Unterstreiche das Wichtigste! Kompetenzorientiertes Unterrichten auf der Basis von empirischen Befunden zu einer Textverstehensstrategie

In: Lutjeharms, M./Schmidt, C. (Hrsg.)(2010): Lesekompetenz in der Erst-, Zweit- und Fremdsprache. Reihe Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik....
Author: Otto Gehrig
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In: Lutjeharms, M./Schmidt, C. (Hrsg.)(2010): Lesekompetenz in der Erst-, Zweit- und Fremdsprache. Reihe Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik. Tübingen: Gunter Narr. S. 89 – 106.

Doris Grütz (Pädagogische Hochschule Zürich)

Unterstreiche das Wichtigste! Kompetenzorientiertes Unterrichten auf der Basis von empirischen Befunden zu einer Textverstehensstrategie In dem Beitrag geht es um den Umgang von Schüler/innen der Sekundarstufe 1 mit der reduktivorganisierenden Textverstehensstrategie des Unterstreichens bei der Rezeption von Sachtexten bzw. Lehrtexten. Schüler/innen müssen in der Lage sein, Texte zu verstehen, d.h. sie müssen ihnen Informationen entnehmen – laut der IGLU-Studie und PISA-Studie die unterste oder erste Textverstehensebene. Von Lehrpersonen wird gefordert, kompetenzorientiert zu unterrichten. In diesem thematischen Zusammenhang bedeutet das: Lehrpersonen sollten fachwissenschaftlich und didaktisch begründet unterrichten, d.h. sie sollten wissen, welche Texterschlieβungsstrategien erfolgversprechend und wann sie anzuwenden sind; weiterhin sollten sie wissen, wie Schüler/innen bestimmte Strategien anwenden. Um der Beantwortung dieser Fragen näher zu kommen, werden Befunde aus zwei empirischen Untersuchungen dargelegt: In der ersten Untersuchung geht es um die Effizienz der Strategie „Unterstreichen von Wörtern“ im Vergleich zu anderen Strategien des Textverstehens. In der zweiten Untersuchung wird der Frage nachgegangen, was Schüler/innen denn tun, wenn sie aufgefordert werden, in einem Sachtext das Wichtigste zu unterstreichen. Dabei kristallisieren sich verschiedene Muster des Untersteichens heraus. Aus diesen Analyseergebnissen werden didaktische Forderungen in Bezug auf die Vermittlung bzw. die Anwendung von Textverstehensstrategien sowie auf die Auswahl von Sachtexten abgeleitet. Vorgestellt wird in diesem Zusammenhang auch eine Visualisierungsmethode, die es Lehrpersonen ermöglicht, in ihren Klassen einen Überblick über den Lernstand bei der Anwendung von Textverstehensstrategien zu erhalten.

1 Kompetenzorientiertes Unterrichten Der Sprachverarbeitungsbereich „Leseverstehen“ oder „Umgang mit Texten“ rückte infolge der PISA-Studie nachhaltig ins Blickfeld der fachdidaktischen Diskussion (z.B. Abraham et al.: 2007; Rosebrock & Nix: 2008). Gleichzeitig wurde im Zuge der immer anspruchsvolleren Professionalisierung des Lehrberufs die Forderung laut, fachdidaktisches Handeln auf empirischen Befunden fußen zu lassen. Es wurden Bildungsstandards formuliert, an denen sich die Ausbildung orientieren soll. Die folgenden von der Gesellschaft für Fachdidaktik am 26.11.2005 beschlossenen Kompetenzbereiche und Bildungsstandards in der Lehrerbildung werden hier auf das Thema „Lesen und Vermittlung von Textverstehensstrategien“ bezogen: -

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Theoriebegleitete fachdidaktische Reflexion. Fachwissenschaft auf Fachdidaktik beziehen: Ergebnisse aus der Kognitionspsychologie zum Textverstehen schlagen sich im begründeten Einsatz von Strategien zum Leseverstehen nieder. Unterrichten. Begründete Planung des Unterrichts: Diese erfolgt u. a. abhängig vom Unterrichtsziel und vom Lernstand der Schüler/innen; Textverstehensstrategien werden mitsamt der zugehörigen Aufgabenformulierung zielorientiert und adressatengerecht eingesetzt .

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Diagnostizieren und Beurteilen. Modelle und Kriterien der Lernstandserhebung sowie der Beurteilung auf fachliches Lernen beziehen: Es muss überprüft werden, inwieweit Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, Textverstehensstrategien bei Sachtexten einzusetzen, um Nutzen aus dem „reading für learning“ zu ziehen. Kommunikation im Fach. Fachliche und fachübergreifende Themen kommunizieren und Kommunikationsprozesse im Unterricht analysieren: Deutschlehrpersonen sollten sich der Relevanz ihres Faches für die Sachfächer bewusst sein. Dies bedeutet, dass auch Fachtexte mit ihren typischen Textbauplänen und der fachbezogenen Lexik (Grütz 1995: 102ff.) Gegenstand des Unterrichts – im Sinne eines Methodentrainings – sein sollten; dies am besten in Zusammenarbeit mit den Fachlehrpersonen. Entwicklung und Evaluation. Fachdidaktische Forschung rezipieren und sich an Forschungsvorhaben beteiligen: Im Zuge von PISA gibt es eine Fülle von Studien, die rezipiert und, wenn möglich, für den eigenen Unterricht überprüft werden sollen.

Der vorliegende Beitrag skizziert, wie diese Kompetenzbereiche in einem Themengebiet verknüpft sind und zusammenwirken. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie mit einer Textverstehensstrategie, derer wir uns als Experten beim Rezipieren von Sach-, Fach- und Lehrtexten wie selbstverständlich bedienen, dem Unterstreichen bzw. Markieren von Textstellen, in der Schule umgegangen wird. Dabei wird zunächst nach den fachwissenschaftlichen, d. h. kognitionspsychologischen Gründen gefragt, aus denen sich die Anwendung dieser Lesestrategie ableitet (theoriebegleitete fachdidaktische Reflexion). Sodann geht es um die Wirkung der Strategie des Unterstreichens (begründete Unterrichtsplanung): Anhand von Untersuchungen von Grütz, Belgrad und Pfaff (Belgrad et al. 2004, 2005, Grütz 2006, Grütz et al. 2007) zur Wirksamkeit von Lesestrategien bei der Rezeption von Sachtexten wird kurz aufgezeigt, welcher Stellenwert dem Unterstreichen im Vergleich zu anderen Textverstehensstrategien zukommt. Interessant – und das eigentliche Thema dieses Beitrags – ist dann aber die Frage, was Schülerinnen und Schüler denn eigentlich unterstreichen, wenn die Arbeitsanweisung lautet: „Unterstreiche das Wichtigste!“ Anhand einer Untersuchung von ca. 300 Schülertexten wird gezeigt, welche Ergebnisse dieser Arbeitsauftrag bei den einzelnen Schülerinnen und Schülern und Klassen nach sich ziehen kann (Diagnostizieren und Beurteilen). Die Untersuchung wurde anhand eines Lehrtextes aus einem Biologiebuch für die 7. Klasse mit dem Thema „Herz“ durchgeführt, also einem Text, der üblicherweise nicht im Deutschunterricht behandelt wird, zu dessen Erschließung aber Methoden angewandt werden, deren Vermittlung ins Ressort des Deutschunterrichts fallen. Die Ergebnisse für die entsprechende Fachdisziplin sichtbar zu machen, fällt in den Kompetenzbereich fachübergreifende Kommunikation. Bei den Überlegungen, wie denn die Unterstreichungen der Schülerinnen und Schüler so dargestellt werden können, dass man einen vergleichenden Überblick erhält, wurde eine Visualisierungsform in einer ExcelTabelle entwickelt, die hier vorgestellt wird. Lehrpersonen sollen dazu ermuntert werden, selbst diese Methode anzuwenden, um einen systematischen Überblick über den Umgang ihrer Schülerinnen und Schüler mit Textverstehensstrategien zu erhalten und um fördernd

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eingreifen zu können (Entwicklung und Evaluation). An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass – ganz im Sinne des o.g. Kompetenzbereichs – an der Auswertung der Texte und an den Überlegungen zur Visualisierung der Unterstreichungsmuster die Studierenden der Pädagogischen Hochschule Weingarten Jenny Posthoff, Ilona Litfin, Melanie Mayer und Isabella Weiß im Rahmen einer Projektarbeit involviert waren. An sie geht mein besonderer Dank für ihre Diskussionsbereitschaft sowie für ihre Kreativität und Einsatzbereitschaft in Bezug auf die Entwicklung der Visualisierungsformen. Studierende an Forschungsprojekten zu beteiligen, fördert deren Bereitschaft, sich als Lehrperson mit fachdidaktischen Studien auseinander zu setzen, diese kritisch zu reflektieren und gegebenenfalls selbst kleinere Untersuchungen in der Klasse durchzuführen, um Konsequenzen für das unterrichtliche Handeln abzuleiten. Um die didaktischen Konsequenzen, die aus den Ergebnissen der Studie zu ziehen sind, geht es auch im letzten Punkt dieses Beitrags.

2 Textverstehen 2.1 Textverstehen aus kognitionspsychologischer Sicht Das Verstehen stellt sich als Resultat eines Prozesses der Interaktion zwischen Leser und Text und der Konstruktion neuen Wissens dar (vgl. Abb. 1). Durch ständiges Interagieren zwischen den Informationen aus dem Text (Bottom-up-Prozess) und dem Input seitens des Lesers in Form von einschlägigem Vorwissen, Sprachwissen, Interesse, metakognitiven Fähigkeiten etc. (Top-down-Prozess) wird eine mentale Repräsentation des Textes im kognitiven Verarbeitungssystem des Lesers aufgebaut (van Dijk & Kintsch 1983; Christmann & Groeben 1999). Zur Einordnung von Informationen hält das Alltags-, Weltund Sachwissen Schemata und Skripts bereit. Durch ihre Aktivierung werden während des Lesevorgangs Leerstellen des Textes durch Inferenzen gefüllt. Empirische Befunde zeigen, dass Schemata die Aufmerksamkeit steuern, die Einschätzung der Relevanz von Textelementen beeinflussen, die Integration neuer Informationen in vorhandene Wissensstrukturen erleichtern und zu besserem Behalten von Textinformation führen. Skripts als spezielle Form von Schemata bilden Wissen über routinierte Verhaltens- und Ereignisabläufe ab (vgl. hierzu Christmann & Groeben 2002; Belgrad, Grütz & Pfaff 2004). Dem Situationsmodell von van Dijk und Kintsch (1983) folgend, stellt sich der Leseprozess in fünf Ebenen dar, welche Richter und Christmann in hierarchieniedrige und hierarchiehohe Prozesse einteilen (2002: 28ff.). Zu den hierarchieniedrigen Verarbeitungsprozessen, die eher automatisch ablaufen, gehören der Aufbau einer propositionalen Textrepräsentation und die lokale Kohärenzbildung. Hierarchiehohe

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Leseverstehen: Interaktion und Konstruktion Leseverstehensmodell nach van Dijk & Kintsch (1983)

Top-downProzess

Wissensstrukturen

Vorwissen, Weltwissen, Sprachwissen, Interessen, Ziele, Erwartungen, persönliche Erfahrungen, bildhafte Vorstellungen, kritische Auseinandersetzung mit dem Text

Mentales Modell / Situationsmodell Propositionale Textbasis

Inferenzen

Makroregeln (van Dijk 1980):

Bottom-upProzess

Textstruktur

- Auslassen - Selegieren - Generalisieren - Integrieren und Bündeln

Abbildung 1: Textverstehen als interaktiver und konstruktiver Prozess

Verarbeitungsprozesse umfassen die globale Kohärenzbildung, die Bildung von Superstrukturen und das Erkennen rhetorischer Strategien. Von den fünf Ebenen des Leseprozesses werden hier lediglich die ersten drei Ebenen dargestellt, da es vor allem diese sind, die sich auf das Erschließen von Informationen auf Satz- und auf Teiltextebene beziehen. 1. Wortebene. Auf der untersten Verarbeitungsebene müssen die Lesenden fähig sein, die Propositionen in den einzelnen Sätzen zu erkennen und die Propositionen der angrenzenden Sätze zu verbinden. Basale Wahrnehmungsprozesse und Prozesse auf Wortebene werden angesprochen: Lesende müssen Wörter und deren Bedeutung, ihre syntagmatischen Verbindungen sowie die Beziehung der Syntagmen innerhalb der semantisch-syntaktischen Oberflächenstruktur des Satzes erkennen können. 2. Satzebene. Auf der nächst höheren Verarbeitungsebene müssen sie die Sätze semantisch aufeinander beziehen können, um eine kohärente Textrepräsentation aufzubauen (lokale Kohärenzbildung). Hierzu helfen textseitig Kohärenzsignale in Form von Koreferenzen (z.B. Wiederholungen, Proformen, anaphorische und kataphorische Verweise) sowie die Beachtung der Thema-Rhema-Abfolge. 3. Textebene. Lesende sollen schliesslich den gesamten Text verstehen (globale Kohärenzbildung). Unter Anwendung von Makroregeln werden Sequenzen von Propositionen miteinander zu Makropropositionen und zu einer Makrostruktur des Textes verbunden. Auch hier gibt die Oberflächenstruktur des Textes Hinweise (z.B. Überschriften, einführende Sätze).

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2.2 Strategien zum Textverstehen Aus dem kognitionspsychologischen Modell des Textverstehens lassen sich unschwer Strategien als bewusste Unterstützung des Leseverstehensprozesses ableiten, die im besten Falle bei guten Lesenden automatisiert sind. Sie setzen zielgerichtete, potenziell bewusste und kontrollierbare Prozesse in Gang (Artelt 2002). Man unterscheidet bei den Rezeptionsstrategien die kognitiven Primärstrategien und die emotional-motivationalen und metakognitiven Stützstrategien (Christmann & Groeben 1999: 194ff). Im vorliegenden Beitrag wird die kognitive Primärstrategie Unterstreichen fokussiert. Sie erfüllt als reduktiv-organisierende Strategie die Funktionen, beim Gelesenen Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und Inhalte zu akzentuieren.

3 Untersuchungen zur Wirksamkeit des Unterstreichens In diesem Kapitel werden Studien zu zwei Fragestellungen vorgestellt: Zunächst geht es um eine Studie, die untersuchte, welche von im Unterricht gängigen Methoden zum Erschließen von Informationen aus Sachtexten zum Verstehenserfolg führen. Die Darstellung der Ergebnisse fokussiert die reduktiv-organisierende Methode des Unterstreichens von Wörtern (Abschnitt 3.1). In der zweiten Studie geht es um die Frage, was denn Schülerinnen und Schüler überhaupt tun, wenn sie aufgefordert werden, das Wichtigste zu unterstreichen (Abschnitt 3.2). 3.1 Das Unterstreichen als reduktiv-organisierende Strategie Welchen Effekt verschiedene gängige Verfahren zur Erschließung von Informationen aus Sachtexten haben, wurde in empirischen Studien an der Grundschule, 4. Klasse, und in der Sekundarstufe 1 in der 7. Klasse an Hauptschulen (in der Schweiz die Sek. B und C) und Realschulen (in der Schweiz die Sek. A) sowie an Gymnasien untersucht und mehrfach beschrieben (Belgrad, Grütz & Pfaff 2004, 2005; Grütz 2006; Grütz & Pfaff 2006; Grütz, Pfaff & Belgrad 2007; Grütz & Zmaila, in Vorbereitung). An dieser Stelle soll eine kurze Zusammenfassung dieser Teilstudien in Bezug auf das Unterstreichen erfolgen. Das Untersuchungsdesign hatte zwei Aspekte: Zum einen sollte das Unterstreichen in seiner Wirksamkeit in Verbindung mit anderen Rezeptionsverfahren getestet werden, die dem Unterstreichen des Textes vorangestellt waren: mit dem stillen Lesen eines Textes, mit dem Zuhören, wenn der Text von der Lehrperson vorgelesen wurde, und mit dem Reden über das Thema des Textes zur bewussten Aktivierung des Vorwissens, noch bevor der Text still gelesen und unterstrichen wurde. Dieses Untersuchungsdesign lag den Teilstudien in allen Schultypen zugrunde.

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1. Rezeptionsdurchgang

2. Rezeptionsdurchgang

Stilles Lesen Zuhören (Lehrperson liest Text vor) Reden über das Thema des Textes + stilles Lesen

Unterstreichen Unterstreichen Unterstreichen

Zum anderen wurde das Unterstreichen mit zwei weiteren Strategien zum Erschließen von Informationen, die alternativ im zweiten Rezeptionsdurchgang angewandt wurden, verglichen: mit dem Herausschreiben von Wörtern (reduktiv-organisierende Strategie) und mit dem Reden über den gelesenen Text (elaborative Strategie). Ich beziehe mich bei der Zusammenfassung der Ergebnisse auf die Sekundarstufe, da mit den drei Schultypen Aussagen über gute und weniger gute Leserinnen und Lesern getroffen werden können. Dies wird durch die Durchschnittswerte beim Verstehenserfolg bestätigt: Mit Hilfe von Kombinationen mit dem Unterstreichen erzielten die Schülerinnen und Schüler von maximal fünf zu erreichenden Punkten durchschnittlich an der Hauptschule 2,7 Punkte, an der Realschule 3,62 Punkte und am Gymnasium 4,23 Punkte (vgl. Abb. 2). Zu den Ergebnissen in der Hauptschule: 1) Kombination mit Verfahren des ersten Rezeptionsdurchgangs. Das Unterstreichen von Textstellen schnitt dann am besten ab, wenn vor dem Lesen des Textes über das Textthema geredet wurde. In Verbindung mit dem Zuhören ergab sich nur ein mittlerer Verstehenserfolg, in Verbindung mit dem stillen Lesen des Sachtextes schnitt das Unterstreichen schlecht ab. Damit bestätigt sich, dass das Antizipieren von Inhalten durch das Aktivieren von Vorwissen – hier im Unterrichtsgespräch – ein wesentliches Element des Textverstehens ist. Dann jedoch, wenn die Hauptschülerinnen und -schüler ganz auf sich alleine gestellt waren, nämlich wenn sie den Text still für sich lesen und dann Textstellen unterstreichen mussten, wurde der Sachtext nur schlecht verstanden. 2) Vergleich mit anderen Verfahren zur Erschließung von Informationen. Gegenüber den beiden anderen Verfahren, die im zweiten Rezeptionsdurchgang getestet wurden, dem Reden über den Text und dem Herausschreiben von Wörtern aus dem Text, erzielte das Unterstreichen einen mittleren Verstehenserfolg: Das Erschließen von Informationen aus dem Text durch Unterstreichen gelang signifikant schlechter als beim Reden über den Text, hingegen signifikant besser als beim Herausschreiben von Wörtern. An diesen Ergebnissen wird die Schriftferne von Hauptschülerinnen und -schülern deutlich: Es zeigt sich die Relevanz des Mündlichen beim Textverstehen und die Schwierigkeit, die diese Schülerinnen und Schülern haben, wenn sie schriftliche Verfahren zum Textverstehen einsetzen sollen.

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Ergebnisse: Vergleich zwischen den Schultypen

5 4.5 4 3.5 3 Unterrichtsgespräch Unterstreichen Schreiben

2.5 2 1.5 1 0.5 0

Hauptschule, 7.Kl.

Realschule, 7.Kl.

Gymnasium, 7.Kl.

Abbildung 2: Ergebnisse in der Studie “Verstehen von Sachtexten auf der Sekundarstufe 1“

Zu den Ergebnissen in der Realschule: 1) Kombination mit Verfahren des ersten Rezeptionsdurchgangs. Genauso wie in der Hauptschule wurden dann die signifikant besten Verstehenserfolge erzielt, wenn dem Unterstreichen das Aktivieren von Vorwissen in Form eines Unterrichtsgesprächs voranging. In Verbindung mit den anderen Verfahren war nur ein geringer Verstehenserfolg beschieden. Die Ähnlichkeit der Ergebnisse zu denen in der Hauptschule ist verblüffend, auch wenn die Schülerinnen und Schüler in der Realschule insgesamt signifikant besser als die in der Hauptschule abschnitten. 2) Vergleich mit anderen Verfahren zur Erschließung von Informationen. Textstellen zu unterstreichen schnitt im Durchschnitt genauso gut ab wie das Unterrichtsgespräch über den gelesenen Text. Allein das Herausschreiben von Wörtern erzielte schlechtere Ergebnisse. Zu den Ergebnissen am Gymnasium: 1) Kombination mit Verfahren des ersten Rezeptionsdurchgangs. Ganz im Gegensatz zur Hauptschule und zur Realschule erzielten die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten mit dem Unterstreichen dann die besten Ergebnisse, wenn sie den Text zuerst einmal still durchlesen konnten. 2) Vergleich mit anderen Verfahren zur Erschließung von Informationen. Das Unterstreichen zeigte den gleichen Effekt wie die beiden anderen Verfahren des Unterrichtsgesprächs und des Herausschreibens von Wörtern. Daraus ist abzulesen, dass die vorgestellten Verfahren zur Erschließung von Informationen aus dem Text mit Zunahme des Lesekompetenzniveaus an Bedeutung verlieren. Es müssen aber auch der Schwierigkeitsgrad des Textes sowie das Vorwissen zum Thema des Textes in Betracht gezogen werden. So kann vermutet werden,

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dass die Gymnasiasten bereits mehr Wissen zum Thema internalisiert hatten als die Schülerinnen und Schülern in der Realschule und der Hauptschule. Diese Vermutung bestätigt sich in folgendem Befund: Das Strategienbündel, mit dem der Text am besten verstanden wurde, war die Kombination aus dem Aktivieren von Vorwissen im Unterrichtsgespräch und dem abermaligen Unterrichtsgespräch, nachdem der Text still gelesen worden war. Es ist also insgesamt zu vermuten, dass das Unterstreichen von Wörtern bzw. Textstellen dann besonderen Nutzen stiftet, wenn der Textinhalt Neues birgt. Ausgehend von dem Ergebnis, dass das Unterstreichen in der Hauptschule und in der Realschule von den beiden hier betrachteten reduktiv-organisierenden Strategien des Unterstreichens und des Herausschreibens von Wörtern den höheren Stellenwert in Bezug auf den Verstehenserfolg einnimmt, dennoch aber nicht mit dem Reden über den Text konkurrieren kann, war es interessant zu wissen, was denn die Schülerinnen und Schüler dieser beiden Schultypen unterstrichen haben.

3.2 Was wird unterstrichen? – eine Untersuchung von Schülertexten 3.2.1 Untersuchungsdesign Bei der Untersuchung der Schülertexte zogen wir nur die Texte heran, die im Rahmen der Methodenkombination „Stilles Lesen und Unterstreichen“ rezipiert wurden. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Unterstreichungen nicht extern beeinflusst sind. An die Schülerinnen und Schüler erging der folgende Arbeitsauftrag:

„Lest den Text still durch und unterstreicht mit einem Bleistift ungefähr 10 Wörter, die für euch am wichtigsten sind.“ (Schlüsselwörter) Es wurden knapp 300 Schülertexte untersucht. Dabei gingen wir von folgenden Fragestellungen aus: - Was unterstreichen Schülerinnen und Schüler, wenn sie aufgefordert werden, das für sie Wichtigste zu unterstreichen? - Welche Strategien der Auswahl lassen sich ablesen? - Ist die Arbeitsanweisung „ungefähr 10 Wörter zu unterstreichen“ eine Hilfe oder ein Hindernis beim Unterstreichen? - Wie sollen / können Fördermaßnahmen zum Erwerb der Texterschließungsstrategie „Unterstreichen“ beschaffen sein? - Wie sollten Sachtexte beschaffen sein, damit sie optimal verstanden werden?

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Der Text, aus dem Informationen Biologieschulbuch der 7. Klasse:

zu

ermitteln

waren,

stammte

aus

einem

“Das Herz – Arbeit ohne Pause“ Nach einem langen, anstrengenden Dauerlauf geht der Atem schneller, und man spürt ein regelmäßiges Klopfen im Körper. Es ist der Herzschlag, der bei körperlicher Betätigung immer besonders kräftig wird. Im Ruhezustand spüren wir ihn meist nicht, es sei denn, man legt den Zeigefinger der einen Hand auf die Unterseite des Handgelenks am anderen Arm. Der Herzschlag ist jetzt am fühlbaren Klopfen, dem Puls, zu bemerken. Ein Arzt kann den Herzschlag auch mit einem Hörapparat, dem Stethoskop, an der Brust des Patienten abhören. Das Herz ist etwa faustgroß und befindet sich in der linken Hälfte der Brust. Es ist ein Hohlmuskel, der sich regelmäßig zusammenzieht. Dabei wird Blut in den Körper und über besondere Blutgefäße in die Herzmuskulatur gepumpt. Ein Teil dieser Blutbahnen, die Herzkranzgefäße, verlaufen an der Herzoberfläche. Das Herz wird im Inneren durch die Herzscheidewand in zwei Hälften geteilt. Jede Hälfte besteht aus einem Vorhof und einer Herzkammer, die durch Herzklappen voneinander getrennt sind. Die Herzklappen wirken wie Ventile. Sie lassen Blut nur vom Vorhof zur Herzkammer fließen. Bei Umkehr der Strömungsrichtung werden sie aneinander gepresst und verschließen die Öffnung. Dort, wo das Blut aus den Herzkammern wieder austritt, befinden sich ebenfalls Klappen. Sie verhindern das Zurückfließen von Blut in das Herz. Ohne körperliche Anstrengung schlägt das Herz jede Minute etwa 70 Mal. Bei Kindern liegt dieser Wert höher, bei älteren Menschen niedriger. Dabei werden etwa sechs Liter Blut pro Minute in den Körper gepumpt. Das Herz arbeitet unaufhörlich während des gesamten Lebens. Bei Herzstillstand tritt nach wenigen Minuten der Tod ein. Das Blut kommt auf seinem Weg durch den Körper stets wieder ins Herz zurück. Es liegt ein geschlossener Blutkreislauf vor. Die Blutgefäße, die das Blut zu den Körperorganen führen, sind die Arterien. Als Venen bezeichnet man diejenigen Blutgefäße, in denen das Blut zum Herzen zurückfließt.

3.2.2 Ergebnisse: Muster von Unterstreichungen und die versteckten Strategien Es ließen sich sogenannte „Muster“ von Unterstreichungen finden. Hier einige Beispiele: 1) Schülerinnen und Schüler unterstreichen nur Komposita mit dem Stammmorphem Herz, wie Herzschlag, Herzkranzgefäße, Herzoberfläche, Herzscheidewand, Herzklappen. 2) Schülerinnen und Schüler unterstreichen nur Nomen. 3) Schülerinnen und Schüler unterstreichen Wörter aus dem Wortfeld Herz. Hierzu gehören auch Unterstreichungen wie faustgroß, Ventile. 4) Schülerinnen und Schüler unterstreichen einzelne Wörter oder Syntagmen, welche bei ihrer Zusammensetzung zu einer Kernaussage führen und den vorgegebenen Satz gezielt reduzieren. 5) Manche Unterstreichungen konzentrieren sich auf zentrale Aussagesätze, die konkrete Informationen enthalten, wie: Das Herz ist etwa faustgroß… Die Herzklappen wirken wie Ventile. … schlägt das Herz jede Minute etwa 70 Mal …etwa sechs Liter Blut pro Minute Es liegt ein geschlossener Blutkreislauf vor.

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6) Schülerinnen und Schüler vermeiden es, ganze Sätze zu unterstreichen und lassen (gezielt) ein oder zwei Wörter eines Satzes ununterstrichen. 7) Schülerinnen und Schüler unterstreichen alle Sätze. 8) Schülerinnen und Schüler unterstreichen nur jeweils den ersten Satz eines Abschnittes. 9) Manche Schülerinnen und Schüler unterstreichen nur Zahlen. 10) Viele Schülerinnen und Schüler, die meist einzelne Wörter im Bereich der Fachtermini unterstreichen, orientieren sich dabei sehr genau an der Anzahl der vorgegebenen Unterstreichungen, d.h. die meisten Schüler unterstreichen exakt zehn einzelne Wörter. 11) Es wird bereits Unterstrichenes radiert oder korrigiert. 12) Es werden Bemerkungen gemacht wie: „In dem Satz ist so Vieles wichtig, dass nicht alles mit zehn Unterstreichungen unterstrichen werden konnte.“ 13) Einige Schülerinnen und Schüler haben in manchen Abschnitten gar nichts mehr unterstrichen, vermutlich deshalb nicht, weil sie in den vorherigen schon auf die zehn Wörter gekommen sind. 14) Schülerinnen und Schüler verwenden unterschiedliche Farben. Diesen Unterstreichungsmustern liegen Entscheidungen zugrunde, was unterstrichen werden soll. Insofern sind bei diesen Mustern überwiegend Strategien ablesbar, die die Schülerinnen und Schüler bei der Aufgabe des Unterstreichens einsetzen. Fraglich ist nur, ob diese Strategien zielführend sind. In den Beispielen 1 bis 3 wird deutlich, dass Schülerinnen und Schülern die Bedeutung von Termini und von Nomen als Konzeptträgern bewusst ist. Insofern macht das Unterstreichen Sinn. Allerdings werden für den Laien mit dem bloßen Unterstreichen von Termini Zusammenhänge auf der Satz- oder der Textebene nicht ersichtlich. Dies geschieht vor allem dann nicht, wenn das Vorwissen fehlt, d. h. wenn die Konzepte und deren Verknüpfungen, die hinter den Termini stehen, nicht bekannt sind. Dennoch wird bei dieser Art zu unterstreichen ein Blick auf Fachtexttypisches gelenkt. Dies kann ein Lernen von Fachlexik bedeuten – ein unabdingbares Element im Fachunterricht. Und vielleicht ist es ja gerade das, was für diese Schülerinnen und Schüler wichtig und auffallend ist. Naheliegend ist aber auch, dass Schülerinnen und Schüler die Aufgabenstellung genau gelesen haben und dieser darin gefolgt sind, wirklich „Wörter“ und keine Textstellen zu unterstreichen. In den Beispielen 4 und 5 spiegelt sich vermutlich das wieder, was von Unterstreichungen seitens der Experten erwartet wird: das Aufzeigen von Zusammenhängen. Im Idealfall unterstreichen Schülerinnen und Schüler über Satzgrenzen hinweg Wörter und Sytagmen oder Teile davon, um zu einer kohärenten, übergeordneten Aussage, einer Art Makroproposition zu kommen. Wenn unterschiedliche Farben verwendet werden, wie in (14), so zeugt dies von dem Bewusstsein, dass Informationen hierarchisiert werden können. Bei manchen Unterstreichungen liegt die Vermutung nahe, dass die Schülerinnen und Schüler die Sätze für wichtig halten, welche in ihrer Struktur den Sätzen ähneln, die auch Merksätzen oder Definitionssätzen ähnlich sind, welche im Unterricht oft behandelt werden. Das sind knappe Hauptsätze mit prägnanter Aussage. Allein durch die formale

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Struktur kann einem Satz also Bedeutung zukommen, z. B. Es liegt ein geschlossener Blutkreislauf vor. Schülerinnen und Schüler, die systematisch alle Sätze oder alle ersten Sätze eines Abschnittes unterstrichen haben, wie in den Beispielen 6 bis 8, haben vermutlich Schwierigkeiten, Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden zu können. Immerhin könnte aber beim Unterstreichen des jeweils ersten Satzes eines Abschnittes ein Bewusstsein über den typischen Aufbau von Fachtextsorten vorliegen, in denen zu Beginn das Wichtigste formuliert wird, wie z. B. die Definition eines Begriffs. Interessant sind auch ausschließliche Unterstreichungen von Zahlen. Hier steckt womöglich eine Freude an Zahlen oder das Wissen um die Bedeutsamkeit von Zahlen, gar eine so genannte Zahlengläubigkeit, dahinter. Was wichtig ist, entscheidet die Schülerin/der Schüler. Auffallend ist die genaue Orientierung vieler Schülerinnen und Schüler an der Aufgabenstellung, und zwar an den zehn Wörtern, die zu unterstreichen waren (Beispiele 10 bis 13). Die exakte Einhaltung dieser Zahl der Unterstreichungen, die dazu führte, dass Radierungen von schon unterstrichenen Wörtern vorgenommen wurden oder dass angesichts des Erreichens der zehn Unterstreichungen in ganzen Abschnitten keine weiteren Unterstreichungen mehr vorgenommen wurden, zeigt, dass diese Arbeitsanweisung den Nutzen dieser Strategie erheblich einschränkt. Mit dieser Formulierung sollte den Schülerinnen und Schülern ein Anhaltspunkt gegeben werden. Dies aber widerspricht dem Anliegen, dass das für die Schülerinnen und Schüler Wichtigste zu unterstreichen sei. Allein aufgrund dieser Formulierung, die an das Vorwissen, an die Leserinteressen und an die Ziele appelliert, kann es keine festgelegte Zahl von Unterstreichungen und schon gar keine so genannte Musterunterstreichung geben. Durch die Formulierung dieser Aufgabe und durch das Ansinnen vieler Schülerinnen und Schüler, der Aufgabe gerecht zu werden, wurde das eigentliche Ziel, dem Text Informationen zu entnehmen, d. h. Informationen zu selektieren, untergraben. Ziel der Aufgabe, so die Vermutung, und Zweck der Aufgabenstellung erscheinen den Schülerinnen und Schülern undurchsichtig und nicht schlüssig, so dass sie bei ihrem Vorgehen nicht aufgrund der eigenen Interessen und Ziele unterstreichen. Wie es in der Schule oft passiert, ist es auch hier geschehen: Die Aufgabe wurde erfüllt – doch eher formal. Bevor nun didaktische Folgerungen aus diesen Ergebnissen gezogen werden, wird gezeigt, wie die Unterstreichungen der einzelnen Schülerinnen und Schüler im Klassenvergleich visualisiert werden können, um Muster von Unterstreichungen und die angewandten Strategien zu erkennen und daraus Schlüsse für eine gezielte Förderung zu ziehen.

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4 Eine Methode der Auswertung: Visualisierung von Mustern 4.1 Visualisierung der Unterstreichungen einer Klasse auf Satzebene Damit Lehrpersonen einen Überblick über die in der Klasse vorgenommenen Unterstreichungen bekommen, bietet sich die Möglichkeit der Darstellung in ExcelTabellen an (vgl. Abb. 3). Wie man dies möglichst effizient bewerkstelligen kann, soll hier in Grundzügen erläutert werden: Für jeden Satz des Textes wird ein Exceltabellenblatt angelegt. Der jeweilige Satz des Textes steht in der obersten Reihe (hier Satz 12). Er wird so oft in die Reihen der Exceltabelle hineinkopiert, wie es Schülerinnen und Schüler in der Klasse gibt (die Nummer einer Reihe entspricht einer bestimmten Schülerin/einem Schüler). Jede von einer Schülerin/einem Schüler vorgenommene Unterstreichung wird in der Satzreihe markiert. Durch die Markierung verblassen die nicht markierten Satzteile. Dieses Verfahren ist effizienter und weniger fehleranfällig, als wenn jede unterstrichene Textstelle extra eingetippt werden müsste. Durch eine solche Tabelle erhält die Lehrperson einen Überblick über den Umgang mit der Strategie des Unterstreichens in der Klasse. Dies den Schülerinnen und Schülern sichtbar zu machen, kann zu Aha-Erlebnissen und zu Lerneffekten führen. Unterrichtsziel ist dann, metakognitiv zu arbeiten, indem über diese Methode reflektiert wird. Diese Metakognition bringt die Schülerinnen und Schüler wieder ein Stück dem selbstwirksamen Lernen näher, das für den Schulerfolg wichtig ist. An dem Beispiel des Satzes 12 zeigen sich die unterschiedlichen Muster, denen Entscheidungen zugrunde liegen. Ein Diskutieren dieser Entscheidungen rückt den fachlichen Gegenstand ins Blickfeld, bindet ihn in die fachbezogenen Wissensstrukturen ein und hilft gleichzeitig, den Umgang mit Fachsprache (Fachlexik, Textstruktur, Textsorte) zu erproben sowie Texterschließungsstrategien zu reflektieren und einzuüben.

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Abbildung 3: Exceltabelle zur Darstellung der Unterstreichungen aller Schülerinnen und Schüler von einem Satz

Diese Darstellungsmethode braucht nur hin und wieder angewendet zu werden. Der Gewinn, den alle Beteiligten daraus ziehen, ist der Mühe wert. Es ist zudem durchaus vorstellbar, Schülerinnen und Schüler für die Eingabe der Daten zu gewinnen – eine spannende, lernwirksame Aufgabe.

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4.2 Visualisierung aller Unterstreichungsmuster im Text Einen Überblick über die Unterstreichungen einer ganzen Klasse gibt der folgende Diagrammtyp. Die beiden Diagramme zeigen, wie in einzelnen Klassen (hier mit 25 bzw. 21 Schülerinnen und Schülern) verschiedene Muster existieren (Abb. 4). Am Grad der Homogenität der Farben wird erkennbar, ob in Klassen bestimmte Methoden eingeübt wurden. Hierzu zwei Beispiele: In der Klasse, die das obere Diagramm abbildet, ist das Reihe 1: Fachbegriffe/Schlüsselwörter Reihe 3: Syntagmen/Wortgruppen

Reihe 2: Strukturwörter Reihe 4: Ganze Sätze

100% 80% Reihe4

60%

Reihe3 Reihe2

40%

Reihe1 20% 0% 1

3

5

7

9

11 13 15 17 19 21 23 25

100% 80% Reihe4

60%

Reihe3 Reihe2

40%

Reihe1 20% 0% 1

3

5

7

9

11

13

15

17

19

21

Abbildung 4: Diagramme zur Veranschaulichung aller Unterstreichungsmuster auf Textebene von je einer Klasse

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Unterstreichen von Fachtermini bzw. Schlüsselbegriffen vorherrschend. In der Klasse, die das untere Diagramm abbildet, ist das Unterstreichen von Syntagmen oder Wortgruppen ausgeprägt. Solche Übersichten über ganze Klassen bieten der Lehrperson Vergleichsmöglichkeiten mit verschiedenen Klassen. Diese können auch ein Ansatzpunkt für Deutschlehrpersonen sein, sich mit den Lehrpersonen anderer Fächer ins Benehmen zu setzen: über Methodentraining an sich und über die den jeweiligen Fachtexten angepassten Texterschließungsstrategien, zu denen das Unterstreichen gehört.

5 Didaktische Folgerungen Aus den verschiedenen Mustern von Unterstreichungen lassen sich folgende didaktische Überlegungen ableiten. Erstens. Es hat sich gezeigt, dass die Unterstreichungen in sehr vielen Fällen von der Aufgabenstellung geleitet waren. So hat sich die Vorgabe einer genauen Anzahl von Unterstreichungen als zu einengend erwiesen. Sehr viele Schülerinnen und Schüler haben sich an diese Vorgabe gehalten, auch wenn es ihrer Meinung nach noch weitere wichtige Wörter gegeben hätte. Die Aufgabenbewältigung verkam z. T. zur Erfüllung einer rein formalen Norm, anstatt inhaltlich orientiert Informationen hervorzuheben. Wenn man also aufträgt, das persönlich Wichtige zu unterstreichen, sollte man diesen Spielraum nicht einengen. Zweitens. Eine weitere Begrenzung war die Angabe, „Wörter“ zu unterstreichen. Der Text hat es durchaus erfordert, auch Wortgruppen zu unterstreichen. Eine Lösung für die Aufgabenformulierung ist es, von „Textstellen“ zu sprechen, die zu unterstreichen sind. Damit sind einzelne Wörter, aber auch Wortgruppen gemeint. Drittens. Auch kann die Formulierung, zu unterstreichen, was „am wichtigsten“ ist, zu Unsicherheiten und zu sinnlosen Unterstreichungen führen. Wenn ein Thema unbekannt ist, ist vielleicht alles wichtig. Dies zeigt sich daran, dass manche Schülerinnen und Schüler nur Zahlen oder immer nur den ersten Satz eines Abschnittes unterstrichen haben. Nach Friedrich (1995) sind die reduktiv-organisierenden Strategien wirksam bei fachfremden Texten. Dies aber sicher nur, wenn die Unterstreichungen zielführend sind. Dazu müssen auch die Aufgabenformulierungen zielführend, d.h. konkret sein. So könnte es z. B. heißen: „Unterstreiche, was neu für dich ist!“ oder „Unterstreiche, was du schon weißt!“ Diese Formulierungen mögen auf den ersten Blick lapidar klingen. Doch wird mit dieser Art von Formulierung an das Vorwissen angeknüpft: Schülerinnen und Schüler müssen reflektieren, was sie schon an Informationen oder Wissensbeständen zu einem bestimmten Thema haben. Auf diese Weise werden sie metakognitiv tätig, indem sie über ihren eigenen Zugang zu einem Sachtext reflektieren. Viertens. Gute Leserinnen und Leser sind sich ihrer Fähigkeit zu strategischem, aufgaben- und zielbezogenem Lesen bewusst (vgl. Christmann & Groeben 1999: 199ff). Ein wichtiges metakognitives Verfahren ist es, über die eigenen Unterstreichungen im Vergleich mit denen anderer Schülerinnen und Schüler zu reflektieren, indem die verschiedenen Lösungen verglichen und vor allem begründet werden. Dies hilft, sich des

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eigenen Lesens und Lernens bewusst zu werden und den Lernprozess besser zu steuern. Die oben gezeigten Darstellungen in der Exceltabelle (Abbildung 3, Abschnitt 4.1) mögen dazu eine gute Grundlage sein. Fünftens. Aus den obigen Ausführungen wurde immer wieder deutlich, wie wichtig das Vorwissen und das Interesse für Unterstreichungen sind. Damit versteht es sich von selbst, dass die Strategie des Unterstreichens nie allein für sich, sondern immer in Kombination mit anderen Strategien angewandt werden soll, vornehmlich mit der, das Vorwissen zu aktivieren und persönliche Akzente bei der Texterschließung zu setzen. Sechstens. Abschließend noch ein Wort zu der Beschaffenheit von Schulbuchtexten. Geht man davon aus, dass Lehrtexte einer gewissen Redundanz bedürfen, so ist der vorliegende Untersuchungstext ein eher schlechtes, wenn auch für Schulbücher allzu typisches Beispiel: Der Text ist inhaltlich sehr stark komprimiert, d.h. er enthält sehr viele Informationen in jedem Absatz. Daher auch die verzweifelte Äußerung von Schülerinnen und Schülern, man müsse ja alles unterstreichen. Um Unterstreichungen sinnvoll zu ermöglichen, braucht es passende Sachtexte. Die Sachtexte aus den PISA-Studien geben ein gutes Beispiel: Die Informationen zu deklarativem Wissen sind in narrative Strukturen eingebettet. So erscheint der Sachtext weniger komprimiert und lässt sich reduktivorganisierend besser bearbeiten.

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