Dr. Thomas Röbke

Soziokultur im Wandel der Zeit „Mit Politik kann man keine Kultur machen, aber vielleicht mit Kultur Politik.“ Diese Vermutung von Theodor Heuss aus dem Jahr 1951 hat mit der Entstehungsgeschichte der Soziokultur, die erst in den 1970er Jahren als Idee ausgearbeitet wurde und sich in vielfältigen Einrichtungen ausformte, wenig zu tun. Dennoch ist sie charakteristisch für den Geist, dem das soziokulturelle Konzept und Projekt verpflichtet ist. Hermann Glaser, von 1964 bis 1990 Nürnberger Kulturreferent und bundesweit bekannter Vordenker in Sachen Soziokultur, wollte mit Gleichgesinnten wie Hilmar Hoffmann in Frankfurt oder Siegfried Hummel in München Kunst und Kultur aus dem politikfernen Getto holen, sie in den Zusammenhang der Gestaltung eines demokratischen Gemeinwesens stellen. Das „Bürgerrecht Kultur“ (Glaser) oder „Kultur für alle“ (Hilmar Hoffmann) sollten in der jungen demokratischen Tradition der Bundesrepublik zwei Denkmuster überwinden, die den Triumph des Nationalsozialismus vorbereiteten, beziehungsweise bestärkten: Da war zum einen eine selbsternannte kulturelle Elite, die Kunst gleichsam in einer gesellschaftsund politikfreien Zone exklusiv zelebrieren wollte. Gerade das klassische deutsche Bildungsbürgertum war für dieses Gedankengut anfällig. Es scherte sich weder um soziale Ungerechtigkeiten noch um politische Bedenklichkeiten. Hauptsache, man hatte das Wahre, Gute und Schöne auf seiner Seite und konnte es im geschützten Raum der Museen und Opernhäuser, der vorstädtischen Villen und exklusiven Kunstvereine anbeten. Da war zum anderen die Kultur zerstörende Politik der Nazis, die Kunst verfemte, wo es nicht möglich war, sie ihren Herrschaftsstrategien dienstbar zu machen. Sei es als propagandistisches Machwerk oder als scheinbar harmlose Filmkomödie, die von Terror und Krieg ablenken sollte. Kunst und Kultur wurden so zum Instrument und Schmiermittel katastrophaler Politik.

Der Spuk dieser beiden verhängnisvollen Kulturmuster endete aber nicht mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches. Schon wieder breitete sich in den 1950er Jahren ein unpolitisches Kulturverständnis aus, das die ewigen Werte der Klassiker in zeitlosen Aufführungen genoss oder mit harmlos naiven Heimatfilmen die schreckliche Vergangenheit vergessen machen wollte. Heuss’ Vermutung schafft, wie Glasers kulturpolitische Konzepte, die Verbindung zwischen Kultur und Politik, aber nur in einer Fahrtrichtung. Kunst und Kultur müssen sich, unabhängig von politischen Vorgaben, frei entfalten können. Politik kann keine Kultur machen, sie darf ihr auch nicht die Inhalte diktieren. Aber Kultur kann zur Voraussetzung gelungener Politik werden, wenn sie offen für demokratische Teilhabe und Mitgestaltung ist. Erst auf diesem Fundament kann ein stabiles demokratisches Gemeinwesen entstehen, das gegen diktatorische Einflüsterungen und politischen Extremismus immun ist.

In diesem Dreieck von Politik, Kultur und Demokratie wird Soziokultur begründet. Ein vierter Eckpunkt kommt ganz selbstverständlich hinzu: die Bildung. Denn Demokratie und Kultur sind den Menschen nicht in die Wiege gelegt, ihre Spielregeln müssen erlernt, ihre Werte verinnerlicht werden. Kultur darf auch nicht auf die oberen Zehntausend beschränkt bleiben. Daher pocht die Soziokultur auch auf soziale Chancengerechtigkeit. Dies ist der fünfte Eckpunkt des soziokulturellen Programms. Anfang der 1970er atmete dieses Konzept den Geist der politischen Reformen, die in Willy Brandts Credo „Mehr Demokratie wagen“ ihr Motto fanden. Parallel hierzu erstarkten allerdings gesellschaftliche Bewegungen, denen das Tempo der parlamentarischen Demokratie zu langsam war. Künstlerische Aktionskreise wie die Nürnberger Gruppe KEKS, zu der Michael Popp, der langjährige Leiter des Amtes für Kultur und Freizeit (KUF), gehörte, forderten den Ausbruch der Ästhetik aus den Museen auf Straßen und öffentliche Plätze. Ihr Leitstern war Joseph Beuys. Daneben machten sich Indien verliebte Anhänger östlicher Religionen auf den langen Weg zum eigenen Ich. Rocker suchten auf den Spuren von Easy Rider eine neue Freiheit. Erste Mahner traten auf, die vor den ökologischen Grenzen des Wachstums warnten und den verhängnisvollen Zusammenhang von industriellem Fortschrittswahn und Umweltverschmutzung anprangerten. Schließlich stritten viele politische Gruppen in der Nachfolge der Studentenbewegung um den richtigen Kurs, deren außerparlamentarische Oppositionshaltung sich zunehmend radikalisierte. Zwischen Karl Marx, Hermann Hesse und dem Club of Rome war dieser Zeitgeist angesiedelt. So unterschiedlich diese Gruppierungen waren, eines hatten sie gemeinsam: Sie stellten die ideologischen Grenzziehungen der bürgerlichen Gesellschaft infrage, wonach die Kultur nichts mit Politik, Politik nichts mit Wirtschaft, Wirtschaft nichts mit Ökologie zu tun habe. Im Gegenteil, alles hängt mit allem zusammen: Die herrschende Trennung von Freizeit und Erwerbsarbeit wurde mit dem gleichen Misstrauen beäugt wie jene zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Wie in einem öffentlichen Labor flossen diese Strömungen in der Soziokultur zusammen. Mit dem 1974 gegründeten KOMM bekamen sie einen prominenten Ort mitten in der Stadt. Radikalismus und politische Einseitigkeiten hielten sich gegenseitig in Schach: Politische Gruppen versuchten, die im KOMM herrschende kulturelle Vielfalt auf Einheitskurs zu trimmen – was ihnen allerdings nie gelang. Auf der anderen Seite entwickelte sich eine Selbstverwirklichungsszene, die Kultur als therapeutisches Mittel missbrauchte. Wenn man sich Flugblätter aus dieser Zeit vergegenwärtigt, ist man immer wieder schockiert und verblüfft über diese Mischung aus Naivität und Altklugheit, Wahrheitsanspruch und Unsicherheit, die aus ihnen spricht. Und wer die zeitgenössischen Schriften Glasers studiert, weiß um seine Leiden, die dem des Goetheschen Zauberlehrlings nicht unähnlich waren, der Kräfte ruft und sie nicht beherrschen kann. Und doch hielt die Stadt am öffentlichen Experiment fest.

Was das KOMM im positiven Sinne bedeutete, wird besonders klar, wenn man es mit der Jetztzeit vergleicht. Es bot eine Plattform, auf der die verschiedenen Subkulturen miteinander diskutierten, Kompromisse fanden, auch gemeinsame Ideen und Projekte entwickelten, die nur in diesem offenen Klima entstehen konnten. Bildung war nicht didaktisch eingepackt, sondern ein Wagnis, gesellschaftlich folgenreich, auch für die Stadt, die sich heftig über diesen „Schandfleck“ am Eingang der Innenstadt entzweite. Demokratie wurde praktisch und – praktisch eingeübt. Aus diesem brodelnden Topf tauchten immer wieder neue Ideen und Impulse auf. Man musste Stellung beziehen und konnte nicht in eine bequeme Subkultur abtauchen, in der Gleichgesinnte unter sich waren. Ich kann mich noch gut an Ausstellungsprojekte des Bildungsbereichs erinnern, an denen ich beteiligt war. Da arbeiteten bekannte Künstler mit Leuten aus dem Junkiebund zusammen, prominente Wissenschaftler diskutierten mit Punks. Alle wichtigen Jugendbewegungen fanden über Jahrzehnte hier ihren Bezugspunkt. Das KOMM wurde von den Kulturläden in den Stadtteilen ergänzt. Der Kiez bekam seinen eigenen öffentlichen Treffpunkt, in dem diskutiert und präsentiert werden konnte. Ich glaube, dass ein Gutteil des gesellschaftlichen Friedens, den Nürnberg mehr als andere Großstädte (trotz der wachsenden sozialen Kluft) aufweist, diesem soziokulturellen Projekt zu verdanken ist. Nicht von ungefähr wurde auch das Thema Migration und Integration in Nürnberg zuerst vom KUF aufgegriffen, dem es gelang, die Vielfalt der Kulturen als unschätzbaren Reichtum zu präsentieren – bis heute, ob in der Musikreihe Südwind oder dem Filmfestival Türkei/Deutschland. Schließlich wurde auch der Stadtraum als kulturelle Bühne einbezogen: Ob Bardentreffen, Blaue Nacht, das umfangreiche 950-jährige Stadtjubiläum oder andere Großereignisse, sie haben ihre Wurzeln in der Soziokultur. Nicht ohne Grund hat Ulrich Eckardt, der legendäre Intendant der Berliner Festspiele, die Eventkultur als Wechselbalg der Soziokultur bezeichnet. Ein nicht geringes Verdienst der Soziokultur bleibt bis heute, Plattform für Talente zu sein. Viele Musikgruppen oder bildende Künstler bestritten in einem Kulturladen ihren ersten Auftritt, die tolle Kindertheaterszene Nürnbergs wäre ohne Soziokultur undenkbar, ebenso wie viele andere Projekte vom Stadtmagazin „plärrer“ über den alternativen Radiosender „Radio Z“ bis zur Drogenhilfe „mudra“. Deshalb finde ich es immer wieder ärgerlich, wenn Künstler, die sich erfolgreich durchgesetzt haben, rückblickend ein abschätziges Urteil über die Soziokultur fällen. Kein Bundesligaspieler würde sich über den Sinn des Amateurfußballs mokieren. Ideen und Einrichtungen sind lebendig, wenn sie es verstehen, sich mit der Zeit auseinander zusetzen. Es ist wie beim Tanz. Kaum jemand beherrscht noch den Cha-Cha-Cha – Rap oder HipHop sind angesagt. Manchmal gelingt auch die Renaissance des Alten, wie etwa beim Tango. Mehr als dreißig Jahre Soziokultur in Nürnberg sollten daher auch Anlass bieten zu prüfen, ob Idee und Realität noch up to date sind. Zunächst: Alle Besucherzahlen sagen: Soziokultur ist erfolgreich. Partei übergreifend ist sie als tragender Baustein Nürnberger Kulturpolitik anerkannt. Aber Soziokultur wollte immer mehr: gesellschaftliche Trends aufgreifen, Duftmarken setzen – keine x-beliebige Kultureinrichtung sein, die ihrem täglichen Geschäft nachgeht. Auch an diesem Anspruch muss ihre Zukunftsfähigkeit gemessen werden. Die Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten radikal gewandelt, die sozialen Bewegungen, die eine selbstverständliche Quelle der Vitalität soziokultureller Einrichtungen ausmachten, haben sich verlangsamt oder sind zum Stillstand gekommen. Darin liegt eine Chance für und eine Anforderung an die Soziokultur. Die Chance: offener und vorurteilsfreier auf neue Zielgruppen zuzugehen, sie einzubeziehen und zu aktivieren. Denn der Anspruch, „Kultur für alle“ zu sein, wurde ja nie so ganz eingelöst (um gleich zu beschwichtigen: sicher war Soziokultur immer offener als manches Opernhaus und Museum). Die Anforderung: Wie kann Soziokultur ihren Anspruch als zivilgesellschaftlicher Ort einlösen, angesichts des anhaltenden Rückzugs in private Sphären und Subkulturen? Heute scheint ja die Öffentlichkeit zunehmend in zeitweilige Großspektakel einerseits und das privat genutzte Internet mit seinen Chatrooms und Tauschbörsen andererseits zu zerfallen. Wo ist da noch Platz für den Treffpunkt in der Nachbarschaft? Und doch ist der demokratische Austausch, das nachbarschaftliche Netz so nötig wie selten, denn Armut,

Diskriminierung und Vereinsamung wachsen gerade dort, wo die öffentliche Diskurs- und Wächterfunktion ausfällt.

Gruppenfoto vor dem KOMM-Eingang

Zwei, die zu politischen Schwergewichten wurden: Christian Wulff (CDU) und Günter Beckstein (CSU) erprobten in den 1980er Jahren ihre argumentativen Kräfte

Die Vollversammlungen waren ein ideales Übungsfeld für rhetorische Talente

Eingang der Disco „Don’t Panic“

Viele Fragen an die Soziokultur ließen sich noch anschließen, solche über die Folgen des demografischen Wandels oder der Migration, die neue Notwendigkeit der (kulturellen) Bildung, die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich in dieser Gesellschaft. Die Herausforderungen wachsen, die öffentlichen Mittel werden knapper. Trotz dieser kleinen Bitternis: Das Urteil über die Soziokultur wäre unvollständig, sähe man nicht, wie sich ihre Projekte, Methoden und Ideen in anderen Bereichen verbreitet haben. Die Diskussionen in der neuen Kunstszene über den öffentlichen Raum, die Programme des Bauministeriums zur „Sozialen Stadt“, die Jugendsozialarbeit, viele Projekttage an Schulen – sie alle haben von der Soziokultur profitiert. Selbst der Betrachter der so publikumsträchtigen Ausstellung „Was ist deutsch?“, die im Jahr 2006 anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft im Germanischen Nationalmuseum gezeigt wurde, entdeckt viele Einflüsse jener kulturellen Bildung, die erstmals die Soziokultur propagierte. Vor dreißig Jahren wäre das noch ein Treppenwitz gewesen.

Der 1999 errichtete Glasvorbau des K4 ist eine ideale Kulisse für Ausstellungen, die viele Künstler/innen und Institutionen nutzen. So wurde das K4, vor allem durch den KOMM-Bildungsbereich, zu einem wichtigen Ort für Fotopräsentationen.