Im Griff der Religion

Vom Jesusglauben zur Christlichen Religion Wie ich Religion und Religiosität erlebt habe

Peter A. Krüsi

Am besten liest man meine Aufzeichnungen online am Computer oder auf dem Tablett. So hat man immer die neuste Version und kann im Inhaltsverzeichnis frei navigieren.

Copyright 2015, Peter Krüsi www.kruesi-web.com / [email protected] 1

Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten Jesus Christus

Wenn ihr vom Geist geleitet werdet, so steht ihr nicht unter dem Gesetz.

Wandelt im Geist, so werdet ihr die Lust des Fleisches nicht vollbringen Paulus

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Inhaltsverzeichnis Vorwort

Seite 4

Der Anti-Sex-Apostel

Seite 6

Von der Religion eingeholt

Seite 9

Im Weinberg des Herrn

Seite 13

Der Bruch

Seite 16

Fundamentalismus

Seite 18

Der Wendepunkt

Seite 21

Backslash

Seite 23

Fügungen

Seite 27

Lankaviri

Seite 30

Durchkreuzte Pläne

Seite 33

Ghana

Seite 36

Gottes Timing

Seite 38

Zurück zum Ursprung

Seite 42

Geistesmächte

Seite 45

Der Horizont weitet sich

Seite 48

Trevor

Seite 51

Neue Dimensionen

Seite 54

Im Dienst der Kirche

Seite 58

Die Herausforderung

Seite 60

Bombolulu

Seite 62

Positiv denken

Seite 65

Quantenphysik

Seite 67

Der einsame Jesus

Seite 70

Religion

Seite 72

Die grösste Sünde

Seite 75

Das Experiment

Seite 79

Nachwort

Seite 81

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Vorwort Ferienstimmung! Gutgelaunt und entspannt sitze ich mit meiner Familie und einigen Nachbarskindern in Fauteuils um den Clubtisch und spiele mit ihnen das Kartenspiel "Tschau Sepp". Von Zeit zu Zeit schweift mein Blick aus dem Fenster über die phantastische Landschaft der Zentralschweiz. Wir befinden uns hoch über dem Vierwaldstättersee in einem christlichen Freizeitzentrum und geniessen die lockere Atmosphäre und das Nichtstun. Einige Nachbarskinder durften uns begleiten und verbringen mit unsern Kindern zusammen eine Woche unbeschwerter Tage. Plötzlich schiebt sich ein Schatten über die Tischfläche und eine kleine, rundliche Frau baut sich vor uns auf. "Gott hat mir gesagt, dass das, was ihr hier tut nicht gut ist. Es ist Sünde!", verkündet sie uns in strengem Ton. Noch bevor ich sie fragen konnte, wie denn Gott mit ihr gesprochen habe, stolzierte sie wieder davon. Natürlich folgten wir ihrer Aufforderung, mit dem Kartenspiel aufzuhören, nicht. Zu gross waren unsere Zweifel, ob tatsächlich Gott zu ihr gesprochen hatte. Das ist für mich ein typisches Beispiel irregeführten Glaubens. Bei meinen näheren Betrachtungen wurde mir plötzlich bewusst, wie durchdrungen, ja geradezu verseucht unsere christlichen und evangelikalen Kreise von diesem gesetzlichen Denken sind. Es ist erschreckend festzustellen, was so alles unter der Marke "Evangelium" gehandelt wird. Anstatt Freiheit werden Zwänge vermittelt, die alles verbieten, was Spass macht und die für Unehrlichkeit und Heuchelei verantwortlich sind. Der Katalog der "du sollst – du sollst nicht"–Gebote scheint unendlich zu sein. Wen wundert's, dass die Menschen wenig Lust verspüren an ein Evangelium zu glauben, das gar kein Evangelium ist? Der Brennpunkt vom einfachen und kraftvollen Glauben an Jesus Christus hat sich auf religiöse Nebensächlichkeiten verschoben. Was also hat Jesus wirklich gepredigt und was ist der Kern der Frohen Botschaft? Doch mit der Beantwortung dieser Frage sind die Probleme noch nicht gelöst. Das religiöse und gesetzliche Denken brennt sich wie Schwefel in unser Gehirn ein. Bei mir brauchte es Jahrzehnte, diesen scheinfrommen Schrott Stück für Stück aus meinem Leben zu verbannen und gleichzeitig eine tiefere persönliche Lebensbeziehung zu Jesus Christus zu finden. Er sagte: "Ich bin die Wahrheit und die Wahrheit wird euch frei machen". Frei! Das ist das Ziel, damit das Evangelium auch wirklich zu einer frohen, befreienden Botschaft wird. Das Für-wahr-halten der Bibel und das Einhalten von Regeln und frommen Verhaltensmustern führen nicht zum Ziel. Die Frage, worauf es ankommt und wie ein Leben ohne die Krücken der Gesetzlichkeit möglich ist, bewegte mich, als ich mich an den Computer setzte und anfing aufzuschreiben, wie mein eigenes Glaubensleben abgelaufen ist. Das Herzstück meiner Botschaft befindet sich im Kapitel "Trevor". Das habe ich zuerst geschrieben. Es zeigt einen Weg auf, wie man emotionalen Schrott los wird und wie man sich von der belastenden Vergangenheit befreien kann. Alle anderen Kapitel sind nach und nach dazu gekommen. Ebenfalls vor Augen hielt ich während des Schreibens Menschen, die im Glauben einen Anfang gemacht haben, dann aber nicht weiter gekommen sind oder ihn ganz verloren haben. Ich dachte an jene, die von Kind auf in eine religiöse Zwangsjacke gesteckt wurden und deswegen mit der Religion noch immer Probleme haben. 4

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir als Christenheit weltweit vom einfachen Glauben an Christus abgedriftet und in den Griff einer Religiosität geraten sind. Viele merken nicht, dass die Christliche Religion mit ihren Regeln, Geboten und Ritualen nicht dem Evangelium von Jesus entspricht. Religionen sind von Menschen gemacht und haben im Prinzip mit Gott nichts zu tun. Ein "religiöser Geist" hat sich der Christenheit bemächtigt. Ich habe meine Gedanken und Erlebnisse frei von der Leber weg geschrieben. Dabei habe ich mich bemüht, den chronologischen Ablauf so gut wie möglich beizubehalten. An gewissen Stellen habe ich mich nach dem Thema orientiert und habe einige Rückblenden oder Vorschauen eingefügt. Ich bin kein Schriftsteller, aber ich möchte, dass andere Menschen aus meinen Erfahrungen mit dem Glauben Mut fassen und selber wieder anfangen, nach "der Wahrheit" zu suchen. Es geht nicht darum, eine Religion zu praktizieren, sondern darum, seine eigenen, realen Erfahrungen mit Gott und Jesus Christus zu machen.

Rikon, im März 2015 Peter Krüsi

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Der Anti-Sex-Apostel. Er war von kleiner Statur, blondhaarig und sprach einen Berner Oberländer Dialekt. Wenn man sich mit ihm unterhielt, zeigte er sich von der äusserst freundlichen Seite und hatte immer ein herzliches Lachen auf seinem Gesicht. Er war Lehrer und betätigte sich in seiner Freizeit als Laienprediger. Kennengelernt habe ich ihn bei meinen Eltern, als ich als 17-jähriger einmal übers Wochenende nach Hause kam. Ich absolvierte eine Lehre als Maschinenzeichner bei der Firma Saurer in Arbon. Da die Zugsverbindungen von Trogen im Appenzellerland nach Arbon es nicht zuliessen, dass ich jeden Tag nach Hause ging, quartierte man mich bei meinem Onkel, meinen Tanten und meiner Grossmutter für ein Jahr in Amriswil ein. Von dort aus erreichte ich Arbon jeden Morgen bequem mit dem Postauto, das um 6 Uhr den Dorfplatz verliess. Am Abend ging es mit demselben Postauto wieder zurück. Meine Verwandten waren alles gläubige Leute und hatten mir schon viel über den Mann mit dem herzlichen Lachen erzählt, wie er jedes Wochenende in der Schweiz herum tourt und überall seine Predigten hält. Meine Tanten waren voll des Lobes und hatten nur Gutes über ihn zu berichten. Durch irgendwelche Umstände kam es dazu, dass er einmal pro Monat auch im Café meiner Eltern in Trogen seine Versammlungen abhielt. Es war Sonntagmorgen. Unser kleines Café war noch geschlossen. Doch unser Wohnzimmer neben der Gaststube füllte sich immer mehr mit Leuten, bis etwa 20 Personen beisammen waren. Sie nahmen auf Stühlen Platz, die in Reihen aufgestellt waren. Während ich mich hilflos in der Runde umsah, steuerte ein älterer Mann auf mich zu, den Kopf leicht geneigt mit einem herzlichen Lächeln auf dem Gesicht. Er streckte mir die Hand entgegen und begrüsste mich freundlich, auf Berndeutsch. Das ist er also, der von allen geachtete und beliebte Albert G. Er war etwa einen Kopf kleiner als ich. "Ich liebe junge Männer wie dich", sagte er und legte seine linke Hand auf meine Schulter. Dann stellte er sich vor seinem Publikum auf und hielt seine Predigt. Ich hörte zwar seinen Ausführungen geduldig zu, doch wollte ich ihm nicht zu nahe kommen, weil ich irgendwie ein ungutes Gefühl hatte, denn seine freundlichen Züge änderten sich schnell, als er zu predigen begann. Er predigte nicht nur über den gewählten Bibeltext, sondern äusserst scharf gegen das Onanieren, wie er es nannte. Zu jener Zeit ging ich einem faszinierenden Hobby nach, der Jazzmusik. Zu diesem Zweck hatte ich angefangen, Klarinette zu spielen. Und weil es nicht viel kosten durfte, liess ich mich in der Harmoniemusik Amriswil bei Kollege Pfranger ausbilden. Ich liebte alles, vom Country Blues über den Dixieland bis hin zum Swing und CoolJazz. Daneben bemühte ich mich fleissig darum, auch den wilden Be-Bop von Charlie Parker oder Dizzy Gillespie zu verstehen. Meine Verwandten empfanden den Jazz eher als irgendeinen organisierten Lärm. Meine Mutter war die einzige, die mich in dieser Hinsicht verstand und mir in meiner Begeisterung für diese Musik zuhörte, wenn ich darüber erzählte. Dann machte ich eine Entdeckung: Ich fand heraus, dass in den schwarzen Kirchen in den USA jazzähnliche Musik gemacht wurde. Gospel heisst diese Art, Gott zu loben. Da hört man Lieder über Jesus, den Himmel, über das diesseitige Leid und über die kommende Herrlichkeit. Die Gospelsängerin, die mir grossen Eindruck machte und von der ich völlig ergriffen war, hiess Mahalia Jackson. Sie hatte eine gewaltige Stimme und ihr mitreissender Rhythmus faszinierte mich. Doch auch von ihr wollten meine Verwandten nichts wissen. Ganz im 6

Gegenteil. Eines Abends sang Mahalia Jackson am Radio das Weihnachtlied "Stille Nacht, heilige Nacht" auf Englisch. Ich war begeistert, doch meine Tanten entsetzten sich über die Art und Weise, wie es gesungen wurde und eine meinte dazu: "Wenn das der Komponist hören könnte, er würde sich noch heute im Grab umdrehen!" Einen Monat später begegnete ich dem Prediger erneut, wiederum zuhause im Wohnzimmer meiner Eltern, das an das kleine Café angrenzte. Wieder hielt er den Anwesenden eine Predigt. Ganz egal, welches Thema der Bibeltext vorgab, den er gerade auslegte, er kam immer wieder auf sein Lieblingsthema "Onanie" zurück. Nach der Predigt erzählte ich ihm begeistert von Mahalia Jackson, die – trotz ihrer jazzigen Musik – einen tiefen christlichen Glauben besitze. Sein Lächeln verschwand schlagartig und machte einem besorgten Gesichtsausdruck Platz. "Ach ja, das ist sicher auch wieder so eine, die sich mit offenem Ausschnitt auf der Bühne präsentiert und die Männer irritiert." Ich war wie vor den Kopf gestossen, wie wenn ich eine Ohrfeige kassiert hätte. Von da an sah er mich nie wieder in einer seiner Versammlungen. Albert G. stammt aus einer Familie mit 12 Kindern. Als die nach Argentinien ausgewanderten Eltern in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, kamen sie in die Schweiz zurück und kauften einen eigenen Betrieb am Brienzersee. Albert besuchte das Seminar in Bern und wurde Lehrer auf dem Hasliberg. Dort kaufte er sich einen Teil eines grösseren Chalets. Später wirkte er als Lehrer in Meiringen, behielt aber das Chalet zu Ferienzwecken. Durch seine schweizweite Predigertätigkeit lernte er Leute kennen, die körperlich und seelisch angeschlagen waren. Was lag da näher, als diesen in den langen Schulferien Erholung im Chalet anzubieten? Dieses Angebot nutzten auch meine Tanten und der Onkel in Amriswil. Sie waren oft gesehene Gäste auf dem Hasliberg. Irgendwie gefiel meinen Verwandten mein Lebensstil nicht und sie fingen an, mich seelisch zu bearbeiten. Vor allem drängten sie mich, doch auch einmal auf den Hasliberg zu gehen. Dies zu tun fiel mir indessen aber nicht im Traum ein. Ich hatte meine Ziele und wollte ein guter Jazz-Musiker werden. Da hörte ich vom Amateur Jazz Festival in Zürich, das jedes Jahr im Kino Urban beim Bellevue stattfand. Also zog ich meine verbleibenden Ferien ein und verbrachte einige Tage in Zürich. Werner, mein jüngster Onkel, den ich sehr verehrte, hatte dort ein Zimmer und ich durfte bei ihm wohnen. Neben den tollen Konzertabenden lernte ich auch verstehen, was ein Varieté ist und wie ein Whisky schmeckt. Zurück im Alltag bearbeiteten mich meine Tanten weiter und wollten mich mit allen Mitteln für einige Tage zu Albert G. auf den Hasliberg schicken. Meine Ausrede, dass ich meine Ferien in Zürich schon verbraucht habe und darum nicht dorthin gehen könne, verfing nicht. In Wirklichkeit war es so, dass ich noch zwei Tage übrig hatte. Schliesslich gab ich nach und sagte mir: "Nützt es nichts, so schadet es auch nicht." Auf dem Hasliberg ist es wunderschön. Das ganze Panorama tut sich auf, von den Engelhörnern hinüber zum Wetterhorn und schliesslich zu Eiger, Mönch und Jungfrau, die allerdings nur von der Seite her zu sehen sind. Es war Oktober und das Militär flog Einsätze mit den Jets, was mich als junger Mann mächtig beeindruckte. Vom Hasliberg aus sieht man die ganze Ebene des Haslitals bis hinüber zum Brienzersee. Das Haus von Albert G. war voll besetzt und mir wurde ein Bett zugewiesen, das sich im "Chücheli", einer ausgedienten kleinen Küche befand. Es war kalt und zügig dort, zudem merkte ich, dass eine Erkältung im Anzug war. Ich hielt durch. Auch die Andachten, die ich mir morgens und abends anhören musste liess ich über mich ergehen. Wenn so ein junger Mann wie ich unter den Zuhörenden 7

war, so schien es für Albert G. nur natürlich zu sein, sein Lieblingsthema "Onanie" zu bearbeiten. Was sich der denn so alles vorstellte! Es gab noch einige andere Themen, die er immer wieder zur Sprache brachte, zum Beispiel, dass man bei Krankheit nicht zum Arzt gehen dürfe. Denn es gebe nur einen einzigen Arzt, und das sei Gott. Ich lernte auch bald, dass ihm Frauen mit kurzen Haaren und solche in Hosen ein Gräuel waren. Ich nahm mir vor, all das so schnell wie möglich wieder zu vergessen und nur das zu behalten, was mir plausibel schien. Doch das mit der Selbstbefriedigung dominierte sein Denken. In allem was er sagte war zu erkennen, dass er mit der Sexualität nicht klar kam und darum seine Zuhörer und Zuhörerinnen immer wieder aufforderte, gegen die sexuelle Lust anzukämpfen. Seine Frau unterstützte ihn zuweilen, etwa mit der Bemerkung "Sex ist eine Sauerei". Nicht alles, was Albert G. predigte war absonderlich. Neben all den gesetzlichen Ansichten verkündigte er einen Grundsatz, der wahrscheinlich dafür verantwortlich war, wenn Menschen geholfen wurde. Diese Botschaft, die auch meine Mutter bis zu ihrem 95. Lebensjahr begleitet hatte, lautet: "Jesus in uns". Er betonte, dass Jesus und Gott der Vater nicht weit weg hinter einer Wolke oder im All zwischen den Galaxien anzutreffen seien. Jesus wolle durch den Heiligen Geist in den Menschen wohnen. Das ist wohl auch der Grund, dass bei ihm sporadisch einige Heilungen geschehen sind. Die Betreffenden hatten erfahren, was es bedeutet, eine innere Beziehung zu Gott und Jesus Christus zu erlangen, was zur Folge hatte, dass den heilenden Kräften in ihrem Körper Raum gegeben wurde. Unterdessen machte ich mit Gott im kalten Kämmerlein meinen eigenen Vertrag. Es war genau an meinem 18. Geburtstag, als ich meinen Widerstand gegen Jesus aufgab und ihm sagte, dass er mein Leben in seine Hand nehmen soll. Eine spürbare Reaktion fuhr durch mich hindurch. Eine Ruhe und eine Freude durchströmten mein Innerstes. Etwas war mit mir geschehen, das spürte ich, was genau wusste ich aber nicht. Doch von dem Tag an glaubte ich an Gott und an Jesus Christus, seinen Sohn. Als ich nach dem kalten Wochenende wieder auf mein Zimmer kam, merkten meine Tanten und der Onkel sofort, dass ich mich verändert hatte. Darüber waren sie höchst erfreut.

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Von der Religion eingeholt Nun hatte sich meine ganze Einstellung zu Albert G. geändert. Je länger je mehr wurde Albert zu meiner Leitfigur und ich begann, ihm Briefe zu schreiben und Fragen zu stellen. Diese beantwortete er immer prompt. Ich merkte nicht, wie ich damit ganz langsam aber stetig in eine Art Abhängigkeit zu ihm hinein rutschte. Plötzlich schienen mir die Dinge, die ich anfangs so schnell wie möglich vergessen wollte, einleuchtend zu sein. Ich begann, jeden freien Tag auf dem Hasliberg zu verbringen. Je mehr ich mich dem Einfluss von Albert aussetzte, umso mehr schlitterte ich in ein religiöses Fahrwasser hinein. Plötzlich fand ich es selber gut, gegen die sexuellen Regungen anzukämpfen. Das kostete mich enorme Kraft und führte vielfach zu Frust, von dem auch Albert selber gezeichnet sein musste. Sukzessive begann ich, seine abstrusen Theorien zu vertreten. Und derer waren viele. Mit guten Ratschlägen und Anweisungen sparte Albert G. nicht. Er vertrat eine extrem fundamentalistische Haltung der Bibel gegenüber. Sein Rat: "Alles, was in der Bibel steht, muss man glauben und sofort danach handeln." Eifrig suchte ich nach den entsprechenden Bibelstellen und fand heraus, dass in der Bibel tatsächlich steht, dass die Frauen lange Haare haben sollen, dass sie beim Beten ihren Kopf bedecken müssen und dass sie in der Gemeinde nichts zu sagen haben. Die Stelle, wonach sie dem Mann Untertan sein sollen, hatte mir besonders gefallen. Das war Wasser auf meine Mühle, denn zu dieser Zeit wurde in der Schweiz abgestimmt, ob die Frauen das Stimmrecht erhalten sollten oder nicht. Mit geschwellter Brust trug ich am 1. Februar 1959 mein "nein" zur Urne und meinte, damit den Willen Gottes getan zu haben. Dass eine Frau keine Hosen anziehen durfte und deswegen in Rock und Mantel zum Skifahren gehen musste, fand Albert in einer Stelle im Alten Testament. Glücklicherweise betraf mich das nicht persönlich, ich bin ja keine Frau. Dass man im Krankheitsfall nicht zum Arzt gehen darf und allein auf die Hilfe von Gott vertrauen muss, stehe auch in der Bibel, und zwar im Alten Testament. Dort ist zu lesen: "Ich bin der Herr dein Arzt". Abgesehen davon konnte Albert G. einige erstaunliche Erfolge in Sachen "Glaubensheilung" verzeichnen. Das lebendige Beispiel, das seine Religion zu bestätigen schien, war eine junge Frau mit Namen Lotte König aus Hamburg. Diese war just dann auf dem Hasliberg zu Besuch, als auch ich zugegen war. Sie war von grosser Statur, hatte ein humorvolles Wesen und wusste, was sie wollte. Sie gefiel mir von Anfang an. Bei einem Gespräch zeigte sie mir ein Bild von sich, das etwa ein Jahr zuvor aufgenommen wurde. Als ich einen ersten Blick auf das Foto warf zuckte ich zusammen und es wurde mir beinahe übel. Was ich darauf sah war ein mit Haut überzogener Totenkopf. Auf meinen fragenden Blick hin erzählte sie mir ihre Geschichte. Sie hatte Muskelschwund und wurde von über 50 Ärzten behandelt, ohne Erfolg. Als hoffnungsloser Fall versuchte sie es mit Religion. Sie besuchte eine Bibelschule im Berner Oberland. Nach einiger Zeit schmiss sie die Bibel in eine Ecke und wollte sich das Leben nehmen. Zuvor aber wurde ihr geraten, es noch mit einem Aufenthalt in Alberts Chalet auf dem Hasliberg zu versuchen. Sie hörte der Botschaft am Morgen und am Abend zu. Eines Tages verspürte sie eine Veränderung in ihrem Körper und innerhalb von wenigen Monaten nahm sie an Gewicht zu und war völlig geheilt. Eine erstaunliche Geschichte, die eigentlich alle fundamentalistischen Ansichten aufzuwiegen versprach. Dem war aber nicht so. Lotte getraute sich einmal in einem Punkt anderer Meinung als Albert zu 9

sein. Die Reaktion war erschreckend. Dass er sie nicht gleich zum Teufel gejagt hatte war geradezu erstaunlich. Was Lotte geheilt hatte ist zweifellos ihrem Vertrauen in den Heiler Jesus Christus und in die Kraft seines Blutes zuzuschreiben. Das war das andere grosse Steckenpferd von Albert G., das Blut Jesu Christi. Dieses habe die Kraft, Krankheiten zu heilen. Man müsse es nach einer Aussage Jesu im Johannesevangelium trinken, ebenso, wie man Jesu Fleisch essen müsse. Denn das Leben habe nach einer Stelle im Alten Testament seinen Sitz im Blut. Und so habe die heilende Kraft Gottes ihren Sitz im Blut Jesu. Viele Menschen haben sich von dieser Theologie überzeugen lassen und sind geheilt worden, andere aber sind gestorben. Ein tragischer Fall geschah mit einer todkranken Frau, die auf den Rollstuhl angewiesen war. Ihr Mann war so sehr von diesem Glauben beseelt, dass er die Medikamente seiner Frau verschwinden liess und sie damit unerträglichen Schmerzen auslieferte. Wir jungen Leute akzeptierten solches Handeln und wandten es selber auch bei uns an. Eines Tages klagte mein Bruder Martin, der auch in dieses religiöse Fahrwasser hineingeraten war, über heftige Bauchschmerzen. Er hütete das Bett für einige Tage und erzählte später, dass er sicher sei, er hätte eine Blinddarmentzündung gehabt. Es wäre ihm aber nie in den Sinn gekommen, deswegen einen Arzt zu rufen. Auswüchse und Fehlschläge hat es also gegeben, doch es war niemand da, der bereit war, Klage einzureichen oder diesen Glauben in Frage zu stellen. Weil ich mit der Zeit von der Lehre von Albert so sehr überzeugt war, entwickelte ich mich zum richtigen Fanatiker. Ich vertrat meine Meinungen so vehement, dass ich überall auf heftigen Widerstand stiess, auch bei jungen Leuten. Ich entwickelte einen Extremismus, der den von Albert um ein vielfaches übertraf. Das machte Albert offensichtlich Eindruck, so dass er mich darin noch förderte. Darüber machten sich meine Eltern je länger je mehr grosse Sorgen. Alarmiert wurden sie, als mein Bruder und ich uns weigerten zum Zahnarzt zu gehen. Wir waren überzeugt, dass das Blut Jesu unsere Zähne heilen würde. Unsere Eltern vereinbarten darum ein Treffen mit Albert G., um ihre Bedenken mit ihm diskutieren zu können. In einem Restaurant in Winterthur wurde dieses Problem durchdiskutiert. Albert stellte sich auf die Seite unserer Eltern und gab uns den Rat, den Zahnarzt aufzusuchen. Seine Logik ging dahin, dass sich im Zahn angeblich kein Blut befinde und dass es deshalb auch für das Blut Jesu nicht möglich sei, den Zahn zu heilen. Was das für eine wahnwitzige Religion war, der wir hier auf den Leim gegangen waren, wurde mir erst viel später bewusst. Nicht nur ich selber stiess mit meinen extremen Ideen immer häufiger auf Ablehnung. Auch Albert wurde je länger je mehr von moderaten Christen bekämpft. Es entwickelte sich ein richtiger kleiner Religionskrieg zwischen ihm und andern religiösen Gruppen und den Freikirchen. Auch die Bibelschule auf dem Beatenberg im Berner Oberland und einige namhafte Evangelisten standen mit ihm im Streit. Sein Name wurde langsam aber sicher zum Schimpfwort. Infolgedessen grenzten wir uns Andersgläubigen gegenüber bewusst ab und würdigten sie verbal herunter. Ein besonderes Ärgernis und ein rotes Tuch stellten für Albert die Pfingstgemeinden dar. Mit Vehemenz stellte er sich gegen das "Zungenreden", das dort praktiziert wird. Wenn er nicht gerade gegen Sex predigte, so wetterte er eben gegen den Pfingstgeist, den er durchwegs als dämonisch verdammte, obwohl sich die Bibel positiv darüber äussert. Das sei eine teuflische Sache, der man die Stirn bieten müsse. Als Illustration wurde eine nette Geschichte erzählt. Meistens erklärte der 10

Erzähler, dass er jemanden kenne, der wiederum jemanden kenne und dieser sei einmal in einer Pfingstversammlung gewesen. Weil er aus dem Ausland kam, habe er die Sprachenrede verstanden. Diese sei voll von Gotteslästerungen und Flüchen gewesen. Als ich diese Geschichte mehrmals von verschieden Leuten erzählt bekam und diese immer beteuerten, dass das ein Bekannter eines Bekannten von ihnen selbst erlebt habe, merkte ich, dass es sich um eines dieser berühmten "frommen Schauermärchen" handelte. Denn nie lernte man den direkt kennen, der es angeblich gehört hat oder gar erlebt haben soll. Doch solche Lügenmärchen werden gerne weiter erzählt, solange sie ihren Zweck der Abschreckung erfüllen. Um seine Position zu halten gebot uns Albert, nicht aus der Kirche auszutreten, sondern uns als landeskirchliche Gläubige auszugeben. So hatten wir wenigstens auf diese Seite hin eine offene Tür um unser Gedankengut an den Mann zu bringen. Vielleicht war dies auch der Grund, warum Albert - im Gegensatz zu vielen Freikirchen - die Kindertaufe hundertprozentig befürwortete und die Erwachsenentaufe, vor allem die Wiedertaufe kategorisch als "unbiblisch" ablehnte. Er ging sogar einen Schritt weiter, indem er anfing Menschen zu diffamieren, denen die "Liebe Gottes" wichtig schien. Das sei Affenliebe, verkündigte er, denn die echte Liebe könne und müsse hart sein. "Wen der Herr lieb hat, den straft und züchtig er". Diese Einstellung prägte seine ganze Verkündigung und sein "Evangelium". Viel Freudiges und Frohmachendes ist da nicht übrig geblieben. Seine Botschaft war hart, gesetzlich, unnachgiebig, konsequent. Jemand der Liebe und Verständnis suchte war bei ihm an der falschen Adresse. Auch bei mir. Diese Kompromisslosigkeit imponierte mir und ich stellte mich voll hinter diese Religion. Inzwischen hatten meine Eltern ihr kleines Café im Appenzellerland verkauft und waren nach St. Gallen gezogen. So wohnte ich wieder zuhause und konnte Arbon von hier aus erreichen. Ich und mein Bruder Martin, der nun am gleichen Strick zog wie ich selber, suchten in dieser Stadt Kontakt mit jungen Menschen in einer Jugendgruppe. Bald wurde klar, dass wir mit unseren Ideen auch hier auf Skepsis und Widerstand stiessen. Zusammen besuchten wir jeden Sonntag den Abendgottesdienst in einer Kirche im Zentrum der Stadt. Da ich ziemlich geizig war sparten wir das Geld für den Bus und legten die Strecke vom Heiligkreuzquartier bis ins Zentrum zu Fuss zurück. Während des Gottesdienstes achtete ich genau darauf, wie oft der Pfarrer das Wort "Jesu Blut" in den Mund nahm. Tat er es einmal, so spendete ich bei der Kollekte grosszügige 20 Rappen. Tat er es nicht, so ging er eben leer aus. Unser Extremismus kannte keine Grenzen. Auch in andern Dingen verhielten wir uns äusserst radikal. Eines Tages beschlossen wir, uns die Haare auf Millimeterlänge schneiden zu lassen. Heute ist das nichts Aussergewöhnliches mehr, doch damals war das die Ausnahme. Wir taten es, weil es angeblich in der Bibel geboten wurde. Das löste einen Schrecken bei den Eltern aus, die an unserem gesunden Menschenverstand zu zweifeln begannen. Aus meiner Teen-Age Zeit besass ich eine ansehnliche Jazz-Plattensammlung, darunter das ganze Carnegie-Hall Konzert von Louis Armstrong, Platten des Vibraphonisten Linoel Hampton, Ragtime Piano Musik, Konzerte des Klarinettisten Benny Goodman, Aufnahmen des Bebop Saxophonisten Charlie Parker und vieles mehr. Jazz hatte vor meiner Begegnung mit Albert den Stellenwert einer Religion eingenommen. Das musste sich ändern, hatte ich doch nun eine andere Religion gefunden. So begaben sich Martin und ich in mein Zimmer, während sich unsere Mutter beim Bügeln im Wohnzimmer daneben aufhielt. Plötzlich merkte sie auf. Sie hörte einen Knall, gefolgt von schallendem Gelächter. Dann wieder ein Knall, nochmals Gelächter. Als das eine ganze Weile so weiter ging wollte sie nachsehen, 11

was sich denn im Zimmer ihrer Söhne abspielte. Sie öffnete die Tür und sah uns, wie wir mit Vergnügen Schallplatte um Schallplatte aus meiner Sammlung zersplitterten und uns kindisch am Knall freuten. Ihr Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie konnte mein Vorgehen nicht begreifen, während es für mich einen religiösen Glaubensakt bedeutete. Allem, was man früher geliebt hatte, musste man absagen, glaubte ich. Das Problem mit der Harmoniemusik und dem Klarinettenspiel hatte sich durch meinen Umzug nach St. Gallen von selbst gelöst. Es wäre mir zweifelslos schwer gefallen, den Musikerkameraden erklären zu müssen, dass ich aus religiösen Gründen nicht mehr mitmachen dürfe. Denn ein gläubiger Mensch darf sich nicht in weltlicher Gesellschaft aufhalten, meinte Albert. Ich legte also die Klarinette auf die Seite und kaufte mir eine Gitarre. Das erzählte ich einmal einem Arbeitskollegen, der auch bei Saurer die Lehre absolvierte. Er selbst spielte in der Harmonie Amriswil die Trompete. Als er das hörte, fiel ihm der Unterkiefer herunter: "Waaas? Willst du zur Heilsarmee gehen?!", rief er entgeistert aus. In der Jugendgruppe trafen sich die verschiedensten Menschen, aus der Stadt selbst oder Zugezogene aus andern Kantonen oder aus Deutschland. So geschah es, dass eines Tages auch eine gut aussehende junge Frau aus dem Aargau dazu stiess. Sie hiess Erika. Ich freundete mich mit ihr an und verliebte mich dabei prompt in sie. Die Schwierigkeit war nur, dass sie schon einen Freund hatte. So fing ich an, sie sachte zu bearbeiten, bis sie ihrem Freund einen Abschiedsbrief schickte. Nun gehörte sie mir. Wie fies und gemein mein Vorgehen war, realisierte ich erst sehr viel später. Ich brachte sie dazu, ihre Ferien mit mir bei Albert auf dem Hasliberg zu verbringen und meine Glaubensansichten zu übernehmen. Es musste der Terror für sie gewesen sein, als sie meinetwegen das Tennisspielen aufgab, nur weil ich es nicht mochte und fand, dieser Sport sei zu weltlich. Wenn ich daran denke, was sie sich alles von mir gefallen lassen musste, immer in dem Glauben, das absolut Richtige zu tun, dann wird mir ganz schwindlig dabei. Dazu kann ich nur sagen: "Es tut mir leid, Erika, vergib mir!" Mein religiöser Eifer steigerte sich immer weiter und ich fragte mich, wie ich noch aktiver werden könnte. Zusammen mit meinem Bruder Martin begaben wir uns an Wochenenden auf die Piste, das heisst, nachts um 24 Uhr legten wir los und verteilten im Stadtzentrum religiöse Traktate unter den Jugendlichen. Schon bald fand ich, dass die Texte dieser Traktate etwas flau waren und ich entwarf einen eigenen Flyer. Natürlich musste ich den Text von Albert sanktionieren lassen, denn er war bereit, die Kosten für den Druck zu übernehmen. Der Titel lautete: "Ein neuer Anfang – mit Erfolg". Der Inhalt drehte sich – wie könnte es anders sein – um Sex, Selbstbefriedigung, Enthaltsamkeit. Auf die Hinterseite drückten wir unsere Stempel mit Adresse auf und machten uns so zu selbsternannten Seelsorgern für die arme, sexgeplagte Menschheit. Als der Leiter der Jugendgruppe das Traktat zu Gesicht bekam, lud er mich und meinen Bruder zum Kaffee ein. Die Strafpredigt, die er uns hielt, liess uns kalt. Er meinte, es sei eine Anmassung unsererseits, uns als Seelsorger für sexuelle Probleme auszugeben. Wir hingegen fühlten uns im Recht und so hatten wir wieder einen Feind mehr in unserem Bekanntenkreis.

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Im Weinberg des Herrn Irgendwie musste Erika gespürt haben, dass unsere Beziehung keine Zukunft haben konnte. Als ich mich dann ein halbes Jahr nach London zum Sprachstudium begab, ging der briefliche Kontakt eine Zeitlang weiter, brach dann aber plötzlich ab. Ich hatte keine Ahnung, was geschehen war. Meine Briefe wurden einfach nicht mehr beantwortet. In dieser Zeit besuchte ich eine Jugendgruppe in Muswell Hill, nicht weit von Finchley Central entfernt, wo ich wohnte. Dort lernte ich eine entzückende junge Blondine aus Deutschland kennen und wir verstanden uns auf Anhieb gut. Auf der einen Seite gefiel sie mir ausserordentlich. Doch auf der andern Seite hoffte ich, mit Erika wieder ins Reine zu kommen. Der innere Konflikt war programmiert. Angst machten mir einige weitere junge Frauen, die sich plötzlich in der Gruppe zeigten. Es waren Schweizerinnen, die völlig aus dem Häuschen waren angesichts der Tatsache, dass auch ich aus der Schweiz kam. Bei dieser Sachlage sah ich keine andere Lösung, als diese Jugendgruppe einfach nicht mehr zu besuchen. Bei meiner Rückkehr in die Schweiz liess sich die Beziehung mit Erika halbwegs wieder einrenken, das heisst, Albert hatte ihr so richtig die Leviten gelesen und uns geraten, uns sofort zu verloben. Diesen Rat haben wir aber nicht befolgt, wir konnten den Zweck eines solchen Schrittes im Moment nicht nachvollziehen. Bevor ich nach England ging war ich eine Art rechte Hand für Albert. Mit 22 Jahren reiste ich ein ganzes Jahr jedes Wochenende mit ihm durch die Schweiz, um Bibelstunden zu halten. Ich war sein Chauffeur und an jedem Ort wurde ich als Vorredner eingesetzt. Ich referierte über irgendeine Bibelstelle und gab meine extremen Ideen zum Besten. Niemand hatte je über das Gesagte reklamiert und so nahm ich an, dass ich gut war. In dieser Zeit fing ich an, mich für die Mission zu interessieren. Natürlich kam die Idee nicht von mir, sondern von Albert, der Mission als das Höchste ansah, was im christlichen Dienst möglich war. Er schilderte Erika und mir seine Vision, die zwar phantasievoll, aber vollkommen unrealistisch war. Er riet mir, neben meinem Beruf das Handwerk des Uhrmachers zu lernen. Er stellte sich vor, wie er in Afrika als Uhrmacher von Hütte zu Hütte ziehen würde um nachzufragen, ob es im Haushalt eine Uhr zum reparieren gäbe. Wenn das der Fall wäre, so käme er dadurch mit der Familie in Kontakt und er hätte die Gelegenheit, dort das Evangelium zu verkündigen. Was für ein Plan! Er hatte mich so in den Bann gezogen, dass ich begann, während ich Albert auf den Reisen begleitete und meinem Beruf in Schaffhausen nachging, mich nach einer Stelle als Maschinenzeichner in einer Uhrenfabrik umzuschauen. Zu meinem Leidwesen war keine Firma bereit, mich einzustellen. So blieb der Traum vom uhrenflickenden Missionar in weiter Ferne. Anders erging es Erika. Ihr wurde geraten, sich als Hebamme ausbilden zu lassen. Auch das sei ein idealer Beruf, um sich Eingang in Familien zu verschaffen. Erika arbeitete bereits als Diät Assistentin in einem Spital. So war es für sie ein leichtes, sich für e inen Kurs als Hebamme anzumelden. Freiwillig hätte sie das wahrscheinlich nicht getan. Ein gewisser Druck von Albert und mir war schon nötig, sie davon zu überzeugen. Im Nachhinein wundert es mich immer wieder, wie sie sich von mir und Albert manipulieren liess. Zu jener Zeit war ich so von diesem Laienprediger abhängig, dass ich alles für bare Münze nahm, was er sagte. Ebenso war ich mir nicht bewusst, in was für einer enormen Zwangslage sich Erika befand und wie sie sich danach sehnte, davon los zu kommen. 13

Der Grund, warum ich überhaupt nach London ging und eine Sprachschule besuchte war der, dass ich dachte, als Missionar müsse man fliessend Englisch sprechen. Das wär mal ein erster Schritt in die richtige Richtung. Mein geheimes Ziel war Afrika, weil mein Onkel seit Jahrzehnten in Lagos, Nigeria, ein Geschäft betrieb, ein Uhrengeschäft, notabene. Wenn er mit seiner Familie auf Urlaub in die Schweiz kam erzählte er uns die spannendsten Geschichten, von denen wir als Kinder nicht genug kriegen konnten. Das wollte ich auch erleben. In London lebte ich für extrem wenig Geld bei einer Pfarrfamilie an der Long Lane in Finchley Central. Ich war nicht der einzige Student, sondern wir waren etwa unserer vier oder fünf aus den verschiedensten Ländern, die dort eine Unterkunft fanden. Der Pfarrer besserte damit wohl seinen mickrigen Lohn auf, der ihm von der Anglikanischen Kirche bezahlt wurde. Von dort fuhr ich jeden Nachmittag eine halbe Stunde per Untergrundbahn ins Zentrum von London, wo sich meine Sprachschule befand. Die Davies's School Of English hatte drei Filialen in London und ich besuchte diejenige an der Goodge Street. Wie zu erwarten war, bestand unsere Klasse aus Studenten und Studentinnen aus aller Herren Länder. Eines Tages erhielt ich Post von Albert G. Er erklärte mir, dass er sich entschlossen habe, mich als Missionar nach Italien zu schicken. Italien? Wie kommt der nur darauf? Erstens wollte ich keine Katholiken bekehren und zweitens konnte ich kein Italienisch. Ich lehnte dankend ab. Doch damit hatte ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Postwendend kam die Antwort. Albert setzte enormen Druck auf mich aus. Er wollte, dass ich die Arbeit von Arthur K. in Kalabrien übernehme, während Arthur mit ihm in der Schweiz evangelisieren würde. Ausserdem, sagte er, würde ich erbarmungslos auf die Seite gestellt werden, wenn ich nicht gehorche, wie das Paulus mit Markus getan habe. Diese Drohung machte mir Angst und ich willigte schliesslich ein, nach Italien zu gehen. Eine attraktive Italienerin in unserer Klasse lehrte mich noch einige Worte Italienisch. Das war alles, was ich als Vorbereitung mitbekam. Von England reiste ich über Hamburg in die Schweiz und von dort aus direkt nach Perugia, um an der Università per Stranieri einen Sprachkurs zu besuchen. Hier eröffnete sich mir eine ganz andere Art von Lebensstil, den ich nicht gewohnt war, aber der mich umso mehr faszinierte. Das lockere Leben gefiel mir. Da gab es kleine Bars, wo Gitarre gespielt und Musik gemacht wurde. Man wurde schnell in eine Gruppe von Freunden aufgenommen. Am Abend wurde die Hauptstrasse gesperrt und die ganze Stadt traf sich da zum Flanieren. Einmal beobachtete ich zwei Polizisten, die Arm in Arm die Strasse hinauf und hinunter spazierten. Eine so entspannte Stimmung hatte ich vorher noch nie erlebt. Im Winter wurde die Schule geschlossen und ich machte mich auf den Weg nach Reggio Calabria, wo Arthur K. seine Mission aufgebaut hatte. Und wieder tat sich eine ganz neue Welt für mich auf. Ich war überwältigt von der ganz andern Vegetation und von der Tatsache, dass dort die Mandelbäume schon im Januar blühten. Ich freute mich über den Umstand, den ganzen Winter hindurch keinen Schnee sehen zu müssen. Einzig der rauchende Ätna auf der andern Seite der Strasse von Messina setzte sich eine Schneekappe auf. Die Haupttätigkeit war für mich das Lernen der Sprache. Nebenbei zeigte mir Arthur allerhand Ungewöhnliches. Auf seinem Galletto, einem Motorroller mit grossen Rädern, besuchten wir die Versammlungsorte, die er gegründet hatte. Einmal führte uns die Reise nach Melito, dem südlichsten Punkt des italienischen Stiefels, oder nach Roccaforte, einem imposanten Dorf in den Bergen, zu dem keine Strasse, sondern nur ein Flussbett führte. 14

Beeindruckt hatte mich eine schlichte, fröhliche Frau, die einen einfachen Glauben an Gott an den Tag legte. Frau Triglia war früher eine Meisterin im Austreiben des "bösen Blicks", der in Süditalien allgegenwärtig ist. Anfänglich arbeitete die Schamanin erfolgreich, doch dann begann es in ihrem Haus zu spuken. Sie war in Tränen aufgelöst, denn sie konnte dem nächtlichen Treiben kein Ende setzen. Auch das Weihwasser des Priesters und die Prozessionen zu ihrem Hause nützten nichts. Arthur hörte von dem tragischen Fall und bot der Familie an, jede Woche einmal vorbeizukommen und ihnen aus der Bibel vorzulesen. Da Herr und Frau Triglia Analphabeten waren, nahmen sie das Angebot gerne an. Es dauerte nicht lange und der Spuk im Hause verschwand, eine Folge des lebendigen Wortes Gottes, das dort seine heilende Wirkung entwickelte, wie Arthur überzeugt war. Langsam wurde es Frühling und die Kurse an der Universita per Stranieri in Perugia taten wieder ihre Türen auf. Inzwischen hatte ich den Entschluss gefasst, die Arbeit in Reggio nicht zu übernehmen. Die zum Teil grobe Art und Weise, wie Arthur mit den Einheimischen umging gefiel mir gar nicht. Auch der Gedanke, der Katholischen Kirche ihre Schäfchen abspenstig zu machen behagte mir nicht. Gleichzeitig stellten sich wieder Schwierigkeiten in der Kommunikation mit Erika ein. Mir schien, dass es ihr diesmal wirklich ernst und sie entschlossen war, endgültig abzuspringen. Schliesslich packte ich meinen Koffer und erklärte der hübschen jungen Pariserin, die ihr Zimmer ebenfalls bei Signora Savino hatte, dass ich abreisen wollte. Diese war darüber gar nicht erfreut, denn sie hatte noch etwas mit mir vorgehabt, wie ich merkte. Doch dann verliess ich Perugia auf dem schnellsten Weg und fuhr in meine Heimat zurück. In Aarau fand ich bald eine Stelle als Maschinenzeichner in einer renommierten Firma. Nun hatte ich einen Haufen Probleme mit mir herumzutragen. Wie soll ich das alles Albert G. erzählen? Werde ich Erika dazu bewegen können, wieder zu mir zurück zu kehren? Mein Arbeitsplatz schaute auf die Allmend hinaus und wahrscheinlich machte ich bei der Arbeit einen verlorenen Eindruck, wenn ich oft geistesabwesend zum Fenster hinaus blickte. Ein Mitarbeiter, dessen Reissbrett gleich vor dem meinen stand, musste mich über Wochen beobachtet haben, ohne dass ich es merkte. Ich realisierte auch nicht, dass er ab und zu ganz gezielte Fragen stellte. Als er eines Tages ein Bild von mir zusammengetragen hatte, stellte er mich zur Rede. Er meinte, dass ich mich nicht wie andere Leute verhalte und dass da etwas nicht in Ordnung sei. So erzählte ich ihm die Geschichte, die mich am meisten beschäftigte: das Verhältnis zu Erika. Grosses Aha-Gesicht. So einen Schlag würde ich für Jahre nicht überwinden, meinte er. Er gab mir den Rat, die Sache mit Erika wieder in Ordnung zu bringen. Ich suchte sie im nahe Gelegenen Spital, wo sie arbeitete, auf und vereinbarte noch einige Dates mit ihr. Dann war Schluss, trotz allem.

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Der Bruch Albert G. war über meinen Entschluss, die Arbeit in Italien zu schmeissen nicht sichtlich erfreut. Trotzdem hielt ich mich an ihm fest und verbrachte jede freie Minute auf dem Hasliberg. Inzwischen hatte er ein altes Hotel gekauft in der Absicht, mehr Feriengäste aufnehmen zu können. Auch schwebte ihm die Gründung einer Bibelschule vor. Das Hotel rentierte schon lange nicht mehr und er konnte es zu einem günstigen Preis erwerben. Es war baufällig und verlangte nach einer Renovation. Was kam ihm da gelegener, als junge, kräftige Leute, die bei der Erneuerung tatkräftig mithalfen? Ich hatte inzwischen ein Auto gekauft und sammelte jedes Wochenende und an Ferientagen junge Männer, um sie aus dem Bodenseegebiet auf den Hasliberg zu fahren. Dort arbeiteten wir alle zusammen am Hotel. Wir rissen die veraltete Heizung heraus und richteten alles für eine neue her. Die Neuinstallation übernahm eine Firma aus Meiringen. In einer Pause kam ich mit dem jungen Chef ins Gespräch. Der erzählte mir voll Begeisterung, dass er eben aus England nach Hause gekommen sei, wo er einen sprachwissenschaftlichen Kurs absolviert habe. Der Kurs wurde vom Summer Institute of Linguistics organsiert, welches in enger Verbindung mit den Wycliffe Bibelübersetzern arbeitete. Ich wurde hellhörig. Sprachwissenschaft, Übersetzen, nicht Predigen, nicht Evangelisieren und keine Traktate verteilen! Neue Hoffnung flammte in mir auf. Ich habe gemerkt, dass ich für den gewöhnlichen Missionsdienst nicht geeignet war. Aber dass man sich in Linguistics und zum Bibelübersetzer ausbilden lassen könne, war mir neu und machte mir wieder Mut. Wieso ich trotzdem auf die Idee kam, reumütig Alberts Idee von der Arbeit in Italien wieder aufzunehmen und mich zu verpflichten, zurück nach Kalabrien zu gehen, weiss ich nicht mehr. Doch je näher der Termin heranrückte, an dem ich abreisen sollte, umso nervöser und unsicherer wurde ich. Dass meine Eltern von diesem Schritt heftig abrieten, machte die Sache auch nicht leichter. Schliesslich konfrontierte ich Albert mit meiner Entscheidung, ich wolle nun doch nicht dorthin zurückkehren. Daraus entwickelte sich ein heftiger Streit. Ich hielt ihm vor, dass ich sowieso nie nach Italien habe gehen wollen. Auch beschuldigte ich ihn, mich mit seinem Brief, ich würde auf die Seite gestellt werden, wenn ich nicht gehorchte, erpresst zu haben. Dies bestritt er vehement. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Ich packte meinen Koffer und trat die Heimreise an, ohne auch nur jemandem auf Wiedersehn gesagt zu haben. Doch ich war nicht allein, der den Hasliberg für lange Zeit nicht mehr sehen würde. Mit mir im Postauto sass Werner G., der Bruder von Albert. Auch er war Laienprediger und hatte eine schwere theologische Auseinandersetzung mit Albert. Dieser wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben und schickte ihn als Irrlehrer in die Wüste. Gedrückt und wehmütig schauten wir bei der Abfahrt zurück auf das Dorf Hohfluh und auf das Hotel von Albert, in der Gewissheit, dass für uns beide ein neues Kapitel begonnen hatte. Jetzt versuchte ich, mit diesen Wycliffe Bible Translators in England Kontakt aufzunehmen. Vielleicht wäre das ein Weg, den ich gehen könnte. Endlich hielt ich eine kaum leserliche Postkarte in den Händen, die mir ein Student der Linguistik, ein Schweizer, geschickt hatte. Dadurch erhielt ich Kontakt zu dieser Organisation, die erst in den USA und in England Fuss gefasst hatte, nun aber auch in Deutschland ihre Fühler ausstreckte. Um Mitglied und aktiver Mitarbeiter der Wycliffe Bibelübersetzer und des Summer Institutes of Linguistics werden zu können, wurde 16

ein zweijähriges Hochschulstudium oder ein gleichwertiges theologisches Studium vorausgesetzt. Beides hatte ich nicht. Doch dem wollte ich abhelfen. Ich hörte, dass Angehörige der Reformierten Landeskirche in Aarau ein Theologisches Seminar gründen wollten. Das kam für mich nicht in Frage. Ich wollte nur weg, weit weg von Aarau. Also liess ich Werbematerial vom London Bible College kommen. Dieses entpuppte sich als eine Art theologische Fakultät. Doch es war ein anderer Grund als die Vorbildung, der mich abhielt, weiter in diese Richtung zu forschen: die enormen Kosten, die ich nie im Leben hätte aufbringen können. Jetzt blieb als Ausweg noch das BTI, das Bible Training Institute in Glasgow. Auf meine Anfragen habe ich aber nie eine Antwort erhalten. So blieb mir wohl oder übel nur noch Aarau offen. Dort meldete ich mich dann auch an und wurde als Schüler in das seit einem Jahr bestehenden Seminar aufgenommen.

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Fundamentalismus Mit grosser Spannung erwartete ich den ersten Tag am Seminar. Vor allem, wer werden meine Mitschüler und Mitschülerinnen sein? Der erste Kurs, der 1960 begann, wurde von vier Schülern belegt, zwei Damen und zwei Herren. Im nächsten Kurs, zu dem ich selber gehörte, zählten wir vier Männer und vier Frauen. Für diese 12 Leute stand ein Lehrerstaff von 20 Pfarrern und Fachleuten zur Verfügung. Es wurden Fächer wie Bibelkunde, Exegese, Kirchengeschichte, Dogmatik, Griechisch und einiges anderes unterrichtet. Dogmatik war mein Lieblingsfach, weil man da wusste, was man hat. Es entsprach genau meinen stur vorgefassten Meinungen. Als erstes musste mein Glaube, dass Jesus alle Krankheiten heilt, dran glauben. Ich war überzeugt davon, dass wir keine Ärzte brauchten und der Glaube an Gott genügte. Eines Tages musste ich den Zahnarzt aufsuchen. Der schmerzende Zahn war in so einem miesen Zustand, dass er gezogen werden musste. Das war OK für mich, denn Albert hatte uns ja geboten, bei Zahnschmerzen den Zahnarzt aufzusuchen. Der Zahn war äusserst hart zu nehmen und musste stückweise entfernt werden. Plötzlich hielt mir der Arzt die Nase zu und bat mich, durch die Nase zu blasen. Anstatt einen Widerstand zu verspüren, füllte sich die linke Backe mit Luft. "Leider ist die Zahnwurzel in die Kieferhöhle hinauf gerutscht", meinte der Doktor mit gespielter Unbekümmertheit. "Ich sende Sie jetzt zum Chirurgen, der hat die richtigen Instrumente um sie wieder heraus zu nehmen. Gehen Sie gleich jetzt hin, solange die Spritze noch wirkt!" Also machte ich mich auf den Weg zum Arzt. Dieser schaute sich die Sache an und gab mir nochmals eine Spritze. Dann setzte er mich auf den Operationsstuhl. Während seine Assistentin meinen Kopf mit beiden Händen festhielt machte er sich daran, mit Meissel und Hammer von aussen meine Kieferhöhle oberhalb des gezogenen Zahnes zu öffnen. Dabei erklärte er mir genau, wie er vorging. "Ich schiebe die Knochenhaut auf die Seite und spanne sie später wieder über die Öffnung, sodass der Knochen nachwachsen kann." Schliesslich meisselte er noch ein grosses Loch von der Kieferhöhle zur Nasenhöhle. Als er fertig war, füllte er die Kieferhöhle mit einem meterlangen Tampon, den er zur Nase heraushängen liess und nähte das erste Loch wieder mit der Knochenhaut zu. Benommen torkelte ich nach Hause und legte mich ins Bett. Schmerztabletten hatte er mir auch mitgegeben. Ich kam mir vor wie nach einer Vergewaltigung. Mein Leben lang hatte ich gegen die Medizin und die Ärzte gewettert. Und jetzt? Ich war ihnen vollkommen ausgeliefert. Ich musste es zulassen, mit Spritzen vollgepumpt zu werden, wo Albert dies doch vehement verboten hatte. Und dann all diese Schmerztabletten! Aber ich war auf sie angewiesen. Als sich meine Lage in der Schule herumgesprochen hatte, erhielt ich lieben Besuch. Schwester Elisabet, die Diakonisse, brachte mir ein Aufbaupräparat. Auch Kurt besuchte mich. Als er mich im Bett sah, brach er in schallendes Gelächter aus. "Du siehst ja aus wie der Osterhase!", witzelte er. Meine linke Backe war extrem angeschwollen, aber als ehemaliger Krankenpfleger nahm er diesen Umstand nicht allzu ernst. Im Unterricht mussten wir uns auch mit bibelkritischen Fragen auseinandersetzen. Ja, wer hat nun die fünf Bücher Mose geschrieben? Ich wurde von Albert gelehrt, dass das Mose gewesen sei. Doch wie konnte Mose über seine eigene Beerdigung schreiben? Und die Geschichte mit Adam und Eva? Hat sich alles so zugetragen, wie es in der Bibel stand, oder ist der Schöpfungsbericht nicht nur ein Bild, ein Gleichnis 18

sozusagen, wie Jesus ja viele Wahrheiten in Gleichnissen ausgedrückt hatte? Stimmt denn die Theologie, die uns Albert aufgetischt hatte nicht? Er sagte: "Das mit Adam und Eva war so: Gott hatte die beiden erschaffen und ins Paradies gestellt. Sex gab es damals noch nicht. Gott hatte andere Möglichkeiten, ihnen Kinder zu schenken. Sex kam erst nach dem Sündenfall in ihr Leben". Da haben wir's wieder! Dieser verflixte Sex! Langsam begann ich, meine Theologie, die ich mir auf dem Hasliberg angeeignet hatte, zu hinterfragen. Im Laufe der Ausbildung kam noch vieles, sehr vieles hinzu, was es zu hinterfragen galt. Unsere Lehrer schonten uns nicht und konfrontierten uns mit der Quellenscheidung, also der Lehre, nach der das erste Buch Mose von verschiedenen Autoren geschrieben und später von einer uns unbekannten Person zusammengestückelt wurde. Daraus sei zu erklären, dass es nicht nur einen, sondern mehrere Schöpfungsberichte auf den ersten Seiten der Bibel gäbe. Weiter mussten wir uns mit der Frage auseinandersetzen, ob das Buch des Propheten Jesaia wirklich von Jesaia geschrieben wurde. Nach den neusten Ergebnissen der Forschung gebe es drei verschiedene Teile des Buches, geschrieben von drei verschiedenen Autoren. Das lässt den kindlichen Gauben an die Bibel leicht ins Wanken geraten. Doch können solche Erkenntnisse den Glauben an Christus tatsächlich erschüttern? Schliesslich glauben wir ja nicht an die Bibel, sondern an eine lebendige Person, an Jesus Christus. Allmählich begann ich zu verstehen, dass ich in der Vergangenheit einer völlig falschen Theologie aufgesessen bin, einem Fundamentalismus, der nicht nur unlogisch ist, sondern die Bibel zum Kochbuch der Pseudowissenschaft degradiert. Langsam lernte ich, die Bibel als das stehen zu lassen, was sie wirklich ist, nämlich ein Zeugnis des lebendigen Gottes und eine Zeugenaussage über Jesus Christus, seine Taten, sein Leiden und Sterben, seine Auferstehung und seine Macht. Im Lichte dieser Erkenntnis verblassten die kindischen Spekulationen über die Entstehung der Erde. Es erschien mir völlig belanglos, ob sie in 6 Tagen oder in Millionen von Jahren geschaffen wurde, oder ob jedes einzelne Wort in der Bibel "die Wahrheit" sei. Meine vom Hasliberg geprägte Theologie musste umgeschrieben werden. Das war ein langwieriger und beschwerlicher Prozess, der zuweilen auch Zweifel und Frust mit sich brachte. Ich begann, an die Führung des Heiligen Geistes zu glauben und wollte nicht mehr von skurrilen Lehrsätzen geleitet und beherrscht werden. Und doch blieben gewisse Gedanken und Vorstellungen wie Pech in meinem Gedächtnis kleben. Auch in dieser Zeit der inneren Aufklärung ertappte ich mich immer wieder, dass ich Frauen mit kurzen Haaren sehr skeptisch gegenüber stand. "Die können doch nicht richtig gläubig sein, sonst würden sie sich die Haare nicht abschneiden", dachte ich noch lange. Diese verschrobene Idee spukte auch dann noch in meinem Kopf herum, als nach einem Jahr eine neue Klasse ins Seminar eintrat. Ich konnte es kaum glauben, da war doch tatsächlich eine junge Frau dabei, die kurze Haare hatte. Natürlich liess ich mir nichts anmerken, wenn ich mich mit ihr unterhielt. Ruth gefiel mir ausserordentlich gut. War es, weil sie sich nicht an das Langhaargebot hielt und sich für fundamentalistische Ansichten nicht interessierte? Kann es sein, dass sich bei mir ein kleiner rebellischer Geist einschlich, der auch die letzten Grundfesten von Alberts Lehre zu erschüttern suchte? Schliesslich war es der Unterricht, der mir punkto Haartracht Klarheit brachte. Wenn Paulus in seinen Briefen sagt, dass er es nicht zulasse, dass die Frauen sich scheren lassen und dass sie beim Beten ein Kopftuch tragen müssten, so bezog sich das auf 19

die Kultur von damals. Das heisst nicht, dass wir, die wir heute in einer ganz andern Kultur leben, diese Direktiven eins zu eins übernehmen müssen. Zur Zeit von Paulus kennzeichneten sich die Prostituierten damit, dass sie sich die Köpfe kahl rasieren liessen. Logisch, dass Paulus nicht wollte, dass sich die christlichen Frauen den Prostituierten gleich stellten. In gleicher Weise liessen sich noch viele andere Missverständnisse ausräumen, wenn wir uns ein bisschen Mühe gäben, die Kultur des Alten und des Neuen Testamentes zu verstehen. Je länger je mehr erachte ich die fundamentalistische Theologie als eine äusserst gefährliche Sache. Sie entspricht nicht der Realität. Schon manch einer konnte seinen Bibelglauben mit der Wirklichkeit nicht unter einen Hut bringen. Um mit diesem Problem fertig zu werden gibt es verschiedene Wege. Die einen verschliessen einfach ihre Augen und bekämpfen die, welche etwas anderes glauben. Wiederum andere kehren dem Glauben den Rücken zu und verstricken sich entweder in die Esoterik oder im Atheismus. Und wieder andere werden einfach depressiv. Wenn sie Glück haben landen sie nicht in einer psychiatrischen Klinik. Einem unserer Mitschüler am Seminar ist das so ergangen. Er liess sich nicht von der Idee abbringen, er habe "die Sünde wider den Heiligen Geist" begangen. Dabei versank er immer tiefer in eine Depression und musste in psychiatrische Obhut gebracht werden. Später, so erfuhr ich, habe er sich das Leben genommen, weil er es mit seiner "Sünde" nicht mehr aushielt.

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Der Wendepunkt Mein Ziel hielt ich unerschütterlich vor meinen Augen fest. Ich wollte nun einfach Bibelübersetzer werden. Das war meine grossen Chance, es eines Tages nach Afrika zu schaffen, trotz meinem Versagen als Missionar in Italien. Um mein Ziel zu erreichen betrachtete ich alles andere als zweitrangig. Auch eine junge Dame, die mir in der Stadt immer "zufällig" über den Weg zu laufen schien, machte mir keinen Eindruck. Ein kleines Gespräch mit ihr und der Spuk fand ein Ende. Auch Ruth, die mit den kurzen Haaren, die mir anfänglich so gut gefiel, verbannte ich aus meiner Wahrnehmung. Die Wycliffe Bibelübersetzer hatten inzwischen nun auch in der Schweiz Fuss gefasst. Im Mai 1963 veranstalteten sie ein Informationswochenende in Bern, zu dem ich auch hinfahren wollte. "Ruth, Sie gehen doch ins Emmental nach Hause", witzelte ein Mitschüler. "Sie könnten doch in Bern auf Peter aufpassen, dass er dort keine Dummheiten macht." Ha-ha-ha, alle fanden das lustig. Doch Ruth wollte ihre Eltern im Emmental besuchen und ich wollte nach Bern gehen, so einfach war das. Es war ein wunderbarer, warmer Frühlingstag, jener Sonntag, wo wir irgendwo in Bern in einem Garten sassen und über die Arbeit eines Linguisten und Bibelübersetzers diskutierten. Da stand plötzlich Ruth mitten unter uns. Weil ihre Eltern bei irgendwelchen langweiligen Verwandten einen Besuch machten, entschloss sie sich, nun doch an diese Tagung zu kommen. Einige von den Teilnehmern wollten den wunderbaren Maitag nicht ohne einen Spaziergang an der Aare und im Tierpark Dählhölzli vorbeigehen lassen. So genossen wir die warme Sonne und frühlingshafte Gefühle nahmen je länger je mehr von uns Besitz. Gegen Abend fuhren Ruth und ich zusammen mit dem Zug zurück von Bern nach Aarau. Und dann geschah es: ich verliebte mich hoffnungslos in diese junge, hübsche und lebensfrohe Frau. Ob sie es auch tat? Einige Tage später fragte ich sie, ob sie ein bisschen Zeit für mich hätte. Da errötete sie wie eine reife Erdbeere. Jetzt wusste ich, dass die Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhten. In der Folge trafen wir uns heimlich in der Stadt oder an der Aare. Unsere Kollegen und Kolleginnen durften nichts davon erfahren. Auch die Seminarleitung nicht. Es war nämlich strengstens verboten, sich während dem Studium zu verlieben. Der Rektor hatte uns schon vor Wochen ins Gewissen geredet und meinte: "Wenn ihr euch verlieben wollt, dann müsst ihr zuerst die Schulleitung um Erlaubnis fragen." Als ob man so mit der Liebe umgehen könnte! Die kommt halt dann, wann sie will. Ruth und ich machten es uns zum kleinen Sport, bei den andern Bemerkungen fallen zu lassen wie etwa "Sie wollen doch ein Buch über Afrika schreiben, Ruth? Ich komme mit und dann knipse ich die Fotos dazu." Keiner hatte etwas von unserer Beziehung mitbekommen. Doch etwas ist ihnen allen aufgefallen: "Warum ist der Peter plötzlich so freundlich? Hast du gesehen, er hat sogar beim Abtrocknen der Kaffeetassen geholfen!" Ich äusserte mich auch nicht mehr negativ, wie ich das gegenüber vielen Dingen zu tun pflegte. Das quittierten die andern mit Genugtuung und Wohlwollen. In der Tat hatte mich die Liebe zu Ruth total verändert. Weggefallen waren die Gefühle der Enttäuschungen mit Erika und dem Bruch mit Albert. Schliesslich entschieden wir uns, die Schulleitung in unser Geheimnis einzuweihen. Ein Mitglied des Kollegiums äusserte zwar einige Bedenken, fand dann aber die Idee doch recht gut. Ein anderer zeigte sich äusserst erleichtert darüber. Er war froh, dass die quirlige 21

und lebensfrohe Ruth eine feste Beziehung hatte. Zu oft schon hatte er sich ihretwegen Sorgen um das Wohl der Männer im Seminar gemacht. Für mich neigte sich das Studium langsam dem Ende zu. Während die andern Schüler sich an einem Praktikumsplatz im In- oder Ausland befanden, wurden wir acht Absolventen einer strengen Prüfung durch die Professoren Dr. Buess und Dr. Stöbe von der Universität Basel unterzogen. Nach bestandener Prüfung ging es gleich ab zum Seminar für Sprachmethodik, das zum ersten Mal in Deutschland in der Nähe von Duisburg stattfand. Geleitet wurde es von Dr. Fred Gerstung aus Chicago, zusammen mit andern Akademikern und Studenten, die als Assistenzlehrer tätig waren. Der Kurs, der sich über drei Monate hinweg zog war anspruchsvoll und streng. Von Montag bis Freitag gab es nach den Vorlesungen Hausaufgaben, die bis um 22 Uhr abgegeben werden mussten. Dann war man reif fürs Bett. Der Samstagmorgen war ausgefüllt mit Prüfungen über den Stoff, den man die Woche hindurch behandelt hatte. Der vermittelte Stoff faszinierte mich. Er bestand in Phonologie, die sich in die Bereiche Phonetik und Phonemik aufteilte. Einen grossen Raum nahm die Grammatik ein. Sie basierte auf der Theorie von Professor Dr. Kenneth Pike und nannte sich Tagmemik. Ein Glück für mich, dass ich zu jeder Lektion meinen Fremdwörter-Duden dabei hatte. So vieles wurde klar, wenn ich die Bedeutung der Fachausdrücke kannte. Sehr aufschlussreich war für mich auch das Fach Ethnologie. Dafür war Howard Klassen aus Kanada zuständig. Wir lernten vieles über Kultur und Bräuche in andern Ländern und bei andern Völkern. Zum Beispiel gebe es Stämme in Afrika, wo die Köpfe der Frauen kahl geschoren würden. Der Grund dazu ist der, dass sich auf rasierten Köpfen keine Läuse einnisten können. Ja, und wie steht es nun mit der Bibelstelle über die Frauen und ihre langen Haare? Einer Massai-Frau kann man doch nicht zumuten, die Haare wachsen zu lassen und sie den Läusen und den damit verbundenen Krankheiten auszusetzen. Noch extremer mutet die Sitte der Eskimos an, wo einem lieben Gast für die Nacht die junge Tochter als nackte Wärmeflasche mit ins Bett gegeben werde. Hmm. Das ist bestimmt nichts für Fundamentalisten, könnte recht ins Auge gehen. Jedenfalls für mich waren das befreiende Informationen. Wieder ist ein Stück des mir eingeimpften moralisch-fundamentalistisch-religiösen Gedankenguts abgeblättert. Ich war begeistert vom Seminar des Summer Institute of Linguistics und meldete mich gleich als Bewerber für die Wycliffe Bibelübersetzer an. Alles wäre ohne Schwierigkeiten über die Bühne gegangen, wenn da nicht ein Foto von mir und Ruth aus dem Tessin gewesen wäre. Einer der Seminarleiter, es war Howard Klassen, bekam es ganz zufällig zu Gesicht und stutzte. Er fragte mich, wer diese junge hübsche Frau wäre und ich antwortete ihm scherzhaft: "Meine kleine Schwester". Darauf fiel er aber nicht herein und klärte mich auf, dass ich erst in die Organisation aufgenommen werden könne, wenn auch Ruth den Kurs besucht und die Prüfungen bestanden habe. Bei Wycliffe war es üblich, dass immer ein Team von zwei Leuten in ein Sprachgebiet geschickt wurde. Aus diesem Grunde verlangten die Bibelübersetzer von beiden dieselbe Ausbildung. Im Klartext hiess das, dass ich noch ein Jahr warten musste, bis auch Ruth das theologische Seminar in Aarau beendet und das Seminar für Sprachmethodik erfolgreich abgeschlossen hatte. Zurück in der Schweiz fand ich auf Anhieb wieder Arbeit in der Forschungsabteilung für Dieselmotoren bei Saurer in Arbon. In den 60-er Jahren des letzten Jahrhunderts war es kein Problem, sofort eine Arbeit zu finden. Und die Aussichten für die Zukunft waren hell und rosig.

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Backslash Zwar arbeitete ich wieder als Maschinenkonstrukteur in der gleichen Firma am Bodensee, doch der nächste Schritt war schon absehbar. Während Ruth sich am Theologischen Seminar in Aarau auf die Prüfungen vorbereitete, machte ich mir Gedanken darüber, wie wir uns in der zukünftigen Arbeit finanziell durchbringen könnten. Wycliffe ist keine eigentliche Mission, die für ihre Mitarbeiter sorgt. Ganz im Gegenteil, die Mitarbeiter sind verpflichtet, die Organisation mit 10% ihres Einkommens zu unterstützen. Dieses Geld wird dann für die Administration eingesetzt. Darum wird von jedem einzelnen Mitglied erwartet, dass es seine eigene Heimatgemeinde im Rücken hat, die es mit Spenden unterstützt und die finanzielle Verantwortung übernimmt. Hat ein Übersetzerpaar eine spendenfreudige Gruppe hinter sich, so geht es ihm gut. Es kann sich auf dem Feld einen Eisschrank, einen Generator, eine Solaranlage und anderen Luxus leisten. Wenn die Heimatgemeinde hingegen nicht viel Geld spenden kann, so muss auch auf dem Feld gespart werden, damit es für das Nötigste reicht. So war allgemein bekannt, dass die englischen Teams permanent am Limit lebten, während ein gewisser Neid gegen die "reichen Schweizer" zu spüren war. Um interessierte und gebefreudige Menschen zu finden, begibt man sich auf "Reisedienst". Überall wo man eingeladen wird, kann man über die Arbeit der Wycliffe Bibelübersetzer und über die eigenen Pläne berichten. So entsteht ein Netz von Beziehungen und viele Menschen verpflichten sich, die Arbeit regelmässig zu unterstützen. Besser als einzelne Freunde zu haben, wäre eine örtliche Gemeinde verpflichten zu können. In dieser Hinsicht hatte ich auch schon eine engagierte Gruppe im Visier. Werner G., der Bruder von Albert, hatte eine respektable Glaubensgemeinschaft aufgebaut und signalisierte, dass er mich gerne unterstützen würde. Er selber war toleranter und weniger extrem wie Albert. So lud er mich im Frühjahr zu einer mehrtägigen Freizeit nach Weggis am Vierwaldstättersee ein. Da sollte ich über unsere zukünftige Arbeit berichten und die Leute für die Bibelübersetzung begeistern. Natürlich wollte ich auch Ruth mitnehmen, um sie vorstellen zu können. Ruth und ich vereinbarten, uns am Nachmittag auf dem Bahnhof in Luzern zu treffen. Ich kam von Zürich her, während sie aus Richtung Aarau, Olten herreiste. Es war nicht schwer, sie unter den vielen Menschen zu entdecken, die aufgestellte, hübsche junge Frau. Beim Näherkommen stockte ich plötzlich und guckte genauer hin. "Bist du bei der Coiffeuse gewesen?", fragte ich sie zögernd. "Ja", antwortete sie strahlend, "ich wollte mich schön machen, um bei den Leuten an der Tagung einen guten Eindruck zu hinterlassen!" "Hoffentlich werden sie es zu schätzen wissen", dachte ich bei mir selbst. Ein leiser Zweifel stieg in mir auf. Wie werden diese guten alten Gläubigen die extrem kurzen Haare von Ruth beurteilen? Aber jeder musste doch zugeben, dass Ruth eine attraktive und fröhliche junge Frau war, die so, wie sie ist akzeptiert werden muss. Es wurde Abend in Weggis und nach dem Nachtessen versammelten sich alle im grossen Saal für die Abendpredigt, die Werner G. höchstpersönlich hielt. Er wählte eine ihm passende Bibelstelle und begann darüber zu referieren. Er hatte eine ganz spezielle Art zu predigen. Zuweilen setzte er eine sehr starke Betonung auf gewisse Wörter und sein "entweder-oder" Muster zog sich durch die ganzen eineinhalb Stunden seiner Ausführungen hindurch. Es sprudelte nur so aus ihm heraus. Sehr 23

bald merkten die Zuhörenden, dass es um absoluten Gehorsam Gott gegenüber ging, um das Ausführen seines Willens. Dieser sei im Wort Gottes verankert und wir seien dazu aufgerufen, danach zu handeln. Und dann kam, was ja kommen musste. Er donnerte gegen die Frauen los, die sich die Haare kurz schneiden lassen und so dem Wort Gottes ungehorsam seien. Dieser Gedanke erschöpfte sich nicht nur in einem einzigen Satz, sondern er füllte den ganzen Rest des Abends aus. Ruth sass zuhinterst im Saal und sackte in sich zusammen. Sie fing zu weinen an. Doch niemand kümmerte sich um ihren Zustand. So eine verdrehte Theologie hatte sie noch nie gehört. Sie wusste nicht, dass es so etwas überhaupt gab. Als die Strafpredigt endlich zu Ende war, verspürte sie heftige Kopfschmerzen. Aus Erfahrung wusste sie, wenn sie nichts unternahm, wird das in einer massiven Migräne enden. Ich war sehr besorgt um sie und bat die Frau von Werner G. um eine Kopfwehtablette. "Um Gottes Willen!", rief diese aus, "nur nicht dieses chemische Zeug! Sag ihr, sie soll ein kaltes Fussbad nehmen, dann wird es ihr besser gehen." Zum Glück war die Leiterin des Ferienzentrums barmherziger und gab mir einige Medikamente, die Ruth wieder auf den Damm brachten. Der Anblick von Ruth mit ihrer modernen, kurzen Frisur hatte Werner G. wahrscheinlich schon genügt, um auf eine Unterstützung zu verzichten. Auch uns selber ist die Lust vergangen. Im Geheimen wunderte ich mich, wie weit ich mich vom Denken dieser extremen Fundamentalisten schon entfernt hatte. Es ärgerte mich, dass ich in so eine Falle wie diese getappt war. Fast hätten wir uns von dieser Gruppe einwickeln lassen, wären da nicht zufällig die Predigt und diese Ablehnung uns gegenüber gewesen. "Lieber ohne Geld und finanziellen Support, als zurück in die Fängen dieser Religion!", war schliesslich meine Überzeugung. Fast gleichzeitig erhielt ich eine Anfrage des Seminars für Sprachmethodik in Deutschland, ob ich am nächsten Kurs nicht als Lehrer für Phonetik tätig sein wolle. Da Ruth dann ihren ersten Sprachkurs zu absolvieren gedachte fand ich es sinnvoll, auf diesen Vorschlag einzugehen. Der Kurs fand im Sommer in Wuppertal in einem christlichen Heim mit dem poetischen Namen "Honigstal" statt. Es lag etwas ausserhalb des Stadtzentrums in den hügeligen Wäldern. Auch dieses Mal zeichnete sich das Seminar durch harte Disziplin und Arbeitsdruck aus. Doch für die meisten kam noch etwas anderes hinzu. Die Seminarleitung hatte mit dem Heim eine spezielle Abmachung getroffen. Anscheinend mangelte es den Besitzern an Geld und so wurden die Studenten am Samstag zu schweren körperlichen Bauarbeiten herangezogen, gratis natürlich. Auch am Essen wurde gespart, wo es nur ging. Ehrlich gesagt, es war miserabel. So kam es, dass wir uns in der Freizeit bei den vielen Wurstständen in der Stadt aufhielten um nachzuessen, was wir die Woche hindurch vermissten. Für Ruth und mich gab es keine Fronarbeit. Ich war ja Lehrer und hatte deswegen einen Sonderstatus und Ruth war meine Freundin. Anstatt zu arbeiten begaben wir uns am ersten Samstagmorgen in den Wald zum spazieren. Als wir so dahin schlenderten begannen plötzlich die Sirenen in der ganzen Gegen zu heulen. Ich hielt inne, während sich alles in mir verkrampfte. Mit Bauchkrämpfen und einem Schweissausbruch musste ich mich auf den Waldboden legen. Als die Sirenen verstummten war alles vorbei. Durch diesen Probealarm, der regelmässig am Samstag um 11 Uhr ausgeführt wurde, stiegen die ganzen Ängste der Kindheit wieder in mir hoch. Wie oft hatten wir, als ich noch sehr klein war, am Bodensee Bombenalarm und wir mussten die Nacht im Keller verbringen, während auf der andern Seite des Sees die Bomben niedergingen und unser Haus erbebte. Für mich und meinen kleinen Bruder Martin waren das 24

Albträume. Und jetzt schien das, was damals während des zweiten Weltkrieges im Unterbewusstsein gespeichert wurde, einfach wieder heraufzukommen. So schnell wird man solche verdrängten Erinnerungen nicht los. Dasselbe gilt wohl auch für Glaubensfragen und die "christliche" Erziehung, die so vielen Menschen noch nach Jahrzehnten zu schaffen machen. Zwei Wochen nach Ende des Kurses heirateten Ruth und ich. Ich fand eine Stelle als Pfarrhelfer in Rheinfelden und Ruth arbeitete gleichzeitig in Basel als Kindergärtnerin im Kinderspital. Wir unterhielten ein äusserst freundschaftliches Verhältnis zur Pfarrfamilie Müller. Mein Einsatz war auf ein Jahr befristet, denn die Kirche wollte erst einmal schauen, wie sich so eine Stelle in der Gemeinde bewähren würde. Neben vielen pfarramtlichen Tätigkeiten hatte ich auch die Jugendgruppe zu betreuen. Wir selber waren ja auch noch jung - relativ jung - mit 26 Jahren. Als die jungen Leute einmal einen Tanzabend mit einer benachbarten Jugendgruppe planten, war es um meine innere Ruhe geschehen. Alles sträubte sich in mir, hier mitzumachen. Wiederum war es mein Unterbewusstsein, das mir einen Streich spielte. Tanzen? Aber das darf man doch nicht! Das ist doch Sünde! All die Strafpredigten gegen weltliche Freuden von Albert G. waren nicht vergessen, sondern lediglich verdrängt und tauchten urplötzlich wieder im Bewusstsein auf. Was kann ich nur tun, wie kann ich diesen Unsinn, den ich jahrelang gehört und geglaubt hatte, los werden? Anstatt einer Lösung zeichnete sich ein riesiger Streit mit meiner Frau ab, die für solche Probleme kein Verständnis hatte. Ruth nutzte diese Gelegenheit, um mir wieder einmal mein Verhalten im Bezug auf unsere Hochzeit unter die Nase zu reiben. Als es darum ging, ein Restaurant für unsere Feier zu suchen machte sie den Vorschlag, mit unserem Schwager Sami zusammen verschiedene Gaststätten zu besuchen, um den "Wein zu probieren". Ich war Feuer und Flamme für diese Idee. Doch diesmal waren es meine Eltern, die sich vehement gegen dieses Vorhaben wehrten. "Man sucht sich doch das Restaurant nicht nach dem Wein aus, den dieses anbietet", meinten sie. So wurde aus der Übung nichts. Nicht dass ich etwas gegen Wein gehabt hätte, wie das etliche Fundamentalisten - vor allem in Amerika - heute noch tun. Ganz im Gegenteil. In Italien hatte ich den Wert eines Glases Weines zu schätzen gelernt. Ja, ich bildete mir sogar etwas darauf ein. Im Vergleich zu Bier war Wein doch ein kulturell edles Getränk. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, je ein Bier zu trinken. Ja ich verachtete sogar Leute, die Bier tranken. Als mir meine Überheblichkeit eines Tages bewusst wurde, fasste ich ein Herz, bestellte im Bahnhof-Buffet ein Menü und dazu eine Stange Bier. Jetzt befand ich mich auf gleicher Stufe wie jene Menschen, die ich wegen des Biers gering geschätzt hatte. Das war zwar lange bevor ich meine Frau kennen lernte, aber es half. Andere Menschen negativ zu beurteilen war lange Zeit meine Spezialität. Ob das von Kindheit an in mir schlummerte oder ob ich das durch mein falsches religiöses Verständnis anerzogen bekam kann ich nicht beurteilen. Sicher ist, dass ich bei Albert G. auf dem Hasliberg alles negativ abzulehnen lernte, was nicht unserer Glaubensüberzeugung entsprach. Das war ein Steckenpferd von ihm. Seine Predigten bestanden zu 33% daraus, die Andersgläubigen zu kritisieren und zu diskreditieren. Auch ich tat das in Worten und Briefen, die ich an alle möglichen Vertreter des Evangeliums verschickte. Als Reaktion darauf hatte sich einmal ein junger Mann so geäussert: "Glaubt ihr denn, dass nur ihr recht habt und die andern Christen alle falsch liegen?"

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Jetzt, nachdem ich so eine positive Wende gemacht hatte, erschreckte es mich, dass gewisse Dinge immer noch da waren und bei Gelegenheit wieder an die Oberfläche kamen. Ein negativer Gedanke nach dem andern meldete sich in meinem Bewusstsein zurück. Eines Tages kam Ruth ganz begeistert von der Arbeit nach Hause und berichtete vom "Vogel Gryff" und dem "Wilden Mann", welche auf Booten den Rhein hinunter fuhren. Mein Innerstes bäumte sich in mir auf. Mit "heidnischen" Bräuchen hatte ich schon gar nichts am Hut. Ich verknüpfte diese Vorstellungen wiederum mit dem "Glauben an die Bibel". Meine religiöse Überzeugung liess es nicht zu, mich mit solchen Dingen zu befassen. Noch schlimmer wurde es, als Ruth von der Basler Fasnacht so fasziniert war, dass sie am liebsten selber hingegangen wäre. In diesem Moment befand ich mich wieder völlig im Griff der Religion, nur merkte ich das nicht. Ich realisierte nicht, dass meine Überzeugungen überhaupt nichts mit dem Evangelium, das Jesus verkündigte, zu tun hatten. Ruth indessen nahm mit ihren Kolleginnen und den Kindern am Nachmittag in Basel trotzdem am Fastnachtsumzug teil. Als Bernerin war das für sie alles komplett neu und beeindruckend, für mich dagegen ein rotes Tuch. Dass danach unser Haussegen schief hing war nur zu verständlich. Anstatt Frieden und Freude stiftete mein immer noch fundamentalistisch gefärbter Glaube Zwiespalt und Streit. Das allein hätte genügen sollen, mich hellhörig zu machen. Doch ich war noch nicht soweit, dies erkennen zu können. Für mich erschöpfte sich "Glaube" unbewusst immer noch im einhalten von Regeln und ungeschriebenen Gesetzen und für das Wahrhalten der biblischen Schriften. Dass ich da total falsch lag wurde mir erst viel später klar.

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Fügungen Von Fügungen spricht man dann, wenn sich alles ohne grosses Dazutun einfach ergibt. Fügungen sind mehr als nur "Zufälle". Alles passt ineinander, wie in einem Gefüge, wie wenn ein Plan dahinter stünde. Für die Zukunft hatte ich keine speziellen Strategien entwickelt, wohl aber hatte ich ein festes Ziel. Und das schien mir wichtig. Ich tat alles, um uns für die Arbeit eines Sprachforschers und Übersetzers vorzubereiten. Inzwischen war unser erster Sohn zur Welt gekommen und die Arbeit als Pfarrhelfer in Rheinfelden war beendet. Neu wohnten wir nun bei der Schwester von Ruth und ihrer Familie in Obergösgen. Glücklicherweise fanden mein Bruder Martin und ich eine Stelle als Maschinen-Konstrukteure in einer Firma im Baselland. Meine Aufgabe war es, eine grosse Schleifmaschine von Grund auf aufzubauen. Die Dimensionen waren 2 Meter in der Breite, 6 Meter in der Länge und etwa 3 Meter in der Höhe. Eine solche Maschine war im Handel nicht zu kriegen. Paul Stücklin, mein Chef, wollte die Gesenkwerkzeuge für die Fabrikation seiner Produkte selbst herstellen und brauchte zu diesem Zweck eine massgeschneiderte Maschine. Mir machte diese Arbeit riesigen Spass. Da der Chef ein Herz für die Mission hatte erlaubte er uns, den Nachmittag frei zu nehmen und über mehrere Wochen hinweg den Tropenkurs im Tropeninstitut in Basel zu besuchen. Hier lernten wir alles Wissenswerte über die Gefahren, die in tropischen Breitengraden auf uns lauerten. Professor Geigy führte uns minutiös in die Geheimnisse der Malariakrankheiten ein, während uns Dr. Freivogel alles Wissenswerte über Gifttiere beibrachte. Mit eingeschlossen im Kurs waren Laborarbeiten und das Erstellen von MikroskopPräparaten. Vorlesungen in Ethnologie wurden uns von Dr. Bär, dem Leiter des Völkerkundemuseums Basel erteilt. Der damalige Direktor des Basler Zoos, Dr. Lang, führte uns durch die tropische Fauna und schliesslich erhielten wir wertvolle Informationen über den Islam und seine Geschichte in den Vorlesungen von Professor Meier. Der vermittelte Stoff war so faszinierend, dass ich mich fragte, warum ich nicht die Matura gemacht und Medizin studiert habe. Die Gelegenheit dazu hätte ich gehabt. Aber eben, damals erachtete ich die Medizin als des Teufels. Zwischendurch präsentierten wir in einer Tonbildschau die Arbeit von Wycliffe an verschiedenen Orten wo wir eingeladen wurden. Ruths Arbeit als Kindergärtnerin ging zu Ende und als Abschied luden ihre Kolleginnen uns ein, im Hörsaal des Kinderspitals über unsere zukünftige Arbeit zu berichten. Normalerweise wurde immer eine Kollekte erhoben um unsere Unkosten zu decken. Diesmal aber nicht. Wir fanden es echt cool, dass wir einen Vortrag halten durften ohne dafür bezahlt worden zu sein. Eine Woche später waren Ruths Kolleginnen bei uns in Obergösgen zu Gast. Als Ruth sich in der Küche zu schaffen machte legten sie einen prall gefüllten Strumpf auf ihren Stuhl. "Habt ihr denn nicht gemerkt, dass wir im Kinderspital für euch einen Bazar organisiert haben?", riefen sie Ruth zu, als sie den Strumpf in die Hände nahm. "Wir lassen dich doch nicht ohne eine Spende gehen!" Wir waren überwältigt. Im Strumpf befanden sich Kleingeld und Banknoten, genau so viel, wie wir für den dreimonatigen Fortgeschrittenenkurs in England brauchten. Schliesslich war ich mit meiner Familie bereit, die Arbeit in irgendeiner ungeschriebenen Sprache der Welt aufzunehmen. Ruth und mich zog es immer noch nach Afrika. So reifte der Plan, uns in Nigeria einsetzen zu lassen. Nigeria haben wir nicht zuletzt deswegen in die engere Wahl gezogen, weil mein Onkel Fred Steiner 27

seit dreissig Jahren in Lagos ein Uhrengeschäft besass. Im Oktober 1966 nahmen wir an einer Tagung der Wycliffe Bibelübersetzer in Zürich teil. Namhafte Leute wie Direktor George Cowan waren eigens aus den USA hergereist um zu sehen, wie sich die Sache mit den ausreisewilligen Kandidaten entwickelte. All unsere Kameraden und Kameradinnen hatten schon fixe Termine für die Ausreise, ausser wir selbst. Uns fehlte schlichtweg das Geld. George Cowan machte eine bedenkliche Mine. Trotz allen Bemühungen hatten wir noch keine Gemeinde gefunden, die uns als ihre Missionare aussenden wollte. Auch der Freundeskreis war noch bedenklich klein. Einige Tage später drückte mir die Mutter unseres Schwagers eine 10-er Note in die Hand mit den Worten: "Das ist für eure Ausreise". Ich stutzte, dann kam mir eine Idee. Ich setzte mich hin und schrieb einen Rundbrief an all unsre Freunde und Bekannten. Darin berichtete ich: "Eben habe ich 10 Franken für unsere Ausreise erhalten, wir sind also bereit zu gehen!" Danach blieb uns nur noch das Staunen. Innerhalb von zwei Wochen hatten wir das Geld für den Flug und die Lebenskosten für die ersten drei Monate in Nigeria zusammen, insgesamt 7500 Franken. Die Nachricht verbreitete sich in Amerika und Afrika wie ein Lauffeuer. Überall, wo George Cowan hinkam verkündigte er begeistert diese gute Botschaft. Alle waren glücklich, dass nun auch wir unsere Arbeit aufnehmen konnten. Der Abschied auf dem Flughafen Zürich war bewegend und dauerte lange. Die halbe Verwandtschaft fand sich ein um uns Adieu zu winken. Plötzlich stand ein alter Bekannter vor uns, den wir nicht erwartet hatten. Kurt Weber war mein Zimmernachbar am ersten Kurs für Sprachmethodik. Bevor wir ins Flugzeug stiegen erklärte er uns, dass er eine Gruppe von interessierten Leuten betreue und für sie ein Projekt zwecks finanzieller Unterstützung suche. Er erklärte sich bereit, uns monatlich 1000 Franken zu schicken und auch anderweitig behilflich zu sein, wo es nötig werde. Erleichtert nahmen wir auf unsern Sitzen im Flugzeug Platz. Wir hatten zwar das Anfangskapital, das für unsere Arbeit nötig war, aber noch keine kontinuierliche Unterstützung. Dieses Problem hatte sich nun auf eindrückliche Weise auf einen Schlag gelöst. An Nigeria mussten wir uns erst einmal gewöhnen, nicht nur an die intensiven Gerüche, die fröhlichen Leute und die Hitze, sondern auch an den Umstand, dass das Land kurz vor einem Bürgerkrieg stand. Von Lagos aus flogen wir nach Enugu im Osten des Landes, dem Zentrum der Rebellen, die sich von der Zentralregierung trennen wollten. Überall war Militär anzutreffen und die Lage war angespannt. In dieser unsicheren Situation mussten wir in einem mehrwöchigen Kurs erst mal lernen, wie man sich den Menschen in Afrika gegenüber benimmt und worauf man alles achten muss. Wir waren eine bunte Schar von Leuten aus der Schweiz, Deutschland, England, Australien und Amerika, alle Greenhorns. Wir lernten kochen, backen, Hühnchen schlachten und Möbel zimmern. Aber auch die lokale Sprache der Igbo durfte nicht vernachlässigt werden, denn Einkaufen auf dem lokalen Markt gehörte dazu. Eines Tages rief Direktor John Bender-Samuel alle Teams zusammen und stellte uns verschiedene Stämme vor, die sich im Norden und einige im Westen von Nigeria befanden. Im Lande werden über 400 total verschiedene Sprachen gesprochen. Viele davon wurden nie erforscht und besassen weder eine Schrift noch Literatur. Nun galt es, einige davon von unsern Teams analysieren zu lassen. Nachdem John uns eine ganze Auswahl von Sprachgruppen präsentiert hatte meinte er, wir sollten uns nun überlegen, was für eine Sprache für uns in Frage käme. Mich beeindruckten die Mumuye und ich war gespannt, zu was für einem Schluss Ruth gekommen war. "In welcher Sprache würdest du am liebsten arbeiten?", fragte ich sie nach der 28

Sitzung. "Mumuye", war ihre spontane Antwort. Nach einigen Tagen rief der Direktor die Teams einzeln zu sich. Wir erklärten ihm, dass wir zum Schluss gekommen waren, Mumuye wäre unsere Sprache. Er nickte und meinte: "Wenn ihr das nicht gesagt hättet, so hätte ich euch selber auch Mumuye vorgeschlagen." Wie kommt es zu so einer Übereinstimmung? Wir waren fast ein bisschen gerührt. Für uns bedeutete das, dass wir nun ein bestimmtes Ziel hatten und irgendwie wurde dieses wie durch eine Fügung bestätigt. Wir hatten nie an der Richtigkeit unseres Entscheides gezweifelt.

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Lankaviri Mumuye ist ein Volk, das damals etwa 250'000 Leute zählte. Es teilt sich in 4

Hauptdialekte auf. Unsere nächste Aufgabe war herauszufinden, wo und in welchem Dialekt wir unsere Arbeit beginnen sollten. Zu diesem Zweck wurde ich mit Mona Perrin und Paul Dancy mit dem Land Rover auf Survey, also auf eine Erkundungsreise geschickt. Mona wollte das Volk der Mambila, die hoch oben auf dem Mambila-Plateau wohnen, erforschen und ich selber die im Tiefland angesiedelten Mumuye. Wir führten unsere Untersuchungen nach festen Kriterien durch und kamen zum Schluss, dass das Dorf Lankaviri mit dem freundlichen Häuptling Kpanti Gana ideal wäre, um mit der Sprachforschung zu beginnen. Nachdem der Emir von Jalingo mit unseren Plänen einverstanden war, vereinbarten wir mit Kpanti Gana, dass ich in einem Monat mit Frau und Kind wiederkommen werde. Wir kamen überein, dass er uns einige seiner runden Lehmhütten vermieten und daneben noch eine neue bauen werde. Die Fahrt von Enugu im Süd-Osten des Landes nach Lankaviri im Nord-Osten dauerte 2 Tage. Erika und Helmut Müller, ein befreundetes Ehepaar brachte uns samt einem Teil unseres Hausrats mit ihrem Pickup ins Dorf. Viele Dinge, die wir aus der Schweiz mitgebracht hatten, liessen wir auf der Basis in Enugu zurück. Wir schämten uns mit unseren vielen Sachen zu einem Volk zu gehen, das praktisch nichts besass. Wir wollten nicht als die "reichen Weissen" gelten. Später merkten wir, dass die Sorge um die Grösse unseres Besitzes total überflüssig war. Für die Bevölkerung waren wir weiss und darum zwangsläufig reich. In Lankaviri setzten uns die Müllers ab und versprachen, nach 3 Monaten wieder zu kommen um zu sehen, wie es uns gehe. Hier waren wir also, ohne Funk, ohne Auto und ohne Kontakt zur Aussenwelt, mitten unter einem Volk, dessen Sprache wir nicht verstanden und die selber – ausser einigen Schuljungs - kein Englisch sprachen. Wir nennen das eine monolinguale Situation. Doch wir fanden das cool und machten uns keine Sorgen, ob die Vorräte und das Geld reichen würden, oder was wäre, wenn eines von uns ernsthaft erkrankte. Für Notfälle war ja immer noch eine Missionsstation in der Nähe, die wir um Hilfe bitten konnten. Für Ruth war die erste Nacht im Dorf ein Albtraum. Immer wieder erwachte sie und schaute zur Tür, die eigentlich nur eine Öffnung in der Lehmwand war, um zu sehen, ob einer dieser halbnackten Männer mit den langen Messern uns angreifen würde. Völlig zu Unrecht, denn wir standen unter dem Schutz von Kpanti Gana. Niemand kam in sein Gehöft, wenn dieser das nicht wollte. Ausserdem waren die Leute freundlich und friedlich. Nur der in der Nähe wohnende Missionar machte uns Angst mit seinen Geschichten über Menschenopfer und dergleichen, die hier noch praktiziert würden. In einer gewissen Weise hatte er Recht, denn bis Anfangs der 1930er-Jahre galt Mumuyeland aus Sicherheitsgründen als Sperrgebiet. Keinem Weissen war es erlaubt, sich dort aufzuhalten, obwohl sich die Menschenopfer nicht gegen hellhäutige Leute richteten. Sie waren eine Folge früherer Stammeskriege und waren heute nur noch für die zugewanderten Moslems eine reale Gefahr. Die neue Strohhütte, wo wir die Küche einrichten wollten, stand bereits und wir warfen einen ersten Blick in ihr Inneres. Da fiel uns eine Figur auf, die in die Lehmwand einmodelliert war. Sie sah aus wie ein hohes Dreieck mit einer Banane oben drauf. "Nein, das ist keine Banane, sondern das sind die Arme des kopflosen 30

Fulani", erklärte uns Sanvo, einer der Jungs, die ein bisschen Englisch verstanden. Die Fulani kannten wir bereits. Sie sind das Nomadenvolk, das von Zeit zu Zeit mit ihren Kuhherden die Gegend durchquert. Aber ohne Kopf? Wir fanden nie heraus, was dieser Voodoo-Zauber bedeuten sollte. Allerdings ahnten wir, dass eine latente Feindschaft zwischen den Volksgruppen der Fulani und der Mumuye bestand. Die Fulani gehören dem islamischen Glauben an. Sie sind früher als Eroberer im heiligen Krieg in Mumuyeland eingedrungen und haben die Herrschaft über das Gebiet an sich gerissen. Seither herrscht in Jalingo, einer Stadt, die etwa 20 Meilen südlich von Lankaviri liegt, ein traditioneller Emir. Noch waren nicht alle Hütten bewohnbar. Während wir "Schlafzimmer" und "Küche" instand stellten und ein Sonnendach zwischen beiden Hütten errichteten, konnten wir die Nacht auf der Missionsstation verbringen. Diese befand sich nur etwa einen Kilometer entfernt auf einem Hügel. Eines Morgens kam ich ins Tal zum Gehöft und sogleich wurde ich von etwa sechs bis acht finster dreinschauenden Männern umringt. Es waren robuste, stark gebaute Menschen, die nur mit einer Ziegenhaut um die Lenden bekleidet waren. Während einer anfing auf mich einzureden und herum zu gestikulieren, kreisten mich die Männer immer enger ein. Besorgt schaute ich auf ihre langen Messer, die locker in ihren Gürteln steckten. Nun wurde mir langsam ungemütlich zumute. Was tun in so einer Situation? Ich langte in die Tasche und zog einen 10-Shilling Schein heraus - das entsprach etwa 6 Franken - und gab ihn dem Wortführer. Jetzt war der Bann gebrochen. Alle strahlten übers ganze Gesicht und entfernten sich langsam. Endlich erschien auch Sanvo, den ich als Sprachhelfer angestellt hatte. Ich fragte ihn, was das ganze Palaver bedeuten sollte. Die Erklärung war einfach. Ich liess von meinen Helfern ein tiefes Loch graben, um daraus eine Toilette zu bauen. Dr. Freivogel von der Universität Basel hatte uns geraten, das Loch mindestens 3 Meter tief zu machen, wegen den Hakenwürmern. Falls jemand infiziert sei, so würden die Würmer versuchen, aus den Exkrementen heraus an der Wand wieder an die Oberfläche zu krabbeln. So könnten sie weitere Menschen infizieren, indem sie sich durch die Haut in den Körper bohrten und sich im Darm wieder vermehrten. Doch einen Weg von 3 Metern würden sie nicht schaffen und würden im Loch verenden. Nun geschah es, dass in der Nacht die Ziege eines Nachbarn ins Loch gefallen war und sich ein Bein gebrochen hatte. So konnte ich die Aufregung der Leute verstehen und die 10 Shilling waren ein gutes Schmerzensgeld für die arme Ziege. Alle waren glücklich, ausser Sanvo und die andern Helfer. Sie wollten nicht mehr weiter graben. Sie befürchteten, in der Tiefe auf Totengeister zu stossen. Und dabei blieb es. Die Toilette wurde nur 2,5 Meter tief. Trotzdem hatten wir nie Probleme mit Hakenwürmern, weil es in dieser Gegend anscheinend gar keine Hakenwürmer gibt. Die Mumuye sind ein lebensfrohes Volk, trotz der gefahrvollen Umgebung, in der sie wohnen. Niemand weiss, ob er am Abend noch leben würde. Da gab es Schlangen, nicht nur harmlose Hausschlangen, sonder auch schwarze Kobras und Skorpione. In der Regenzeit wütet die tödliche Malaria und in der Trockenzeit die ebenso tödliche Meningitis. Im nahe gelegenen Gewässer konnte man sich mit Bilharzia anstecken. Eine allgemeine Gefahr stellten auch die Amöben dar, vor allem die aggressive Entamoeba Histolytica, die nicht nur Bauchschmerzen verursacht, sondern auch in andere Organe wie Herz, Lungen und Hirn eindringt, was tödliche Folgen haben kann. Ich bewunderte die Leute, wie sie das Leben nicht nur meisterten, sondern wie fröhlich und sorglos sie es geniessen. Wann immer sie konnten sangen sie bei der Arbeit. Sie tanzten und musizierten bei jeder Gelegenheit und feierten Feste. So eine Gelegenheit zur Freude musste auch unser Kommen in ihr Dorf gewesen sein. Als 31

ich mich mit meiner Familie auf einem Feldweg befand näherte sich eine Gruppe von Frauen. Sie sangen und tanzen und als sie näher kamen fingen sie an, einen Kreis um mich zu bilden und mich einzuschliessen. Der Kreis wurde immer enger und ich geriet allmählich in Panik. Da stand ich also, inmitten von einem Dutzend nackter Frauen und wusste nicht, was ich tun sollte. Da plötzlich sah ich einen Ausweg. Zwischen zwei Tänzerinnen bildete sich eine kleine Lücke. Ich hechtete mich durch sie hindurch und rannte weg. Das Singen wich einem schallenden Gelächter, das noch lange anhielt. So eine Szene hatten sie bei einem Willkommenstanz sicher noch nie gesehen. Dass nackte Frauen und halbnackte Männer mir keine Probleme bereiteten erstaunte mich immer wieder. Vielleicht hatte ich mich inzwischen innerlich schon so weit von der moralischen Religiosität gelöst, dass ich die Leute so nehmen konnte wie sie waren. Das bringen bei Weitem nicht alle Missionare fertig, auch einheimische Christen von andern Stämmen nicht. Für sie ist das Christentum eine Ansammlung von moralischen Gesetzen. Die meisten versuchen, die Mumuye zu ändern und zu überzeugen, dass sie Kleider anziehen und das Biertrinken aufgeben sollen. Doch wir waren ja nicht hierhergekommen, um die Bräuche zu ändern, sondern sie zu erforschen und zu respektieren. Im Bezug auf das Nacktsein und das Schamgefühl der Menschen machten meine Frau und ich eine interessante Erfahrung. Die meisten Christen und vor allem die Moslems meinen, nackte Menschen verhielten sich schamlos, wo doch gemäss der Bibel das Schamgefühl von Anfang an von Gott ins Unterbewusstsein der Menschen geschrieben sei. Ganz zufällig erfuhren meine Frau und ich, dass dem nicht so ist. Während unseres Aufenthaltes im Dorf der Mumuye bat uns ein Teenage Mädchen, doch ein Foto von ihr zu machen. So stellte sie sich denn vor die Kamera, bekleidet mit nur einer Glasperlenschnur um den Bauch, an der hinten ein kleines Büschel Blätter hing. Wenn immer ich die Gelegenheit hatte, mich an ein Stromnetz anzuschliessen, richtete ich eine provisorische Dunkelkammer ein und entwickelte und vergrösserte die Filme selber. Als wir das Bild in Postkartengrösse dieser Dame überreichten, betrachtete sie dieses äusserst kritisch und meinte schliesslich: "Das gefällt mir nicht, ich schäme mich". "Siehst du", trumpfte meine Frau auf, sie haben doch ein natürliches Schamgefühl und schämen sich, wenn sie nackt sind!" "Sachte, sachte", gab ich zur Antwort. "Wollen wir sie nicht erst einmal fragen, weshalb sie sich schämt?" Auf unsere Frage hin zeigte das Mädchen auf den Kopf im Bild und meinte: "Ich schäme mich wegen dieser grässlichen Frisur. Ich hätte mich vorher frisieren sollen." Zuerst schauten wir uns nur verblüfft an, dann aber brachen wir in ein herzhaftes Lachen aus. Scham im Zusammenhang mit Bekleidung und Nacktheit ist keine natürliche, von Gott gegebene Eigenschaft, geschweige denn ein christlich-religiöses Merkmal. Es ist ein Produkt unserer Erziehung und beeinflusst von unserem gesellschaftlichen Umfeld. Auch die Mumuye haben Schamgefühle, das ist deutlich sichtbar geworden bei der Frisur des Mädchens. Ein anderes Beispiel ist klein Umba. Sie war etwa drei oder vier Jahre alt, als sie in unserem Beisein von ihrem Onkel heftig zurechtgewiesen wurde. Der Grund war, dass ihr kleiner Blätterbusch hinten verrutscht war und man ihren Po sah. "So unanständig kannst du doch nicht herumlaufen!", schimpfte der Onkel.

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Durchkreuzte Pläne Ruth und ich fingen an, uns an das Leben im Busch zu gewöhnen, ja uns sogar wohl zu fühlen. Häuptling Kpanti Gana hatte uns drei Hütten zu je fünf Franken pro Monat vermietet und wir waren daran, uns häuslich darin einzurichten. Es waren etwa vier Wochen vergangen, als wir Besuch erhielten. Vor unserem Gehöft tauchte wie aus dem Nichts ein weisser Mann auf. Es war Paul Meier, ein Kollege von uns. Wir hatten nicht einmal Zeit ihn richtig zu begrüssen und unserem Erstaunen über sein Erscheinen Ausdruck zu geben, als er uns aufforderte, sofort das Nötigste zusammen zu packen und mit ihm zu kommen. Schliesslich erfuhren wir, dass zwischen der Zentralregierung und den Rebellen Krieg ausgebrochen sei und er von der Regierung die Weisung bekomme habe, alle im Norden zerstreuten Teams zu sammeln und nach Lagos in den Süden zu bringen. Weil wir unser Hauptquartier in Enugu, dem Zentrum der Rebellen hatten, waren wir für die Behörden äusserst verdächtig. In der damaligen Hauptstadt Lagos konnten sie uns besser unter Kontrolle halten. So schlossen wir unsere Habseligkeiten in der Hütte ein, wo sich unser Schlafzimmer befand. Zuschliessen konnte man das zwar nicht nennen. Doch irgendwie konnten wir die Öffnung behelfsmässig zumachen und vertrauten nun einfach Kpanti Gana, dass er alles gut bewachte. Dann machten wir uns auf den Weg zum Flugfeld in Jalingo, wo bereits ein zweimotoriges Flugzeug für uns bereit stand. Lagos war schon Ende der Sechzigerjahre eine riesige Stadt mit einem Durchmesser von 30 Kilometern und mehreren Millionen Einwohnern. Wir hatten das Glück, uns in Blockwohnungen der VW-Werke einzumieten. Diese lagen etwas ausserhalb der Stadt an der Ikorodu Road, die zum Flughafen führte. Auch Onkel Fred, der Uhrenhändler, wohnte an derselben Strasse, einige Kilometer weiter Stadteinwärts. Um die Zeit zweckmässig zu nutzen, begannen wir als Gruppe die Hausa Sprache zu lernen. Hausa wird im Norden Nigerias gesprochen und gilt als eine der wichtigsten Handelssprachen. Inzwischen verschärfte sich die Situation und die Rebellen führten etliche Bombenanschläge in der Stadt aus. So wurde auch ein Postgebäude in der Nähe meines Onkels zerstört. Die Regierung unter General Yakubu Gowon schlug erbarmungslos zurück. Über's Wochenende fand eine brutale Verhaftungswelle statt. Zehntausende von Menschen aus dem Osten fielen der Säuberung zum Opfer. Auch bei unserem Haus wurden Leute abgeführt. Vor unsern Augen wurde ein Mann brutal mit Gewehrkolben zusammengeschlagen und verhaftet. Er wurde beschuldigt, mitten auf einem Feld eine Bombe platziert zu haben. Die Soldaten zeigten uns die angebliche Bombe. Unser Intervenieren trug keine Früchte. Bei zwei andern Oststaatlern, die in unseren Wohnblocks als Stewards arbeiteten, bestanden Walter Fehlmann und Werner Kleiner darauf, die Verhafteten zu begleiten. Als sie mit ihnen nach Stunden wieder zurückkehrten erklärten sie, dass die beiden ohne ihre Anwesenheit keine Überlebenschancen gehabt hätten. Trotz den turbulenten Vorgängen in der Stadt machten wir uns mit dem Auto auf den Weg, um einen Freund, der bei der UTC arbeitete, am andern Stadtende zu besuchen. Die United Traiding Company, wie sich die UTC mit vollem Namen nannte, war eine von uns allen geschätzte Schweizer Firma, die über ganz Westafrika ihre Filialen hatte und sicher auch heute noch hat. Sie betrieb in Lagos nicht nur einen sauberen Supermarkt, in dem man Schweizer Bratwürste und Cervelats kaufen konnte, sondern auch eine Abteilung für Haushaltsgeräte und 33

Eisenwaren, bis hin zu schweren Maschinen. Auf unserem Weg zu unserem Freund Willi und seiner jungen Frau begegneten wir überall Ansammlungen von wütenden Menschen, die irgendeinen Unschuldigen zum Armeecamp schleiften. Als wir mit unsern Gastgebern beim Nachtessen sassen, schienen die Tumulte in der Nachbarschaft intensiver zu werden. Ihre Wohnung befand sich in der Nähe der Victoria Beach, wo auch die Militärregierung ihren Sitz hatte. Menschen wurden aus den Nachbarhäusern gezerrt und Schüsse fielen. Besorgt fragten wir uns, was da eigentlich abläuft. Gegen zehn Uhr liess die Schiesserei nach und es wurde langsam still. Eine gute Gelegenheit, den Heimweg anzutreten. Doch wir hatten Bedenken, uns mit unserem Auto, das ein Enugu-Nummernschild trug, auf die Strasse zu wagen. So tauschten wir die Fahrzeuge und verliessen mit einer Lagos-Nummer das Gehöft. Kaum waren wir auf der Strasse, als wir auch schon in eine Militärsperre gerieten. Ein wütender Soldat stürzte auf uns zu und schrie uns an. Ob wir nicht sähen, was hier geschehe und was wir auf der Strasse zu suchen hätten. Er lehnte sich unbeholfen an die Autotür und ich merkte, dass er stockbesoffen war. Wie sonst wäre es ihm möglich gewesen, den ganzen Abend lang Menschen zu erschiessen. Nun war ich an der Reihe, ihm eine Antwort zu geben. "Können Sie uns bitte helfen? Wir müssen an die Ikorodu Road fahren." Nun änderte sich sein Gemütszustand schlagartig und er begann uns ausführlich den Weg zu beschreiben. Am Schluss ermahnte er uns, auf dem Weg gut aufzupassen und sofort anzuhalten, falls wir in eine Strassensperre geraten sollten. Ich bedankte mich bei ihm und er liess uns gehen. Auf dem Heimweg waren keine Spuren der Säuberung mehr zu sehen. Alles verlief ruhig und wir erreichten unser Ziel ohne Zwischenfälle. Am nächsten Tag tauschten wir die Autos wieder gegen unsere eigenen aus. Apropos "eigenes Auto". Wir besassen zu dieser Zeit kein eigenes Auto, obwohl wir uns dies wünschten. Wann immer wir ein Fahrzeug brauchten, borgten wir uns ein "Group Vehicle" aus und zahlten pro Meile einen Franken und zwanzig Rappen. Alles wäre viel einfacher gewesen mit einem eigenen Fahrzeug. Schon seit einer Woche hatte ich mich mit Ruth zusammen in Lagos in verschiedenen Garagen nach einem geeigneten Gebrauchtwagen umgesehen. Wir fanden nichts Passendes. Mein Onkel, der einen praktischen Opel besass, hatte diesen vor einigen Wochen verkauft, obwohl er ihn mir versprochen hatte. Also suchten wir weiter und besuchten am Tag nach dem Massaker eine Firma auf, die VWs verkaufte. Autoverkäufer Hoier, ein Deutscher, war äusserst freundlich, hatte im Moment aber kein zweckmässiges Gefährt für uns. Während unserem Gespräch wurde er immer wieder von Telefonanrufen unterbrochen. Eine Meldung nach der andern über vermisste Mitarbeiter erreichte ihn, alles fähige Leute, die in der Nacht zuvor umgebracht wurden. In den stündlichen Nachrichten von BBC und Voice of America erfuhren wir, dass die Rebellen immer näher gegen Lagos vorrückten. Nicht nur wir Europäer, sondern auch die Afrikaner waren wie auf Nadeln. Herr Stieler, unser Nachbar und Ingenieur bei den VW-Werken, wollte die Koffern packen und Hals über Kopf nach Deutschland abreisen. "Ich habe die Nase vom zweiten Weltkrieg schon voll ", erklärte er uns." Ich brauche dieses hier nicht mehr!" Sein Arbeitgeber war aber nicht einverstanden mit dieser Kurzschlusshandlung und er musste in Lagos bleiben. Dafür machten wir uns selbst auch Gedanken, ob wir nicht doch besser nach Ghana umsiedeln sollten, um in Ruhe an der Hausa Sprache arbeiten zu können. So beluden wir die Autos mit unseren Sachen und stapelten den Pick-Up voll mit Matratzen. Es muss ein grotesker Anblick gewesen sein, als uns ein Zollbeamter an der Grenze zu Benin 34

fragte "Warum rennt ihr weg?" Dass wir vor dem Krieg wegrannten bestritten wir vehement. Wir wollten ja nur ein bisschen Frieden haben.

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Ghana Es war schon Abend, als wir die Grenze zu Ghana erreichten. Die Reise von Lagos führte uns dem Meer entlang durch die Länder Benin und Togo. Nun waren wir recht müde und wünschten, schon im Wycliffe Quartier in Accra zu sein. Doch die Zollbeamten bestanden darauf, dass wir den ganzen LandRover auspackten und unser Gepäck kontrollieren liessen. Wir gaben uns echt Mühe, ihnen zu erklären wozu wir die einzelnen Gegenstände brauchten, von der Damenbinde bis zum Wasserfilter. Schliesslich verloren sie die Geduld und platzen mit der Frage heraus, die ihnen schon von Anfang an auf der Zunge brannte: "Give me dash?" Nun dauerte es wieder eine ganze Weile bis sie begriffen hatten, dass wir aus Prinzip keine Schmiergelder zahlen. Schliesslich durften wir alles wieder ins Auto packen und wir verabschiedeten uns von ihnen, ohne einen Dash bezahlt zu haben. Nach einem mehrtägigen Aufenthalt in Accra zogen wir ins Landesinnere. Koforidua liegt auf einem Plateau und darum ist es dort wesentlich kühler als im heisstropischen und feuchten Accra. Die Stadt war Zentrum des Kakaoanbaus in Ghana. Trotzdem war es nicht möglich, auch nur ein einziges Päckchen Kakaopulver für den Schokoladekuchen zu kaufen. Dieses Produkt mussten wir uns aus der Schweiz kommen lassen. Zusammen mit Don und Edie Burquest bewohnten wir ein Appartement im ersten Stock eines recht gut gebauten Hauses. Mit Yusufu, den wir als unsern Lehrer anstellten, arbeiteten wir an der Hausa Sprache. Wir waren umgeben von Ghanesischen Menschen und fühlten uns wohl bei dieser freundlichen Nachbarschaft. Was mir besonders gefiel war die friedliche Atmosphäre, ohne das nächtliche Gewehrfeuer und die Kriegsstimmung, die in Lagos herrschten. Die Bewohner schienen auch recht religiös zu sein. In Koforidua, so wurde gesagt, gibt es über dreissig Kirchen pfingstlicher Prägung. Drei davon befanden sich unmittelbar in unserer Nähe. Diejenige hinter unserem Haus zog meine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Die Gläubigen pflegten sich abends, als es schon dunkel war zu versammeln. Mehrere Fackeln erleuchteten den gespenstisch anmutenden offenen Raum, während die Gemeinde zu wilden Trommelklängen sang und der in eine weisse Robe gekleidete Pfarrer mit einem langen Schwert in der Hand einen exotischen Tanz aufführte. Doch nicht alle Kirchen gebärdeten sich so wild. Etwas weiter unten an der Strasse traf sich eine Gruppe, die immer am Singen war. Als Rhythmusinstrument diente eine Bassgeige mit nur einer Saite. Der Rhythmus den sie erzeugte faszinierte mich jedes Mal, wenn ich dort vorbei ging. Einige Häuser weiter oben beobachteten wir eine Versammlung, wo weder gesungen noch getanzt wurde. Die Beteiligten sassen jeden Abend im Kreis und studierten miteinander die Bibel. Die Vielfalt des religiösen Lebens in Ghana ist beeindruckend. Man begegnet diesen frommen Menschen auf Schritt und Tritt, sogar am Strand in Accra. Dort sind es vor allem die "Cherubim und Seraphim", die das Bild prägen. Alle Beteiligten sind in weisse Gewänder gehüllt und bilden normalerweise einen Kreis im Sand. Vielfach befindet sich in der Mitte eine Frau, die sich bei den exotischen Rhythmen in einer Art Trance befindet. Was genau sich da abspielt, wollte ich nicht wissen, zu unheimlich kamen mir diese Rituale vor. Gegen Ende des Jahres vernahmen wir aus den News, dass Lagos nicht mehr in Gefahr war und sich die Rebellen nach Osten zurückzogen. General Yakubu Gowon gewann mit seinen Truppen täglich an Boden gegen die Armee von Biafra. So bereiteten wir uns gedanklich schon einmal auf die Rückkehr nach Nigeria vor. Kurz 36

vor Weihnachten lösten wir die Wohnung in Koforidua auf und quartierten uns im Gästehaus der Wycliffe in Accra ein. Diese Jahreszeit wird in Westafrika allgemein als Trockenzeit bezeichnet. Doch in Meeresnähe kommt es nicht selten vor, dass ab und zu Regen fällt. Manchmal weht auch der Harmattan, der Wind vom Norden, der viel Staub aus der Sahara mit sich bringt. Dann ist es wie in der Schweiz, wenn dichter Nebel herrscht. Am Weihnachtstag jedoch hatten wir strahlendes Wetter, weder Regen noch Harmattan und wir beschlossen, diesen Tag am Strand unter Palmen zu geniessen. Leichte Wellen verführten einige dazu, sich auf das Surfbrett zu legen. Spektakuläre Rides gab es aber nicht, dafür war es einfach schön, friedlich und gemütlich. Nach dem Neujahr hiess es dann Abschied nehmen von Accra. Innerhalb von einer Tagesreise erreichten wir Lagos und fanden ein Gästezimmer bei der Sudan Inland Mission. Und wieder ging die Suche nach einem eigenen Auto los. Wir klapperten einige Garagen ab und landeten schliesslich auf dem Werkgelände der VW. Ja, sie hätten einen Wagen, aber der sei im Moment grad unterwegs. Wir sollen gegen Mittag noch einmal vorbei kommen. Es sei ein schwarzer VW Variant, erklärte uns ein afrikanischer Mitarbeiter. Wir bedankten uns und gingen weiter auf die Suche. Ein schwarzes Auto! In dieser Hitze! Das kam für mich gar nicht in Frage. Die Uhr zeigte kurz vor Mittag und wir hatten noch immer keinen Erfolg. So traten wir den Heimweg an. Ruth meinte: "Lass uns doch nochmals bei VW vorbeischauen und den Wagen besichtigen!" "Nein", bestimmte ich in autoritärer Manier. "Erstens ist es schon spät und in der SIM wartet man auf uns mit dem Mittagessen und zweitens will ich keinen schwarzen Wagen." Während ich das sagte erreichten wir den riesigen, mehrspurigen Verkehrskreisel bei der Broad Street im Zentrum der Stadt. War es meine Unaufmerksamkeit oder sonst etwas, dass ich mich plötzlich auf der falschen Spur befand? Ich schimpfte ein wenig und sagte zu Ruth: "Nun gut, wenn wir uns schon auf der Spur befinden, die zu VW führt, dann können wir uns das Auto noch schnell ansehen." Wir bogen in den Werkhof ein und stiegen aus dem Wagen. Ruth sah das "schwarze" Auto schon von weitem. "Das ist es!", rief sie, "das ist unser Auto!". Der Wagen war nicht schwarz, sondern dunkelblau. Doch alles, was nicht knallig ist, nennen die Afrikaner "schwarz". Auf der Heckscheibe stand der Verkaufspreis: £660, das entsprach damals etwa 8000 Franken. In diesem Moment verliessen zwei Europäische Geschäftsherren die Werkhalle. "Sind Sie immer noch auf der Suche nach einem Auto, Herr Krüsi!" Wir trauten unsern Augen nicht. Es war Herr Hoier, mit dem wir vor fast einem halben Jahr ein Gespräch in seinem Büro im Zentrum der Stadt geführt hatten. Dass der uns wiedererkannte und noch unsern Namen wusste! Er kam auf uns zu, schwenkte seinen Arm in Richtung des VWs und meinte: "Ich kann Ihnen diesen da für £550 überlassen." Das entsprach etwa 6600 Franken. Der Deal mit Herrn Hoier war schnell gemacht, hatte sich doch eine Tante von Ruth bereit erklärt, für uns ein Auto zu finanzieren. Der Autokauf ist die eine Sache, doch wie er zustande kam hatte mich noch lange beschäftigt. Wer hat mich beim Verkehrskreisel auf die falsche Spur fahren lassen? Wieso war Herr Hoier an jenem Tag und zu genau dieser Stunde auf dem Werkhof, wo er doch sonst nur sehr selten dort anzutreffen war? Wieso kannte er uns noch und war bereit, uns eine massive Preisreduktion zu gewähren? Es hatte nichts zu tun mit sturen Glaubenssätzen oder mit religiösem Eigensinn. Es war einfach Gottes Timing, eine Begegnung mit der Kraft des lebendigen Gottes.

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Gottes Timing Das war nun schon das dritte Mal, dass Gott uns seine Macht und Liebe handgreiflich unter Beweis stellte. Das erste Mal staunten wir über den prall mit Geld gefüllten Strumpf, welche die Belegschaft des Kinderspitals in Basel für unsere Weiterbildung in England gesammelt hatte. Ein halbes Jahr später erlebten wir, wie das Geld für unsere Ausreise auf fast übernatürliche Weise zusammen kam. Und nun dieses Ereignis mit dem Auto. Es ist nicht zu leugnen, dass wir durch diese Begebenheiten näher zum Glauben an Gott und zum Vertrauen in ihn herangeführt wurden. Gleichzeitig merkte ich auch, dass die "Religion", von der ich so sehr vereinnahmt war, zu verblassen begann. Ein völlig neues Bild von Gott und Jesus fing an, sich in mir zu formen, zwar langsam, aber stetig. Und das sollte sich in Zukunft noch intensivieren. Mit neuem Mut und Lebensfreude traten wir eines Morgens unsere Reise von Lagos zurück nach Jos im Norden des Landes an. Die Missionare warnten uns inständig vor einem Armeeposten bei der Stadt Ibadan. Einer ihrer Kollegen habe den Posten nicht bemerkt und anstatt anzuhalten, sei er weitergefahren. Die Soldaten stoppten ihn und er musste sich "at Gunpoint" auf den Boden legen, bis sein Auto untersucht war. Dem wollten wir vorbeugen. Wir kauften im Buchladen etwa zehn neue Testamente in modernem Englisch und platzierten sie hinten im Auto. Wir wollten sie, wo es möglich war, an die Leute verteilen. Als wir uns der Stadt Ibadan näherten, passte ich besonders gut auf, um den Armeeposten nicht zu verpassen. Doch genau das ist dann geschehen. Der Posten war nicht gut sichtbar und ich fuhr daran vorbei, stoppte aber sofort und fuhr rückwärts. Ein düster dreinschauender Soldat kam auf mich zu und umkreiste das Auto. "Was ist das?", brummelte er, als er die Bücher sah. Ich zeigte ihm eines und machte ihn auf die lustigen Bilder darin aufmerksam. Er wollte es haben. Ich gab es ihm und noch eins für seinen Kollegen. Wortlos kehrte er uns den Rücken, setzte sich und fing an zu lesen, ohne sich weiter um uns zu kümmern. Vorsichtig fuhren wir los und waren froh, dieses Hindernis überstanden zu haben. In Jos angekommen kümmerte sich Ron Stanford um uns. Er ist Doktor der Sprachwissenschaft, wurde aber von der Organisation dazu freigestellt, den Teams behilflich zu sein, damit sie wieder in ihre Sprachgebiete zurückkehren konnten. Als nächsten Schritt mussten wir vom Gouverneur der Adamawa Provinz in Bauchi eine Bewilligung erwirken, die es uns erlaubte, wieder zu den Mumuye zurück zu kehren. Wir vereinbarten einen Termin und fuhren zusammen in die etwa 150 Kilometer im Osten von Jos liegende Stadt. Als ich den Gouverneur begrüsste, fiel mir fast das Herz in die Hosen. Er war derselbe Mann, der vor fast einem Jahr, als er Provincial Secretary in Yola war, uns aus dem Land weggewiesen hatte. Bei den Missionaren hatte er einen schlechten Ruf. Er soll im Massaker von 1966 höchst persönlich mit dem Messer die Menschen vom Stamm der Igbos gejagt haben. Dreissigtausend seien damals in wenigen Tagen umgekommen. Als Antwort darauf riefen die Igbos von Süd-Ost-Nigeria die Republik Biafra aus, was dann schliesslich zum grausamen Biafra-Krieg führte, der schätzungsweise zwei Millionen Tote forderte. Der Gouverneur zeigte sich verschlossen und unnahbar. Er wies darauf hin, dass wir ein Empfehlungsschreiben der Universität Zaria bräuchten, um wieder nach Mumuyeland zurückkehren zu können. Das Warten zog sich über Wochen hin. Als das Dokument endlich bei ihm ankam stellte sich heraus, dass der Rektor der 38

Universität vergessen hatte, seine Unterschrift darunter zu setzen. Also wieder warten und Hausa lernen. Wir wohnten mit unserem zweieinhalbjährigen Simon in einem Zimmer der Sudan United Mission und unternahmen viele interessante Dinge mit ihm. Wir besuchten den Zoo oder das Museum. Doch am meisten interessierte sich der kleine Mann für den "Schupschop". Es dauerte eine ganze Weile bis wir herausfanden, dass er zum Book Shop gehen wollte. Ein beliebtes Freizeitvergnügen war auch der Englische Club. Dort hatte es ein Schwimmbad und man konnte sich kulinarisch verpflegen. Einen Tag nachdem wir mit unserem Hausa Lehrer den grossen Markt von Jos besucht hatten, entschlossen wir uns, im Englischen Club das Mittagessen einzunehmen und einige Runden zu schwimmen. Doch Simon war unpässlich und wollte sein Mittagessen nicht anrühren. Als strenge Eltern mussten wir ihn natürlich bestrafen und schlossen ihn für kurze Zeit ins Auto ein. Doch auch das nützte nichts. So verzichteten wir aufs Schwimmen und gingen nach Hause. Mit der Zeit wurde es offensichtlich, dass Simon krank war und wir steckten ihn ins Bett. Es war ziemlich genau 14 Uhr. Ruth gab ihm ein Aspirin und Simon schlief ein. Beim Vier-Uhr Tee, der in englischen Hostels ein Muss ist, erzählten wir von dem Vorfall. Hazel, die Leiterin des Hostels - Missionarstochter und ausgebildete Krankenschwester - wollte Simon sehen. Simon lag ruhig im Bett mit halbgeöffneten Augen. "Die Wirkung des Aspirins", meinte Ruth. Doch Hazel riet uns dringend, mit ihm zum Arzt zu gehen. Das wiederum wollten wir nicht. Wir kannten den Arzt. Er war bekannt für seine Rüpelhaftigkeit. Nach seiner Überzeugung schluckten die Leute viel zu viele Pillen. Sie würden besser mehr beten, war seine Ansicht. Doch auf das eindringliche Drängen von Hazel begaben wir uns trotz Zweifeln zum nahegelegenen Spital. In der Eingangshalle legte ich Simon auf ein Sofa und suchte das Haus des Arztes. Während ich klingelte hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich den Doktor wegen einer Bagatelle stören musste. Wortlos begleitete er mich zum Spitaleingang, wo er einen kurzen Blick auf Simon warf. Er nahm ihn auf seine Arme und verschwand mit ihm im Operationssaal. Inzwischen wies uns die Krankenschwester ein Zimmer zu und bat uns, hier zu warten. Nach geraumer Zeit kam sie zurück. Tränen kugelten ihr über die Wangen. Schliesslich sagte sie, dass der Arzt uns selber sagen werde, wie es um Simon stehe. Ruth und ich schauten uns erstaunt an. Ob Simon doch eine gravierendere Krankheit hat als wir angenommen hatten? Der dreimonatige Kurs für Tropenmedizin in Basel gab mir die Gewissheit, dass wir in Sachen Tropenkrankheiten recht gut gewappnet waren. Doch hier wurden wir mit einer Krankheit konfrontiert, von der wir bis anhin nichts wussten. Schliesslich kam der Arzt mit Simon ins Zimmer und legte ihn ins Krankenbett. Wortlos verabreichte er ihm etliche Spritzen und schloss ihn zuletzt an eine Infusionsflasche an. Erst jetzt begann er zu reden: "Ich kann ihnen keine Hoffnung machen. Nach menschlichem Ermessen wird er sterben. Er hat eine akute Hirnhautentzündung, welche schon viel zu weit fortgeschritten ist. Es wimmelt nur so von Bakterien in seiner Rückenmarkflüssigkeit." Wir fragten ihn, ob man denn nichts machen könne, worauf er meinte, dass er alles in seiner Macht getan habe, mehr könne er nicht tun. Wir bekamen die Erlaubnis, bei Simon zu bleiben. Es war inzwischen 17 Uhr geworden. Benommen standen wir neben seinem Bett. Es wurde uns klar, dass Simon nicht geschlafen hatte, sondern bereits im Koma lag. Unzählig viele Gedanken schossen uns durch den Kopf. Was sollten wir tun, wenn er stirbt? Nach Hause gehen, so quasi aus Protest gegen Gott? Oder hier bleiben und die Spracharbeit und Bibelübersetzung fortführen? Wir brauchten nicht lange zu 39

überlegen und kamen zum Schluss, dass - was immer auch passieren möge - wir in Afrika bleiben würden. Jetzt kam mir in den Sinn, dass man auch beten könnte. Ich sagte zu Ruth, dass Jesus öfters den Menschen die Hände aufgelegt hatte um sie zu heilen. Wir beschlossen, das nun auch mit Simon zu tun. Ich legte meine Hand auf seine Stirn und sprach ein kurzes Gebet. Als wir fertig waren, geschah etwas Unerwartetes: wir wurden beide völlig ruhig. Alle Angst war weg und wir wussten, dass Simon in Gottes Hand war. Sein Zustand hatte sich in den letzten drei Stunden nicht verändert. Es war etwa 20 Uhr, als plötzlich die Tür aufging und der Doktor herein kam. In genau diesem Moment bewegte sich Simon und fing an zu wimmern. Der Arzt stand wie angewurzelt da. Ein Leuchten huschte über sein Gesicht und er rief ganz aufgeregt: "Er hat's geschafft, er hat's geschafft!" Und tatsächlich, Simon wachte aus dem Koma auf und fing an zu weinen. Das war nicht normal, denn bei dieser rapiden Epidemie sterben die Menschen oft nur wenige Stunden nach dem Sichtbarwerden der ersten Symptome. Mit jedem Tag ging es Simon besser und nach einer Woche spielte er schon vergnügt in seinem kleinen Bett. Weil es in Afrika so heiss ist, blieben die Türen der Krankenzimmer meist offen. Eines Tages verabschiedeten wir uns von Simon und traten auf den Korridor hinaus. Dort begegnete uns ein kleiner, älterer Mann, der beim Vorbeigehen einen flüchtigen Blick in Simons Zimmer warf. Plötzlich blieb er stehen, kam zurück und fragte uns, ob das der kleine Junge sei, für den sie gebetet hätten. Wir hatten keine Ahnung und erzählten ihm Simons Krankheitsgeschichte, worauf der Mann spontan ins Zimmer ging, vor Simons Bett niederkniete und Gott für die Heilung dankte. Dann erklärte uns der Engländer, dass vor einer Woche eine Radiofunkmeldung über ganz Westafrika an alle Missionare ausgesandt wurde, in der um Gebetsunterstützung für einen kleinen Jungen gebeten wurde, der im Spital von Jos im Sterben läge. Der Arzt, für den Beten wichtiger war als Pillenschlucken, hatte diesen Funkspruch veranlasst. Und die Missionare hatten ihn ernst genommen, das sahen wir staunend an der ungewöhnlich spontanen Heilung von Simon. Mehr erfuhren wir leider nicht, denn der Mann, der uns das erzählte, war plötzlich verschwunden. Wir hatten ihn auch nie wieder gesehen. Noch etwas anderes passierte. Kaum konnte Simon das Spital verlassen, da willigte auch der Gouverneur zu unserer Rückkehr in den Stamm ein. Ja noch mehr. Wenn er früher sehr verschlossen, zurückhaltend und gar abweisend uns gegenüber war, so gab er sich plötzlich freundlich und aufgeschlossen, als ob wir schon längst die besten Freunde gewesen wären. Nicht nur Simons Heilung hatte uns bewegt, die durch den selbstlosen Einsatz vieler Missionare erfolgt war. Auch die Umstände, wie Gott wiederum sein Timing präzise durchgeführt hatte machten uns sprachlos. Hätten wir die Bewilligung zur Rückkehr nach Mumuyeland schon früher erhalten, wäre Simon bestimmt gestorben, da im Busch kein Spital in der Nähe gewesen wäre. Und wäre Hazel nicht da gewesen, die hartnäckig zu einem Arztbesuch gedrängt hatte, hätten wir am andern Morgen ein totes Kind im Bett vorgefunden. Später stellten wir fest, dass Simon trotz der schweren Krankheit keinen bleibenden Schaden davongetragen hat. Das ist nicht selbstverständlich. Unser Koch in Lankaviri, der später von der gleichen Krankheit heimgesucht wurde, aber überlebte, war so geschädigt, dass er alle Arbeiten nur noch sehr, sehr langsam ausführen konnte. Wir hatten keine Ahnung, dass es so etwas wie Meningitis gab, und dass diese Krankheit in Westafrika jedes Jahr zu einer bestimmten Jahreszeit in massiver Form 40

auftritt. Im Nachhinein lernten wir viel über deren Herkunft. Im Dezember, so kurz vor Weihnachten, werden die Feuer gelegt und riesige Buschbrände ziehen durch Berg und Tal. Diese Brände können wochenlang dauern. Sie werden höchstens durch feuchte Flussbette gestoppt, wo das Gras noch grün und nicht ausgedorrt ist. Im Januar dann werden auch diese Gebiete trocken. Das machen sich die Menschen zunutze, die Lust auf einen guten Braten haben. Sie zünden das dürre Gras in den Flussbetten an. Durch die Hitze werden die Ratten, die sich dort aufhalten, in ihre Löcher getrieben. Jetzt beginnt ein Junge zu graben, während andere mit Pfeil und Bogen darauf warten, die fliehenden Ratten abzuschiessen. Vielfach werden ganze Nester ausgehoben, wobei die Jungtiere noch leben und in ihrer Angst Urin lassen. Seit einiger Zeit weiss man, dass die Ratten Reservoir-Tiere der Meningitis-Erreger sind. Auf diese Weise stecken sich die Menschen durch die Ratten und gegenseitig an.

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Zurück zum Ursprung Ruth war mit unserem zweiten Kind im siebten Monat schwanger. Wir lebten immer noch im Busch beim Volk der Mumuye. Nun wurde es langsam Zeit, dass wir uns in die Stadt begaben, wo es ein gutes amerikanisches Spital gab. Dies beschlossen wir zur Sicherheit. Da Ruth Rhesus-negativ ist und ich positiv, wollten wir kein Risiko eingehen. Damals, Ende der Sechzigerjahre gab es noch keine Prophylaxe für die Unverträglichkeit zwischen Rhesus-negativ und Rhesus-positiv. Gelangen nun die negativen Antikörper der Mutter in das Blut des positiven Babys, kann das zu schweren Behinderungen oder zum Tod des Babys führen. Schon früh am Morgen machten wir uns auf den Weg und hofften, die 600 Kilometer lange Reise in einem Tag bewältigen zu können. Die ersten 150 Kilometer bis zur Fähre über den Benue Fluss mussten wir auf einer Naturstrasse aus rotem Laterit zurücklegen. Danach erwartete uns eine grosszügig geteerte Strasse. Doch soweit schafften wir es nicht. Mitten im Busch knickte unser VW einfach ein und setzte sich auf die sandige Strasse. Das linke Vorderrad stand schräg nach aussen. Federbruch. Wir begannen nun, das Auto mit weissen Leintüchern gegen die Hitze abzudecken und warteten auf Hilfe. "Irgend so ein Auto oder Lastwagen muss doch hier vorbeikommen", trösteten wir uns. Nach geraumer Zeit erschien tatsächlich ein Personenwagen und unser Sprachhelfer Sanja durfte mitfahren um Hilfe zu holen. Zufälligerweise wusste ich, dass sich in Numan, dort wo die Fahrzeuge mit der Fähre über den Benue gesetzt werden, eine Dänische Mission befand, die ein Ausbildungsprogramm für VW-Mechaniker aufgebaut hatte. Stunden von bangem Warten strichen dahin. Plötzlich erschien in der Ferne ein Lastwagen mit einem strahlenden Sanja hinten drauf. Mit einer Seilwinde wurde unser Auto auf den Laster gezogen. In Numan wurden wir freundlich willkommen geheissen. Neben der Autowerkstatt betrieb die Mission auch ein Gästehaus. So war für uns vorerst gesorgt. Nach einer Woche ergab sich die Gelegenheit, dass Ruth und Simon mit einem VWBus mit nach Jos reisen durften, um in der Nähe des Spitals zu sein. Eine Ersatzfeder war noch nicht eingetroffen, sollte aber bald mit einem Kleinflugzeug eingeflogen werden. So beschlossen wir, dass ich in Numan bleibe, bis das Auto geflickt wäre. Dann würde ich nachkommen. Bei der Vorderradfeder des VWs handelte es sich um einen Torsionsstab. Dieser wurde auch prompt geliefert. Doch es stellte sich heraus, dass es das falsche Ersatzteil war, das zum VW Variant nicht passte. Also wurde es wieder zurück geschickt und ein anderes bestellt. Ich war zum Warten verurteilt und vertrieb mir die Zeit mit Spazieren und Lesen. Irgendwie war mir einmal ein Büchlein von Erich Schnepel in die Hände gekommen, ich wusste nicht mehr, woher ich es hatte. Schon lange wollte ich mal hineinschauen. Jetzt hatte ich Gelegenheit und genug Zeit, es von A bis Z durchzulesen. Der Titel war "Jesus im Römerreich". Erich Schnepels Ausführungen haben mich völlig fasziniert. Sie handeln vom Weg der Gemeinde Jesu in den ersten vier Jahrhunderten. Das Buch berichtet über die grausamen Verfolgungen, denen die ersten Christen ausgesetzt waren und wie das Christentum schliesslich zur Staatsreligion wurde. Was mir aber bei der Lektüre des Buches vor allem geblieben war, ist die erschütternde Tatsache, wie sich der einfache Glaube und das Vertrauen auf Jesus Christus in kürzester Zeit zu einer Religion entwickelt hatten. Das Evangelium, das eine frohe Botschaft sein 42

sollte, zielte plötzlich in eine ganz falsche Richtung. Anstelle von Glauben und Gottvertrauen gewannen Gesetze, Regeln und religiöse Handlungen die Oberhand. Was den Menschen Freude und Freiheit bringen sollte, führte zu neuen Zwängen und Abhängigkeiten, zu Korruption und Gewalt, bis es schliesslich im schwärzesten Papsttum endete. Ich war noch nie für religiöse Rituale zu haben und die Regeln und Gesetzte der Kirche waren für mich unlogisch und unverständlich. Darum war es für mich höchst interessant zu lesen, dass das auch nie die Absicht von Jesus war. Die Christen hatten im Laufe der Zeit den lebendigen Glauben einfach mit einer Religion ersetzt. Wie war es denn damals, am Anfang, als Jesus mit seinen Jüngern durch das Land zog? Da gab es keine Kirchen, keine Kirchtürme mit Glocken, auch keine moralischen Gesetze oder gar Pfarrer und Päpste. Das Neue Testament existierte noch nicht und die meisten Leute konnten sowieso nicht lesen. Es ging einzig und allein um den Glauben an Gott und an Jesus Christus, den Messias. Und das bedeutet, dass ein Christ einer ist, der eine persönliche und lebendige Beziehung zu Gott hat. Diese Beziehung beginnt normalerweise mit einer Gotteserfahrung, die mehr oder weniger dramatisch sein kann. Dann aber wird er weiter geleitet in seinem Leben durch den Heiligen Geist. Der Geist der Wahrheit, der auch "der Helfer" genannt wird, zeigt ihm täglich den richtigen Weg und führt ihn in seinen Entscheidungen. Regeln und Gesetze sind überflüssig, weil die Kraft und Präsenz des Heiligen Geistes den Gläubigen "automatisch" das Richtige tun lässt. Das Wichtigste dabei ist, dass er ohne Unterlass mit Gottes Geist verbunden bleibt, etwa so, wie Jesus sagte, dass die Rebe am Weinstock bleiben müsse, sonst würde sie verdorren. Dieser Glaube, der von der Griechischen Sprache her auch mit "Vertrauen" übersetzt werden kann, hat im tiefsten Grunde nichts mit der "christlichen Religion", wie wir sie kennen zu tun. Für mich war die Lektüre des Buches von Erich Schnepel nicht nur sehr interessant und aufschlussreich, sondern es brachte mich zur Überzeugung, dass es nur noch einen Weg gab, nämlich den Weg "zurück zum Ursprung", so glauben, wie die ersten Christen an Jesus geglaubt hatten. Bei aller Erkenntnis und dem neuen Mut, den mir die Lektüre von "Jesus im Römerreich" gebracht hatte, merkte ich nicht, dass ich selber immer noch tief im religiösen Denken verstrickt war. Es war keine kirchliche Religiosität, sondern ich nenne sie einfach die "evangelikale Religiosität". Die alten Verhaltensmuster, die ich mir seit Beginn meines Glaubenslebens angeeignet hatte, waren immer noch fest in meinem Kopf verankert. Ein richtiger Christ raucht doch nicht, er verwendet im Gespräch keine unanständigen Wörter, er unterhält eine Gebetsliste, die er in der obligatorischen "stillen Zeit" getreulich durchbetet, er kleidet sich sittsam und schaut nicht den jungen Frauen nach. Er ist grundehrlich und versucht, jedermann zu lieben und er gehört einer evangelikalen Gemeinde an. Vor allem aber gibt er Gott den Zehnten von allem, was er verdient. Wichtig auch, dass die Sonntagsheiligung eingehalten wird. Also keine Geldgeschäfte am Sonntag, kein Sport während der Gottesdienstzeit. Glauben tut er alles wörtlich, so wie es in der Bibel steht, auch die Schöpfungsgeschichte und die "Tatsache", dass Gott die Welt in 6 Tagen à 24 Stunden geschaffen habe. Er ist strickte gegen die Urknalltheorie und besonders gegen den Evolutionsgedanken. Selbstverständlich darf ein Christ – vor allem in Amerika – auch keinen Alkohol trinken. Sex vor der Ehe ist eine der grössten Sünden, die man sich überhaupt vorstellen kann, ebenso Selbstbefriedigung. Glücksspiele, Kartenspiele, Jassen und Wetten abschliessen sind des Teufels, wie auch weltliche Vergnügen als da sind Kino, Fernsehen, Radio und dergleichen. 43

Was fehlt da bei einer solchen Fülle von Glaubensgrundsätzen noch, um aus ihm einen richtigen Christen zu machen? Zwar fingen diese Denkmuster langsam an, von mir abzubröckeln, aber die Grundeinstellung hatte sich bei mir noch nicht wesentlich geändert. Inzwischen wartete ich immer noch auf das passende Ersatzteil. Eines Morgens um sieben Uhr kam der Leiter der Mission zu meiner Hütte und berichtete, dass er eben eine Radionachricht erhalten habe, dass meine Frau das Spital aufsuchen musste und ich solle doch bitte nach Jos kommen. Sofort packte ich einige Sachen zusammen und begab mich zum Fluss, um nach einer Mitfahrmöglichkeit Ausschau zu halten. Ich hatte Glück. Ein Tanklastwagen fuhr auf die Fähre. Der Chauffeur war bereit, mich für einen "angemessenen" Preis – der für Weisse immer etwa das Doppelte betrug als für Normalsterbliche - mitzunehmen. So zwängte ich mich zwischen zwei weitere Passagiere in die Führerkabine hinein. Die Fahrt ging flott vonstatten, bis auf einmal ein Knall den Motor zum Schweigen brachte. Geistesgegenwärtig schwenkte der Fahrer sein Fahrzeug herum, denn wir befanden uns in diesem Moment zufälligerweise direkt auf der Strassengabelung, die zur Stadt Gombe hinab führte. Im Leerlauf liess er das Gefährt einige Kilometer bergab bis zum Marktplatz rollen, wo einige Kleinbusse auf Passagiere nach Jos warteten. Ohne etwas nachzahlen zu müssen wurde ich in einen der Busse verfrachtet. In Bauchi wurde es schon dunkel und als wir auf dem Plateau in Jos ankamen war es etwa 22 Uhr. Sofort begab ich mich zum Spital und durfte meine kleine Tochter Susanne bewundern, die schon am Morgen um 8 Uhr auf die Welt gekommen war. Glücklicherweise war sie Rhesus-negativ und hatte diesbezüglich keinen Nachteil. Trotzdem war ihre Haut gelb verfärbt, eine Folge von Malaria, die bei ihr gleich nach der Geburt ausgebrochen war, wie sich später herausstellte. Nach diesem späten Besuch begab ich mich zum SUM Hostel. Simon und seine Betreuerin Mai Harris schliefen wie die Bären. Niemand hörte mein Klopfen, soviel ich mir auch Mühe gab. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich nach einem Auto auf dem Parkplatz umzusehen, das nicht abgeschlossen war. Ich legte mich auf den Rücksitz und war froh, dass mich der Nachtwächter, der von Zeit zu Zeit vorbeikam, nicht entdeckte.

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Geistesmächte Susanne entwickelte sich prächtig. Wir Eltern machten uns einige Sorgen über die Hygiene, wenn wir mit dem kleinen Baby zurück ins Dorf Lankaviri kämen. Die Einheimischen würden sie sicher auf ihre Arme nehmen oder gar stillen wollen. Es ist keine Seltenheit unter den Mumuye, dass auch ältere Frauen, die schon lange kein Kind mehr zur Welt gebracht haben, immer noch Milch genug besitzen, um ein Baby zu füttern. Dann war da noch unser Gastgeber, der Häuptling Kpanti Gana, der offensichtlich an Tuberkulose litt und zuweilen wild um sich herum spuckte. Wir staunten über die Offenheit der Leute, unsere Anweisungen zu akzeptieren. Die meiste Zeit sass Susanne in einem Sitterli, eine Art von Liegestuhl für Kleinkinder, auf dem Tisch. Später verbrachte sie viel Zeit unter einem Moskitonetz in einem runden Laufgitter. So war sie in gewissem Masse von fremden Zugriffen geschützt. Unsere Erleichterung war gross, als Susanne schon im Alter von 9 Monaten zu laufen begann und nicht mehr auf allen Vieren auf dem Boden herumkriechen musste. In dieser längeren Phase unseres Aufenthaltes im Stamm lernten wir nicht nur die Sprache des Volkes kennen, sondern auch viel über die Sitten, Gebräuche und die Religion. Die Mumuye sind eine ganz spezielle Volksgemeinschaft, die sich nicht nur äusserlich von andern Stämmen unterscheiden, sondern auch in ihrem Denken völlig verschieden sind. Es ist uns aufgefallen, dass in ihrem Gebiet keine Opferstellen und Voodoo Objekte anzutreffen waren, auch böse Geister schienen ihnen fremd zu sein. Auf der Suche nach einem Ausdruck für "Gott" schickte ich einige junge Leute mit Aufnahmegeräten aus, um Jung und Alt über ihren Gottesglauben zu befragen. Dabei erfuhren wir Erstaunliches. Ein Grossteil der Bevölkerung gab an, dass "La" ihr Gott sei. La ist das Wort für Sonne, diese geniesst bei den Mumuye göttliche Verehrung, denn der Mensch sei durch sie geboren worden. Eine Splittergruppe hingegen glaubt an "Shella", den Mond. Ein junger Lehrer, der uns noch am Sonntag aufsuchte, um uns seine Erkenntnisse mitzuteilen, war ganz aus dem Häuschen. Obwohl selber Mumuye, hatte er keine Ahnung, was sein Volk im Grunde genommen glaubt. Er erzählte von einem alten Mann, den er interviewt hatte. Auf die Frage, was er denke, woher wir Menschen, die Tiere und all die Pflanzen kämen, antwortete dieser: "Das weiss ich nicht, das hat mir mein Vater nicht erzählt." Im Gegensatz zu ihm bastelten sich die jüngeren Stammesangehörigen ihre eigene Religion zusammen aus einer Brise Christentum, ein bisschen Islam und dem, was sie von den Eltern gehört hatten. Allah wurde allgemein als Gott bezeichnet, egal ob von Christen oder Mohammedanern. Neben den "offiziellen" Religionen spielen das Vaama und das Vacca eine unendlich wichtigere Rolle, weil diese einen direkten Einfluss auf ihr Leben haben. Das Vacca ist der einheimische Zauber, der seine Wurzeln im Volk selber hat. Vaama hingegen ist ein Zauber, der von einem andern Stamm eingekauft und übernommen wurde. Dieser war anfänglich so stark, dass es Todesfälle gab. Darum musste er gegen einen schwächeren ausgetauscht werden. Doch auch dieser war noch stark genug, um den Leuten, vor allem den Frauen, Furcht einzuflössen. Wir selber haben die Kraft des Vaamas handgreiflich selber miterleben können. Eines Tages wollte Kpanti Gana mich zu einem entfernten Gehöft im Landesinnern mitnehmen, um den Leuten dort den sprechenden Apparat, das Tonbandgerät, zu demonstrieren. Wir setzen uns vor einem Gehöft auf grosse, im Kreis angeordnete Steine, wie es bei den Mumuye üblich ist. Männer, Frauen und Kinder hörten 45

gespannt zu, wie das Tonbandgerät eine Geschichte in ihrer eigenen Sprache wiedergab. Doch plötzlich rannten alle Frauen und die Kinder in ihre Hütten und versteckten sich dort. Ich blickte Kpanti an und stellte Bestürzung in seinem Gesicht fest. Dann sagt er zu mir: "Verhalte dich einfach ganz still, dann kann es dir nichts antun". Zu dieser Zeit wusste ich überhaupt noch nicht, was da vor sich ging. Doch jetzt erschienen auf dem Weg, der am Gehöft vorbei führte drei junge Männer. Sie rannten an uns vorbei und schnaubten wie die Pferde. Als der Spuk vorbei war, klärte mich Kpanti auf. Das waren drei Vaamas. Diese rennen in der ganzen Umgebung umher. Wenn ihnen ein junger Mann begegnet, so fällt dieser wie von Geisterhand geschlagen bewusstlos zu Boden und fängt selber an zu schnauben und schliesst sich der rennenden Gruppe an. Dass das kein fauler Zauber ist erkannte ich am besorgten Gesicht des Häuptlings. Er hatte echt Angst um mich. Meine Frau Ruth bezweifelte zwar die Echtheit des Zu-Boden-Fallens, das sie bei einer anderen Gelegenheit einmal beobachtet hatte. Als sie das unserem Koch Mezo erzählte, wurde dieser ganz ernst und beteuerte, dass dies wirklich so sei. Er selber habe es bei seiner Initiation erlebt und dabei habe er tatsächlich das Bewusstsein verloren. Auf der Missionsstation durfte ich den Generator benutzen und so zimmerte ich mir mit meiner elektrischen Kreissäge ein schönes, gediegenes Kreuz zusammen. Ich plante, es an der Ost-Wand des neuen Büroraumes anzubringen, den ich bauen liess. Doch mit dieser Wand hatten wir unsere liebe Mühe. Immer und immer wieder löste sich der Verputz und fiel über Nacht herunter. Es dauerte Tage, bis wir eine schöne, ebene Wand hinkriegten. Dort also hängte ich das Kreuz auf, als Symbol Christlichen Glaubens sozusagen. Eines Nachts schossen meine Frau und ich um etwa 3 Uhr aus dem Schlaf. Draussen hörten wir ein lautes Geschrei. Bei näherem hinhören merkten wir, dass es sich um einige Vaamas handelte, die schnaubend wie in einer Art Verzweiflung schrien. Dabei rannten sie beim Bürohaus hin und her. Dann entfernten sie sich und kamen immer wieder zurück. Das Ganze dauerte etwa eine Stunde, bis ihr Schreinen endlich in der Ferne verhallte. Am Morgen erzählten wir die Geschichte unserem Koch Mezo. Dieser wusste auf Anhieb, worum es sich handelte. "Das waren Vaamas, die einen fremden Geist aufgespürt hatten", berichtete er. "Durch das schnaubende Schreien versuchten sie, diesen Geist zu lokalisieren." Für Ruth und mich machte diese Erklärung Sinn. Wir waren uns bewusst, dass wir uns in einem absolut heidnischen Gebiet aufhielten, wo Zauber und heidnische Rituale an der Tagesordnung lagen. Dass wir als Christen einen andern Geist besassen, der sich von den Mächten des Vacca und des Vaama unterschied, schien uns plausibel zu sein. Angst hatten wir vor diesen Mächten aber nicht. Wir wussten, dass sie uns nichts anhaben konnten, obwohl ich selber einmal Zielscheibe einer solchen Attacke wurde. In Lankaviri lebten wir in ganz einfachen Verhältnissen. Wir hatten weder Wasser noch elektrisches Licht. Ein Einheimischer holte für uns Wasser beim Fluss und füllte uns jeden Tag zwei Fässer. Um zu duschen benutzten wir einen Eimer, an dessen Unterseite ich eine Brause mit einem Wasserhahn montiert hatte. Dieser Eimer wurde dann am Dachgebälk aufgehängt und es liess sich damit vorzüglich duschen. An einem Abend – ich hatte den Eimer eben aufgehängt – da plötzlich überfiel es mich wie ein unsichtbarer Blitz, der durch das Wellblechdach zu dringen schien und mich traf. Ich zuckte zusammen und eine grosse, übernatürliche Angst vor einer unsichtbaren Macht überfiel mich. Ich kauerte mich erst zusammen, dann versuchte ich, das Schlafzimmer zu erreichen, wo sich meine Frau aufhielt. Während ich ihr in echter Panik meinen Zustand schilderte, raschelte es im Büchergestell. Ich wusste, das waren die kleinen Ratten, die es liebten hinter den Büchern ihre Nester zu bauen 46

und denen wir von Zeit zu Zeit wieder den Garaus machten. Als sich mein Zustand nicht besserte, meinte meine Frau, da müsse man halt beten. „OK“, sagte ich. Ich kauerte immer noch vor meinem Bett, während sich die Stimme meiner Frau vernehmen liess. Meine panische Angst vergrösserte sich noch und ich glaubte, dass Tausende von Ratten im Kreis um mich herum rannten. Ich verstand kein Wort vom Gebet, so laut war der Lärm, den „die Ratten“ machten. Und dann – plötzliche Stille! Keine Maus war mehr zu hören. Meine Frau sagte „Amen“ und eine völlige Ruhe kehrte bei mir ein. Die Angst und Panik war weg, so wie sie gekommen war und sie kam auch nie wieder zurück. Das Vacca repräsentiert eher die traditionelle Religion des Stammes. Der Dodo ist eine zentrale Figur dieses Glaubens. Das ist ein Mann, der eine aus Holz geschnitzte Maske trägt und ansonsten mit dürrem Gras verkleidet ist. Die Maske gleicht einem Pferdekopf. Der Dodo hat auch eine Peitsche bei sich, mit der er Männer, Frauen und Kinder schlägt, wenn sie ihm begegnen. Bei der Bevölkerung verbreitet er grosse Angst. Es war an einem Nachmittag, als ich auf der Missionsstation der Missionsfamilie einen Besuch abstattete. Der Missionar, ein Amerikaner und einige Mumuye Knaben waren zugegen. Die Missionsstation bestand aus mehreren Häusern, die mit einem starken Zaun umgeben waren. Nur wenige Einheimische wagten sich, dieses "geheiligte" Gebiet zu betreten. Zufällig, als der Missionar mit mir und einigen Jungs am Zaun standen, erschien ein Dodo in seiner ganzen Montur und rannte an uns vorbei. Der Missionar erhob seine Stimme und fing an, den Zaubermann in dessen Sprache zu verhöhnen und zu verspotten. Er stachelte die Jungs an, es ihm gleich zu tun. Der Spott und das Gelächter verstummten erst, als sich der Dodo weit entfernt hatte. "Das ist also die Missionsmethode der Amerikaner", dachte ich bei mir selbst. "Ob das was hilft und so aus Heiden Christen gemacht wird?" Jedenfalls sollten die Jungs ja wieder einmal nach Hause gehen. Dazu mussten sie das schützende Gelände der Missionsstation verlassen. Was, wenn sie auf dem Heimweg dem Dodo begegnen würden, den sie zuvor verspottet hatten? Mit sichtbarem Zittern und grosser Angst machten sie sich auf den Weg, in der Hoffnung, dem Zauberer nicht in die Hände zu fallen.

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Der Horizont weitet sich Die schönste Zeit für mich und vor allem für meine Frau war dann, wenn wir für längere Zeit in unserem Stamm leben konnten, abseits von jeglicher Zivilisation. Es störte uns nicht, dass unser Wasser aus dem schmutzigen Fluss stammte und nicht aus einem Wasserhahn strömte, auch nicht, dass wir kein elektrisches Licht besassen. Für das Trinkwasser sorgte ein genialer Wasserfilter, made in Switzerland. Dieser filterte über Nacht nicht nur jeden Schmutz heraus, sondern machte das Wasser auch noch total keimfrei, sodass wir uns jeden Morgen an 10 Liter kristallklarem Trinkwasser erfreuen konnten. Ein weiterer Vorteil des Stammeslebens war die Tatsache, dass wir für umgerechnet wenig Geld ein kleines Heer von Mitarbeitern anstellen konnten, die für uns als Sprachhelfer arbeiteten, kochten, wuschen, bügelten, Wasser herschafften, das Haus sauber hielten und die Kinder hüteten. Mit unsern Angestellten machten wir generell nur die besten Erfahrungen. Ich führe das darauf zurück, dass sie noch fest in ihrem bewährten gesellschaftlichen System verwurzelt waren. Es kam kaum vor, dass etwas gestohlen wurde. Gegenstände, die lange Zeit unbeaufsichtigt herumlagen, waren auch noch nach Wochen am gleichen Ort. Wir fühlten uns unter den Mumuye sicher und geborgen. Doch solches Glück währt nicht ewig. Vielfach mussten wir das Stammesgebiet für Wochen oder Monate verlassen, um uns weiterzubilden oder an Workshops teilzunehmen. Kurz vor unserem ersten Heimaturlaub wurde ich vom Direktor dazu verknurrt, in der Stadt Zaria den Job des Koordinators für die ganze Gruppe zu übernehmen. Zaria war damals eine der wenigen Universitätsstädte von Nord Nigeria und darum war es das Ziel des Direktors, das Hauptquartier der Wycliffe-Gruppe hier aufzuschlagen. Die Rolle des Koordinators lag mir überhaupt nicht und ich kam mir echt deplatziert vor. Nur widerwillig machte ich mich an die Aufgaben, die so ein Koordinator eben lösen muss. Zusätzlich bedeutete das für Ruth und mich, dass wir ein halbes Jahr später als geplant in den Urlaub in die Schweiz fahren konnten. Das wiederum hatte fatale Folgen, vor allem für meine Frau, denn genau in dieser Zeit erhielten wir ein Telegramm, dass ihre Mutter plötzlich gestorben sei. Als das Telegramm nach einer Woche bei uns ankam, war die Beerdigung schon längst vorbei. Das Leben in der Stadt war komplett verschieden von dem auf dem Lande. Während wir im Dorf den Schutz des Häuptlings geniessen durften, fühlten wir uns in Zaria recht allein und auf uns selbst gestellt. Dazu kam, dass wir schlechte Erfahrungen mit unseren christlichen Angestellten machten. Ihr Glaube hielt sie nicht davon ab, uns zu bestehlen und zu belügen. Als wieder einmal ein junger Angestellter um einen Vorschuss bat und damit einfach verschwand, waren wir recht enttäuscht von der Moral der afrikanischen Christen. Diesen Frust erzählten wir einem englischen Professor, der uns zum Nachtessen eingeladen hatte. Seine Antwort war kurz und einfach: "Warum holt Ihr Eure Angestellten nicht in der Pfingstkirche? Diese Leute stehlen nicht." Demzufolge erkundigten wir uns, wo sich im islamischen Zaria so eine Pfingstgemeinde befindet. Am darauffolgenden Sonntag sassen wir in einem einfachen Versammlungsraum und lauschten der Predigt des Pfarrers, auf Hausa. Nach dem Gottesdienst brachten wir unser Anliegen vor und der Pfarrer ging sofort darauf ein. Von da an hatten wir neben dem mohammedanischen Koch nur noch Angestellte aus Pfingstgemeinden. Doch die grosse Frage blieb: Warum konnten wir den Angestellten aus dem Islam und den Pfingstgemeinden oder denen mit 48

heidnischem Hintergrund trauen? Oder anders herum: Warum fangen Menschen, die sich vom Heidentum zum Christentum bekehrten an zu stehlen und zu lügen? Wir haben für diese Fragen keine befriedigende Antwort gefunden. Es muss etwas mit der kulturellen Grundlage zu tun haben, welche den Christen irgendwie unter den Füssen weggezogen wurde, sobald sie sich zum Christentum bekehrten. Jedenfalls änderte sich meine Meinung über die Pfingstgemeinden grundlegend. Denn hier scheinen die Gläubigen eine solide Glaubensgrundlage zu erhalten, welche sie im landläufigen Christentum nicht erhalten hatten. Jetzt fing ich selber an, mich für die pfingstliche Theologie und ihre Wirkungen zu interessieren. Das Buch von David Wilkerson "Das Kreuz und die Messerhelden" machte mir mächtigen Eindruck. Die Tatsache, dass drogenabhängige Bandenmitglieder in New York durch die "Taufe im Heiligen Geist", wie sie die Pfingstbewegung lehrt, von den Drogen und der Kriminalität weg kamen gab vielen Menschen, inklusive mir selbst, neue Hoffnung. Also begann ich, weiter in diese Richtung zu suchen. Inzwischen hörten wir, dass in Amerika und auch in England sich einiges tat in den Kirchen. Im Magazin "Leben und Glauben", das meine Schwägerin Elisabeth uns regelmässig nach Afrika schickte, lasen wir in einem Bericht über die Charismatische Bewegung, die sich in Europa vor allem in England in der Anglikanischen Kirche ausbreitete. Auch in der Schweiz wurden zögerliche Schritte in diese Richtung unternommen. Die Menschen fingen an, sich wieder auf die Kraft des Heiligen Geistes und auf seine Gaben, der Charismen, zu besinnen. Den Berichten nach zu schliessen geschahen in den alten, verstaubten Kirchen ermutigende Dinge, so auch Krankenheilungen. Dies wollte ich unbedingt einmal selber miterleben. Ich bemühte mich, Namen und Adressen ausfindig zu machen, die mir weiterhelfen konnten. Schliesslich stiess ich auf eine Anglikanische Gemeinde in dem etwa 50 Kilometer nördlich von London gelegen Luton. Pfarrer Colin Urquhard und seine Frau luden mich und Ruth herzlich ein, sie auf unserem Heimaturlaub zu besuchen um uns ein Bild von der Erneuerungsbewegung dort zu machen. Sie überliessen uns sogar ihr eigenes, privates Schlafzimmer, um uns für eine Woche beherbergen zu können. Nachher wollten wir gemeinsam mit Colin einen Charismatischen Kongress an der Universität in Nottingham besuchen. Im Rückblick auf die zwei Wochen in Luton und Nottingham war unsere Reise ein Volltreffer. Wir lernten in den Vorlesungen nicht nur enorm viele neue Dinge kennen, sondern erlebten auch, wie sich Menschen veränderten und gar von Krankheiten geheilt wurden. Instinktiv merkte ich, dass sich hier ein Weg auftat, weg von der verklemmten Religiosität und zurück zum einfachen, kraftvollen Glauben an Gott und seine Allmacht. In Nottingham lernten wir viele Menschen kennen, die sich für die charismatische Bewegung interessierten oder bereits Erfahrungen in diese Richtung gemacht hatten. Interessant bei der Charismatischen Erneuerung ist die Tatsache, dass dort, wo die Bewegung Fuss fasste, sich eine neue Dynamik entwickelte. Dies war besonders bei stark religiös geprägten Kirchen zu beobachten. Die Vertreter der verschiedenen Denominationen merkten plötzlich, dass es nicht die religiösen Handlungen waren, die zählten, sondern das effektive Wirken des Heiligen Geistes. Das Wort "Charismatisch" kommt von "Charisma". Das ist Griechisch und heisst auf Deutsch "Gnadengabe". Die ursprüngliche Charismatische Bewegung entdeckte also neu die Gnadengaben, die im neuen Testament der Bibel erwähnt sind. Dazu gehören unter anderem die Gabe zu Heilen, in andern Sprachen zu reden, Zukünftiges zu prophezeien und vieles mehr. Initialisiert werden diese Gaben durch 49

"die Taufe im Heiligen Geist". Darum werden diese Manifestationen Gottes auch "Gaben des Heiligen Geistes" genannt. Eindrücklich ist auch die Tatsache, dass niemand das Gefühl hatte, er oder sie müsse die Kirche wechseln oder zu einer anderen Religion konvertieren. Der Heilige Geist manifestierte sich in genau dem Umfeld, in dem sie sich befanden. Die Katholiken hielten ihre Tradition fest (inklusive Maria, die "Mutter Gottes"), ebenso auch die Reformierten, die ohne Maria auskamen. Die religiösen Traditionen sind wie schon gesagt - zweitrangig geworden und die Kraft des Heiligen Geistes trat an erste Stelle. Dies bewirkte unter anderem auch, dass es möglich wurde, zwischen den verschiedenen Kirchen echte und glaubhafte Gemeinschaft zu haben. Wenn das Trennende zweitrangig wird und das Wirken Gottes erstrangig, dann besteht kein Grund mehr für Trennung und Misstrauen. Dies ist der Beweis dafür, dass nicht "Religion" entscheidend ist, sondern allein die persönliche Beziehung zu Gott durch seinen Geist.

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Trevor An seinen Nachname kann ich mich nicht erinnern, nur sein Vorname ist mir geblieben. Trevor habe ich in der anglikanischen Kirche in Luton kennen gelernt, die wir in unserem Urlaub besuchten. Er war neben Colin Urquhard der zweite amtierende Pfarrer in jener Gemeinde. Ich weiss nicht mehr, wie ich mit Trevor ins Gespräch kam. Wahrscheinlich wollte ich ihn etwas fragen. Daraus entstand eine regelrechte seelsorgerliche Aussprache. Trevor merkte, dass ich einen gewaltigen Hass und Groll gegen einen meiner Lehrer der Primarschule in mir herumtrug. Ich machte ihn verantwortlich für meine Schüchternheit, meine Befangenheit und vor allem für meine Minderwertigkeitsgefühle, die mir den ganzen Lebensmut raubten. Ich war zwar nicht der einzige, den er vor der ganzen Klasse schikanierte und blossstellte. Natürlich waren wir echte Lausbuben. Doch dies war nicht der Grund für sein unpädagogisches Verhalten. Ihm gefiel wahrscheinlich meine Art der Sprechweise nicht. Offensichtlich hatte er auch etwas gegen meinen Freund Hans. Dessen lange Haare - sie waren nicht länger als etwa 10 cm – schienen ihn ungemein zu stören. So liess er seine Wut verbal an den wehrlosen Jungs aus, und die Klasse krümmte sich vor Lachen. Klar, dass wir auch bei den Kameraden und Kameradinnen nicht gut angeschrieben waren. Später, als ich schon in der Lehre war, machte ich mir ernsthafte Pläne, ihm eines Nachts aufzulauern und ihn zu verprügeln. Trevor hörte geduldig meinen Schilderungen zu, dann fragte er mich, ob ich meinem ehemaligen Lehrer vergeben könne: "Nein!", war meine spontane Antwort. Alles, nur das nicht. Trevor machte mir klar, dass ich durch Hass und Groll nur mir selber schade, auch körperlich. Viele Krankheiten rühren von einer verletzten Seele, Hassgefühlen und Bitterkeit her, welche unsern Hormonhaushalt stören und sich körperlich negativ auswirken. "Würdest du denn vergeben wollen, wenn du könntest?" Das tönte schon ein bisschen besser und ich bejahte. Nun stellte er sich hinter meinen Stuhl, auf dem ich sass und legte die Hände auf meine Schultern. Dann bat er mich, das zu tun, was er mir sagte. "Nun strecke deine Hände vor dich hin, Handflächen nach oben. Stelle dir nun vor, dass dein Lehrer in deinen Händen liegt, einfach so. – Jetzt hebe deine Hände empor zu Gott und sage: 'Ich übergebe dir hier Hans H. und lege ihn zu deinen Füssen. Ich bin bereit ihm zu vergeben, wenn ich es kann'. – Nun zieh die Hände schnell an deinen Körper zurück und lass deinen Lehrer dort oben bei Gott." Dies alles tat ich so, wie Trevor es mir vorsagte. Dann sprach er noch ein Gebet. Meine Frau Ruth und ich weilten etwa eine Woche in Luton, danach sah ich Trevor nie mehr. Doch seine "Therapie" zeigte ihre Wirkung. Hass und Bitterkeit verschwanden. Wenn ich an Hans H. dachte wurde ich nicht mehr emotional erschüttert. Die Sache war erledigt und schliesslich konnte ich ohne zu lügen sagen, dass ich ihm vergeben habe. Heute frage ich mich, wieso ich es bei diesem einen Fall belassen und diese "Methode" nicht auch in andern Situationen angewandt habe. Plötzlich tauchten all die Begebenheiten vor mir auf, wo ich beleidigt oder gekränkt war. Mir kamen die Fälle in den Sinn, bei denen ich mir sagte: "Das will ich nie vergessen!" Mir wurde klar, dass ich im Laufe meines Lebens Berge von emotionalem Müll angehäuft habe und diesen nicht loslassen wollte. Je tiefer ich mit meinen Überlegungen in die Vergangenheit eindrang, umso erschreckender waren meine Erkenntnisse. Während ich eine Zeitreise zurück in meine Kindheit machte 51

tauchten verdrängte Verbitterungen und Animositäten in rauen Mengen aus meinem Unterbewusstsein auf. An erster Stelle kam mein Vater, der mich oft körperlich bestrafte. Doch die Prügel waren nicht das Schlimmste, sondern das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Als ich merkte, dass ich emotional von diesen negativen Bindungen los kam beschloss ich, mir auch alle andern Ereignisse in der Vergangenheit vorzuknüpfen, sobald sie mir bewusst würden. Ich ging chronologisch Schritt für Schritt vor und begann mit jeder Verletzung in der Weise vorzugehen, wie ich das bei Trevor gelernt hatte. Schliesslich machte sich in meinem Innern eine spürbare Erleichterung bemerkbar. Doch dann stellte ich fest, dass ich mich nun nicht zur Ruhe setzen konnte. Es wurde mir klar, dass wir tagtäglich beleidigt, angegriffen, gekränkt und verletzt werden, und dass wir dauernd der Versuchung ausgesetzt sind, mit Unversöhnlichkeit, Hass, Rache, Verachtung und dergleichen zu reagieren. So versuche ich, auch in der Gegenwart sorgsam darauf zu achten. Sobald ich merke, dass sich wieder ein Stachel gegen jemanden in mir aufbaut, werde ich aktiv und wende die Methode von Trevor an. Inzwischen machte auch mein Bruder Martin und seine Familie eine erschütternde Erfahrung. Er lebte für viele Jahre im Dschungel von Bolivien und erforschte die Sprache der Chiquitano Indianer. Etwa 30 Jahre später musste er erfahren, dass seine Tochter Christina von Missionaren sieben Jahre lang sexuell missbraucht wurde. Niemand hatte eine Ahnung von diesen Vorfällen. Umso grösser war der Schock, dass ausgerechnet seine besten Freunde zum Kreis der Täter gehörten. Christina ist nur eines von über 15 Mädchen, meist Amerikanerinnen, die dasselbe Schicksal mit ihr teilten. Die schrecklichen Erlebnisse liessen sich nicht mehr aus ihren Köpfen verbannen. Ihr Leben schien am Boden zerstöret. Im Gegensatz zu ihren Leidensgenossinnen, die jetzt invalid oder in permanenter psychiatrischer Behandlung sind, entschloss sich Christina, ein Buch darüber zu schreiben. Sein Titel: "Das Paradies war meine Hölle. Als Kind von Missionaren missbraucht". Sie hatte das Buch aus verschiedenen Gründen geschrieben. Erstens hat es ihr geholfen, mit den traumatischen Ereignissen in ihrem Leben fertig zu werden. Und zweitens will sie Eltern und Kinder hellhörig und aufmerksam machen, um so weitere Missbräuche zu verhindern. In den christlichen Kreisen, in denen Christina aufgewachsen war, hatte man das gar nicht gut gefunden. Der "gute Ruf" und die Angst um Spendeneinbrüche sind hier wohl die treibenden Kräfte gewesen. Ich habe viele Christen kennen gelernt, die das Buch verteufeln, in Grund und Boden verdammen und einen Groll und Hass gegen Christina hegen. Und dies, notabene, ohne das Buch je gelesen zu haben! Hier wird sprichwörtlich das Opfer zum Täter gemacht. Viele Menschen haben sich von Christina distanziert, auch nahe Verwandte. Ich fragte mich, ob es die Christen von heute verlernt haben, den "unter die Räuber gefallenen" zu helfen, nur weil sie meinen, ihre Interessen seien in Gefahr? Meinen Bruder Martin, Christinas Vater, hat die Sache besonders schwer getroffen. Es ist nicht leicht, den Tätern, die seine Freunde waren, und Christina, die nun alles an die Öffentlichkeit gebracht hat, zu vergeben. Wie auch, wenn die Emotionen immer wieder hochkommen, wenn davon die Rede ist! Ich hatte ihm deshalb mein Erlebnis mit Trevor geschildert und dazu noch eine andere Begebenheit erzählt: Im Fernsehen hatte ich einen Prozess in den USA mit verfolgt. Es handelte sich um einen Massenmörder, der mehr als 10 Frauen umgebracht hatte. Während des Prozesses sass er da wie ein Stein, ohne Reue, ohne Gefühlsregung. Da meldete 52

sich bei den Zeugen eine Frau, deren Tochter er auch ermordet hatte. Sie erklärte, dass sie sich emotional befreien wolle und ihm aus diesem Grunde vergebe. In diesem Moment brach der Angeklagte zusammen und brach in Tränen aus. Für mich war das eine lebensechte Demonstration über die unerhörte Macht des Vergebens. Dass die Vergebung wirklich eine Macht und nicht bloss eine religiöse Handlung ist, hat auch Nelson Mandela in Süd-Afrika bewiesen. Während seiner Präsidentenzeit haben sich durch seine versöhnliche Überzeugung viele persönliche Feindschaften aufgelöst. Hätte er die Bevölkerung nicht aufgerufen, Gewehre, Messer und Macheten ins Meer zu werfen und den Fokus auf Versöhnung zu richten, wäre das Land vielleicht in einem Bürgerkrieg versunken.

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Neue Dimensionen Meinem Besuch in Luton und Nottingham folgten weitere an verschiedenen Orten und bei diversen Charismatischen Organisationen. Ich war immer auf der Suche nach dem realen Glauben, der von aller Religiosität, Heuchelei, Falschheit und Unehrlichkeit befreit ist. Eine Gruppe von Menschen zu finden, die diesem Standard entspricht schien mir allerdings theoretisch unmöglich zu sein. Ich erinnere mich an eine Ferienwoche auf Schloss Craheim in Bayern, wo nach der charismatischen Lebensweise gesucht und darüber diskutiert wurde. Das Positive daran war, neue Menschen kennen zu lernen. Die religiösen Praktiken, die vorgestellt wurden halfen mir aber nicht unbedingt weiter. Eine andere Freizeit erlebte ich auf dem Hasliberg im Ferienzentrum des CVJM. Es handelte sich um eine Fastenwoche, geleitet von Professor Dr. Rudolf Seiss aus Norddeutschland. Am Abend sassen wir manchmal zusammen, um für einzelne Teilnehmer, die Probleme hatten, zu beten. Einmal betete Rudolf Seiss für einen jungen Mann, indem er ihm die Hände auf den Kopf legte. Dann plötzlich zitierte er Griechische Sätze – wie ich meinte. Bei längerem Zuhören stellte ich aber fest, dass das nicht Griechisch war. Rudolf Seiss selber merkte vorerst nicht, dass er in eine andere Sprache gewechselt hatte. Als er das realisierte stoppte er sofort und betete auf Deutsch weiter. Ich hatte das Gefühl, dass es dem Professor echt peinlich war, ihn beim "Zungenreden“ ertappt zu haben. Für mich aber war das sehr aufschlussreich. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich ein "Sprachengebet" gehört. Indessen ging unser Heimaturlaub zu Ende. Einige Monate zuvor wurde unser drittes Kind, Andreas geboren. Zusammen mit ihm reisten wir als 5-köpfige Familie nach Nigeria zurück, wo wir unsere Spracharbeit wieder aufzunehmen gedachten. Vorübergehend lebten wir in einem Hostel der Sudan Inland Mission in Jos und warteten auf unsern Freund Heiri Müller, der uns nach Abschluss seines Jurastudiums für einige Monate besuchen wollte. Er reiste von der Schweiz aus mit einem Frachtschiff nach Lagos und von dort mit dem Bus nach Jos, das in der Mitte des Landes auf einem Plateau liegt. Einen Tag vor seiner Ankunft fuhr es durch mich hindurch wie wenn mich der Blitz getroffen hätte. Ein extremer Schmerz zog sich das linke Bein hinunter und hörte nicht wieder auf. Die ganze Nacht hindurch wälzte ich mich von Krämpfen gepeinigt von einer Seite zur andern. Am Morgen wurde ich ins Spital eingeliefert. Diagnose: "Slipped disk", was so viel wie „Diskushernie“ heisst. Mit andern Worten: In der Kreuzgegend war eine Bandscheibe geplatzt und drückte so sehr auf den Nervenstrang, dass ich das linke Bein nicht mehr bewegen konnte. Hier im Herzen von Nigeria war an eine Operation nicht zu denken, also wurde ich erst einmal stillgelegt und mit Medikamenten versorgt. Später wollte mir der Spezialarzt, der zufällig aus Amerika da war, einen Gips verpassen. So hatte ich genug Zeit zum Nachdenken und auch zum lesen. Als ein Freund erfuhr, dass ich im Spital war, schickte er mir ein Buch mit dem Titel "Face up with a miracle". In Deutsch ist es herausgekommen als "Wunder im Alltag". Der Autor, Don W. Basham, beschreibt da seine Suche nach mehr Sinn im christlichen Leben. Er war überzeugt, dass das Christentum mehr zu bieten hätte als das, was man landläufig zu Gesicht bekommt. Vor allem glaubte er, dass die Wunderwirkungen Gottes noch heute erfahrbar sind. Der Schlüssel dazu sei die "Taufe im Heiligen Geist". Der Autor behauptet in seinem Buch, dass jeder diese “Taufe” mit nachfolgendem “Sprachenreden” bekommen kann, wenn er eine Prozedur mit einigen Punkten durchgeht. 54

Als ein Kollege mir einen Besuch abstattete, diskutierten wir darüber und fanden das ganze Thema doch recht komisch. Nach einigem gegenseitigen Spötteln und sich lustig machen verliess er das Spital, nicht ohne mir noch einige Kopien des "Playboy" zurückzulassen. Ich war wieder allein mit meinen Gedanken und fing an mich zu fragen, was wohl als nächstes kommen würde. Irgendwie erwartete ich, dass etwas Aussergewöhnliches geschehen werde. Am nächsten Tag ging ich die von Don Basham empfohlenen Punkte während der Nachmittagspause einmal durch und erlebte unwillkürlich eine dramatische Reaktion. Ich fing tatsächlich an, in einer anderen Sprache zu reden, die ich aber nicht verstand. Ein Gefühl der Freude, Geborgenheit und des absoluten Friedens nahmen von mir Besitz. Doch jetzt fing auch mein Verstand an zu arbeiten. Eine echte Sprache? Doch wieso kommt darin kein “R” vor? Gibt es Sprachen ohne “R”? Natürlich, Chinesisch zum Beispiel. Doch dass das, was ich sprach, kein Chinesisch war, das wusste ich, denn Chinesisch hatte ich einmal in einem Projekt oberflächlich studiert. Ich wandte mich an verschiedene Personen in unserer Organisation, die anscheinend ähnliche Erfahrung gemacht hatten. Ich kam zum Schluss, dass es völlig zweitrangig ist, um was für eine Sprache es sich hier handelt. Wichtig ist doch die Veränderung, die sie in meinem Leben bewirkt hat. Das erfuhr ich allerdings erst nach vier Wochen bei meiner Entlassung aus dem Spital. Meine Frau und ich wurden uns einig, dass es für mich unzumutbar war, die 600 km lange Reise auf einer Buschstrasse von der Stadt zurück ins Dorf mit dem Auto zu unternehmen. So wurde ein Flug mit einer Privatmaschine für mich organisiert. Meine Frau selbst unternahm die zweitägige Reise zusammen mit Heiri Müller mit dem Auto, während mich ein Pilot mit seinem Flugzeug quer durch Nigeria flog. Erst als wir schon längere Zeit in der Luft waren, wurde mir klar, dass ich ganz vergessen hatte, Angst zu haben. Das war ganz und gar nicht normal, denn das Fliegen verursachte in mir immer eine panische Angst. Jetzt aber hatte ich sogar Freude daran. Die Flugangst war weg, was ich als eine Wirkung des Heiligen Geistes interpretierte. Einige Jahre später machte ich nochmals eine ähnliche Erfahrung. Wir befanden uns auf einem Kurzurlaub in der Schweiz. An vielen Abenden waren wir eingeladen, um über unsere Spracharbeit in Nigeria zu berichten. Doch da war ein grosses Problem. Jedes Mal, wenn wir weggehen wollten, brach unsere kleine Tochter in Riesentränen aus und wollte sich nicht beruhigen lassen, obwohl ihre Grosseltern da waren. Für meine Frau und mich bedeutete dies immer ein "Cabaret", bis wir endlich weg waren. Eines Abends hatten wir wieder einen Termin und ich hoffte inständig, dass mich Susanne beim Gutnachtsagen nicht fragen würde, ob wir weggehen würden, denn so gab sie schon am Morgen bekannt - würde sie ganz fest weinen. Behutsam brachte ich sie ins Bett und sprach ein Gutenachtgebet mit ihr. Plötzlich realisierte ich, dass ich in einer ganz andern Sprache redete, ähnlich wie es Professor Seiss vor Jahren getan hatte. Ich stoppte abrupt und beobachtet meine kleine Tochter, wie sie reagieren würde. Sie schien sich daran überhaupt nicht zu stören. Als ich mich vom Schock erholt hatte, beendete ich das Gebet. Und dann kam es: "Geht ihr heute wieder weg?" Umständlich versuchte ich ihr zu erklären, dass wir heute Abend noch jemanden besuchen müssten, und, und, und …, bis ich merkte, dass all die Entschuldigungen gar nicht nötig gewesen wären. Susanne drehte sich zufrieden auf die Seite, steckte den Daumen in ihren Mund und schlief ein. Dieses Erlebnis zeigte mir erneut, dass es nicht auf religiöse Handlungen und das Einhalten von selbstauferlegten Geboten ging, sonder um die lebendige Kraft des 55

Heiligen Geistes. Es geht auch nicht um Dogmen und die "richtige" Lehre. Es kommt einzig und allein darauf an, wie stark ich mit Gottes Geist in Verbindung stehe, der durch seine Kraft solche Dinge wirkt. Soweit hatte ich diese Tatsache erkannt. Doch zufrieden war ich mit meinem Christsein immer noch nicht. Etwas zu erkennen und es dann auch praktisch auszuführen sind zwei verschiedene Sachen. Solange wir uns in Afrika aufhielten ging die Suche also weiter. Viel Hoffnung machten uns einige Leute aus Kalifornien, die neu als Lehrer nach Nigeria kamen. Sie berichteten über die neue Bewegung der "Jesus People". Sie waren selber stark darin involviert. Vor allem Byron Trist mit seiner Gitarre, der als Lehrer in Jos tätig war, vermittelte uns durch seine Lieder einen Hauch von neuem Aufbruch. Ja auch in den Internatsschulen von Hillcrest und Miango war die spirituelle Aufbruchsstimmung zu spüren. Das war auch die Zeit, in der wir uns entscheiden mussten, ob wir in Afrika bleiben oder ob wir zurück in die Schweiz gehen sollten. Mein Rücken machte mir immer noch sehr zu schaffen und ich konnte die langen Reisen kaum mehr ertragen. Zuweilen musste ich mich nach einer Fahrt mit beiden Händen am Autodach aus dem Sitz herausziehen. Dann war da die Frage, ob es gut wäre, wenn wir nun auch Susanne ins Internat nach Jos schicken würden. Unser ältester Sohn Simon war schon drei Jahre dort und wir konnten ihn nur in den Schulferien sehen. Die Abschiedsszenen zwischen ihm und seiner Mutter wurden von Jahr zu Jahr dramatischer, wenn er nach den Ferien wieder zurück nach Jos fliegen musste. Entscheidend für uns, wieder in die Schweiz zurückzukehren war aber ein gemeiner Brief, den wir vom stellvertretenden Direktor erhielten. Dieser Brief war ausschlaggebend, dass ich unsere Kündigung schrieb. Dick schien über unsere spontane Reaktion erstaunt gewesen zu sein, nicht aber seine Sekretärin Hildegard. Diese hatte sich ernsthaft überlegt, ob sie diese Zeilen überhaupt abschicken solle. Interessanterweise fügte sich das Schicksal so, dass ich etwa zur gleichen Zeit einen "Kirchenboten" aus der Schweiz zugeschickt bekam. Darin befand sich ein Bericht über die Charismatische Bewegung, geschrieben von Pfarrer Marcel Dietler, der Pfarrer an der Schweizer Kirche in London war, jetzt aber ein Amt in Nidau bei Biel angenommen hatte. Diesem schrieb ich umgehend einen Brief mit der Frage, ob er eventuell von einer freien Stelle in der Landeskirche wüsste. Die Antwort liess nicht lange auf sich warten. Er berichtete, dass in Lyss eine Pfarrstelle offen sei, die von einem Pfarrverweser besetzt werden könnte. Er riet mir, mich bei einem der beiden Pfarrer dort zu melden. Noch bevor ich dazu kam, dies zu tun erhielt ich einen weiteren Brief, diesmal von Pfarrer McKee, der das Pfarramt Kirchgasse in Lyss betreute. Er lud mich herzliche ein, das Pfarramt Grünau zu besetzen, das jetzt verwaist war. Nun ging alles ganz schnell. Ich musste mich um nichts kümmern. Der Kirchenrat in Bern gab seine Zustimmung und bewilligte die Stelle für die nächsten zwei Jahre. Die Kirchgemeinde Lyss stellte mich als Pfarrverweser für den Kreis Grünau ein. Ich schrieb weder eine Bewerbung, noch wollten sie irgendwelche Zeugnisse sehen. Wir vereinbarten lediglich, dass ich den Dienst dort am 1. April 1974 antreten solle. Die Zeit vor unserer Rückkehr in die Schweiz gestaltete sich noch relativ hektisch. Wir setzten uns zum Ziel, vor unserer Abreise noch die Lesebücher in Mumuye für Anfänger fertig zu drucken und den Leuten zur Verfügung zu stellen. So packten wir all unsere Sachen im Dorf zusammen und verabschiedeten uns von den lieb gewordenen Stammesangehörigen mit schwerem Herzen. Unser Plan war, die Arbeiten in Jos fertig zu stellen, dort wo unsere Organisation eine Druckerei 56

unterhielt. Als wir in Jos ankamen mussten wir feststellen, dass alle Zimmer in den Hostels und Gästehäusern besetzt waren und wir keine Unterkunft finden konnten. In der Sudan Inland Mission riet man uns, ausserhalb von Jos eine Bleibe zu suchen. So fanden wir ein kleines Haus auf einer Missionsstation in Ringin Gani, einem Dorf etwa 50 km nordöstlich von Jos gelegen. Lofty Grimshaw und seine Frau Jo waren Missionare dort. Das bedeutete, dass ich die letzten vier Wochen vor unserer Heimreise jeden Tag von Ringin Gani nach Jos zur Arbeit fahren musste. Lofty war kein "normaler" Missionar. Er tat Dinge, welche die Mission eigentlich verboten hatte. Doch das gefiel mir und ich lernte eine Menge von ihm. Er machte es sich zur Gewohnheit, immer ein Fläschchen Öl mit sich herum zu tragen. Wenn er durch den Busch wanderte und jemanden traf, der körperliche Hilfe brauchte, salbte er ihn mit Öl und betete für ihn, so wie es die Jünger Jesu auch gemacht hatten, als er sie in die Dörfer schickte um das Evangelium zu verkündigen. Eines Morgens hatte unsere Tochter Susanne enorme Schmerzen an der rechten Hüfte, wo sich ein böser Abszess gebildet hatte. Sie lag herum wie eine lahme Fliege. Die Gefahr einer Blutvergiftung war offensichtlich. Nur ungern verliess ich die Familie zur Arbeit in Jos. Ich schärfte Ruth ein, unbedingt zum Arzt zu gehen, falls es schlimmer würde. Als ich am Abend nach Hause kam, war Susanne purlimunter. Lofty hatte sie, nachdem ich früh weggefahren war, im Namen Jesus mit Öl gesalbt und für ihre Heilung gebetet. Während des Frühstücks schaute Jo zum Fenster hinaus und sagte plötzlich: "War das nicht eben Susanne, die da vorbeigeflitzt ist und jetzt auf einen Baum klettert?". Sie war es. Der Abszess verschwand langsam und bis zum Abend, als ich nach Hause kam, war sie völlig geheilt.

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Im Dienst der Kirche Für mich und meine Familie bedeutete der Umzug von Afrika nach Lyss im Berner Seeland eine enorme Umstellung. Simon, unser ältestes Kind besuchte zuvor für drei Jahre eine amerikanische Schule. Er hatte keine Ahnung von Hochdeutsch, mit dem er jetzt plötzlich konfrontiert wurde. Auch für mich und meine Frau war vieles neu, an das man sich erst einmal gewöhnen musste. Zwar hatten wir zwei Jahre am Theologischen Seminar in Aarau studiert, doch besass ich kein volles theologisches Studium, das mich zum Führen eines selbständigen Pfarramtes befähigte. Langsam arbeitete ich mich in die verschiedenen Aufgaben hinein. Ein grosser Teil davon bestand aus Religionsunterricht auf den verschiedenen Stufen. Während ich anfangs all mein Wissen für die ersten Stunden zusammenklauben musste, erhielt ich doch recht bald Hilfe in Weiterbildungskursen, die an der Universität Bern unter der Leitung von Professor Klaus Wegenast stattfanden. Später erhielten wir wertvolle Beratung durch Pfarrer Dr. Walter Meier aus Biel, der uns ganze Unterrichtsmodelle zur Verfügung stellte, die wir fast eins zu eins übernehmen konnten. Genau so problemlos gelang es mir, mich mit den Kasualien vertraut zu machen. Kurz bevor ich die erste Trauung vollziehen sollte, setzte ich mich bei einer Hochzeitszeremonie meines Kollegen in die hinterste Reihe und passte gut auf, wie er es machte. In der gleichen Weise ging ich vor, als in meinem Kreis eine Beerdigung bevorstand. Von meinem Kollegen Bernhard Fankhauser habe ich sehr viel gelernt. Er war auch immer um mich besorgt, wenn ich im Unterricht mit einer Klasse nicht zurechtkam. Als nicht ordinierter Pfarrverweser hatte ich nie das Privileg, einen Talar anzuziehen. Nicht dass das verboten gewesen wäre, aber mein anderer Kollege, David McKee, ein Nordirländer, hatte da so seine eigenen Vorstellungen. Er wollte auch nicht, dass ich je eine Taufe vollziehen würde. Er nahm das mit der Ordination recht genau, obwohl aus Sicht des Bernischen Kirchenrates nichts dagegen einzuwenden gewesen wäre. Mir selber war das recht, war ich doch schon beschäftigt genug mit Trauungen und Bestattungen. Ausserdem war da noch die Jugendgruppe, die mir besonders Freude machte. Bei meinem Amtsantritt übernahm ich die Leitung der etwa 30 bis 40 jungen Leute. Wir hatten eine gute Zeit zusammen, vor allem, wenn sie bei uns am offenen Feuer zum Bräteln kamen. Dass dabei der Spannteppich des Wohnzimmers darunter zu leiden hatte, war ein anderes Kapitel. Das tat aber nichts zur Sache. Unsere Überzeugung war es, ein offenes Haus zu haben, so wie wir es von Afrika her gewohnt waren. Jeder durfte zu jeder Zeit kommen, wenn er etwas auf dem Herzen hatte, auch wenn es morgens um ein Uhr sein sollte. Hier wurden viele Freundschaften geschlossen und darum sahen meine Frau und ich das als unser Hauptziel an. Nach Ablauf der zwei Jahre kam die Frage auf "Was jetzt?". Für die örtlichen Kirchenbehörden war klar, dass für mich eine neue Stelle als Gemeindehelfer geschaffen werden solle. Die Pfarrstelle bekam inzwischen einen "richtigen" Pfarrer. Grosszügigerweise stimmte an einem Abend die ganze Kirchgemeindeversammlung diesem Projekt zu und wir konnten weiterhin in Lyss bleiben. Ausser dem Wegfallen der Kasualien blieb alles beim Alten, inklusive dem regelmässigen Einsatz im Predigtdienst. Als Kind bin ich in Romanshorn und in Trogen aufgewachsen. Vielleicht ist es diesem Umstand zuzuschreiben, dass man den Namen Krüsi am Bodensee noch kannte. Jedenfalls erhielt ich eines Tages einen Brief eines kirchlichen Behördenmitgliedes, ob wir nicht als Gemeindehelfer zu ihnen kommen wollten. Einer der amtierenden Pfarrer werde pensioniert und sie würden versuchen, an seiner Stelle einen 58

Gemeindehelfer einzusetzen. Eine Villa mit elf Zimmern stehe zur Verfügung. Solche Anfragen entscheidet man nicht alleine. Als ich den Brief meiner Frau vorlas war sofort klar, dass ein Umzug nach Romanshorn überhaupt nicht in Frage kam. Die "Romanshorner" liessen aber nicht locker. Immer und immer wieder erhielten wir Post aus der Ostschweiz und immer lasen wir von neuen, verlockenden Argumenten. Steter Tropfen höhlt den Stein. Das war auch hier nicht anders. Allerdings brauchte es sehr, sehr viel Überzeugungskraft und dazu noch einige Probleme auf unserer Seite, bis wir schliesslich einwilligten, die Stelle am Bodensee anzunehmen. Was die Probleme anbetrifft, so hätten wir den Job nicht wechseln brauchen. Denn überall kann es Probleme und Unstimmigkeiten geben. So auch in Romanshorn. Wir gingen zwar in unserer Arbeit auf und viele erfreuliche Dinge geschahen. So war auch meine Frau Ruth überglücklich, dass sie die Sonntagschule übernehmen durfte. Sie leitete die Vorbereitungen und plante Anlässe. In den Schulferien organisierte sie mit vielen Helferinnen zusammen Feriencamps, an denen etwa 80 Kinder für eine ganze Woche teilnahmen. Auch in den Religionslagern, die jedes Jahr für die Oberstufe in Sedrun in Graubünden stattfanden, übernahm sie die Funktion einer Gruppenleiterin. Das grosse Haus mit den vielen Zimmern machte nicht nur ihr, sondern auch der ganzen Familie recht viel Freude, indem wir für die Pflege der Bäume und des Rasens den Friedhofgärtner beanspruchen durften. Nach drei Jahren wurde ich vor die Tatsache gestellt, eine neue Stelle zu suchen. Die "Chemie" zwischen einem meiner Kollegen und mir wollte nicht so recht stimmen. Die Hintergründe waren eindeutig Neid auf meine Erfolge. Er selber hatte weniger Erfolg und so begann er, mir nachzustellen und mich bei der Kirchenleitung, wo ich angestellt war, zu beschuldigen. Dies bewirkte, dass ich mir nur umso mehr Mühe gab, gut zu sein. Und ich war wirklich gut! Das brachte ihn noch mehr in Rage und er begann, bei mir minutiös Fehler zu suchen, um mich "abschiessen" zu können. Schliesslich verkündigte er an einer Sitzung der Kirchenpflege mit Entschlossenheit, er habe es satt, sein Leben an meiner Seite zu vergeuden. "Entweder er geht, oder ich gehe!", liess er alle wissen. Sehr geholfen hat mir in dieser Zeit der Rat von Pfarrer Dr. Walter Meier aus Biel. Ich hatte ihm nicht einmal die Hälfte der Geschichte erzählt, als er mich unterbrach und sagte: "Ich kann dir genau sagen, wie es weiter geht. Ich habe das in Bern an einer Pfarrstelle selbst erlebt. Wenn du weiterhin Erfolg bei den Leuten hast, so wird seine Wut nur umso grösser. Leistest du dir aber einen kleinen Fehler, dann hast du das Messer im Rücken." Da mein Gegenspieler Pfarrer war und ich nur ein kleiner Angestellter, war klar, wer in so einer Situation die Oberhand behalten würde. Als ich den psychischen Druck kaum mehr aushalten konnte, fing ich an, mich nach einer andern Stelle umzuschauen. Ich hatte nicht die geringste Chance. Wunderbarerweise aber öffnete sich für mich der Weg zurück in die Industrie.

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Die Herausforderung Zu jener Zeit, als sich mein Verhältnis zu meinem Kollegen auf dem Nullpunkt befand, führte die Kirchgemeinde ein Projekt mit "Mut zur Gemeinde" durch. Vom ganzen Kanton und auch von weiter her wurden Leute eingeladen, mit denen wir Hauskreise gründeten und aufbauten. Es waren etwa deren zwölf Gruppen, die neu entstanden. Unter den Gästen befand sich auch Herr Meier, ein Personalchef der Firma Sulzer in Winterthur. Dieser vertrat für einige Wochen den Personalchef der Dieselmotorenabteilung. Gleichzeitig entdeckte ich in einer Tageszeitung ein Inserat der Firma Sulzer. Sie suchten interessierte Leute für die Abteilung Dieselmotoren zum Aufbau eines anspruchsvollen CAD-Systems. Ich war hell begeistert und schrieb gleich eine Bewerbung. Mit Hilfe von Personalchef Meier wurde ich trotz meines fortgeschrittenen Alters und mangelnder Berufserfahrung eingestellt und dem CADTeam zugeordnet. Das führte zu einem neuen Wohnungswechsel und wir verlegten unsern Wohnsitz nach Zell im Tösstal, wo die Firma Sulzer ihren Mitarbeitern viele Wohnungen zur Verfügung stellte. Der Einstieg in meinen angestammten Beruf klappte wider Erwarten hervorragend und für viele Mitarbeitende war ich fast zu einem Phänomen geworden. Meine technischen Fähigkeiten hatten mich nach 14-jähriger Berufsabstinenz nicht verlassen. Was mich bei den von Sulzer gebauten Dieselmotoren vor allem beeindruckte war ihre Grösse. Ein kleiner Motor überragte bei Weitem ein Einfamilienhaus. Grössere Motoren hatten die Dimension eines Wohnblocks. Der grösste Kolben, den ich zu Gesicht bekam mass 1.05 Meter im Durchmesser. Es sind gigantische Kraftmaschinen. Nach dreimonatiger Einarbeitungszeit am Reissbrett und einem mehrtägigen Besuch auf einem Ozeanriesen war es endlich so weit, dass mit dem CAD, also mit dem Computer Aided Design begonnen werden konnte. Die Arbeit am Bildschirm machte mir Freude und nie wäre ich je wieder zurückgegangen an das alte Zeichenbrett. Nach einjähriger Praxis und einigen zusätzlichen Kursen wurde mir die Schulung für das gesamte technische Personal der Sulzer Dieselmotorenabteilung übertragen. Dazu stand mir ein Schulungsraum zur Verfügung in dem ich gruppenweise Mitarbeitende vom Lehrling bis zum Direktor ausbildete. Sehr zugute kamen mir dabei die Kenntnisse in Didaktik und Methodik, die ich mir in den sieben Jahren in der Kirche in Weiterbildungskursen angeeignet hatte. Neben meiner Kurstätigkeit beschäftigte ich mich mit der Erstellung von Anwendungsprogrammen und deutschsprachigem Kursmaterial. Dazu benutzte ich als Unterlagen die in Englisch geschriebenen Anleitungsbücher, etwa zehn dicke Ordner. So war ich froh über meine Englischkenntnisse, die ich in den vergangenen Jahren gesammelt hatte. Zur selben Zeit arbeitete auch meine Frau Ruth in Winterthur als Hortleiterin und später als Kindergärtnerin. So konnten wir nach der Arbeit zusammen viel unternehmen. Mit dem Wiedereinstieg in die technische Welt war für mich das Thema Kirche einstweilen erledigt. Ich hatte erkannt, dass sich die Kirche nicht grundlegend erneuern lässt, auch wenn viele Menschen das versucht haben. Irgendwie sind sie alle an der Struktur und der Tradition gescheitert. Mir kam das Wort von Jesus in den Sinn der sagte, dass man neuen Wein nicht in alte Schläuche füllen kann, sonst sprengt der Wein bei der Gärung die alten, spröd gewordenen Behälter und alles ist verloren. Ich verstand das so, dass man aus der Kirche nicht eine Gemeinschaft machen kann, in der der Geist Gottes ungehindert wirken kann. Die Hierarchie ist 60

stärker. So wandte ich mich mit meiner Familie von der Kirche ab und suchte andere Möglichkeiten. Für einige Zeit pilgerten wir jeden Sonntag mit der ganzen Familie nach Winterthur um dort eine pfingstlich orientierte Gemeinde zu besuchen. Wir waren mit dem dortigen Betrieb aber nur bedingt zufrieden. Als der Prediger eines Morgens anstatt einer Predigt nur endlose Mitteilungen von sich gab, weil er einfach zu faul war eine Predigt vorzubereiten, da hatten wir genug und distanzierten uns von dieser Gemeinde. Nicht weit von unserem Wohnort entfernt existierte eine Freikirche, der wir uns nun halbherzig anschlossen. Nach meinem Geschmack war sie zu fundamentalistisch. Das konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ertragen. Darum war ich froh, als Ruth als Abgeordnete der Sozialdemokratischen Partei in die Kirchenpflege unserer Gemeinde gewählt wurde. So rutschten wir automatisch wieder in den Schoss der Landeskirche zurück. Die Ungerechtigkeiten, die ich Jahre zuvor von der Kirche in Romanshorn erleiden musste waren weitgehend verarbeitet und vergessen. So trat eine ruhigere Phase meines Glaubenslebens ein. Meine Aktivitäten erschöpften sich hauptsächlich im Besuch von Gottesdiensten. Eventuell liess ich mich noch von meiner Frau dazu überreden, irgendwelche Anlässe oder Kurse mit ihr zu besuchen. Ruth war wesentlich geschäftiger für die Kirche tätig als ich. Das brachte schon ihr Amt als Kirchenpflegerin mit sich. Sie führte neue Unterrichtsformen ein, wie etwa den Drittklass-Unterricht oder sie setzte sich leidenschaftlich für die Sonntagsschule ein. Sie tat alles, wenn es irgendwie mit Kindern zu tun hatte. Aber auch Kurse für Sterbebegleitung, Besuchsdienst für Neuzuzüger und Altersbetreuung lagen ihr am Herzen. Was ihr aber am meisten Freude machte war das Verfassen von Berichten über kirchliche Anlässe für das Lokalblatt "Der Tössthaler". Mit der Zeit weitete sich dieses Arbeitsfeld aus und bald schrieb sie als freie Journalistin ihre eigenen Berichte für die Zeitung.

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Bombolulu Nach zwölfjähriger Tätigkeit in der Firma Sulzer in Winterthur hatte ich Gelegenheit, mich beruflich nochmals zu verändern. In unserem Wohnblock lebte auch der Personalchef der Informatikabteilung von Sulzer. Wir sahen uns fast täglich auf dem Weg zur Arbeit. Eines Tages riet er mir unvermittelt, dass wenn ich eine neue Arbeit in Aussicht hätte, dann solle ich nicht zögern, diese anzunehmen. Damit deutete er an, dass sich in der IT Abteilung einiges an Änderungen anbahnte und diese nicht mehr viel länger existieren würde. Also sahen sich meine Frau und ich ungezwungen in den Zeitungen um. Und tatsächlich fand sich eines Tages ein Stelleninserat, auf das ich mich sofort meldete. Im Alter von 56 Jahren hatte ich das Glück, bei der "Christoffel Blindenmission" als Informationsbeauftragter für die Schweiz einzusteigen. Ich war stolz, gegen Ende meiner Berufskariere noch etwas Gutes für die Menschheit tun zu dürfen. Die CBM hat ihren Sitz im hessischen Bensheim, das zwischen Mannheim und Darmstadt an der Bergstrasse liegt. Mein neuer Job bedingte, dass ich mich zur Ausund Weiterbildung viel in Deutschland aufhielt. Meine Arbeit bestand nicht nur im Versenden von Dankesbriefen, sondern gestaltete sich auch recht kreativ, indem ich freie Hand hatte, wie ich meine Informationsarbeit gestalten wollte. Zusammen mit meinen deutschen Kollegen und Kolleginnen durfte ich eine unvergessliche, mehrwöchige Studienreise nach Kenia und Tansania erleben. Die CBM betreibt oder sponsert viele Projekte in Kenia. Zuerst unternahmen wir eine Reise rund um den Mount Kenia und besuchten Spitäler und Schulen für Seh- und andere Behinderte. In einem der Spitäler befanden sich kleine Kinder, denen allen die Beine eingebunden waren. Sie litten an einer speziellen Krankheit, welche verursacht, dass die Knochen krumm wachsen. So werden den kleinen Patienten die krummen Beinknochen in Stücke zersägt und mit Schienen gerade gerichtet, damit sie so wieder zusammenwachsen können. Für uns war das eine kaum vorstellbare Methode, aber hier waren sie, die Kinder, vor unsern eigenen Augen und strahlten uns an. Übers Wochenende hatten wir frei und durften in Mombasa in einem Hotel das Strandleben unter Palmen geniessen. Es war Freitagmittag und wir wollten zuvor noch unbedingt einen Besuch bei der Behindertenwerkstatt Bombolulu machen. Von diesem Betrieb, der etwa 300 von der Polio gezeichnete Menschen zählt, hatten wir schon in der Heimat gehört. Sie fertigen Schmuck, modische Kleider und filigrane Schnitzereien her, die sie bei den Touristen vermarkten. Als wir uns den Werkstätten näherten hörten wir Musik und fröhlichen Gesang. "Sicher haben die schon Feierabend und feiern für das Wochenende", dachten wir alle. Wir staunten nicht schlecht, als wir die Werkhallen betraten. Alle verrichteten ihre Arbeit, sangen dazu und freuten sich. Sowas habe ich in Europa noch nie gesehen. Nicht nur bei den Behinderten haben wir diese Freude und den unermüdlichen Einsatz beobachten können, sondern auch bei den einheimischen Mitarbeitern. Diese sind voll von ihrem Job überzeugt und setzten sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mittel für die Menschen ein. Zuhause hatte ich die Gelegenheit, über unsere Informationsreise eine Tonbildschau mit zwei Projektoren unter dem Titel "Blindheitsverhütung in Ostafrika" zu entwickeln. Überall wo ich eingeladen wurde konnte ich diese dem Publikum vorführen. In zunehmender Weise war ich als Redner bei Anlässen des Rotary Clubs gefragt, aber 62

auch in Kirchgemeinden, bei privaten Anlässen, in Alters- und Behindertenheimen, Gymnasien und Ferienzentren. Ein anderer Höhepunkt in meiner Arbeit für CBM war der Besuch einer afrikanischen Tanzgruppe aus Swasiland, mit der ich durch die Schweiz zog und Vorführungen veranstaltete. Sie bestand aus fünf jungen, talentierten Menschen, die unter der Leitung von Pater Ciccone, einem italienischen Priester, ihre Gesänge und Tänze aufführten. Im katholischen Gymnasium von Immensee ernteten wir viel Anerkennung. Von hier aus fuhren wir zur nächsten Vorführung in Emmetten. Ich machte mir einige Gedanken im Bezug auf den bevorstehenden Abend. Denn schliesslich waren die Tänzer und Tänzerinnen streng katholisch, während das Ferienzentrum in Emmetten streng fundamental-pfingstlerisch ausgerichtet war. Ich machte Pater Ciccone auf diesen Umstand aufmerksam und riet ihm, bei dem einen Tanz, wo die Tanzenden sich auf den Boden legen um zu hören, was ihnen die Totengeister in der Tiefe zu sagen haben, nicht allzu viele Erklärungen abzugeben. Die Leute könnten das missverstehen. Im Ferienzentrum wurden wir von den Gästen enthusiastisch willkommen geheissen, Küsschen hier, Umarmungen da. Alles schien sich auf den Abend zu freuen. Der Saal war voll und die Menschen folgten den Tänzen und den Ausführungen von Pater Ciccone mit Interesse. Beim Tanz mit den Totengeistern konnte es sich Pater Ciccone aber nicht verkneifen, der Länge und der Breite nach zu erklären, was es mit dem Lauschen am Boden auf sich hatte. Während des Tanzes standen viele der Zuhörer und Zuhörerinnen auf und verliessen aus Protest vorzeitig den Saal. Das war ein peinlicher Moment. Die Kollekte am Schluss konnte sich trotzdem sehen lassen, obwohl sie ohne diesen Zwischenfall sicher doppelt so gross gewesen wäre. Am nächsten Morgen beim Frühstück wurde die ganze Tragweite dieses Vorfalls sichtbar. Die am Vortag so freundlichen Menschen zeigten ihre kalte Schulter. Alle Herzlichkeit war verschwunden. Niemand wechselte mehr ein Wort mit der Tanzgruppe. Man liess sie so richtig spüren, was für "heidnische" Menschen sie seien. Natürlich machten wir uns darüber alle unsere Gedanken. Wie kann es sein, dass die "christliche Liebe" so plötzlich verschwindet? Was steckt hinter solchem Verhalten dieser Menschen? Sicher spielt da die Gesetzlichkeit ein bisschen eine Rolle. Doch die eigentliche Ursache scheint mir der "christliche Aberglaube" zu sein, die Angst, irgendein böser Geist könne zu ihnen herüber springen. Dieser Aberglaube ist weit verbreitet bei strenggläubigen Christen. Was wird da nicht alles als dämonisch, esoterisch und okkult bezeichnet! Viele sind gefangen in ihrer Angst vor dem Übersinnlichen. Ihr Glaube an die bewahrende Macht von Jesus scheint völlig zu versagen. Anders kann man solch furchtsames und törichtes Verhalten nicht erklären. Ganz extrem musste das ein Prediger-Kollege einer Freikirche in Romanshorn erleben. Plötzlich gab es in seiner Gemeinde einen Aufstand gegen ihn und die ganze Gemeinde begann für einen andern Pfarrer zu beten. Der Skandal verschärfte sich und das oberste Gremium dieser Freikirche, die ihren Sitz in Basel hat, musste eingreifen. Schliesslich wurde er entlassen. Nur mit Mühe fand er eine Anstellung als Hilfsarbeiter in einer nahe gelegenen Mosterei. Seine Verfehlung bestand darin, dass er während des Gottesdienstes einem kranken Mann die Hand auf den Arm legte und für ihn um Heilung betete. Es ist kaum zu glauben, aber diese guten Christen hatten Angst, durch die Handauflegung könnte ein böser Geist auf den Kranken 63

kommen, so erklärten sie mir später. Solch extremer Aberglaube, wie er in freikirchlichen Kreisen in der Schweiz grassiert, ist mir selbst in Afrika nie begegnet. Der Kern der CBM in Deutschland bestand aus aufrichtig gläubigen Menschen. Doch je länger je mehr mussten sie sich gegen den säkularen Einfluss wehren, der schleichend die Leitung infiltrierte. So äusserte sich der Präsident der CBM Schweiz einmal unmissverständlich, dass das Hilfswerk vom "christlichen Image" wegkommen müsse. Was das für praktische Konsequenzen für mich haben würde, ahnte ich damals noch nicht. Doch bald wurde klar, dass wir Informationsbeauftragten in der Schweiz und in Deutschland für die Direktion nur noch eine Art "Altlast" darstellten. Man wollte sich von der persönlichen Werbung und Information lösen und begann, voll auf Bettelbriefe zu setzen. So wurde an meiner 100%-Stelle geschräubelt und gedreht, bis mir ein inakzeptabler, auf ein halbes Jahr befristeter Vertrag vor die Nase gehalten wurde, nach dessen Wortlaut ich auf eigene Rechnung arbeiten sollte. Auf dringendes Anraten des Magazins "Beobachter", das ich um juristischen Beistand gebeten hatte, lehnte ich ab und handelte mir damit die sofortige Kündigung ein.

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Positiv denken Während meiner Tätigkeit bei der CBM fiel mir ein Buch von Dr. Joseph Murphy mit dem Titel "Die Gesetzte des Denkens und Glaubens" in die Hände. Durch diese Lektüre lernte ich Leben und Lehre von Jesus von einer ganz anderen Seite kennen. Vieles was Murphy sagt fand ich im Handeln und Denken von Jesus wieder, nur dass dieses Denken nicht in die starre Haltung einer Dogmatik oder in die Rechtgläubigkeit hinein führt, sondern genau in die Gegenrichtung. Angespornt durch diese Erkenntnis kaufte ich ein Buch nach dem andern, das Joseph Murphy geschrieben hatte und vertiefte mich in deren Gedankengut. Zum gesuchten Ziel hatte mich das zwar nicht geführt, doch es gingen mir dadurch einige Lichtlein auf und ich erkannte, wie sehr unser Denken – ob negativ oder positiv - doch die reale Welt beeinflussen kann. Das habe ich vor allem als Gleitschirmflieger erleben können. Ich hatte den unbändigen Wunsch, mit meinen 54 Jahren noch Gleitschirm fliegen zu lernen. Ich war fasziniert von diesem Sport und ich schaffte es trotz Hindernissen und Rückschlägen bis an den Tag meiner Prüfung. Diese fand an einem strahlenden Herbsttag in Grindelwald statt. Den ersten Teil schaffte ich schon Wochen zuvor in Engelberg. Doch wegen des Nebels musste die Übung abgebrochen werden. Der letzte und entscheidende Flug soll also hier im Berner Oberland am Fusse des Eigers stattfinden. Wir waren etwa zehn oder zwölf Kandidaten und nur eine einzige Frau. Diese regte sich über diese Tatsache schon bei der Besammlung enorm auf. Auch erzählte sie allen, dass sie sicher durchfallen werde. Aus diesem Grunde tat sie mir echt leid, denn bei Joseph Murphy hatte ich positiv zu denken gelernt. Diesen Fehler wollte ich nicht machen, vor allem nicht in so einer entscheidenden Situation. Wie üblich war ich als letzter am Startplatz angekommen und legte meinen Schirm an einer mir günstigen Stelle aus. Ein frischer Wind wehte mir aus dem Tal entgegen. Ideale Startverhältnisse! Jetzt kommt es drauf an. Nur einen einzigen Flug habe ich noch zugute. Dieser muss sitzen, in jeder Beziehung. Drei Flüge kann man bei der Prüfung machen, von denen zwei fehlerlos sein müssen. Ich erinnerte mich an das Desaster des zweiten Fluges in Engelberg und beschloss, diesmal bei Gott nicht wieder um Hilfe zu flehen und zu betteln, sondern mich auf bestimmte, bejahende und positive Aussagen zu beschränken, wie etwa: "Die Kraft Gottes ist jetzt mit mir. Ich werde Erfolg haben, Anerkennung und Ansehen ernten." Diese Worte wiederholte ich immer und immer wieder, während ich mich auf den Start vorbereitete. Der Experte kam auf mich zu und fragte mich nach meinem Namen und dem Zweck des Fluges. Wenn ich bereit sei könne ich gehen. Die Verantwortung der Entscheidung lag nun ganz allein bei mir. Der Start gelang einwandfrei. Friedlich segelte ich dem Dorf zu. Keine Panik, kein Bibern, keine schlechten Gefühle. Die geforderte Achterfigur gelang bestens. Schliesslich befand ich mich wieder in Richtung Landeplatz. Beharrlich fixierte ich den Landepunkt und war innerlich fest davon überzeugt, dass mein Unterbewusstsein die richtige Höhe und Dosierung beim Bremsen einschätzte. Noch bevor ich es begreifen konnte, stand ich auf dem Boden, nur 50 cm vom Mittelpunkt des 30 Meter grossen Landekreises entfernt! Durch die Öffnungen am Helm hörte ich verschämt lauten Applaus. Nein, so wörtlich hatte ich das mit dem "Erfolg, Anerkennung und Ansehen" nicht gemeint. Doch genau das ist eingetreten. Meine 65

Kollegen und die einzige Kollegin, die fast alle über den Landekreis hinausgeflogen waren, freuten sich über meinen Erfolg. Prüfung bestanden! Während ich gemächlich meinen Schirm zusammenfaltete, machten sich die andern zum zweiten Durchgang auf den Weg. Meiner Kollegin, die so fest davon überzeugt war, dass sie durchfallen würde, wünschte ich innerlich alles Gute und ebenso viel Erfolg wie ich hatte. Ich entschloss mich, den zweiten Durchgang vom Landeplatz aus zu beobachten. Jeder machte über dem Dorf seine Flugfigur und setzte dann zur Landung an. Nachdem beim ersten Durchgang die meisten über das Ziel hinausgeflogen waren, verhielt es sich jetzt genau umgekehrt. Die meisten waren viel zu kurz und landeten vor dem Zielkreis. Jetzt war unsere Kollegin im Anflug. Gut, genau die richtige Höhe, sie wird es schaffen! Nur dumm, dass 50 Meter vor ihr ein anderer ihre Flugbahn kreuzt. Anscheinend bekam die Kollegin deswegen Angst und begann stark anzubremsen. Bald flog sie tiefer als ihr Vordermann. Vorbei! Keine Chance mehr. Hätte sie nur unbeirrt den Kurs gehalten, dann wäre ihr zweiter Flug gelungen. Ich wandte mich vom Landeplatz ab und begab mich zum Auto. Es ist eine Tatsache, sie hatte geglaubt, dass sie die Prüfung nicht schaffen würde und sie schuf sie tatsächlich nicht. "Dir geschehe nach deinem Glauben!" Und dieser Glaube wurde erfüllt von einem fremden, völlig unbeteiligten und ahnungslosen Gleitschirmflieger, der zufällig ihre Flugbahn kreuzte. Nirgends wie beim Gleitschirmfliegen habe ich erfahren, was der Glaube an den Erfolg und eine positive Einstellung bewirken können. Aber auch das Gegenteil konnte ich all die Jahre hindurch an mir selbst erfahren. Alle Rückschläge und alles Versagen sind lediglich auf diese eine Tatsache zurückzuführen.

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Quantenphysik Ich sitze im Bus und mache es mir bequem. Die Fahrt geht in den Aargau, nach Villigen, um genau zu sein. Dort befindet sich das grösste Forschungszentrum für Natur- und Ingenieurwissenschaften in der Schweiz, das Paul Scherrer Institut. Der Leiter der Zivilschutzgruppe unseres Dorfes hat diese Reise organisiert. Das heisst, wir dürfen uns einmal bequem zurück lehnen, anstatt Zivilschutzräume einrichten oder Übungen machen. Quantenphysik und Quantenmechanik, mit denen sich das Paul Scherrer Institut beschäftigt, haben mich schon immer interessiert, also bin ich echt gespannt, was auf uns zukommt. Wir wurden von einem netten Wissenschaftler empfangen und erst einmal in eine grosse Halle geführt. Dort hing zwischen Boden und Dach ein voluminöser, rundovaler Behälter. Darin befindet sich Wasserstoff, der unter einer Hochspannung von x-tausend Volt steht. Durch diese enormen elektrischen Kräfte spaltet sich der Wasserstoff in Protonen und Elektronen auf. Die dadurch frei gewordenen Protonen werden in einem Rohr aus dem Raum geführt. Als nächstes durften wir uns das Rohr in einem benachbarten Raum von der Nähe aus betrachten. Durch die Glaswand sahen wir, dass das Rohr in einen riesigen Raum führt, der mit gigantischen Betonblöcken gefüllt ist. Unter den Betonblöcken befindet sich eine Kreisförmige Einrichtung von etwa 90 Metern Durchmesser. "Das ist der Beschleuniger", klärte uns der Wissenschaftler auf. "Die Protonen, die durch das Rohr hierher kommen, werden in dieser riesigen Maschine auf 80% der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt". Mit so einem beschleunigten Protonenstrahl kann man allerhand anfangen. Zum einen werden damit von den Physikern Experimente durchgeführt und zum andern dient er einem sehr humanen Zweck, indem krebskranke Menschen damit behandelt werden. Nach der Führung durch den Betrieb durften wir uns noch einen sehr interessanten Film über die Quantenmechanik, den Urknall und die Entstehung der Materie anschauen. Zum Schluss wandte ich mich an den Wissenschaftler, der uns den Film zeigte: "Ist das richtig wenn ich die Materie als 'erstarrte Energie' bezeichne?" Er bestätigte mir das und es eröffnete sich eine völlig neue Dimension in meinem Denken und ein total neues Verständnis der Schöpfungsgeschichte gegenüber. Wochen später bat mich ein ehemaliger Kollege des Seminars in Aarau, ob ich am Altersnachmittag seiner Kirchgemeinde in Rüti ZH eine Andacht halten würde. "Das kannst du sicher noch, auch wenn du schon seit Jahren nicht mehr in der Kirche arbeitest". Ich sagte zu. Doch was soll ich diesen alten Leutchen nur erzählen? Wofür interessieren sie sich, oder was beschäftigt sie? Ich wählte einen mir passenden Bibeltext aus. Auch einige Notizen über die Führung durch das Paul Scherrer Institut und die Eindrücke, die sie bei mir hinterliessen, packte ich für diesen Nachmittag ein. Nachdem ich meine Ausführungen über den gewählten Bibeltext beendet hatte, entschloss ich mich, den Zuhörenden einige Gedanken über die Quantenphysik schmackhaft zu machen. Ehrlich gesagt, ich betrachtete das als ein kleines Wagnis und war selbst gespannt, wie die Reaktion des Publikums sein würde. Ich begann mit dem dritten Vers der Bibel "Und Gott sprach, es werde Licht". Dabei erklärte ich den Leuten, dass es sich nicht um das Sonnenlicht handle, denn die Sonne wurde nach der biblischen Erzählung erst am vierten Tag geschaffen. Es handelt sich um ein andersartiges Licht, ein kosmisches Licht, das von Gott ausging. Es muss sich um eine unvorstellbare, geballte Ladung von Kraft handeln, welche von der Wissenschaft "Urknall" genannt wird. Diese Strahlung ist der Urstoff, aus der 67

schliesslich unsere Materie entstand. Nach der wissenschaftlichen Erkenntnis ist Materie nichts anderes als erstarrte Energie. Die Teilchen bewegen sich nicht wie in einem Strahl geradeaus, sondern kreisen um ein Zentrum, den Atomkern herum. Je nach Beschaffenheit des Atomkerns und der Anzahl von Elektronen, die um ihn herum sausen, bilden sich die verschiedenen Elemente, zum Beispiel das einfache Wasserstoffatom bis zum komplexeren Blei- oder Eisen-Atom. Aus diesen Bausteinen ist unsere ganze sichtbare Welt aufgebaut. Man soll sich das einmal vorstellen, alles was wir sehen und berühren können, ja wir Menschen selber bestehen aus dieser Energie. Einstein hat das bewiesen und wir alle profitieren tagtäglich von dieser Theorie, indem wir Strom aus Atomkraftwerken beziehen. Dort läuft der Prozess umgekehrt ab. Aus der Materie, zum Beispiel aus Uran, wird wieder Strahlung und Energie. Wir Menschen sind im Grunde genommen aus göttlichem Material gefertigt. Wir sind nicht selber Gott, aber der Stoff, aus dem wir gebaut sind, stammt direkt von Gottes Wort "Es werde Licht". Ich weiss nicht, ob es meine theologischen Ausführungen über den Bibeltext oder die Tatsache, dass wir Menschen aus göttlichem Stoff bestehen ausschlaggebend war, dass dieser Altersnachmittag höchst erfreulich verlief. Das Echo aus den Reihen der Zuhörerschaft war durchaus positiv, ja fast enthusiastisch. Vielleicht haben einige dieser alten Leute noch weiter darüber nachgedacht und sind dadurch näher zu Gott und seinem Schaffen und Wirken gekommen. Viele Menschen fragen sich, dass wenn es wirklich einen Urknall gegeben hat, woher dieser kam und was vorher anstelle unseres Universums war. Hier versagt schlichtweg die menschliche Vorstellungskraft. Ich habe etliche Sendungen am Fernsehen über dieses Thema verfolgt. Ein Schweizer Wissenschaftler und Astrophysiker hat sich diesbezüglich so geäussert: "Ich bin sicher, dass die Wissenschaft nie soweit kommen wird um zu erklären oder gar zu beweisen, was den Urknall ausgelöst hat." Nach seiner Meinung werden wir nie erfahren, was vor dem Urknall war. Die Bibel gibt da eine plausible Antwort. Gott ist es, der dies durch sein Wort "Es werde Licht" verursacht hat. Nun sagt Jesus, dass Gott Geist ist. Also hat ein geistliches Wesen unsere sichtbare Welt ins Dasein gerufen. Hier drängt sich automatisch die Frage nach der Beziehung von Geist und Materie auf. Hat der Geist einen Einfluss auf die Materie? Oder müssen wir beides als völlig getrennte Dinge anschauen? Die meisten Menschen sehen keinen Zusammenhang zwischen Geist und Materie. Ebenso verneinen viele einen Zusammenhang zwischen unserem Denken oder unserem geistigen Zustand und den sich um uns abspielenden Ereignissen. Nicht so die Sportler. Die sehen durchaus das Verhältnis zwischen ihrem geistigen Zustand und ihren Erfolgen. Ein emotional angeschlagener Sportler wird nie Erfolg haben, während ein erfolgreicher Sportler sich mit mentalem Training auf seinen Auftritt vorbereitet. Das bringt mich zu der Frage, wo eigentlich die Grenze zwischen Physik und Geist ist, ich meine, was ist die Schnittstelle zwischen Geist und Materie? Wo ist der Übergang vom einen ins andere? Und hier komme ich schon in die Nähe der Wunder, von denen wir im Alten und Neuen Testament lesen. Im Lichte der Relativitätstheorie und der Quantenphysik scheint es gar nicht mehr so unmöglich, einen Gegenstand aus Eisen schwimmen zu lassen, wie es im zweiten Buch der Könige geschildert wird. Plötzlich rückt auch die Erzählung, dass Jesus auf dem Wasser gewandelt war, in unmittelbare Nähe des Möglichen. Jedes Wunder von dem wir in der Bibel lesen weist auf das Prinzip der Schnittstelle "Geist-Materie" hin. Da ist die Geschichte, wo Jesus an einem Hochzeitsfest Wasser in Wein verwandelt, oder wo er aus wenig Brot und Fisch ein ganzes Heer von Menschen sättigt. 68

Noch heftiger wird, vor allem unter den Theologen, über die leibliche Auferstehung Jesu diskutiert. Es ist beeindruckend, wie gewisse Leute versuchen, die Auferstehung Jesu zu vergeistlichen. In ihren Augen habe sie gar nie stattgefunden und sei in den Bereich der Mythen anzusiedeln. Ich selber bezweifle aber, dass sich Mythen in einem Zeitraum von dreissig Jahren bilden können, denn so lange liegen die Ereignisse von den ersten Zeugenberichten zurück. Ich selber weiss noch ganz genau, was vor dreissig Jahren geschehen ist und was ich damals gemacht habe. So traue ich es auch dem Evangelisten Markus zu, dass er sich noch bestens an die Kreuzigung und an die Auferstehung Jesu erinnern konnte, als er sein Evangelium schrieb. Nicht nur bei ihm, sondern auch in den andern Berichten der Evangelisten lesen wir sehr interessante Dinge im Bezug auf dieses Thema. Auch die Jünger zweifelten an den Berichten, welche die Frauen vom leeren Grab verbreiteten. So gingen zwei von ihnen selbst hin, um sich zu überzeugen. Und da heisst es: " Simon Petrus kam und ging in das Grab hinein und sah die Leinenbinden liegen. Da ging auch der andere Jünger hinein; er sah und glaubte." Was gab es da zu sehen, dass der eine Jünger plötzlich glaubte? Er sah die Leinenbinden daliegen, als ob noch ein Mensch drin läge. Doch der Körper war weg und die Binden bildeten eine Art Cocon. Das konnte nur eines bedeuten: Jesus ist in einem neuen Leib aus den Leinenbinden heraus gestiegen. Bei einer anderen Gelegenheit schrien die versammelten Gläubigen auf, als Jesus durch die verschlossene Tür in den Raum kam. Sie meinten, es sei ein Gespenst. Doch der "Geist-Leib" von Jesus war nicht der eines Gespenstes. Zum Beweis dafür, dass es der auferstandene Jesus war, durften sie ihn berühren und er ass sogar ein Stück Fisch vor ihren Augen. Jesus ist durch die Kraft des Geistes Gottes auferweckt worden und hat die Grenzen der Materie durchbrochen. Ganz aktuell und in unserer heutigen Zeit bedeutsam sind die Heilungsgeschichten von Jesus. Nicht nur hat er Blindgeborene und lahme Menschen geheilt, sondern er hat seinen Nachfolgern und uns geboten, dasselbe zu tun. Wie soll das geschehen? Da stehen viele mit ihrem Latein am Ende. Mir sind etliche Fälle bekannt, wo Massen von Gläubigen für Kranke Tag und Nacht gebetet und gefastet haben, doch nichts ist passiert. Die Erkrankten sind trotzdem gestorben. Und handkehrum gibt es Menschen, welche die unglaublichsten Wunder an ihrem eigenen Körper erfahren. Ich frage mich warum? Wieso handelt Gott das eine Mal und das andere Mal nicht? Viele Gläubige haben sofort eine Antwort bereit. Sie meinen, es sei nicht Gottes Wille gewesen, dass die Betreffenden gesund würden. Das ist mir eine zu billige Antwort, denn Gott will, dass allen Menschen geholfen werde. Ich selber weiss die Antwort auch nicht. Ich sehe nur, dass auch heute noch wunderbare und unerklärliche Dinge geschehen. Ein Bericht aus Süd-Ost Asien hat mir grossen Eindruck gemacht (Link). Aber auch hier und jetzt beweist Gott von Zeit zu Zeit seine Kraft, Fürsorge und Liebe. Glaubensheilungen siedle ich im Bereich der Quantenphysik und der Relation Materie-Geist an. Dabei soll es hier nicht um Beweisführungen handeln. Beweisen kann man das Wirken Gottes nicht, aber die Theorie der Quantenphysik kann helfen, meine Zweifel an der Allmacht Gottes zu beseitigen. Alles ist möglich! Gottes Geist herrscht über die Materie und hat sie hundertprozentig im Griff.

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Der einsame Jesus Schon lange hatten wir uns darauf gefreut, unsern langjährigen Freund Heiri Müller und seine Frau Ruth Balami besuchen zu dürfen. Heiri hatte uns nach seinem Studium als Jurist für einige Monate in Nigeria besucht und dabei seine Frau kennengelernt. Nachdem er einige Jahre als Rechtsprofessor in Nigeria gelehrt hatte, wechselte er als Tagesschau-Journalist zum Schweizer Fernsehen. Jetzt ist er pensioniert und gibt sich ganz seinem Hobby, der Musik hin. Mit einer Band singt er seine Lieder in Konzerten vor begeistertem Publikum in der ganzen Schweiz. Wir sitzen gemütlich beim Abendessen, das Heiris Frau phantastisch zubereitet hat. Da klingelt das Telefon. Es ist Ruths Vater aus Nigeria, der ihr mitteilen will, dass er sich entschlossen habe, wieder nach Hause zu gehen. In seinem Dorf wütete die islamistische Terrorgruppe Boko Haram, sodass er mit vielen andern Tausenden fliehen musste. Seither wohnte er bei Ruths Schwester in der Hauptstadt Abuja, wo das Leben noch einigermassen sicher ist. Jetzt hat ihn das Heimweh gepackt und er will zurück in sein Dorf, trotz der prekären Lage dort. Ruth und Heiri sind sehr besorgt und auch wir machen uns ernsthafte Sorgen um sein Leben. Täglich verfolgen wir die Nachrichten aus Nigeria und beten für die verfolgten Christen dort. Während ich eines Tages für mich allein betete und Gott im Namen Jesu bat, die Verwandten von Ruth Balami zu schützen, hatte ich ganz plötzlich eine bestimmte Empfindung, ein Gefühl, als sitze Jesus traurig in einer andern Ecke des Zimmers, ganz für sich allein. Das traf mich bis ins Innerste. Ich sitze also hier und bete in seinem Namen. Ich brauche seinen Namen wie ein Werkzeug, oder wie eine Zauberformel, um meine Wünsche vor Gott zu bringen. Ich erkannte, dass zwischen mir und Jesus die Beziehung gleich Null war. Irgendwie fühlte ich, dass mein Gebet um Schutz für die Christen in Nigeria mit ihm persönlich nichts zu tun hatte. Das machte mich nachdenklich. Mir war klar, dass es nach wie vor Gottes Wunsch war, den Gläubigen im terrorisierten Land zu helfen, aber Jesus wollte mit einbezogen werden. Ich kann ihn nicht als blosses Hilfsmittel verwenden. Er wünscht sich eine persönliche Beziehung zu mir, um gemeinsam mit mir für diese Anliegen einzustehen. Urplötzlich kam mir eine Bibelstelle aus der Offenbarung in den Sinn. Dort sagt Jesus zur Gemeinde von Laodizea: "Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten und wir werden das Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir." Was meint Jesus damit, wenn er sagt, er wolle das Mahl mit ihm halten? Bestimmt hat das etwas mit dem Abendmahl zu tun. Im Unterricht und auch später wurde uns gesagt, dass das Abendmahl ein Gedenkmal sei. "Tut das zu meinem Gedenken". Jetzt aber realisierte ich, dass es mehr bedeutet als ein blosses An-Jesus-denken. Es bedeutet, eine lebendige, aktive Beziehung zu ihm zu unterhalten, wo er leibhaftig – also mit seinem Leib und Blut – in mir wohnen will und Anteil an mir haben will. Wenn ich mir das so richtig visualisiere, so kommt mir das fast wie eine "Science Fiction Story" vor. Die Kraft Gottes will also in jeder Zelle, in jedem Organ meines Körpers, sowie auch in meiner Seele und meinem Geist wirksam sein. Eine fast unglaubliche Sache! Wenn das wirklich so ist, dann wird mein christlicher Glaube eine ganz andere Dimension bekommen. Eine weitere Stelle, ebenfalls in der Offenbarung, drängte sich mir auf. Zur Gemeinde in Ephesus, die sich durch viele religiöse Aktivitäten hervorgetan hatte, sagt Jesus: 70

"Ich habe an dir auszusetzen, dass du die erste Liebe verlassen hast". Erste Liebe? Meint er die erste Begeisterung für ihn, als ich ihn vor bald sechzig Jahren gebeten hatte, in mein Leben zu kommen? Ich erinnere mich an die Erleichterung, an die innere Freude, an den Frieden, die er damals in mir wirkte. Es war die Zeit, wo sich mein Leben sichtbar veränderte und wo ich auf einen andern Weg gebracht wurde. Wo ist das alles geblieben? Ich habe probiert, für Gott zu arbeiten und mich für ihn einzusetzen. Ich habe mir ein respektables Gedankengebäude erstellt mit der dazu gehörenden Lehrmeinung, mit Regeln und Gesetzen. Jetzt merkte ich, dass ich im Laufe der Zeit meine Tore einem "religiösen Geist" weit geöffnet hatte. Dieser Geist ist darauf aus, mich dazu zu bringen, möglichst "fromm" zu leben und meinen religiösen Verpflichtungen nachzukommen, als auch für die Christliche Religion möglichst geschäftig zu sein. Und Jesus? Kann es sein, dass er sich zurückgezogen hat, weil ich die innere Verbindung zu ihm langsam verloren hatte? Nach all dieser Erkenntnis musste ich nur noch Jesus, der dort traurig in einer Ecke meines Wohnzimmers sass, um Vergebung bitten, dafür, dass ich ihn für meine Zwecke brauchte und an dem ich selbst nicht mehr wesentlich interessiert war. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass er ganz nahe ist. Es war, als würde wieder dasselbe geschehen, was am Anfang meiner Christenlaufbahn geschehen war und was bei jedem Menschen geschieht, der Jesus zum ersten Mal erlaubt, in sein Leben zu kommen. Jetzt nahm ich mir vor, nur noch eines zu tun, nämlich Jesus in dieser Art nie mehr aus den Augen zu lassen. Ich weiss, dass es viele Tricks der religiösen Verführung gibt, die mich immer und immer wieder davon abzubringen suchen. Darum heisst es, aufmerksam zu sein und den Schatz zu hüten, den man gefunden hat. Auch dazu gibt es eine Stelle in der Offenbarung. Der Gemeinde von Philadelphia rät Jesus: "Halte fest, was du hast, damit niemand dir deine Krone raube!"

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Religion Auf meiner Homepage habe ich geschrieben: "Wenn das Gesprächsthema auf Gott, die Bibel oder die Kirchen kommt, habe ich immer meine liebe Mühe, den Leuten zu erklären, dass ich zwar an Gott glaube, gleichzeitig aber nicht religiös bin. Die meisten verstehen das nicht. Für mich ist Glaube an Gott nicht das Gleiche wie Religion. Religionen sind von Menschen gemacht." Trotz dieser grundsätzlichen Erklärung wurde ich ganz unverhofft und unbeabsichtigt Teil eines religiösen Ereignisses an einem schönen Wochenende. Ich wurde angefragt, in einer Katholischen Kirche in einer Schweizer Stadt im Rahmen einer Messe einen Vortrag zu halten. Das sollte kein Problem für mich sein und meine Frau wollte mich dazu begleiten. Es waren zwei Gottesdienste vorgesehen, einer am Samstagabend in einer kleineren Kirche in einem Aussenbezirk und am Sonntagmorgen dann in der grossen Kirche in der Stadt. Als wir schon den halben Weg mit dem Auto zum Abendgottesdienst hinter uns hatten stellte ich mit Schrecken fest, dass ich mein Jackett zuhause vergessen hatte. Wie soll ich nur in kurzen Hemdsärmeln vor diese Gemeinde treten? Mit äusserster Befangenheit betrat ich die Sakristei der Kirche, wo der Pfarrer schon mit den Vorbereitungen beschäftigt war. "Hallo!", sagte er und streckte seine Hand aus. "Ich bin Manuel, und wie heisst du?" Dank seiner unkomplizierten Art hatte er schon mal meine volle Sympathie. Er fragte mich, aus welchem Orden ich komme, worauf ich ihm nur eine ausweichende Antwort gab. Ehrlich, ich fühlte mich in diesem Moment als Protestant und dazu noch in kurzen Ärmeln recht hilflos und fehl am Platz. Ebenfalls anwesend im Raum waren noch etwa zehn weitere Personen. "Alles Ministranten und Ministrantinnen", nahm ich an und alle in weisse Gewänder gehüllt. Plötzlich kam jemand auf mich zu und stülpte mir ohne zu fragen ebenfalls so ein weisses Gewand über den Kopf. Ich blieb vor Schreck wie angewurzelt stehen. Doch bald realisierte ich mit Erleichterung, dass dadurch das leidige Problem mit den kurzen Hemdsärmeln automatisch gelöst war. Jetzt wurden wir in Zweierkolonne aufgestellt und dann ging es los. In langsamen, gediegenen Schritten betraten wir den kirchlichen Raum, Manuel und ich zuvorderst und die andern mit Kreuzen, Kerzen und verschiedenen anderen Gegenständen hinterher. Nun passierten wir die Maria-Statue. Manuel blieb stehen und stiess mit seinem Ellbogen in meine Seite. "Jetzt muss du einen Knicks machen", flüsterte er mir zu. Zusammen machten wir vor der Mutter Gottes einen Knicks und setzten unsere Prozession fort. Inzwischen musste er längst gemerkt haben, dass ich nicht Katholik war, ja ich war mir sogar sicher, dass er dies von Anfang an wusste. Doch irgendwie machte es ihm Spass, mit mir die Messe so durchzuziehen. Bei der anschliessenden Kommunion wollte er, dass ich mithelfe, die Oblaten an die Gläubigen auszuteilen. Mit einer fadenscheinigen Ausrede winkte ich dankend ab. Wie der Abend weiter verlief weiss ich nicht mehr genau, aber es schien, dass die Leute sich freuten und zufrieden waren. Vor der Heimfahrt besprachen wir noch kurz den Ablauf des nächsten Morgengottesdienstes und verabschiedeten uns. Sonntagmorgen. Wir befinden uns nun in der grossen, modernen Hauptkirche der Stadt. Die einleitende Zeremonie mit all dem Drum und Dran lief etwa in gleicher Weise ab wie am Vorabend. Wiederum hielt ich hoch oben von der Kanzel meinen in eine Predigt eingebetteten Vortrag. Das Thema war diesmal ein anderes. Es handelte von behinderten Menschen in Afrika. Spätestens jetzt musste der Pfarrer gemerkt haben, dass ich aus der reformierten Ecke komme. Während die Katholiken 72

nach einer Bibellesung oft die Bibel mit dem Spruch "Wort des Herrn" in die Höhe halten und eine Antwort von der Gemeinde erwarten, war das bei mir ganz anders. Wir Evangelischen meinen, wir müssten immer unbedingt genau die Stelle angeben, wo das gelesene Wort geschrieben steht. Zuweilen wird einem bei gewissen Vorträgen und Predigten vor lauter Stellenangaben, die das Gesagte unterstreichen und beweisen sollen, ganz schwindlig. Auch ich tat das an diesem Morgen nach der Textlesung und demonstrierte damit unbewusst, dass ich nicht katholisch war. Nach der Predigt drang unvermittelt Applaus an mein Ohr. Verwirrt sah ich mich in der Runde der grossen Menschenmenge um. Doch alle sassen steif und wie angegossen in ihren Bankreihen. "Natürlich, in einer Kirche darf doch nicht geklatscht werden", war mein erster Gedanke. So suchte ich nach der einzelnen Person, die mit ihrem begeisterten Applaus nicht aufhören wollte. Es war Pfarrer Manuel persönlich. Doch dieser Überraschung sollte noch eine weitere folgen. Jetzt leitete die Messe in die Eucharistie über. Plötzlich kam Manuel auf mich zu und drückte mir eine schwere goldene Schale in meine Hände. Darin befand sich eine Menge von runden OblatenPlättchen. "Stell dich dort hinten hin und teile es den Leuten aus!", wies er mich an. Schnell überprüfte ich meine prekäre Situation und überlegte mir, was ich nun machen sollte. Ich wusste, dass die Katholische Kirche punkto Abendmahl mit den Protestanten keine gemeinsame Sache macht. Doch schon kamen die ersten Gläubigen nach vorn um die Hostie zu empfangen. Es gelang mir, die Worte zu erhaschen, die Manuel bei der Übergabe der Plättchen benutzte. Und so tat ich es ihm gleich, während ich den Andächtigen den "Leib Christi" entweder in die Hände oder direkt auf ihre Zunge legte. Einige Tage später hatte ich die Gelegenheit, die Geschichte der Pfarrköchin der Katholischen Kirche in unserem Dorf zu erzählen. Die Reaktion traf mich völlig unerwartet. Sie sprang fast bis zur Decke auf und jauchzte dabei. Habe ich mich geirrt, oder freute sie sich tatsächlich, dass Manuel die Hostie von einem "Ungläubigen" austeilen liess? Vielleicht verhält es sich so, dass auch streng religiöse Menschen sich manchmal nach einer Lockerung der Gesetze sehnen und sich freuen, wenn sie der strikten Lehre ein Schnippchen schlagen können. Das muss für sie offensichtlich befreiend wirken. Meine Feindschaft der "Religion" gegenüber hat sich durch diese persönlichen Kontakte merklich gelockert. Es gibt Menschen, die darin einen Halt für ihr Leben finden, oder gar eine geistliche Heimat. Das soll niemandem genommen werden. Auch wenn ich in den religiösen Praktiken im Bezug auf Gottesnähe wenig Sinn sehe, so akzeptiere ich Menschen, denen das heilig ist. Trotzdem finde ich, dass es enorm schwer ist, durch diese Rituale hindurch Gott wirklich zu finden. Ich vergleiche die christliche Religion mit einer Zwiebel. In ihrem Zentrum steckt ein Diamant, das Evangelium, die lebendige und befreiende Kraft Gottes. Man muss sich Schicht für Schicht durch die Zwiebel durcharbeiten, bis man zum Kern, zum Wesentlichen kommt. Alles drum herum ist nicht notwendig, um Gott erfahren zu können. In meinem Dienst in der Kirche hatte ich eine Frau kennen gelernt, welche diese Erfahrung gemacht haben muss. Sie war bettlägerig und lag in einem Spital auf der Altersstation. Sie war katholisch und darum galt mein Besuch nicht ihr, sondern der reformierten Zimmernachbarin. Jedes Mal, wenn ich als Teil meines Besuches einen Psalm vorlas, rutschte diese unruhig auf dem Stuhl hin und her, als wäre ihr das Gelesene peinlich. Natürlich verabschiedete ich mich nach meinen Besuchen auch immer bei der ans Bett gefesselten Katholikin. Eines Tages, als ich ihr die Hand zum 73

Abschied gab strahlte sie mich an und sagte: "Ist es nicht wunderbar, so einen Heiland wie Jesus zu haben!" Selten wurde ich so sehr von jemandem überrascht. Sie hatte es geschafft, durch die Rituale und die Äusserlichkeiten ihrer Religion hindurch zu schauen und das Wesentliche zu sehen. Der Apostel Pauls machte sich grosse Sorgen als er bemerkte, wie die Christen in Galatien den Weg der Religion einschlugen. Er schrieb: "Ach ihr unverständigen Galater! In wessen Bann seid ihr nur geraten? Habt ihr den Geist Gottes bekommen, weil ihr die Vorschriften des Gesetzes befolgt habt, oder habt ihr ihn bekommen, weil ihr die Botschaft im Glauben angenommen habt?" Aus diesen Worten ist zu ersehen, worum es im Grunde genommen geht. Die Galater hatten durch das Gebet von Paulus die Gabe des Heiligen Geistes empfangen. Durch diese Kraft wurden sie befähigt, Gott gefällig zu sein. Nicht sie selber waren es, welche die Gesetze zu erfüllen suchten, sondern die Kraft des Heiligen Geistes bewirkte das in ihrem Inneren "automatisch". Das also ist der richtige Weg. Gesetzliches Denken ist Religion. Religion ist der falsche Weg. Leider merken auch heute viele Christen nicht, dass sie in einem Netz von religiösem Denken gefangen sind. Äusserlich machen sie den Anschein von Frömmigkeit und Glaube, innerlich aber fehlt die persönliche Beziehung zu Gott. Es ist mir heute noch ein Rätsel, wieso Gemeinden, die einen spirituellen Aufbruch erlebt haben, sich so schnell wieder in der Gesetzlichkeit verstricken. Sind die Menschen einfach nicht fähig, das Gehörte und das mit Jesus erlebte festzuhalten und sich vom Heiligen Geist leiten zu lassen? Vielleicht entspricht der menschlichen Natur ein Glaube mit Regeln, Gesetzen und Traditionen besser als sich einer Person wie Jesus anzuvertrauen. Ich frage mich, wieso es Gott zugelassen hat, dass Menschen, die sich einem lebendigen Glauben verschrieben haben, plötzlich in einen "gesetzlichen Glauben" abgedriftet sind. Auf der andern Seite hat Gott bestimmt auch das benutzt für seine Zwecke. Durch die streng gesetzliche Lebensweise wurden durch Mönche Abschriften biblischer Texte verfasst und sind dadurch in unsere Zeit herüber gerettet worden. Ohne diese Überlieferungen wüssten wir heute wahrscheinlich nichts von Christus. Allerdings hat Gott von Zeit zu Zeit aus der Tradition heraus wieder Menschen erweckt, die neue Anfänge bewirkt haben, wie etwa die Reformation, Erweckungen und geistige Aufbrüche.

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Die grösste Sünde Mit dem Flyer in der Hand stehe ich unschlüssig vor der grossen Religionstagung welche aus verschiedenen Festzelten und einem Campingplatz besteht. Im Innern sieht es aus wie auf einem Jahrmarkt. Da gibt es Verkaufsstände, wo man alles kaufen kann was es für ein "erfülltes christliches" Leben braucht. Ich schaue mich ein bisschen um und fühle mich recht verloren inmitten dieser Betriebsamkeit. Am Infodesk informiere ich mich über die verschiedenen Vorträge, die man besuchen kann. Allerdings kostet die Teilnahme eine Kleinigkeit. Um sich am Abend eine Predigt anzuhören muss man sich einen Bändel fürs Handgelenk besorgen. Kostenpunkt: 20 Franken. Das Gleiche gilt für den Vortrag über Glaubensheilung. Jeder andere angebotene Vortrag kostet wieder je 20 Franken. Jetzt fallen mir einige junge, hübsche Frauen auf, die an einem Stand ebenfalls etwas zum Verkauf anzubieten scheinen. "Das müssen alles echte Jungfrauen sein", denke ich bei mir selbst, denn sie werben eifrig für "Kein Sex vor der Ehe". Ich fühle mich gehemmt und getraue mich nicht in ihre Nähe. Da stosse ich auf ein mir bekanntes Ehepaar. "Toll, was?" sagt der Mann und schaut sich in der Runde um. "Ja", entgegne ich ihm. "Ich glaube, wenn Jesus da wäre würde er sich eine Geissel machen und alle aus dem Tempel jagen." Jetzt sehe ich nur noch entsetzte Gesichter. Zum Glück stösst ein ihnen bekanntes Ehepaar dazu und ich kann mich leise aus dem Staub machen. Das mit dem "kein Sex vor der Ehe" hat mich noch weiter beschäftigt. Wieso machen diese Menschen so ein Aufsehen über diese Frage? Meine Frau und ich hielten es auch so, aber nicht aus religiösem Zwang, sondern aus innerer Überzeugung und aus privaten Gründen. Was aber hier abläuft ist etwas ganz anderes. Hier wird die sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe nicht nur als Tugend, sondern geradezu als ein unumstössliches göttliches Gebot dargestellt. Schliesslich läuft es darauf hinaus, dass wer keinen Sex vor der Ehe hat, sich des vollen Segens Gottes gewiss sein darf. Und umgekehrt, wer schon vor der Ehe mit dem andern schläft, auf dem ruht Gottes Fluch. So krass, wie ich das hier interpretiere, tönt es in Wirklichkeit meistens nicht. Doch wenn junge Frauen ausserhalb der Ehe schwanger werden, erfahren sie deswegen vielfach Diskriminierung innerhalb der fundamentalistischen Gemeinden. Sie werden von den andern gemieden, ausgegrenzt oder gar ausgestossen. Das ist in meinem Bekanntenkreis mehrfach passiert. Ich komme zum Schluss, dass Sex vor der Ehe für viele gläubige Christen eine der grössten, wenn nicht gar "die grösste Sünde" überhaupt ist. Da ist die Bibel ganz anderer Meinung. Die grösste Sünde ist nach der Schrift die Geldgier, denn diese sei gleichzusetzten mit Götzendienst. Da müssen sich die Organisatoren der Tagung doch selbst an der Nase nehmen. Wie sagte doch Jesus zu seinen Jüngern? "Umsonst habt ihr es empfangen, umsonst sollt ihr es auch weitergeben". Jetzt aber zurück zur "grössten Sünde der Welt", dem Sex vor oder ausserhalb der Ehe. Woher diese Meinung kommt und wie sie in gläubige Kreise gelangte, weiss ich nicht. Einen regelrechten Kult treiben die Amerikaner damit. Da gibt es grosse Partys, wo der Papa seine jungfräuliche Tochter zum Jungfrauen-Ball führt. Ob die jungen Männer, die sie kennen lernen soll auch "jungfräulich" sind entzieht sich meinen Kenntnissen. Wenn sich dann zwei Menschen verlieben, dann wird sofort eine Hochzeit arrangiert. Denn in so eine schwere Sünde wie den vorehelichen Sex dürfen sie auf keinen Fall geraten. Leider ist es aber so, dass etliche dieser "NotEhen" nach einem Jahr wieder geschieden werden, wieso auch immer. Bei dem Fall, den ich kenne, habe ich nie herausgefunden, was schief gelaufen ist. Dabei haben 75

sie sich doch bei der Hochzeit in der Kirche mit selbstentworfenen Texten die absolute Treue geschworen. Es scheint mir, dass auch auf diesem Gebiet die Regeln und Gesetze von Menschen gemacht wurden, und dass sie mit Gott an und für sich überhaupt nichts zu tun haben. Denn Gott ist anders! Nach dem biblischen Bericht hat Gott den Menschen am sechsten Tag als Mann und Frau geschaffen. Er sagte zu ihnen: "Seid fruchtbar und vermehrt euch!" Nachdem er sie gesegnet hatte sah Gott alles an, was er gemacht hatte und siehe, es war sehr gut. Es kommt mir vor, als ob viele Menschen denken, Gott habe da einen Fehler gemacht und dass Sex nicht gut sei. Sie stützen sich wahrscheinlich auf den Missbrauch, der allgegenwärtig und überall anzutreffen ist. Doch man darf das Kind nicht mit dem Bad ausschütten, sonst zieht man ganz falsche Schlüsse und erreicht nicht das, was man eigentlich will. Es ist eine Tatsache: Gott hat den Menschen als sexuelles Wesen geschaffen, mit allem Drum und Dran, das heisst mit Emotionen, mit Erotik, mit gegenseitigem Verlangen. Will man dieses Faktum mit Gesetzen und Regeln eingrenzen, so wird man bald merken, dass das einfach nicht funktioniert. Wenn die sexuellen Regungen nicht unterdrückt werden können, was meistens der Fall ist, so bekommen die Menschen ein schlechtes Gewissen. Sie denken, dass sie Gott nicht gehorsam sind. Man erfindet Ausreden und probiert das eigene Versagen zu verstecken oder zu bagatellisieren. Das führt automatisch zu Unehrlichkeit und Heuchelei. Letzthin hörte ich eine sehr interessante Predig. Sie handelte von Juda, dem Stammvater der Juden, der auf dem Heimweg an einer Weggabelung eine Prostituierte antraf. Für ihn war es selbstverständlich, mit ihr zu schlafen, obwohl er verheiratet war. Sein Diener war bei ihm und fand dieses Handeln anscheinend nicht anstössig. Es steht auch nirgends geschrieben, dass Gott ihn deswegen strafte oder dass ein Fluch auf ihn gekommen wäre. Im Alten Testament schien der Umgang mit Sex viel natürlicher und unbefangener abgelaufen zu sein als dies heute bei uns der Fall ist. Was mich immer wieder erstaunt ist folgendes: Für die Christen von heute scheint das Alte Testament wieder an Aktualität und Attraktivität zuzunehmen. Viele Gläubige leiten Verhaltensregeln davon ab, die eigentlich nicht für uns vom Neuen Testament gedacht sind. So zum Beispiel wird beharrlich auf das Alte Testament gepocht, wenn es um das Geben des Zehnten geht, oder dass am Sonntag nicht gearbeitet werden darf, also nichts kaufen oder verkaufen, auch kein Sport treiben. Mich wundert es immer wieder, wie die Menschen Passagen aus dem Alten Testament herauspicken, die ihnen passen und andere, wie jene Geschichte von Juda, kehren sie einfach unter den Teppich. Vielleicht ärgert es sie, dass Gott den Juda für seinen Fehltritt nicht gehörig bestraft hatte. Ob das wirklich ein Fehltritt war ist eine andere Frage. Jedes Volk und jede Religion orientiert sich an einem anderen Verhaltensmuster. Was für die einen normal ist, scheint den andern skandalös. In dieser Hinsicht gibt es keinen "absoluten" Willen Gottes. Jede Kultur hat ihre Gesetze, die sich im Laufe der Jahrhunderte ändern können. Gott nimmt darauf Rücksicht und lehrt die Gläubigen durch den Heiligen Geist, wie sie sich in ihrem Umfeld verhalten sollen, wenn sie tatsächlich danach bestrebt sind, auf die Stimme des Heiligen Geistes zu hören. Wie war das denn bei Jesus und seinen Jüngern? Man muss sich das einmal eins zu eins vorstellen. Jesus wurde als Mensch geboren mit allen menschlichen Eigenschaften. Er wuchs als Kind auf und durchlief die Pubertät. Wie alle jungen Männer musste auch er von erotischen Gefühlen bewegt worden sein. Wie ist er 76

damit umgegangen? Darüber steht nichts in der Bibel. Auch die Jünger waren junge und dynamische Männer, die bestimmt nicht wie Eunuchen lebten. Von Petrus wissen wir, dass er eine Frau hatte. Doch über das Liebesleben der Jünger wird in den Evangelien oder den Briefen nicht ein einziges Wort gesagt. Es ist anzunehmen, dass Jesus als auch die Jünger ihre Sexualität als ein von Gott gegebenes Geschenk betrachteten, mit dem sie auf natürliche Weise umzugehen verstanden. Jedenfalls hatte sie nicht diesen enormen Stellenwert, den sie heute hat. Darum war sie es auch nicht wert, in den Heiligen Schriften erwähnt zu werden oder gar Gesetzlichkeiten dafür zu entwickeln. Wenn es aber um Ehebruch und Scheidung ging, da hatte Jesus seine ganz bestimmte Meinung. Das hat aber auch nicht unbedingt mit Sexualität zu tun, sondern mit Beziehungen, mit dem Verhältnis zueinander, mit Treue und Vertrauensbruch. Nur ein einziges Mal äusserte sich Jesus über Menschen, die sich selber zur Ehe untauglich machen um des Reiches Gottes Willen. "Wer es fassen kann, der fasse es", sagte er und wahrscheinlich sprach er in diesem Moment von sich selbst. Sex gehört also zu Gottes Schöpfung, so natürlich wie Essen und Trinken. Doch unsere fromme Christenheit hat daraus eine "Mördergrube" gemacht. Da fällt mir eine lustige Geschichte ein. Ich sitze Im Zug von Luzern nach Zürich. Ich bin begeistert von der tollen Aussicht auf den Zürichsee. Mir gegenüber sitzt eine ältere Diakonisse mit Namen Sr. Elisabeth. Plötzlich starrt sie auf den Mittelgang und sagt: "Schauen sie nicht hin, sehen sie weg, auf die andere Seite!" Mein natürlicher Reflex war, erst recht hinzuschauen um zu sehen, was die gute Schwester so aufregte. Da kam eine aufgedonnerte Dame daher, auffällig geschminkt, mit hohen Absätzen und einem minimalen Röckchen. Der Ausschnitt an der Bluse war bis zum absoluten Limit gehalten. Zudem war sie recht hübsch. Wegschauen, ist das die Lösung des Problems? Und abgesehen davon, gab es da überhaupt ein Problem? Das Problem ist allenfalls die Verklemmtheit unserer Gesellschaft diesen Fragen gegenüber. Der Weg des Glaubens geht in eine ganz andere Richtung, in die Richtung des Akzeptierens von Gottes Schöpfung. Das fängt bei der Dankbarkeit dem Schöpfer gegenüber an. Danken für die erotischen Gefühle und die Emotionen. Und dann ist da noch ein anderer Aspekt, der wichtigste, wie ich überzeugt bin. Es ist die Kraft des Heiligen Geistes. Dieser wird auch "der Helfer" genannt. Jeder Christ kann Gott im Namen Jesu um die Gabe des Heiligen Geistes bitten. Ohne den Heiligen Geist geht im christlichen Glauben gar nichts. Er ist es, der uns vom Zwang, das Gesetz erfüllen zu müssen, befreit, indem er im Menschen wohnen will um genau da den Willen Gottes zu tun. Jesus sagte, dass er nicht gekommen sei, das Gesetz Gottes aufzuheben, sondern um es zu erfüllen. Dies geschieht dort, wo wir uns von der Kraft Gottes erfüllen lassen und nicht probieren, es mit gesetzlichen Mitteln selbst zu erreichen. Der Heilige Geist lehrt uns, das Richtige automatisch zu tun. Er führt uns durch unser Leben und er zeigt uns, was recht und was falsch ist. Unsere gesetzlichen Anstrengungen führen zu nichts, ausser zu Frust und Verzweiflung. Der Heilige Geist hingegen befreit von all dem. Das ist die eine Seite des Evangeliums, der frohen Botschaft. Was für eine Erleichterung, wenn man all die Schufterei abstreifen und sich voll und ganz auf das Wirken von Gottes Geist verlassen kann, auch im Hinblick auf die geschlechtliche Natur des Menschen. Und wie sieht das ganz praktisch aus? An diesem Punkt verweise ich gerne auf das Kapitel "Trevor" auf Seite 51. So, wie ich mit Menschen umgehen kann, gegen die ich einen Groll hege, so kann ich auch mit meinen Gefühlen umgehen und sie auf 77

diese Art im Namen Jesu Gott zu Füssen legen. Das beschränkt sich nicht nur auf die Erotik, sondern auch auf jegliche andere Gefühle, die den Menschen zu schaffen machen. Dazu gehört auch der Trieb zur Untreue, homosexuelle Neigungen, von denen auch Christen nicht verschont sind, Zornausbrüche und perverse Phantasien. Bei Gott ist all das gut aufgehoben und er wird Wege zeigen und öffnen, wie wir damit umgehen können. Auch Paulus nimmt dieses Thema auf. "Darum sage ich euch", sagt er gegen Ende seines Briefes an die Christen in Galatien: "Lasst euch vom Geist leiten, dann werdet ihr das Begehren des Fleisches nicht ausführen. Wenn ihr euch vom Geist führen lasst, dann steht ihr nicht unter dem Gesetz." Anschliessend kommt er auf die Auswirkungen des Geistes in unserem Leben zu sprechen. Er nennt sie Früchte, also etwas, was man nicht selber machen kann, sondern was automatisch wächst, ohne unser Zutun. Die einzige Bedingung dazu ist, mit dem Geist Gottes in Verbindung zu bleiben. Paulus: "Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue." Die meisten Christen machen die Erfahrung, dass sie nicht immer auf den Geist Gottes hören und manchmal Dinge tun, die nicht recht sind. Das ist die menschliche Natur und auch da gibt es ein geniales Mittel, wieder eine andere Seite des Evangeliums: Jesus vergibt Sünden! Wer zu ihm kommt, den wird er nicht von sich stossen, sagt er. Und so ist es möglich, jederzeit wieder neu zu beginnen. Ich fliege auf die Nase, bitte Gott um Vergebung, stehe auf und gehe mutig weiter.

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Das Experiment Am Schweizer Fernsehen erzählte eine junge Frau in einem Fernsehinterview mit Ruedi Josuran eine ausserordentliche Geschichte. Sie glaubte nicht an Gott und bezeichnete sich selbst als Atheistin. Sie wollte beweisen, dass Jesus nicht existiert und der Glaube an ihn und an Gott auf Einbildung beruhe. Um dies zu demonstrieren wollte sie ein Experiment durchführen und war sich ziemlich sicher, dass das Ergebnis ihr Recht geben würde. Mit Sarkasmus und Ironie sagte sie laut vor sich hin: "Ich übergebe jetzt mein Leben an Jesus Christus." Was darauf geschah, konnte sie nicht mehr rekonstruieren. Es schlug bei ihr wie eine Bombe ein. Ihre Gefühle gerieten völlig ausser Kontrolle und sie glaubte, sie werde von Ausserirdischen entführt. Es dauerte eine Weile bis sie sich erholt hatte und realisierte, dass Jesus tatsächlich lebt. Er hatte ihr Experiment ernst genommen und ihr Leben völlig umgekrempelt. Das Erlebnis dieser jungen Frau hatte mich fasziniert. Ich habe viele Menschen kennen gelernt, die ähnliche, vielleicht nicht so dramatische Erfahrungen mit Gott gemacht haben. Aber es geschah irgendetwas in ihrem Leben. Ich glaube, dass jede beliebige Person so ein Experiment durchführen kann, wenn sie bereit ist, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Es kann sein, dass sich keine so dramatische Reaktion einstellt wie bei dieser Frau. Doch etwas wird bestimmt geschehen, das habe ich ja als 18-Jähriger selbst erlebt. Probieren wir es aus! Es ist die Grundlage des christlichen Glaubens. In einer Seminarwoche im Tessin traf ich Menschen, welche das Experiment an Ort und Stelle durchgeführt haben. Es war im November und im Gegensatz zur Nordschweiz lag im Tessin Schnee. Etwas mehr als 20 Leute nahmen am Seminar "Heilen wie Jesus" mit Pfarrer Daniel Hari teil. Viele kamen aus dem Ausland und ebenso viele befassten sich mit Esoterik oder fernöstlichen Praktiken. Daniel stellte jeden Tag einen andern Aspekt des Glaubens an Jesus dar und schliesslich machte eine ganze Reihe der Teilnehmenden diese Gotteserfahrung, indem sie sich für den Glauben an Jesus entschieden. Es war am Tag vor der Abreise. Eine grosse Unruhe ging durch die Reihen. Anfänglich verstand ich nicht, worum es ging. Doch dann wurde alles klar. Etlichen der Teilnehmenden am Seminar war der Gedanke gekommen, sie könnten sich als Bestätigung für ihren neuen Glauben taufen lassen. Da Daniel damit einverstanden war, wurden schnell die nötigen Vorbereitungen getroffen. Schliesslich fuhren wir im Konvoy an einen einsamen Strand des Luganer Sees. Die Taufwilligen zogen sich bis auf die Badebekleidung aus und stiegen ins kalte Wasser, wo Daniel und ein Helfer sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes völlig untertauchten. Es war ein berührender Moment, auch für die, die zuschauten. Zurück im Hotel wurde ein spontaner Dankgottesdienst gefeiert. Als es Abend wurde versammelten wir uns alle nochmals im Park um ein Feuer, an dem wir uns wärmen konnten. Um mit dem neuen Glauben an Jesus wirklich ernst zu machen brachten viele ihre Zauberbücher, esoterischen Gegenstände, Amulette und dergleichen in die Mitte und übergaben sie als symbolisches Zeichen den Flammen. Währenddessen las Daniel einen Text aus der Bibel vor, wo in Ephesus die Menschen genau dasselbe taten, als sie zum Glauben an Jesus kamen. Diese Menschen meinten es tatsächlich ernst mit ihrem neuen Anfang. Sie wagten das Experiment und demonstrierten mit Freuden die befreiende Auswirkung ihres neuen Glaubens. 79

Jetzt hob Daniel ein brennendes Holzscheit aus dem Feuer und erklärte, dass das, was am heutigen Tage geschehen war, erst der Anfang sei. Das Leben wird weiter gehen. Darum sei es nicht unwichtig, wie das neue Leben gestaltet werde. Inzwischen war die Flamme am Holzscheit erloschen und es rauchte nur noch. "So geht es jedem, der probiert, seinen Glauben alleine durchzuziehen. Wir brauchen einander. Erst wenn alle Holzscheite zusammen bleiben, entwickeln sie die richtige Wärme." Wir sollen darauf bedacht sein, mit andern Gläubigen zusammen zu kommen und uns am Wort Gottes zu orientieren. Jetzt komme die Zeit, wo wir an unserem Glauben weiterbauen können. Alle, die das hörten, stimmten Daniel zu und ich selber hoffte, dass es in Zukunft alle die Anwesenden auch durchziehen können. Paulus erwähnte in einem seiner Briefe etwas ganz ähnliches. Jeder und jede muss selber zuschauen, wie weiter gebaut werden soll. Die einen bauen weiter mit Holz, Heu und Stroh. Das sind wohl jene, die sich in unendliche christliche Aktivitäten hineinstürzen, um etwas für das Christentum zu bewirken. Sie verfallen einem geschäftigen, religiösen Geist und der Blick auf Jesus entschwindet langsam. Schliesslich werden sie zusehen müssen, wie dies alles im Feuer des Gerichts verbrennt. Ja, schon jetzt zerfällt vieles, was enthusiastisch aufgebaut wurde. Im Gegensatz dazu sind diejenigen, die auf ihren Glauben mit Silber, Gold und Edelsteinen weiter bauen. Diese edlen Materialien bedeuten geistige Werte wie Liebe, Freundlichkeit, Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft und anderes, die in der Kraft des Heiligen Geistes aus ihrem Glauben heraus wachsen. Der gläubige Mensch kann jetzt selber entscheiden, was er tun will. Ist er bereit, sein volles Vertrauen auf Jesus zu setzen? Will er sich darauf verlassen, dass Gottes Willen und Gottes Gesetz durch die Kraft des Heiligen Geistes "automatisch" in ihm erfüllt wird? Jesus entbindet vom gesetzlichen Handeln, wenn die Verbindung zu ihm aufrecht erhalten bleibt. Es ist nicht mehr nötig, sich diese und die andere religiöse Verpflichtung aufbürden zu lassen und sich anzustrengen, möglichst "fromm" zu leben. Jesus ist nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben, sondern zu erfüllen. Und das tut er wortwörtlich in dem Menschen selbst, in dem er Wohnung genommen hat. Oder will man sich vielleicht besser auf der sicheren Seite befinden, wenn man versucht, sich an die Gesetze und Regeln zu halten, weil man es Jesus nicht so ganz zutraut, dass er führt und leitet und im Leben wirksam ist? Es sind zwei verschiedene Wege, wie das Glaubensleben weiter gestaltet werden kann.

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Nachwort Obwohl ich mich im Laufe der letzten Jahrzehnte nachhaltig verändert habe, so stelle ich doch immer noch einen Hang zu einem gewissen Extremismus fest. Darum mag sich einiges, was ich in meinen Aufzeichnungen geschrieben habe, ein bisschen radikal anhören. Insofern habe ich immer noch meine festgesetzten Meinungen, auch wenn ich bereit bin, diese zu revidieren. Während ich das alles niederschreibe, bin ich an einem entscheidenden Punkt hängen geblieben. Es hat zu tun mit dem Kapitel "Der Anti-Sex Apostel". Durch die Begegnung mit Albert G. bin ich auf einen Weg geraten, den ich eigentlich für mein Leben nicht vorgesehen hatte. Ich wollte Jazz-Musiker werden. So entdeckte ich ganz tief in meinem Innern immer noch einen verborgenen Groll gegen diesen Laienprediger. Es wurde mir klar, dass ich auch hier die Methode aus dem Kapitel "Trevor" anwenden musste, wenn ich darüber Frieden und Ruhe finden wollte. Jetzt sehe ich auch das Gute, das er bei mir bewirkt hat. Er war der Startschuss zu einem recht abenteuerlichen Leben, das ich bis jetzt geniessen durfte und das ich nicht missen möchte. Es war nicht immer lustig, aber sicherlich sehr interessant, und so wird es wohl auch weiter gehen.

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