Thomas Heimgartner Im Griff Als er mitten in der Nacht erwachte, hielt er in der rechten Hand die Hand seiner Frau (was ihn nicht überraschte) und wurde am linken Handgelenk von eisigen Fingern umfasst (was ihn hätte überraschen können). Schließlich war er in einer schwülen Sommernacht eingeschlafen, ohne dass am linken Rand des Bettes Platz für Gesellschaft gewesen wäre. Dass er nicht den Anschein eines überraschten Mannes machte, führen wir auf seine lebensprinzipielle Unaufgeregtheit zurück, die zu wahren ihn manchmal viel Mühe kostete. Bekannte von ihm hätten vielleicht gespöttelt, er sei in diesem Moment deshalb so ruhig gewesen, weil ihn das mögliche Vorhandensein einer fremden Hand im Bett als Abwechslung oder Ergänzung zu der seiner Gattin nicht sonderlich erschreckte. In der Tat ging er intuitiv davon aus, dass die Finger, die er spürte, zu einer Frau gehörten. Wir halten gleichwohl an der Vorstellung fest, dass er die Augen nach dem Moment des Aufwachens und Gewahrwerdens des ungewohnten Griffs aus Prinzip nicht aufriss und sich nicht nach links drehte. Dass er ebenso aus Prinzip sogleich begann, nüchtern und reglos Gedanken zu

entwickeln, wie sein Gefühl der linksseitigen Handgelenksumklammerung zu erklären war. In Betracht kamen naheliegende Dinge. Beispielsweise Insektenstiche. Es war durchaus denkbar, dass er in der Nacht von Mücken gestochen worden war, dass seine mitfühlende Frau dies gespürt hatte und deshalb auf sein Handgelenk, von ihm unbemerkt, eine kühlende Tinktur aufgetragen hatte. Jetzt verdunstete der Alkohol der Arznei, was, in Wechselwirkung mit dem Juckreiz, diese täuschende Empfindung hervorrief. Sein zweiter Gedanke war, dass sich seine Frau die eine Hand abgehackt und sie ihm ums linke Handgelenk gelegt hatte, um ihm während der Nacht beide Hände halten zu können, ohne sich auf oder unter ihn legen zu müssen. Sie wusste: Zu viel Nähe mochte er nicht, auch nicht im Urlaub.

Ein beträchtliches Maß an geistiger Energie investierte er in seine Theorie des postträumerischen Phantomgefühls. Diese sah in groben Zügen so aus: Ähnlich wie bei Phantomschmerzen nach der Amputation von Gliedmaßen konnte, so stellte er sich vor, ein im Traum erlebtes Gefühl im Wachzustand fortbestehen. Die Traumsehnen und -ner-

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ven mochten durchtrennt sein, das Traumgefühl lebte weiter. Es war also nicht von Belang, dass er sich in diesem Moment an keinen Traum erinnerte, in dem ihn das Lieblingsmeerschweinchen aus seiner Kindheit in panischer Angst vor dem Schlachten umklammert hielt. Oder einen Traum, in dem er von seinem Vater in Handschellen abgeführt wurde, die dieser seit seiner Geburt im Gefrierschrank aufbewahrt hatte (aus welchen Gründen auch immer). Oder einen Traum, in dem er einen an Fettleibigkeit leidenden Uhrmacher spielte, dessen Handgelenk zu dick für seine eigenen Uhren geworden war. Was auch immer er geträumt hatte, war vergessen, der Griff nicht. In seinem soeben entworfenen Theoriegebilde unterschied er drei Ebenen: Traumebene, Transformationsebene und Wachebene. Er überlegte sich, ob er für seinen momentanen Zustand eine Art Zwischenebene definieren müsste, zumal sein jetziges Wachsein nicht mit der Wachebene in ausgeschlafenem Zustand zu vergleichen war. Und wie passte die Tatsache, dass er gerade auf einer Metaebene über sein Erleben nachdachte, in sein Modell? Er stellte sich noch einige solche Fragen, bis er ein Durcheinander mit den Ebenen bekam.

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Eine weitere mögliche Erklärung für den noch immer deutlich zu spürenden, allmählich schmerzenden und unverändert kalten Griff um sein linkes Handgelenk sah er in seiner verschwundenen Schwester. War sie nach all den Jahren an sein Bett getreten, um ihm Gewissheit über ihr Leben oder ihren Tod zu geben? Wir müssen etwas ausholen und dabei unsererseits aufpassen, dass wir die Ebenen nicht durcheinanderbringen. Er hatte nie eine Schwester gehabt. Wissentlich. Das Einzige, was er hatte, war eine gefaltete Fotografie, die seine Mutter, ein Baby und ihn als gut zweijährigen Jungen in Großaufnahme zeigte. Als er das Bild im Sekretär seiner Mutter fand, muss er ungefähr zwölf gewesen sein. Er wunderte sich nicht über die Abwesenheit seines Vaters auf dem Foto. Der hatte entweder die Aufnahme gemacht oder sich bereits aus der Familie verabschiedet. Er wunderte sich über das Baby. Wer war das? Natürlich konnte es eine Cousine oder ein Nachbarskind sein. Doch je länger er die Fotografie, diese sorgfältig inszenierte Familienpose betrachtete, umso überzeugter war er, dass das lächelnde Baby seine Schwester war, deren Existenz ihm verheimlicht wurde. Er tat später wenig, um diese fixe Idee loszuwerden oder sie zu bestätigen. Weder suchte er nach weiteren Indizien, noch sprach er

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seine Mutter je auf die Sache an. Es reichte ihm für sein weiteres Leben, diese eine Fotografie zu haben. Als Kind nahm er die Aufnahme dann und wann hervor und überlegte sich, was seiner möglichen Schwester zugestoßen war. Jetzt, im Bett liegend, benötigte er das Bild nicht, um auf Ideen zu kommen. Er stellte sich vor: Seine Schwester verschwand in einem unglücklichen Moment der Unaufmerksamkeit. Volksfest. Die Mutter hatte sich in die Menschentraube gequetscht, um den Kindern ein Eis zu kaufen. Er sollte auf seine Schwester aufpassen. Wie gebannt von dem Geschick der Feuerkünstler bemerkte er nicht, dass die Hand der kleinen Schwester irgendwann der seinen entglitt. Erst als die Mutter mit zwei Eiswaffeln und einem Blick des Entsetzens zurückkehrte, realisierte er, dass seine Hand leer war. Unwillkürlich griff er mit beiden Händen nach den Eiswaffeln und schämte sich gleich dafür. Die Polizei begann im Volksfesttrubel spät mit der systematischen Suche nach dem Kind, zu spät, wie in den Zeitungen nachher zu lesen war. Die Anteilnahme der Öffentlichkeit am Schicksal des Mädchens musste, so stellte er sich vor, groß gewesen sein. Irgendwann hätte es geheißen, man müsste mit dem Schlimmsten rechnen. Er hätte sich als kleiner Junge nichts unter »dem Schlimmsten«

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vorstellen können, nur begriffen, dass er schuld am Verschwinden seiner Schwester war. Bis zu seinem zwölften Geburtstag hätte er sowohl seine Schuldgefühle als auch seine Erinnerungen an die Schwester vollkommen verdrängt. Wäre das Foto nicht gewesen, hätte er nie an seinem Einzelkinddasein gezweifelt. Und die Schwester wäre auch jetzt, mitten im Urlaub, mitten in der Nacht – nicht aufgetaucht. So aber fragte er sich: War es seine Schwester, die ihn jetzt festhielt, weil er sie als Kind losgelassen hatte?

Nach der melodramatischen Schwesterngeschichte spielte er schließlich mit dem Gedanken, dass es der Tod war, der ihn umklammerte. Es scheint uns nicht unvereinbar mit seinem Frauenbild zu sein, dass er sich den Tod seit seiner frühen Jugend als weibliches Wesen vorstellte. Begünstigend wirkte dabei die Tatsache, dass der Tod in der Sprache seiner aus Spanien stammenden Mutter ein Femininum war. Prägend war außerdem sein Medienkonsum. Wir müssen uns sein infantiles Bild des Todes vorstellen als eine Kreuzung der Kleinen Hexe aus dem Kinderbuch und der Schauspielerin, die er in einer Soap einmal als weiß

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gekleideten, vor dem Autotunnel wartenden Todesengel gesehen hatte. Fühlte sich so die Gegenwart des Todes an? Waren dies die letzten Sekunden, bevor der kalte Griff vom Handgelenk zum Herz wanderte? Vielleicht war er nur aufgeweckt worden, um die Gelegenheit zu haben, sein Leben noch einmal in dem berühmten Film ablaufen zu sehen, bevor er den Tunnel betrat, nicht den Tunnel aus der Soap, sondern den lichtdurchfluteten zur Ewigkeit. Bestenfalls ergänzt mit einem Blick von oben auf sich selbst, wie er dalag und sich nicht mehr fragen musste, was der Grund für sein Erwachen gewesen war. Er wartete. Nichts geschah. Ihm blieb Zeit. Zeit, sich Frau Tod zu vergegenwärtigen. Es belustigte ihn etwas, wie schwer es ihm fiel, sich von seinen kindlichen Vorstellungen des Todes zu lösen. Erst als er an flüchtige voreheliche Begegnungen dachte, erzeugte seine Phantasie die ihm passend scheinenden Bilder. Jetzt malte er sich den Todeskörper im Detail aus. Zuerst die Hände, dann das Gesicht, die Schultern, die Brüste. Hier übertrieb er es ein wenig, wie er selber zugeben müsste. Er glaubte zu spüren, wie sein Glied beim Gedanken an den Tod langsam steif wurde. Gewiss ist uns bekannt, dass viele Todgeweihte

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davon berichten, wie sie das Leben im Wissen, bald sterben zu müssen, viel intensiver genießen als zuvor. Trotzdem: Wir können nicht bestätigen, dass sich sein Bettlaken tatsächlich gehoben hätte; es ist durchaus möglich, dass seine Erektion im Angesicht des Todes ein Traumphantom war. Bestätigen können wir, dass er um 3.27 Uhr nicht starb, sondern einschlief. Er nahm nicht für sich in Anspruch, alle möglichen Erklärungen für den verspürten Griff um sein linkes Handgelenk in Betracht gezogen zu haben. Aber er hatte alles in allem unaufgeregt und gründlich überlegt, was ihm reichte. Wir könnten ihn jetzt am nächsten Morgen mit gebrochenem Handgelenk oder abgetrenntem Glied aufwachen lassen. Oder uns vorstellen, dass er den Rest seines Urlaubs genießen konnte, ohne in der Nacht aufgeweckt zu werden.

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