (Lilium martagon). 5 Wollgras (Eriophorum). 5 Gletscher-Hahnenfuß (Ranunculus glacialis).

Vegetation

5 Edelweiß (Leontopodium Die Flora des Gran Paradiso ist arten- alpinum). reich, es kommen hier etwa 1000 Spezies vor. Da es unmöglich ist alle Blütenpflanzen zu nennen, die von März bis August mit ihrer Farbenpracht das Territorium des Parks schmücken, seien hier nur die charakteristischsten und interessantesten Arten (aufgrund von Schönheit, Seltenheit usw.) genannt.

Einführung: Natur und Landschaft

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Darunter fallen zweifellos die Endemiten  – das sind Pflanzen, die ausschließlich in einem kleinen Gebiet und nirgendwo sonst vorkommen. Ein hier vorkommender Endemit ist beispielsweise das Schmalkronblättrige Fingerkraut (Potentilla grammopetala Moretti). Andere bekannte Arten des Parks sind: das Nordische Moosglöckchen (Linnaea

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borealis), ein immergrüner Halbstrauch mit Wuchshöhen bis zu 20 Zentimetern, der blassrosafarbene und hängende Blüten ausbildet, der Fuchsschwanz-Tragant (Astragalus alopecurus/centralpinus), eine seltene und majestätische Pflanze mit großen gelben Blütenköpfen, oder die wunderschöne Paradieslilie (Paradisea liliastrum), nach der der botanische Garten in Valnontey (bei Cogne) benannt ist. Beim Besucher ebenfalls sehr beliebte Pflanzen sind das Edelweiß (Stella alpina) und die Mont-Cenis-Glockenblume (Campanula cenisia), ein Endemit der Westalpen. Da im Gran-Paradiso-Massiv silikathaltiges, saures Gestein vorherrscht, ist es nicht verwunderlich, dass wir hier hauptsächlich Silikat liebende Arten vorfinden. Beispiele sind Feld-Enzian (Gentianella campestris), Drahtschmiele (Avenella flexuosa), Großblütiges Fingerkraut (Potentilla grandiflora), Alpen-Wegerich (Plantago alpina), Alpen-Mauerpfeffer (Sedum alpestre) und Felsen-Leimkraut (Silene rupestris). Letzteres gehört zu den Nelkengewächsen, ist weit verbreitet und besitzt fünf weiße oder rosafarbene Blütenkronblätter. In sauren und dauerfeuchten Schuttböden zwischen 1800 und 3200 Meter Höhe bildet die Schweizer Weide (Salix herbacea), ein Zwergstrauch, zum Teil große Pflanzen-Teppiche aus. Die seltener auftretenden basischen und kalkhaltigen Schuttböden werden dagegen von der Stumpfblättrigen Weide (Salix retusa) und der Netz-Weide (Salix reticulata) bevorzugt. Auf kalkhaltigen Böden wachsen bei-

spielsweise Hallers Küchenschelle (Pulsatilla halleri) und Türkenbund (Lilium martagon), eine der größten europäischen Lilienarten. Beispiele für Pflanzen, die sowohl auf sauren wie basischen Böden leben können, sind das Gewöhnliche Alpenglöckchen (Soldanella alpina), das fast überall in den Alpen vorkommt, und die zahlreich vorhandene orange-rote Feuerlilie (Lilium bulbiferum croceum). Ein Überlebenskünstler ist der GletscherHahnenfuß (Ranunculus glacialis), der nicht nur auf Geröll, sondern sogar auf nacktem Fels und in Höhen bis 4000 Meter sein Habitat findet. Auf sehr trockenen Böden finden wir die Heilpflanze Wermutkraut (Artemisia absinthium) und Wacholderarten (Juniperus). Weit landschaftsbestimmender als Blütenpflanzen sind jedoch Wälder, Gräser und Ödland: Etwa 20 Prozent der Gesamtfläche des Parks sind mit Wald bedeckt, je nach Bodenbeschaffenheit, Mikroklima und Höhe von unterschiedlicher Zusammensetzung: Auf den tieferen Berghängen wachsen Laubwälder, in denen Eiche, Esche, Erle, Ulme, Bergahorn, Nußbaum, Pappel, Birke und Wildkirsche vorkommen. Im piemontesischen Teil gibt es zudem in tiefen Lagen Buchen- und Kastanienwälder, die auf der valdostanischen Seite vollkommen fehlen. Die Esskastanienwälder werden aber zum überwiegenden Teil nicht mehr gepflegt, weshalb hier andere Baumarten wie Esche, Birke und Wildkirsche im Rahmen der natürlichen Dynamik eindringen. Lediglich in der Nähe von einigen Ortschaften werden kleine

7 Pfauen-Nelke

(Dianthus pavonius).

7 Berg-Hauswurz

(Sempervivum montanum).

5 Alpen-Küchenschelle (Pulsatilla alpina).

Einführung: Natur und Landschaft

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Teile der einstmals für die Ernährung und Brennholzgewinnung so wichtigen Kastanienwälder noch kultiviert. In den höheren Tallagen dominieren die Nadelwälder. Während Fichte, Kiefer und Lärche überall im Parkgebiet vertreten sind, findet man Weißtannen nur im Val di Cogne. Lärchenwälder kommen im piemontesischen Teil des Parks zum Teil schon ab etwa 1000 Meter Höhe – also ungewöhnlich tief – vor. Sie reichen aber auch bis zur Baumgrenze, wo sie sehr licht sind und einen üppig-krautigen Boden­be­ wuchs haben. Dieser besteht unter an­ derem aus Rostblättrigen Alpenrosen, Heidelbeeren, Himbeeren und Walderdbeeren. Ebenfalls am obersten Waldsaum, am Rande der Baumgrenze und oft mit Lärchen zusammen, stehen die Zirben (Arven), die extreme Temperaturen ertragen können und müssen. Oberhalb der Baumgrenze breiten sich die alpinen Matten und Gräser aus – zum Teil durch Rodungen entstanden –, wo

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wir einen großen Teil der oben erwähnten Blütenpflanzen vorfinden. Sehr groß ist im Parkgebiet der Anteil an Ödland (Gletscher, Schuttflächen, Felsen), besonders in den obersten Höhenregionen. Hier können nur äußerst wenige Spezialisten und niedere Pflanzenarten wie Moose oder Flechten – eine symbiotische Lebensgemeinschaft zwischen einem Pilz und einem oder mehreren Fotosynthese betreibenden Partnern (Algen oder Bakterien) – überleben.

Tiere Die Erhaltung des Alpensteinbocks (Capra ibex) war eines der wichtigsten Motive für die Gründung des Nationalparks Gran Paradiso. Er ist das Symboltier des Parks und stellt für die meisten Besucher eine ausgesprochene Attraktion dar. So ist es nicht verwunderlich, dass dieses Tier hier die größte Aufmerksamkeit genießt und sich ein Großteil der wissenschaftlichen Forschungen auf den Steinbock konzentriert. So gibt es genaue

Daten (zur Verfügung gestellt vom Nationalpark Gran Paradiso) zum Bestand der Steinbockpopulation, die seit 1956 erfasst wird: Nach einem relativ gleichmäßigen Anstieg in den ersten vierzig Jahren der Zählungen (2767 im Jahr 1956, 3011 im Jahr 1966, 3388 im Jahr 1976, 3914 im Jahr 1986 und 4003 im Jahr 1996) kam es ab 1996 zu einem starken Einbruch der Population, der Anlass zur Sorge gibt: Bis 2006 reduzierte sich die Zahl der Steinböcke auf 3048 Exemplare, und im Jahr 2009 wurden nur noch 2321 Steinböcke gezählt, obwohl sich die Geburtenrate nicht veränderte. Dafür hauptsächlich verantwortlich ist die stark erhöhte Sterblichkeit der Kitze  – derzeit sterben rund drei Viertel der Jungtiere, bevor sie das erste Lebensjahr erreicht haben. Vermutet wird inzwischen, dass dies mit der Klimaerwärmung zusammenhängt. Die Hypothese, die derzeit immer stärker durch wissenschaftliche Beweise fundiert wird, geht davon aus, dass die vorhandene Nah-

7 Adler. 7 Eulen sind nachtaktive

Raubvögel mit sehr guten Augen und einem ausgezeichneten Gehör.

5 Das flinke und sehr scheue Hermelin. 5 Sehr beliebt bei den Besuchern des Parks, besonders bei den Kindern, ist das Murmeltier.

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rung für die jungen Kitze, die Ende Juni geboren werden, nicht mehr mit deren Entwicklungsstufen korreliere. Durch das immer früher beginnende Wachstum aufgrund der Klimaerwärmung seien die Gräser im alpinen Höhenstockwerk im Sommer schon zu trocken und zu protein- und nährstoffarm, um die Kitze über den folgenden Winter zu bringen. Im Jahr 2011 startete eine auf zwei Jahre angelegte wissenschaftliche Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Nationalpark, bei der ebenfalls Untersuchungen zum Steinbock im Vordergrund stehen. Im Park leben noch andere Huftiere wie Wildschweine, Rehe, Hirsche und Gämsen. Letztere sind hier äußerst zahlreich vertreten und stehen ebenfalls stark im Fokus der Untersuchungen. Derzeit werden im oberen Orco-Tal Studien zu den Gämsen betrieben. Deren Gesamtzahl

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im Nationalpark beträgt derzeit etwa 8000 und somit findet man hier eine der dichtesten Gämsenpopulation – im Verhältnis zur Fläche – im gesamten Alpenraum. Der Park bietet noch vielen anderen Säugetieren einen Lebensraum: Füchsen, Fledermäusen, Hermelinen, Igeln, Dachsen, Baum- und Steinmardern, Wieseln, Hasen, Mäusen, Eichhörnchen, Siebenschläfern und Murmeltieren. Letztere  – nach einer Schätzung des Parks etwa 25 000 – kommen hauptsächlich in einer Höhe zwischen 1400 und 2700 Metern vor und sind bei einer Sommerwanderung leicht zu sehen und zu hören, denn sie stoßen bei Annäherung als Warnsignal ein lautes Pfeifen aus. Der Wolf, der in weiten Teilen der italienischen Westalpen wieder heimisch geworden ist, kommt auch im Territorium des Gran Paradiso vor, wird aber fast aus-

schließlich in den Tälern des Val d’Aosta (Valsavarenche, Val di Rhêmes, Valgrisenche) gesichtet, wo ein Paar mit vier Jungen seine Heimat hat. Im piemontesischen Teil des Massivs hat sich noch kein Einzeltier oder Rudel dauerhaft niedergelassen. Vom Luchs, der wie der Wolf riesige Territorien zum Leben braucht, ist eine dauerhafte Präsenz im Parkgebiet, trotz einiger seltener Sichtungen, nicht bewiesen. Es wird davon ausgegangen, dass es  – wenn überhaupt  – im ganzen Schutzgebiet maximal zwei Luchspärchen gibt. Etwa 100 Vogelarten leben im Park, darunter auch zahlreiche Raubvögel: Neben einigen Steinadlern, die auf ihrer Jagd Kreise am Himmel ziehen und so dem Betrachter ein eindrückliches Naturschauspiel liefern, sind zum Beispiel Kolkrabe, Turmfalke, Bussard, Uhu, Rauh­f ußkauz, und Sperlingskauz vertreten. Auch die alpinen Hühnerarten (Alpenschneehuhn, Birkhuhn und Stein-

7 Die Welt der Insekten ist im Park extrem vielfältig. 5 Der Fuchs ist eine der

zahlreichen Säugetierarten des Parks.

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huhn) kommen hier vor  – ebenso wie verschiedene Singvögel, als Beispiel sei hier der seltene Zitronengirlitz genannt. Besonders interessant für Wissenschaft und Naturschutz ist der Bartgeier, der nach langer Bejagungszeit Ende des 19. Jahrhunderts in den Alpen vom Menschen ausgerottet war. Einige Exemplare dieses majestätischen Tieres (die Flügelspannweite beträgt bis zu 2,80 Meter), das Dank eines internationalen Projektes zwischen dem Nationalpark Mercantour und dem Naturpark der Seealpen zur Wiedereinführung in den Alpen nun wieder in Freiheit zu sehen ist, haben den Weg auch hierher gefunden. Nachdem sie anfangs nur vorübergehend gesichtet worden sind, ist nun ein Geierpaar hier heimisch geworden, und im Mai 2011 ist der erste Bartgeiernachwuchs seit 100 Jahren in den italienischen Westalpen geschlüpft, und zwar im valdostanischen Valsavarenche. Im April 2012 folgten zwei weitere Bartgeierküken mit den Namen Champagne und Iris, die bereits erfolg-

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reich vom Nest abgeflogen sind. Amphibien sind im Gran Paradiso nur spärlich vertreten und einige typisch alpine Arten wie zum Beispiel der Alpensalamander fehlen hier gänzlich. Selten zu sehen ist der schwarz-gelbe Feuersalamander (Salamandra salamandra); häufig anzutreffen sind hier nur Kröten (Bufonidae) und der Grasfrosch (Rana temporaria). Unter den Reptilien sind Blindschleichen (Anguis fragilis), einige Natterarten wie die Ringelnatter (Natrix natrix), die häufig auftretenden Mauereidechsen (Podarcis muralis) und die ebenfalls weit verbreiteten und giftigen Aspisvipern (Vipera aspis) zu erwähnen. Aufgrund des Hochgebirgscharakters sind die Wasserflächen des Gran-Paradiso Massivs sehr fischarm. Außer der hier beheimateten Bachforelle (Salmo truta fario) gibt es nur noch den vom Menschen eingeführten Bachsaibling (Salvelinus fontinalis) und die kleine Elritze (Phoxinus phoxinus), die ein Beutetier der Bachforelle ist. Der aus Nordamerika in den 1960er-Jahren eingeführte Bachsaibling konnte hier überleben, da er gut an das kalte Klima angepasst ist. Es wird jedoch befürchtet, er könnte die fragilen Ökosysteme der Bergseen massiv ins Ungleichgewicht bringen, weshalb der Park seit 2006 eine aufwendige Untersuchung über den Einfluss dieses Fisches auf seine Umwelt aufgenommen hat.

Mit Sicherheit am zahlreichsten, wenn auch meist weniger beachtet, sind die Insekten. Unter diesen stechen am meisten die sehr zahlreichen Heuschrecken sowie die Schmetterlinge und Falter ins Auge. Die bekanntesten unter ihnen sind hier der sehr seltene Rote Apollo (Parnassius apollo) sowie der Alpenapollo (Parnassius phoebus), ein Schmetterling, dessen Habitat bis zu 3000 Meter Höhe erreichen kann. Auf seinen gelblich weißen Hinterflügeln trägt er je zwei rote Augenflecken, die Fressfeinde täuschen und abwehren sollen. In den Nadelwäldern sieht man als Haufen aus Baumnadeln, kleinen Ästen und Moos die bis zu einem Meter hohen Nester der roten Waldameise (Formica rufa), in denen Hunderttausende Ameisen leben. Den (unsichtbaren) Kern des Nestes bildet oft ein morscher Baumstumpf.

7 Der Wanderer sieht die Gämsen meist auf der Flucht und selten so ruhig wie hier. 5 Anders als die Gämse ist der Steinbock nicht scheu und lässt sich auch aus nächster Nähe beobachten.

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