Traditionelle Sozialstruktur

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Author: Hede Winter
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Traditionelle Sozialstruktur

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Michael Teichmann

Traditionelle Soziostrukturen, wie sie im Folgenden beschrieben werden, sind in dieser Form nur mehr bei wenigen Gruppen intakt. Der Holocaust zerstörte die ursprüngliche Soziostruktur vieler – vor allem mitteleuropäischer – Roma- und Sinti-Gruppen nachhaltig und ließ aufgrund der Traumatisierung der Überlebenden die Bildung neuer, an die traditionelle Soziostruktur angelehnter Identitäten kaum zu. In den ehemaligen Ostblockstaaten hatte die Zwangsassimilierung und die Eingliederung in die Kolchose-Arbeit erhebliche Folgewirkungen vor allem für jene Gruppen, deren Sozialorganisation eng mit ihrer nomadischen Lebensform verknüpft war. Unterschiedliche historische und soziokulturelle Entwicklungen schufen jedoch bereits in früheren Jahrhunderten ein breites Spektrum an Sozialorganisationen innerhalb der Roma-Sozietät. Roma und Sinti sind keine homogene Gemeinschaft. Es gibt eine Vielzahl verschiedener Gruppen, die sich wiederum in Sub-Gruppen unterteilen lassen. Ein gruppenübergreifendes kollektives Bewusstsein, das vergleichbare Ethnien kennzeichnet, existiert nur in sehr abgeschwächter Form. In erster Linie fühlen sich Roma und Sinti ihrer erweiterten Familie und Gruppe zugehörig. Aufgrund dieser Heterogenität ist es lediglich möglich, auf gruppenübergreifende Gemeinsamkeiten hinzuweisen, sowie gruppenspezifische Sozialorganisationen im Detail zu beschreiben. [Untergruppen der Roma] Das Bewusstsein, Rom zu sein, das Bedürfnis, unabhängig zu sein und sich von den Gadže abzugrenzen, sowie die Fähigkeit, sich den jeweiligen Bedingungen in dem Maß anzupassen, dass ein Überleben gewährleistet, die ethnische Identität jedoch nicht gefährdet ist, sind Charakteristika aller Roma- und Sinti-Gruppen. Die Soziostruktur bestimmt das Wir-Gefühl (kollektives Bewusstsein), indem sie die Grenzen zu den Gadže, aber auch zu anderen Roma- und Sinti-Gruppen definiert. Ich möchte im Folgenden auf die Sozialorganisationen zweier Vlach-Gruppen und einer Balkan-Roma-Gruppe eingehen. [Klassifikation] Die traditionelle Sozial- und Familienstruktur der Servika-Roma – einer zentralen Gruppe – wird von Milena Hübschmannová ausführlich beschrieben.

Die traditionelle Sozialorganisation der Vlach-Roma am Beispiel der Kalderaš und Lovara Die größte soziale Einheit innerhalb der traditionellen Sozialorganisation der Kalderaš ist die natia oder řasa ("Stamm"). Die natia oder řasa besitzt keine fixierte Ordnung, der sich alle Mitglieder anpassen müssen. Sie ist ein variables Modell, das nach den ständig wechselnden Bedürfnissen der Menschen geformt ist. Die natia / řasa setzt sich aus den vici (sg. vica / pl. vici) ("Sippen") zusammen. Die vica bezeichnet eine Gemeinschaft verschiedener erweiterter Familien, die sich von einem gemeinsamen Vorfahren ableiten. Eine vica kann aus ein paar Dutzend, aber auch aus einigen Hundert Mitgliedern bestehen, die in verschiedenen Ländern leben. Dennoch bietet die vica aufgrund ihrer überschaubareren Größe und Struktur ein größeres Identifikationspotential als die natia. Vici haben zumeist ihren eigenen Romani-Namen, häufig abgeleitet von ihrem Gründer oder Stammvater (z.B. Frinkuleshti – benannt nach Frinkulo Michailovitch).

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Bevorzugt wird innerhalb einer vica geheiratet, wenngleich Heiraten unter befreundeten vici möglich sind. Die Heirat kann sowohl patrilinear1 als auch matrilinear2 erfolgen, je nachdem, ob sich der Rom stärker der Sippe seines Vaters oder seiner Mutter verbunden fühlt. [ Fajta ] Zu den Pflichten eines vica-Mitgliedes gehört es unter anderem, in Notlagen befindlichen Sippenmitgliedern zu helfen, an der pomana (Totenmahl) für wichtige Sippenangehörige teilzunehmen und die Beschlüsse der traditionellen Gerichtsbarkeit – kris – zu akzeptieren. Die nächste Einheit innerhalb der Sozialorganisation der Kalderaš wurde früher cerha genannt und entspricht unserem Begriff der Großfamilie. Cerha bedeutet "Zelt" und verweist auf die traditionell nomadische Lebensform der Kalderaš und auf die damit verbundene Wohngemeinschaft in riesigen Zelten. Ein Drei-Generationen-Haushalt wird von den heute sesshaften Kalderaš als familija bezeichnet. Wenn nur zwei Generationen in einem Haushalt leben, ist čeledo gebräuchlich. Die traditionelle Sozialorganisation der Lovara unterscheidet sich nur insofern von jener der Kalderaš, als nipo dem Kalderaš-Begriff vica entspricht. Eine Gemeinschaft mehrerer Großfamilien, die sich von einem gemeinsamen Vorfahren ableitet, wurde von den Lovara früher als cerha (Zelt) bezeichnet. Die kleinste Einheit wird bei den Lovara als familija bezeichnet und hat dieselbe Bedeutung wie nipo bzw. familija bei den Kalderaš. Ein Zwei-Generationen-Haushalt wird als čaládo bezeichnet.

Die traditionelle Sozialorganisation der Prileper Arlije In ihrer Grundstruktur deckt sich die traditionelle Sozialorganisation der Arlije mit jener der Kalderaš oder Lovara. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass die Arlije ihre Sozialorganisation auf die Bedürfnisse einer seit Jahrhunderten sesshaften Gruppe abgestimmt haben. Eine erweiterte Familie, die sich von einem gemeinsamen Vorfahren ableitet, bezeichnen die Arlije als prekari (Mazedonisch "prekar": Spitzname, Familien-Vorname). Prekari entspricht der Kalderaš-Bezeichnung vica. Amen sinam sare Roma vo Prilep, sare sinam jek anav jek nacija, jek običaj kharas. Živoinasas amen pojčke pala ko gava. I amen sare o Roma maškar amende na pindžarasas amen. Oti o phure, so vakerena o phure lengere dadengere dada, živoinasas pala ko gava. Katar o gava iznašle, ale peske ki dis. Amende si, te phenas, deš anava čhingarol pe Kadri. I tu, ako man rodes ma vo Prilep. Kaj bešel o Kadrija? Koga Kadrija? Zato treba te džanes mo prekari, o Kadrija katar o Kiramovci. Togas celo Prilep man džanol ma. "Wir sind alle Roma in Prilep. Wir haben alle einen Namen, wir sind eine Nation, wir haben ein Brauchtum. Wir lebten (früher) mehr in den Dörfern. Wir, alle Roma, kannten uns nicht untereinander. Denn, wie die Alten erzählen, unsere Urgroßväter lebten in Dörfern. Von den Dörfern flüchteten sie alle in die Stadt. Wir haben z.B. zwölf Namen Kadri. Wenn du mich nun in Prilep suchst: "Wo wohnt Kadrija? – Welcher Kadrija?" Daher ist es notwendig, daß du meinen Prekari, Kadrija von den Kiramovi's, kennst. Dann kennt mich ganz Prilep." Die verschiedenen prekari-Bezeichnungen leiten sich wie bei den Kalderaš vom Gründer oder Stammvater ab. 1 Erfolgt die Heirat patrilinear tragen die Kinder den Familiennamen des Vaters, der Wohnsitz der Familie ist beim Vater oder der väterlichen Familie, und die Erbfolge läuft über die väterliche Linie. 2 Die mütterliche Linie bestimmt den Namen der Kinder, den Wohnsitz sowie die Erbfolge. -2-

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Die traditionelle Sozialorganisation der Sinti und Manouche Die traditionelle Soziostruktur der Sinti und Manouche lässt sich ebenfalls in drei zentrale Einheiten gliedern. Als kleinste Einheit fungiert die familija, die patrilinear zu einer Großfamilie erweitert wird. Zwei bis drei befreundete familii bilden die nächstgrößere Ebene, den weitgehend endogamen3 Klan – bei den Manouche im Elsass i mensché genannt. Die Familienoberhäupter (sg. phuro / pl. phure), die im Idealfall als wechselseitige Schwiegerväter verwandtschaftlich miteinander verbunden sind, übernehmen zusammen die Leitung des Klans. Ähnlich der natia oder rasa bei den Vlach-Roma setzt sich die größte soziale Einheit der Sinti – unsre Leute (der Stamm) – aus allen Klans zusammen. Die französischen Manouches und alle weiteren Stämme (z.B. Sinti piémontais) bilden zusammen die Gruppe der Sinti und Manouches.

Familienstruktur Im Zentrum jeder traditionell lebenden Roma- und Sinti-Gruppe steht die Familie, die streng patriarchal organisiert ist. Der Mann ist das Oberhaupt der Familie und hauptverantwortlich für ihr materielles Überleben, die Frau hat sich ihm unterzuordnen. Ihr obliegt die alleinige Verantwortung für die Erziehung der Kinder und die Pflege älterer oder kranker Familienmitglieder, und sie ist für den Haushalt und das Kochen zuständig. Sie muss zudem in der Lage sein, zum Familieneinkommen beizutragen (z.B. als Verkäuferin der vom Mann hergestellten Produkte). Durch diese Tätigkeiten sind Frauen auch das entscheidende Bindeglied zwischen den Gesellschaften der Roma und der Gadže. Sie haben ständig Kontakt zu den Nicht-Roma und sind der eigentliche Repräsentant ihrer Kultur in den Augen der Nicht-Roma. Zentrale Anforderungen an eine zukünftige Braut oder Schwiegertochter ( bori ) sind Jungfräulichkeit, Tüchtigkeit (harniko) und die Einhaltung der rituellen Reinheitsvorschriften. [ Mahrime ] Als Kontrollorgan fungiert die ausschließlich von Männern gebildete kris. Die Reinheitsvorschriften verleihen der Frau zwar eine gewisse Macht und schützen ihre Intimsphäre; verstößt eine Romni allerdings gegen diese Gebote, kann dies im schlimmsten Fall den Ausschluss aus der Gruppe zur Folge haben.

Wirtschaftliche Ebene Die zentrale ökonomische Einheit innerhalb der Sozialorganisation der Kalderaš ist die kumpania, die sich als Zusammenschluss mehrerer cerha / vici bzw. Mitglieder verschiedener cerha / vici zu einer Wirtschaftsgemeinschaft versteht. Eine kumpania ist keiner strikten Ordnung unterworfen, sondern bildet einen losen Verband, der permanent erweitert oder verkleinert werden kann, je nachdem, wie es die vorgegebenen Verbindungen erfordern. Kumpania-ähnliche Vereinigungen gibt es auch bei den Sinti. Eine andere Form der Wirtschaftsgemeinschaft konnte sich aufgrund einer vergleichsweise Roma-freundlichen Politik und Gesellschaft im südbalkanischen Raum und vor allem im Kosovo entwickeln. Die bereits seit dem 12. Jahrhundert sesshaften Roma in Prizren (z.B. Arlije 4) gründeten 3 Endogam bedeutet, dass eine Heirat innerhalb der gegebenen Gruppe erfolgt. Im Gegensatz dazu ist die familii eine exogame Gemeinschaft, da die Ehepartner außerhalb der Gruppe gesucht werden. 4 Der Name Arlije verweist auf die frühe Sesshaftigkeit dieser Gruppe. Er lässt sich auf das türkische yer (Platz) zurückführen. Yerli bedeutet im Türkischen "Eingeborener". -3-

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bereits zur damaligen Zeit Gewerbevereinigungen, vergleichbar mit den mittel- und westeuropäischen Handwerkszünften. Neben ihrer ökonomischen Bedeutung erfüllten sie auch eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Sie trugen maßgeblich zum Ansehen der Gruppe bei den Nicht-Roma bei. Die jährlich stattfindenden Zunftfeste waren Teil der Festtradition und beeinflussten die ethnische Identität der Gruppe. Jede Zunft hatte ihre eigene Fahne und einen Patron (o biri – Patron der Schmiedezunft). Diese jahrhundertlange Tradition blieb bis zum Kosovo-Krieg (1999) bestehen. Heute ist sie nur mehr bruchstückhaft vorhanden.

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Quellen Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ed.) Sammlung Heinschink: Nr. 2293 (Arlije / Prilep). Literatur Cech, Petra / Fennesz-Juhasz, Christiane / Halwachs, Dieter W. / Heinschink, Mozes F. (eds.) (2001) Fern von uns im Traum... / Te na dikhas sunende.... Märchen, Erzählungen und Lieder der Lovara, Klagenfurt. Eder-Jordan, Beate (1993) Geboren bin ich vor Jahrtausenden. Klagenfurt. Eder-Jordan, Beate (1998) "Die Frau war Mann und Frau". Zur Stellung der Frau bei Sinti und Roma. Gespräch über ein tabuisiertes Thema Stimme. Zeitschrift von und für Minderheiten 28/3, pp. 12-15. Fennesz-Juhasz, Christiane / Halwachs, Dieter W. / Heinschink, Mozes F. (1996) Sprache und Musik der österreichischen Roma. GLS 46, pp. 61-110. Fonseca, Isabell (1996) Begrabt mich aufrecht. Auf den Spuren der Zigeuner, München. Fraser, Angus (1992) The Gypsies. Oxford. Greverus, Ina-Maria / Schilling, Heinz (eds.) (1979) Zigeuner und wir. Frankfurt. Heinschink, Mozes F. (2002) Zum Verhältnis zwischen Roma und Landlern. Eine Spurensicherung, in: Bottesch, Martin / Grieshofer, Franz / Schabus, Wilfried (eds.) Die siebenbürgischen Landler. Eine Spurensicherung, Wien, pp. 381-408. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (ed.) (1998) Bausteine. Zwischen Romantisierung und Rassismus. Sinti und Roma - 600 Jahre in Deutschland. Handreichung zur Geschichte, Kultur und Gegenwart der deutschen Sinti und Roma, Stuttgart. Mayerhofer, Claudia (1999) Dorfzigeuner. Kultur und Geschichte der Burgenland-Roma von der Ersten Republik bis zur Gegenwart, Wien. Nikolič, Miso (1997) "...und dann zogen wir weiter". Lebenslinien einer Romafamilie, Klagenfurt. Nikolič, Miso (2000) "Landfahrer". Auf den Wegen eines Rom, Klagenfurt. Remmel, Franz (1993) Die Roma Rumäniens. Wien. Schindegger, Florian (1997) Lebensweise von Zigeunern in Wien am Beispiel der Festtradition der Kalderaš. Wien. Stojka, Ceija (1988) Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin, Wien. Stojka, Ceija (1992) Reisende auf dieser Welt. Aus dem Leben einer Rom-Zigeunerin, Wien. Stojka, Karl (1994) Auf der ganzen Welt zuhause. Das Leben und Wandern des Zigeuners Karl Stojka, Wien. Stojka, Mongo (2000) Papierene Kinder. Glück, Zerstörung und Neubeginn einer Roma-Familie in Österreich, Wien. Vossen, Rüdiger (1983) Zigeuner. Roma, Sinti, Gitanos, Gypsies zwischen Verfolgung und Romantisierung, Hamburg. Yoors, Jan (1982) Die Zigeuner. Frankfurt.

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