SOZIALRECHT IN FREIBURG

Roland Rosenow

Der Weg zur Grenze der Freiheit zur Krankheit

Vortrag auf dem 8. Badischen Vormundschaftsgerichtstag am 26.03.2010, Evangelische Hochschule Freiburg i. Br.

Vorbemerkung: Kulturalität psychischer Krankheiten Georges Devereux, der wohl als der Begründer der Ethno-Psychiatrie gelten darf, hat sich in einer ganzen Reihe von Untersuchungen mit dem Verhältnis von psychischen Erkrankungen und Kultur beschäftigt. Er hat gezeigt, dass eine Psychose – auch wenn sie in jeder Kultur eine Psychose ist – sehr unterschiedliche Ausdrucksformen annehmen kann, die in hohem Maße von der Kultur, innerhalb derer das Drama der Psychose spielt, abhängig sind.1 Selbst dann, wenn man die Psychose als eine rein organische Krankheit versteht, kann man nicht umhin, anzuerkennen, dass diese Krankheit nicht gleichsam abstrakt, sondern in ihrer konkreten kulturellen Gestalt in Erscheinung tritt. Das gilt natürlich für jede Krankheit, aber psychische Krankheiten unterscheiden sich von anderen unter anderem dadurch, dass das Material, in dem sie sich ausdrücken, primär kultureller Natur ist.2 Im Fall psychischer Krankheiten gehören zu diesem Material auch Beziehungen zu anderen Menschen. Compliance ist eine Kategorie, die die Beziehung des Kranken zu den Menschen, die ihn unterstützen oder unterstützen wollen, betrifft – also eine soziale und damit eine kulturelle Kategorie. Compliance – oder ihr Mangel – ist Teil der kulturellen Gestalt, die die Krankheit annimmt. Diese kulturelle

1 Devereux, Normal und Anormal. Aufsätze zur allgemeinen Ethnopsychiatrie, Frankfurt/M 1974. 2 „Wenn die Symptomatologie der ethnischen Psychose mit den kulturellen Anforderungen übereinstimmt, dann vor allem deshalb, weil die konventionellen Vorurteile darüber, ‚wie man sich benimmt, wenn man verrückt ist’, das spezifische Wissen der in einer Kultur vorherrschenden Konflikte reflektieren – es sind Vorurteile, die durch den Charakter der Abwehrmittel bestimmt sind, welche die Kultur bereitstellt, um die kulturell pönalisierten Konflikte und Triebe zu bekämpfen. So kann der unter einem psychischen Trauma leidende Crow-Indianer, den Charakter der Crow-Kultur vorausgesetzt, kraft seiner besonderen ethnischen Persönlichkeit in einem nach dem Modell des ‚Verrückten Hundes’ ausgelebten Wahnsinn Linderung finden; während der Malaie kraft seiner ethnischen Persönlichkeit und des Charakters seiner Kultur seine Spannungen mildern wird, indem er Amok läuft.“ Devereux. aaO, S. 63 f.

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Gestalt ist nicht etwa eine idiosynkratische Schöpfung des Kranken – denn sonst wäre sie überall auf der Welt gleich und gerade nicht kulturell. Sie ist ein kulturelles und damit ein gesellschaftliches Produkt. Sie, die kulturelle Gestalt der Psychose, wird damit auch gesellschaftlich und nicht individuell verantwortet – ob die Gesellschaft das nun wahrhaben will oder nicht.

Einleitung Die Frage nach der Freiheit zur Krankheit und – falls es eine gibt – ihrer Grenze berührt zuerst unsere moralischen, nicht unsere juristischen Normen. Juristisch gesprochen entspringt die Freiheit zur Krankheit der allgemeinen Handlungsfreiheit der Person, die das Grundgesetz durch Art. 2 garantiert. Die meisten von uns würden aber auch ohne eine solche Garantie darauf bestehen, dass sie ungefähr die Rechte haben, die Art. 2 Grundgesetz uns zuspricht. Das Prinzip der allgemeinen Handlungsfreiheit bezieht seine Legitimität also nicht (oder erst an zweiter Stelle) daraus, dass es im Grundgesetz verankert ist, sondern aus einer moralischen Überzeugung, die grundlegender ist als die Verfassung. Wenn die Freiheit zur Krankheit unmittelbar aus der allgemeinen Handlungsfreiheit entspringt, dann gilt für sie dasselbe. Sie steht damit grundsätzlich nicht zur Disposition – auch nicht zur Disposition des Gesetzgebers. Das bedeutet: Ein Gesetz, das es uns verböte, selbst darüber zu entscheiden, mit welchen Krankheiten wir leben und welchen Heilmethoden wir uns unterziehen wollen, wäre inakzeptabel – auch dann, wenn es demokratisch zustande käme.3 Wenn wir darüber sprechen, ob, in welchen Fällen, warum und ggf. mit welchen Mitteln die Freiheit zur Krankheit zu begrenzen ist, bewegen wir uns deshalb zunächst nicht auf juristischem, sondern auf moralischem Terrain. Das bedeutet: Eine Begrenzung der Freiheit zur Krankheit kann sich keinesfalls nur auf positives Recht stützen. Sie muss auch moralisch gerechtfertigt sein. Schon hier möchte ich mein Thema begrenzen: Die Freiheit zur Krankheit kann zu begrenzen sein, weil die Krankheit Handlungen bedingt, die den Betroffenen selbst oder Dritte gefährden; rechtlich gesprochen: in Fällen der §§ 63, 64 Strafgesetzbuch, in Fällen des öffentlich-rechtlichen Unterbringungsrechts der Länder und in Fällen des § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB. In diesen Fällen verkompliziert sich die Lage dadurch, dass Rechtsgüter betroffen

3 Vgl. dazu Ronald Dworkin, Taking Rigths Seriosly, London 1997 (1977), deutsch: Bürgerrechte ernst genommen, Frankfurt 1984, S.340: „Zumindest in den Vereinigten Staaten wäre jedes Gesetz, das eine signifikante Anzahl von Leuten aus moralischen Gründen zu missachten versucht ist, aus verfassungsrechtlichen Gründen zweifelhaft, wenn es nicht schon klarerweise ungültig ist.“ Die amerikanische Rechtstheorie neigt weniger als die deutsche zum Rechtspositivismus. Dennoch muss hier mE dasselbe gelten.

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sind, die außerhalb der Sphäre der Krankheit liegen.4 Dieses Problem lasse ich hier außer Acht und beschränke mich auf den Anwendungsbereich des § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB: Also auf die Frage nach Notwendigkeit und Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen, die zum Wohl des Betroffenen erforderlich sind, weil eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist und der Betroffene auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Heilbehandlung oder des Eingriffs nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.5 Dass die Freiheit zur Krankheit nicht nur in Fällen der unmittelbaren Gefährdung des Kranken selbst und in Fällen der Gefährdung von Rechtsgütern Dritter begrenzt werden muss – und zwar aus moralischen Gründen –, halte ich für ebenso evident wie die Annahme einer Freiheit zur Krankheit selbst.6 Die Notwendigkeit einer Begrenzung dieser Freiheit wird allerdings in Frage gestellt.7 Deshalb möchte ich kurz erläutern, warum ich sie – die Notwendigkeit der Begrenzung – gleichwohl für evident halte: Die Behandlung einer Krankheit ist mitunter nur unter Inkaufnahme erheblicher Nachteile möglich. Eine Brustamputation kann zwar den Krebs therapieren, führt aber zum Verlust der Brust. Die Einnahme eines Neuroleptikums kann zwar Wahnvorstellungen oder Halluzinationen verhindern, aber nur zum Preis sehr unangenehmer Nebenwirkungen. Die Nachteile der Therapie treten häufig auf, bevor sich die Nachteile der Krankheit realisieren. Um eine Abwägung zwischen den Nachteilen der Krankheit und den Nachteilen der Behandlung überhaupt vornehmen zu können, muss ich also in der Lage sein, die sich erst später realisierenden Nachteile der Krankheit zu antizipieren. Diese Fähigkeit kann aufgrund einer Behinderung oder durch die Krankheit, über deren Behandlung zu entscheiden ist, selbst beeinträchtigt sein. Es kann natürlich auch andere Gründe dafür geben, dass jemand die 4 Zu § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB im Einzelnen vgl. Hoffmann/Klie, Freiheitsentziehende Maßnahmen, Heidelberg 2004, S. 35 ff. 5 Dass § 1906 BGB Rechtgrundlage nicht nur für Freiheitsentzug, sondern auch für Zwangsbehandlung sein kann, steht mittlerweile wohl außer Frage; vgl. Tietze, Zwangsbehandlungen in der Unterbringung. Zur rechtlichen Zulässigkeit der Zwangsbehandlung im Betreuungsrecht, BtPrax 2006, 131-135; Lipp, Die Zwangsbehandlung eines Betreuten nach der aktuellen Rechtsprechung, BtPrax 2009, 53-55; Hoffmann/Klie, Freiheitsentziehende Maßnahmen, Heidelberg 2004, S. 35 ff.; kritisch zur Rechtsprechung des BGH: Marschner, Zivilrechtliche und öffentlich-rechtliche Unterbringung. Aktuelle Probleme, BtPrax 2006, 125-130. 6 § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB ist damit mE aus grundrechtlicher Perspektive nicht nur eine zulässige, sondern eine notwendige Norm. Angesichts der Entscheidung des BGH vom 23.01.2008 (XII ZB 185/07 = BtPrax 2008, 115 = RuP 2008, 123 = FamRZ 2008, 866 = MedR 2008, 737) stellt sich damit die Frage, ob eine Rechtsgrundlage für ambulante Zwangsbehandlung von Verfassungs wegen geboten ist. Der BGH führt aus: „Das Fehlen von Zwangsbefugnissen zur Durchsetzung notwendiger medizinischer Maßnahmen außerhalb einer mit Freiheitsentziehung verbundenen Unterbringung kann in der Tat dazu führen, dass ein Betroffener aufgrund des Unterbleibens einer von ihm verweigerten medizinischen Maßnahme einen erneuten Krankheitsschub erleidet und dann möglicherweise für längere Zeit untergebracht werden muss, oder dass er in sonstiger Weise erheblichen Schaden nimmt.“ Das ist ein Ergebnis, das mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG schwer in Einklang zu bringen ist. 7 Vgl. zB die Stellungnahmen der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener e.V., www.die-bpe.de

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Nachteile, die eine Krankheit später zeitigen wird, nicht antizipiert. Es ist möglich, sich dagegen zu entscheiden, sich jetzt mit einem Übel auseinanderzusetzen, das einen später mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit treffen wird. Die Verweigerung der Auseinandersetzung mit einer Krankheit muss ihre Ursache also nicht in einer Krankheit oder einer Behinderung haben – aber sie kann. Und in einem solchen Fall kann es sein, dass der Kranke dann, wenn er sich mit der Krankheit und ihren Folgen auseinandersetzen könnte, sich für eine Behandlung entscheiden und die damit verbundenen Nachteile in Kauf nehmen würde. Wenn er sich gegen die Behandlung entscheidet – oder gegen die Behandlung wehrt –, tut er das möglicherweise nur aufgrund seiner Krankheit oder Behinderung. Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen: Ein geistig schwer behinderter 30-jähriger Mann, der an akuter Blinddarmentzündung mit Gefahr des Durchbruchs leidet, es aber ablehnt, ein Krankenhaus auch nur zu betreten oder gar sich dort behandeln zu lassen, müsste notfalls gewaltsam ins Krankenhaus gebracht und dort gegen seinen Willen operiert werden. Die Alternative läge darin, der Krankheit ihren Lauf zu lassen. Der Betroffene würde entweder sterben oder müsste später unter sehr viel schwierigeren Bedingungen notfallmäßig doch operiert werden. Es wäre moralisch nicht vertretbar, den Betroffenen nicht zu behandeln. Die Frage lautet also auch unter der Einschränkung, die ich oben vorgenommen habe, nicht „Hat die Freiheit zur Krankheit Grenzen?“, sondern „Wie ist die Grenze der Freiheit zur Krankheit konkret zu bestimmen?“8 Dieser Frage möchte ich mich nun annähern, aber nicht, indem ich ihr mit offenem Visier entgegentrete, sondern indem ich versuche, sie mit vier Exkursen – oder wenn Sie so wollen: mit vier Ausweichmanövern – einzukreisen. Exkurs 1: Der „freie Wille“ § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB lässt Zwangsmaßnahmen9 unter der Voraussetzung zu, dass der Betroffene die Notwendigkeit der Behandlung „nicht erkennen

8 Natürlich könnte man auch einfach auf die Rechtsprechung des BVerfG verweisen, die dieses Ergebnis bestätigt (BVerfG, 07.10.1981, 2 BvR 1194/80; BVerfG, 23.03.1998, 2 BvR 2270/96; BVerfG, 22.06.2009, 2 BvR 882/09). Es kommt mir aber darauf an, zu zeigen, dass die Frage, die mich interessiert, sich nicht erst unter Geltung des Grundgesetzes, sondern unabhängig von der deutschen Verfassung in jedem Rechtssystem stellt, das rechtsstaatlich zu nennen ist. 9 Ich differenziere an dieser Stelle nicht zwischen Freiheitsentzug und Zwangsbehandlung; vgl. zB Tietze aaO mwN. Der Gesetzestext bezieht das Unvermögen der Einsicht zur Notwendigkeit nur auf die Unterbringung; dazu: „Der alleinige Bezug auf die Unterbringung greift im Gesetzestext allerdings zu kurz, entscheidend ist die mangelnde Einsicht in die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme. [..] Diese kann sich nur in der Unfähigkeit zum Erkennen oder in bewusster Ablehnung äußern.“ Rink, in: HK-BUR, 43. EL 2004, § 1906 Rn 26 BGB.

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oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann“. Juristen setzen diese Unfähigkeit gerne in Bezug zum Begriff des freien Willens: „Als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal setzt § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB voraus, dass der Betroffene auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung seinen Willen nicht frei bestimmen kann.“10 Was für die Unterbringung im Fall der Selbstgefährdung (Nr. 1) gilt, muss für die Unterbringung zur Heilbehandlung (Nr. 2) erst recht gelten. Denn die Gefahren, deren Vorliegen tatbestandliche Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Unterbringung ist, wiegen im Fall der Selbstgefährdung schwerer als im Fall des Erfordernisses einer Heilbehandlung. Wenn also die Selbstgefährdung zu akzeptieren ist, wenn der Betroffene sich in freier Willensausübung für sie entscheidet, dann die Krankheit umso mehr. Juristen hantieren mit dem Begriff der freien Willensbestimmung mit einer Non-Chalance, die einem Nicht-Juristen sonderbar vorkommt: Als werfe der Begriff des freien Willens nicht mehr Fragen auf, als er beantwortet. Der Grund dafür liegt darin, dass der Begriff sich im Zusammenhang mit der Legaldefinition der Geschäftsunfähigkeit in § 104 Nr. 2 BGB scheinbar bewährt hat. Geschäftsunfähig ist demnach, wer sich in einem „die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit“ befindet. Die Frage, ob eine „irgendwie geartete geistige Anomalie“11 in diesem Sinne vorliegt, wird als medizinische verstanden. Dabei unterliegt derjenige, der sich auf Geschäftsunfähigkeit beruft, der vollen Beweislast.12 Das heißt: Entweder es besteht Einigkeit hinsichtlich der Frage, ob eine Person geschäftsunfähig ist. Dann wird die Frage nicht problematisiert. Oder es herrscht Dissens. Dann gilt die Person solange als geschäftsfähig, bis das Gegenteil bewiesen ist. Da sich in Zweifelsfällen die Geschäftsunfähigkeit nicht beweisen lässt – eben weil sie zweifelhaft ist –, ist die Praxis von der schwierigen Aufgabe entbunden, die Grenze der Geschäftsfähigkeit genau zu bestimmen.13 Für die Grenze der Freiheit zur Krankheit gilt das nicht: Der Betreuer kann sich ebenso wenig wie das Betreuungsgericht auf den Standpunkt zurück-

10 Hoffmann, in: Bienwald/Sonnenfeld/Hoffmann, Betreuungsrecht, 4. Aufl. § 1906 Rn 90 BGB mit Bezug auf BayObLG, 05.02.1998 3Z BR 486/97 = FamRZ 1998, 1327 = RuP 1999, 38-39; BayObLG, 29.11.2000, 3Z BR 331/00 = NJWEFER 2001, 150; BayObLG, 21.11.2001, 3Z BR 319/01 = FamRZ 2002, 908. Ebenso: OLG Hamm, 12.09.2000, 15 W 288/00 = BtPrax 2001, 40 = RuP 2001, 109. „Die Notwendigkeit, den Ausschluss der freien Willensbildung festzustellen, ist auch ein wichtiges Korrektiv zum Schutz vor nicht gerechtfertigten Unterbringungen.“ Knittel/Seitz, Der freie Wille als Ansatzpunkt zum Schutz der Autonomie. Zwangsbetreuung und Unterbringung, BtPrax 2007, 18-23 . 11 Schmitt, in: MünchKomm 4. Aufl. § 104 Rn 10 BGB. 12 Schmitt, in: MünchKomm 4. Aufl. § 104 Rn 20 BGB. 13 § 1896 Abs. 1a BGB zwingt die Betreuungsgerichte jetzt dazu, die Grenze zu bestimmen, denn das Betreuungsverfahren unterliegt dem Amtsermittlungsgrundsatz und der Offizialmaxime. Es gibt also kein Entrinnen mehr; vgl. dazu Rosenow, Der freie Wille – ein sperriger Begriff, BtMan 2009, 3-9.

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ziehen, man wisse nicht genau, ob der Betroffene sich aufgrund von freier Willensbestimmung oder in Ermangelung derselben selbst schädige.14 Der Verweis auf den Begriff des freien Willens hilft bei der Bestimmung der Grenze der Freiheit zur Krankheit also nur insofern weiter, als er dem juristisch Informierten einen Anknüpfungspunkt bietet: Die Unfähigkeit, die Notwendigkeit einer Heilbehandlung zu erkennen oder nach dieser Einsicht zu handeln, ist so etwas Ähnliches wie das, was eine Willenserklärung im Fall der Geschäftsunfähigkeit gemäß § 104 Nr. 2 BGB unwirksam macht.15 Das ist keine Erklärung, sondern nur der Verweis auf einen anderen Rechtsbereich, in dem es schon lange ein ähnliches Problem gibt – und damit ein Verweis auf die dort erprobten Lösungen, die jedoch deshalb, weil alle Zweifelsfälle im Schatten des „jedenfalls nicht bewiesen“ vor sich hin dämmern, gerade für die „hard cases“16 unbrauchbar sind. Die Formulierung, die § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB selbst liefert, ist sehr viel genauer und klarer als der Verweis auf den Begriff des freien Willens – vor allem für Nicht-Juristen. Eine Unterbringung und damit verbundenen gegebenenfalls eine Zwangsbehandlung kann dann zulässig sein, wenn eine psychische Krankheit oder geistige oder seelische Behinderung die Ursache dafür ist, dass der Betroffene nicht erkennen (oder nicht nach der Erkenntnis handeln) kann, dass die Behandlung Not tut. Ob eine solche Krankheit oder Behinderung vorliegt, ist eine Frage, die zu beantworten die Medizin berufen scheint.17 Das gilt auch für die Frage, ob die Krankheit oder Behinderung die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit im geforderten Maß in Mitleidenschaft zieht. Damit wäre alles ganz einfach, wenn die Medizin eine Wunderkiste

14 „Während sich die Fragen nach dem freien Willen und der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Betroffenen rechtstheoretisch einigermaßen beantworten lassen, gibt es doch in der Praxis beim Einzelfall erhebliche Probleme bei der Feststellung dieser Kriterien. In Grenzfällen lässt sich sowohl eine positive als auch eine negative Antwort auf die Frage nach dem freien Willen und der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Betroffenen plausibel begründen.“ Warmbrunn/Stolz, Wann ist der Wille „frei“?, BtPrax 2006, 167-170. 15 Mediziner und Juristen haben oft große Schwierigkeiten mit der Fachterminologie der jeweils anderen Seite; vgl. zB Knittel/Seitz, Der freie Wille als Ansatzpunkt zum Schutz der Autonomie. Zwangsbetreuung und Unterbringung, BtPrax 2007, 18-23: Die Autoren, beide Vorsitzende Richter am OLG, operieren einerseits mit dem Begriff des freien Willens, als handle es sich um eine fast schon banale Tatsache, während sie den genauso gängigen und hinsichtlich seiner Bedeutung viel weniger problematischen terminus technicus Compliance einen „beliebten englischen Fachbegriff“ nennen, den sie ebenso polemisch wie unzutreffend mit „Befolgung, Willfährigkeit; hier: Einsicht“ übersetzen. . 16 Dworkin (aaO) verwendet den Begriff „hard cases“ für Fälle, deren Lösung sich – vereinfacht gesagt – nicht so ohne weiteres aus dem Gesetz ergibt. Da der Rekurs auf den Begriff des freien Willens zwar prätendiert, die Lösung ergebe sich (ordentliche Sachverhaltsaufklärung vorausgesetzt, vgl. Knittel/Seitz aaO) recht klar aus dem Gesetz, dieses Versprechen aus den dargelegten Gründen aber nicht halten kann, sind Fälle von § 1906 Abs. 1 Nr.2 BGB in der Regel „hard cases“ in diesem Sinne. 17 In Bezug auf den Begriff der Behinderung sind allerdings dann, wenn man einen zweidimensionalen Behinderungsbegriff akzeptiert, Zweifel angebracht. Vgl. Präambel der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen lit. e) „..in der Erkenntnis, [..] dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht ..“

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wäre, in die man eine schwierige Frage hinein werfen könnte, um eine klare und verbindliche Antwort heraus zu bekommen. Das ist sie aber nicht.

Exkurs 2: Wissenschaftliche Erkenntnis in der Medizin Geburtshelfer der Wissenschaft, an die wir uns gewöhnt haben, war nicht etwa ein besonderes hartleibiges Ringen um Wahrheit, sondern ganz im Gegenteil: der Abschied von einem emphatischen Wahrheitsbegriff. Salopp kann man sagen: Die moderne Wissenschaft wurde möglich, weil man anfing, es mit der Wahrheit nicht mehr so genau zu nehmen. Francis Bacon, Galileo Galilei, Thomas Hobbes, Giordano Bruno und andere haben eine Tür aufgestoßen, hinter der man jeden Tag neue Erkenntnisse finden und am nächsten Tag durch neuere widerlegen kann und muss. Für die Wissenschaft ist es selbstverständlich, dass das, was gestern als richtig galt, heute überholt sein kann. Damit nicht genug: Theoretische Wissenschaften wie zB die Biologie oder die Physik erreichen dadurch eine hohe Validität ihrer Erkenntnisse, dass sie Fragen so stellen, dass eine vernünftige Chance besteht, dass sie mit wissenschaftlicher Genauigkeit beantwortet werden können. Die Medizin ist aber keine theoretische, sondern eine praktische Wissenschaft.18 Sie ist damit wie die Rechtswissenschaft oder die Pädagogik Fragen ausgesetzt, die einerseits beantwortet werden müssen, andererseits aber nicht mit wissenschaftlicher Genauigkeit beantwortet werden können, weil sie zu komplex sind. Theoretische Wissenschaften reduzieren die Komplexität einer Frage auf ein Maß, das sie bewältigen können (oder glauben, bewältigen zu können). Praktische Wissenschaften sind täglich der vollen Breitseite der Realität ausgesetzt und damit aus wissenschaftlicher Perspektive in einer verzweifelten Lage. Fragen wie: Ist der Angeklagte schuldig?, Wird operiert?, oder eben: Ist der Betroffene einsichtsfähig? müssen entschieden werden, obwohl sie jedenfalls wissenschaftlich nicht mit der Sicherheit beantwortet werden können, die erforderlich wäre, um so wichtige Fragen verantwortungsvoll zu entscheiden. Die Stärke der praktischen Wissenschaften liegt darin, dass sie durchaus in der Lage sind, verantwortungsvoll Entscheidungen zu treffen. Grundlage dieser Entscheidungen ist aber stets mehr als nur die gerade zur Verfügung

18 „[Die Medizin] ist eine praktische Wissenschaft. [..] Der Versuch der Medizin [..], eine Naturwissenschaft [..] zu werden, musste misslingen.“ Wiesing, Wer heilt, hat Recht?, Stuttgart 2004, S. 99. Dieses Selbstverständnis dürfte in der Medizin mehrheitsfähig sein, aber es gibt auch andere Positionen; vgl. Wiesing, aaO, S. 22 ff. mwN.

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stehende und gerade aktuelle wissenschaftliche Erkenntnis. Wiesing fasst das für die Medizin so zusammen: „Die Medizin konstituiert sich durch die Aufgabe, kranken Menschen zu helfen. Diese Aufgabe vereinigt die Medizin. Die Medizin kann die Aufgabe nicht durch Wissen, sondern durch praktisches Handeln erfüllen.“19 Die Medizin ist zuverlässig in ihrer Handlungsfähigkeit, aber unzuverlässig in ihrem Wissen über Krankheiten und deren Ursachen. Ihre therapeutischen Bemühungen sind oft von Erfolg gekrönt, aber es kommt auch vor, dass sie Schaden anrichtet, anstatt zu helfen. Psychiatrische Diagnosen schließlich unterscheiden sich qualitativ von Diagnosen aus anderen Gebieten der Medizin: Eine Diagnose kann eher analytisch oder eher deskriptiv sein. Psychiatrische Diagnosen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich in besonderer Weise auf die Beschreibung von Symptomen beschränken, also in erster Linie deskriptiv sind. Sie sagen deshalb weniger als andere Diagnosen über die Krankheit aus, die sie bezeichnen.20 Für die Frage nach der Grenze der Freiheit zur Krankheit ist das in zweifacher Weise relevant: 1. Es kann nicht erwartet werden – und es wäre auch gar nicht wünschenswert –, dass Patienten sich den Behandlungsangeboten der Medizin unkritisch unterwerfen. In der Psychiatrie, die mit ihren Patienten teilweise besonders rücksichtslos umgegangen ist, gilt das in besonderer Weise. Es kann viele gute Gründe geben, sich gegen eine aus medizinischer Sicht indizierte Behandlung zu entscheiden. 2. Wenn die Medizin gefragt wird, ob der Betroffene einsichts- und steuerungsfähig ist, dann antwortet sie, denn sie antwortet immer oder fast immer. Aber ihre Antwort ist die einer praktischen Wissenschaft und damit ein unsichere.

19 Und weiter: „In der gegenwärtigen Medizin existieren unterschiedliche Vorstellungen vom Menschen, dem menschlichen Organismus, seinen Erkrankungen, den entsprechenden diagnostischen und therapeutischen Ansätzen sowie deren Überprüfbarkeit. Die Medizin kann auf derartige Hintergrundannahmen nicht verzichten. Zwar dominieren unter den theoretischen Modellvorstellungen die biologisch-reduktionistischen, gleichwohl nutzen Ärzte andere Vorstellungen, nicht nur in Randgebieten.“ Wiesing, Wer heilt, hat Recht?, Stuttgart 2004, S. 99. 20 „Krankheitsdiagnosen stellen pragmatische Konventionen von Experten dar, mit deren Hilfe Befunde so zu interpretieren sind, dass sich daraus die erforderliche Behandlung ableiten lässt. Doch anders als in der übrigen Medizin ist selbst dieses pragmatische Ziel bei psychiatrischen Krankheiten kaum erreicht worden. Während internistische oder chirurgische Diagnosen in der Regel auf eindeutig beobachtbaren und meist auch messbaren Befunden beruhen, welche auf recht konkret beschreibbare Vorgänge im Körper hinweisen, stellen psychiatrische Diagnosen eigentlich nur grobe Typisierungen von gestörtem Verhalten und Erleben dar.“ Crefeld, Was müssen Sozialarbeit und Medizin zu einer besseren Anwendungspraxis des Betreuungsrechts beitragen?, BtPrax 1993, 4-8 .

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Die Rechtsordnung reflektiert die Unsicherheit der medizinischen Erkenntnis durch den Wert, den sie der persönlichen Anhörung des Betroffenen beimisst. Das Bundesverfassungsgericht hat das in der Entscheidung vom 7.10.1981 so formuliert: „Vorrangiger Zweck der Anhörung im Unterbringungsverfahren ist es [..], dem Richter einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen und der Art seiner Erkrankung zu verschaffen, damit er in den Stand gesetzt wird, ein klares und umfassendes Bild von der Persönlichkeit des Unterzubringenden zu gewinnen und seiner Pflicht zu genügen, den ärztlichen Gutachten richterliche Kontrolle entgegenzusetzen. Der persönliche Eindruck des entscheidenden Richters gehört deshalb als Kernstück des Amtsermittlungsverfahrens [..] zu den wichtigsten Verfahrensgrundsätzen des Unterbringungsrechts.“21 Das Verfassungsgericht spricht ausdrücklich – das möchte ich betonen – von der Pflicht des entscheidenden Richters, der medizinischen Meinung seine richterliche Kontrolle entgegenzusetzen! Das ist die notwendige Konsequenz aus der Erkenntnis in die Fragilität medizinischer Erkenntnis. Was für den Richter gilt, gilt für den Betreuer erst recht. Denn er ist es, der die Entscheidung über die Unterbringung trifft. Der Betreuer, nicht der Richter oder der Arzt, trägt damit den größten Teil der Verantwortung für Zwangsmaßnahmen. Ich habe allerdings den Eindruck, dass weder Betreuern, noch Richtern immer in ausreichendem Maß bewusst ist, dass sie nicht einfach Exekutoren medizinischer Diagnosen und Therapieangebote sind, sondern selbst und aus eigener Anschauung und Überzeugung Entscheidungen treffen müssen.22 Warmbrunn und Stolz gehen zu Recht noch weiter und sehen in der Beobachtung und Beurteilung von anderen, nicht medizinisch ausgebildeten Beteiligten (zB Mitarbeitern der Betreuungsbehörde) eine „Ressource, von der in der rechtlichen und medizinischen Praxis noch viel zu wenig systematisch Gebrauch gemacht wird“. Sie geben dem medizinischen Laien eine Art Anleitung zur Fruchtbarmachung ihrer Beobachtungen an die Hand, die wie folgt beginnt: „In einem ersten Schritt gilt es, sich dem psychisch Veränder-

21 BVerfG, 7.10.1981, 2 BvR 1194/80, Rn. 37; FamRZ 1982, 141 = Rpfleger 1982, 23 = ZfSH 1982, 16. 22 Müller teilt diese Skepsis und zeigt anhand von Fallbeispielen, welche Folgen der unkritische Umgang mit ärztlichen Diagnosen zeitigen kann; Müller, Zum Recht und zur Praxis der betreuungsrechtlichen Unterbringung, BtPrax 2006, 123-125.

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ten aufmerksam zuzuwenden. So banal dies klingt, so wenig selbstverständlich ist es oft.“23 Auf diesen Aufruf zur Empathie – so möchte ich das nennen – werde ich am Ende noch einmal zurückkommen. Zunächst möchte ich jetzt ein Zwischenergebnis festhalten und dann mit zwei weiteren Exkursen noch etwas zur Unübersichtlichkeit der Lage beitragen. Das Zwischenergebnis: Die entscheidende Frage, ob eine Entscheidung gegen ein Therapieangebot als authentische Entscheidung der Person zu werten und damit zu akzeptieren ist, oder ob die Person sich nur deshalb gegen die Behandlung entscheidet, weil sie aufgrund einer Krankheit oder Behinderung nicht anders kann, kann nicht sicher beantwortet werden. Die Beteiligten sind deshalb gehalten, ihre ganze Kompetenz – also ihre fachlichen Kenntnisse, aber auch ihre persönliche Fähigkeit zur Empathie und ihre Lebenserfahrung – fruchtbar zu machen, um gemeinsam zu einem möglichst guten Ergebnis, also einem Ergebnis, das dem Betroffenen möglichst gerecht wird, zu kommen.

Exkurs 3: UN-Behindertenrechtskonvention Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (BRK) trat in Deutschland im März 2009 in Kraft.24 Die Frage, ob sie der Beschränkung der Freiheit zur Krankheit entgegensteht, ist Thema zweier Untersuchungen, auf die ich kurz eingehen möchte. Beide kommen zwar zu dem meines Erachtens richtigen Ergebnis, dass insbesondere Art. 14 BRK der Unterbringung und notfalls der Zwangsbehandlung nicht entgegensteht, aber die Wege zu diesem Ergebnis überzeugen mich nicht.

Olzen differenziert zu Recht zwischen selbstvollziehenden und damit unmittelbar anwendbaren Normen und solchen, die nicht selbstvollziehend („selfexecuting“) sind. Er vertritt die Auffassung, „die Mehrzahl der Bestimmungen in der BRK“ richte sich „lediglich an die Staaten als Vertragspartner“ und betreffe „nicht die Rechtsstellung des Einzelnen“.25 Aus der Formulierung in Art. 14 BRK „Die Vertragsstaaten gewährleisten, dass..“ folgert Olzen, dass die Vorschrift sich nur an Staaten richte.

23 Warmbrunn/Stolz, Wann ist der Wille „frei“?, BtPrax 2006, 167-170 . 24 BGBl. 2008, 1419. 25 Olzen, Die Auswirkungen der UN-Behindertenrechtskonvention auf die Unterbringung und Zwangsbehandlung nach § 1906 BGB und §§ 10 ff. PsychKG NRW; http://media.dgppn.de/mediadb/media/dgppn/pdf/aktuell/gutachten-zurbehindertenrechtskonvention.pdf.

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Damit ergäben sich aus Art. 14 BRK keine subjektiven Rechte.26 Das ist sicher nicht richtig. Gerade aus der Formulierung „Die Vertragsstaaten gewährleisten“ folgt ein subjektiver Anspruch eben auf die Gewährleistung des formulierten Rechts.27 Dieser Anspruch richtet sich auch an die Justiz, die, jedenfalls im völkerrechtlichen Sinne, fraglos Teil des Staates ist.28 König stellt die unmittelbare Geltung von Art. 14 BRK nicht in Frage und kommt zu dem Ergebnis, dass § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB dann mit Art. 14 BRK vereinbar sei, wenn der „weite Wortlaut“ der Vorschrift „unter strikter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ einschränkend ausgelegt und auf ein zulässiges Maß zurückgeführt werde.29 Dazu malt sie allerdings zunächst das Gespenst der weiten Wortlautauslegung des § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB an die Wand, für dessen tatsächliches Spuken im Auslegungsdickicht ich keinerlei Anzeichen sehe. König wie Olzen lassen mE eine Differenzierung von Krankheit und Behinderung vermissen. Eine Zwangsmaßnahme kann nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB dann gerechtfertigt sein, wenn „eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist“. Die Ursache für eine solche Notwendigkeit dürfte in der Regel in einer Krankheit und nicht in einer Behinderung liegen. Wenn das Unvermögen, die Notwendigkeit der Behandlung zu erkennen und nach dieser Erkenntnis zu handeln, einer psychischen Krankheit geschuldet ist, dann stellt sich die Frage, ob die BRK überhaupt einschlägig ist. Ich möchte hier sicher nicht einer einschränkenden Auslegung der BRK das Wort reden, aber ich möchte darauf hinweisen, dass Krankheit und Behinderung nicht dasselbe sind. Gerade dann, wenn man den diversity-Ansatz, der der BRK zugrunde liegt, ernst nimmt, ist es umso wichtiger, Behinderung und Krankheit zu unterscheiden.

26 Olzen stellt sich damit in eine Traditionslinie der deutschen Rechtswissenschaft, die sich auch schon im Kontext anderer völkerrechtlicher Regelungen bemüht zeigte, völkerrechtliche Verträge auf bloße Programmsätze zu reduzieren; vgl. Wimalasena, Die Durchsetzung soziale Menschenrechte. Rechtsfortbildung am Beispiel des Internationalen Sozialpakts von 1966, kj 2008, 2-23. 27 Aichele, Die UN-Behindertenrechtskonvention und ihr Fakultativprotokoll. Ein Beitrag zur Ratifikationsdebatte, Deutsches Institut für Menschenrechte, Policy Paper No. 9 2008, www.institutfuer-menschenrechte.de/de/monitoring-stelle/publikationen.html; König, Vereinbarkeit der Zwangsunterbringung nach § 1906 BGB mit der UN-Behindertenrechtskonvention?, BtPrax 2009, 105-108. 28 Vgl. die Görgülü-Entscheidung des BVerfG, 14.10.2004, 2 BvR 1481/04. 29 König, Vereinbarkeit der Zwangsunterbringung nach § 1906 BGB mit der UN-Behindertenrechtskonvention?, BtPrax 2009, 105-108.

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Schließlich: Gemäß Art. 25 BRK anerkennen die Vertragsstaaten „das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung“. Einiges spricht dafür, in einem Verzicht auf Behandlung dann, wenn der Betroffene nur auf Grund seiner Behinderung nicht in der Lage ist, die Notwendigkeit der Behandlung zu erkennen und nach dieser Einsicht zu handeln, einen Verstoß gegen Art. 25 BRK zu sehen. Außerdem dürfen die Vorschriften der BRK in keinem Fall so ausgelegt werden, dass Rechte und Gewährleistungen aus nationalem Recht, die weiter gehen als die Bestimmungen der BRK, mit Bezug auf diese beschränkt werden.30 Diese Fragen, die in beiden Untersuchungen gar nicht angesprochen sind, werden sicher noch Gegenstand der Diskussion werden. Auch wenn ich annehme, dass sich an dem Ergebnis, nach dem Art. 14 BRK nicht in Konflikt mit § 1906 BGB gerät, nichts ändern wird, erscheint es mir wichtig, dass das Verhältnis von BRK zum Betreuungsrecht gründlich ausgeleuchtet wird. Die größte Relevanz der BRK sehe ich im vorliegenden Zusammenhang allerdings an ganz anderer Stelle: Gemäß Art. 19 anerkennen die Vertragsstaaten der BRK das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben. Sie „gewährleisten“ unter anderem, dass „[b] Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist.“ Ich sehe derzeit – leider! – keine Möglichkeit, aus dieser Norm einen harten und klagbaren Anspruch zu schmieden. Allerdings könnte der dramatische Mangel an gemeindenahen Unterstützungsdiensten für psychisch Kranke einmal Gegenstand einer Beschwerde nach Art. 1 des Fakultativ-Protokolls zur BRK werden. Wenn eine solche Initiative dazu führen würde, dass die Versorgungslage für psychisch Kranke sich verbessern würde – eine zugegebener Maßen sehr optimistische Annahme –, dann würde die Frage der Legitimität von Zwangsmaßnahmen an Bedeutung verlieren, weil die Zahl der Fälle zurückgehen würde.

30 Art. 4 Abs. 4 BRK, zur Auslegung vgl. Art. 17 EMRK – die Parallelnorm in der Europäischen Menschenrechtskonvention.

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Damit komme ich zur Überleitung zu meinem vierten und letzten Exkurs, in dem die Frage angerissen wird, unter welchen Voraussetzungen es zu einem – tatsächlichen oder vermeintlichen – Erfordernis einer Zwangsmaßnahme kommt.

Exkurs 4: Soziale Infrastruktur Die Verweigerung einer erforderlichen psychiatrischen Behandlung ist entweder das Ergebnis einer authentischen Willensentscheidung oder sie basiert auf mangelhafter Compliance des Betroffenen. Compliance aber ist eine Pflanze, für deren Gedeihen nicht der Kranke alleine zuständig sein kann. Er braucht dazu die geduldige Hilfe von Menschen, denen er vertrauen kann. Soweit ich sehe, besteht unter Praktikern – Betreuern, Mitarbeitern von Sozialdiensten, Ärzten, Therapeuten – ein breiter Konsens darüber, dass insbesondere für psychisch kranke Menschen erforderliche aufsuchende Hilfen entweder gar nicht, oder erst dann, wenn langwierige und konfliktanfällige sozialrechtliche Verwaltungsverfahren durchstanden worden sind, zur Verfügung stehen.31 Seit Jahr und Tag wird beklagt, dass dieser Mangel die Ursache dafür sei, dass Betreuungen eingerichtet werden, die nicht erforderlich wären, wenn die Hilfen, die ein zeitgemäßes sozialpsychiatrisches Versorgungssystem eigentlich zur Verfügung stellen sollte, tatsächlich existierten.32 Die Zunahme von Unterbringungsfällen33 und die relativ hohen Zahlen in Deutschland34

31 Ein Viertel der in einer Studie von Längle und Bayer befragten Patienten, die wider Willen behandelt worden waren, hielt es für möglich, dass die Unterbringung durch verständnisvolleres Verhalten innerhalb der Klinik, außerhalb der Klinik oder durch eigeninitiatives Aufsuchen eines Arztes hätte vermieden werden können. Längle/Bayer, Psychiatrische Zwangsbehandlung und die Sichtweise der Patienten, PsychiatPrax 2007, 34 Suppl. 2: S.203-7, zit. nach: Petra Garlipp, Zwangsbehandlung und Betreuungsrecht aus psychiatrischer Sicht, BtPrax 2009, 55-58 . 32 Bienwald, Die betreute Republik, BtPrax 2002, 3-7; kritisch dazu: Rosenow, Warum es jedes Jahr mehr Betreuungen gibt, BtPrax 2002, 111-113; vgl. a.: Rosenow, Vertretung im Sozial- und Betreuungsrecht – Abgrenzungen, BtPrax 2007, 108-113; Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, Abgrenzung von rechtlicher Betreuung und Sozialleistungen. Empfehlungen und Stellungnahmen E 6, Berlin 2007. 33 Die Zunahme in Deutschland, aber auch Europaweit, ist belegt. Müller spricht von der „Verdreifachung betreuungsrechtlicher Einweisungen>“ Müller, P. Zum Recht und zur Praxis der betreuungsrechtlichen Unterbringung, BtPrax

,

2006, 123-125, mit Verweis auf: Müller, P., Zwangseinweisungen nehmen zu, DÄ 101 (2004) C 2262-2264, und auf: Dreßling/Salize, Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung in den Mitgliedsländern der Europäischen Union, PsychiatPrax 2004, 34-3>. 34 „Die Unterbringungsraten sind in den EU-Ländern sehr unterschiedlich ausgeprägt und reichen von 6/100.000 in Portugal bis 218/100.000 pro Jahr in Finnland. Auffällig sind auch die hohen Unterbringungsraten und Österreich und Deutschland mit 175/100.000.“ (Dreßling/Salize, Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie. Ein innereuropäischer Vergleich, in: Rössler/Hoff, Psychiatrie zwischen Autonomie und Zwang, Würzburg 2005, 119-144 ).

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könnten ein Indiz dafür sein, dass die Art von Unterstützung, die geeignet ist, die zarte Pflanze Compliance zu hegen und zu pflegen, zurückgeht.35 Was das konkret bedeutet, möchte ich Ihnen anhand eines aktuellen und authentischen Beispiels aus der Anwaltskanzlei, für die ich arbeite, vor Augen führen: Frau W. kam zum ersten Mal im Herbst 2008 in unsere Kanzlei, weil sie keine Sozialhilfe36 mehr vom Landkreis bekam. Die Hilfe war eingestellt worden, weil sie sich weigerte, ihre Kontoauszüge vorzulegen. Wir konnten ihr nicht helfen, weil die Rechtsfrage entschieden ist. Der Sozialhilfeträger darf die Leistung davon abhängig machen, dass Kontoauszüge vorgelegt werden.37 Frau W. verhielt sich jedoch auffällig und schien in solch dramatischem Ausmaß unfähig, ihre wirtschaftliche und die sozialrechtliche Lage zu realisieren, dass wir uns ernsthaft Sorgen um sie machten. Wir schrieben den Landkreis deshalb an und teilten mit, dass Frau W. uns um Hilfe gebeten hatte, dass wir ihr deutlich gemacht hätten, dass sie ihre Kontoauszüge vorlegen müsse, dass sie jedoch verwirrt und hilflos wirke, baten, ihr trotz der eindeutigen Rechtslage einen Vorschuss zu gewähren und regten an, zu prüfen, ob Frau W. dringend weiter gehende Hilfe brauche. Ein gutes Jahr später wurden wir in der Sache erneut beauftragt, jetzt durch eine zwischenzeitlich bestellte Betreuerin. Im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens ließen wir uns die Akte kommen und konnten darin folgende Geschichte nachlesen: Frau W. war verheiratet und hatte drei Kinder. 1995 kam es zur Trennung. Der Ehemann zog mit den drei damals 7-, 14- und 16-jährigen Kindern aus. In der Folge wurde dem Vater das alleinige Sorgerecht zugesprochen. Es kam zur Zwangsversteigerung des Hauses der Familie. 1996 beantragte Frau W. Sozialhilfe. In der Akte des Sozialhilfeträgers befindet sich ein ausführliches psychiatrisches Gutachten, erstellt im Oktober 1996 im Rahmen des Rechtsstreites um Unterhaltsansprüche, aus dem sich ergibt, dass Frau W. an einer Psychose litt und deshalb arbeitsunfähig war. Wegen der Zwangsversteigerung des Hauses, in dem Frau W. lebte, wurde sie vom Sozialhilfeträger darauf hingewiesen, was ihre künftige Wohnung maximal kosten dürfe. Der Sozialdienst des Sozialhilfeträgers wurde nicht eingeschaltet.

35 „Wichtig sind zur Vermeidung einer Zwangsbehandlung regelmäßige gemeinsame Besprechungen mit Patienten, Betreuer und Team sowie ggf. auch anderen wichtigen Vertrauens- und Fachpersonen.“ Garlipp, Die Zwangsbehandlung eines Betreuten aus ärztlicher Sicht, in: Diekmann u.a. (Hg.), Der Mensch im Mittelpunkt. Betrifft: Betreuung 10, Köln 2010, 119-125 . 36 Genau genommen: Grundsicherung nach dem 4. Kap. des SGB XII. 37 BSG, 19.9.2008, B 14 AS 45/07 R = NDV-RD 2009, 59-62 = SGb 2009, 665-670 = FEVS 60, 459-467.

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Dazu kam es erst, als etwas später eine anonyme Anzeige einging, durch die Frau W. „bezichtigt“ wurde, mit einem Partner in eheähnlicher Gemeinschaft zu leben. Der Sozialdienst suchte Frau W. deshalb mehrmals auf und kam schließlich zum Ergebnis, dass es keinen Partner und schon gar keine eheähnliche Gemeinschaft gab. Daraufhin stellte er seine Tätigkeit wieder ein. Frau W. überstand vorübergehende Leistungseinstellungen und die Umstellung auf das SGB XII. Sie verlor den Krankenversicherungsschutz und rutschte in die Krankenhilfe nach Sozialhilferecht. Sie bezog – trotz der in der Akte ausführlich dokumentierten Erwerbsunfähigkeit – im Jahr 2007 sogar eine Weile Arbeitslosengeld II. Während dieser ganzen 15 Jahre ist in der Akte kein einziger Versuch dokumentiert, Frau W. soziale oder psychiatrische Hilfen auch nur anzubieten. Die einzige Aktivität des Sozialdienstes des Landkreises bestand in einer Kontrollmaßnahme. Ende des Jahres 2008 wurde eine Betreuerin für Frau W. bestellt. 2009 eskalierte die Situation. Frau W. hatte ihre Miete nicht mehr bezahlt und war einer Räumungsklage ausgesetzt. Im Herbst 2009 wurde sie zwangsweise in einer psychiatrischen Klinik untergebracht und nach 15 Jahren endlich behandelt. Zur Zwangsbehandlung kam es nicht, weil Frau. W. die Medikamente, die ihr angeboten wurden, unter dem Druck der Unterbringung nahm. Ich halte diesen Verlauf für beispielhaft.38 Wenn diese Einschätzung stimmt, dann würde das heißen, dass viele Unterbringungen erst deshalb notwendig werden, weil psychisch Kranke oft sich selbst überlassen werden, bis sie so auffällig werden, dass Nachbarn, Vermieter oder andere, die sich nicht entziehen können, Alarm schlagen. Erst für diesen Fall stellt die Gesellschaft Dienste zur Verfügung, die intervenieren können. Ich bin am Ende meiner Ausweichmanöver angelangt und komme zu zwei Schlüssen:

Schluss 1: Non-Compliance Die Frage danach, wie die Grenze der Freiheit zur Krankheit zu bestimmen ist, führt zu der Frage, warum und unter welchen Voraussetzungen es überhaupt dazu kommt, dass Menschen medizinische Hilfe, derer sie dringend 38 Wir vertreten regelmäßig Mandanten in sozialrechtlichen Angelegenheiten, die im Umgang mit uns in einer Weise auffällig sind, die auf eine psychische Erkrankung schließen lässt. Das inadäquate Verhalten dieser Mandanten führt regelmäßig zu erheblichen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Anspruch auf Grundsicherungsleistungen. Mir ist kein Fall erinnerlich, in dem der Sozialleistungsträger sozialpsychiatrische Hilfen von sich angeboten oder an solche verwiesen hätte. Es wäre mE sinnvoll, die Einschätzung, dass der Fall der Frau W. beispielhaft ist, durch eine empirische Untersuchung, in deren Rahmen Akten von Grundsicherungsträgern ausgewertet würden, zu überprüfen.

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bedürfen, ablehnen. Im Regelfall tun sie das nämlich nicht, auch nicht in der Psychiatrie. 39 Das Unvermögen, die Notwendigkeit einer therapeutischen Maßnahme zu erkennen und danach zu handeln, erklärt nicht, dass Menschen, die von solchem Unvermögen betroffen sind, nicht immer in diejenigen, die ihnen Hilfe anbieten, vertrauen. Das ist jedoch erklärungsbedürftig, denn normalerweise vertrauen wir da, wo wir selbst nicht in der Lage sind, ein Urteil zu fällen, anderen. Non-Compliance bei psychischer Krankheit dürfte die Hauptursache für Unterbringungen sowohl nach den Unterbringungsgesetzen der Länder, als auch nach § 1906 Abs. 1 BGB sein. Wenn Non-Compliance nicht als gottgegebenes Symptom der Psychose, sondern als Teil derjenigen kulturellen Gestalt, die Psychosen in unserer Gesellschaft annehmen, verstanden wird, dann ergibt sich daraus zwangsläufig die Forderung nach einer Kultur des Umgangs mit Psychosen, die sich in erster Linie um den Aufbau von Vertrauen bemüht. Kulturelle Muster sind langlebig. Die kulturelle Gestalt einer Krankheit ändert sich nicht von heute auf morgen. Ich möchte jedoch behaupten, dass bereits das Verständnis von Non-Compliance als Teil der kulturellen Gestalt der Krankheit und nicht als deren natürliches Symptom ein Schritt in die richtige Richtung ist. Von größerer praktischer Bedeutung als diese sehr abstrakte Überlegung ist jedoch das Problem, dass meines Erachtens angenommen werden muss, dass in einer erheblichen Zahl von Fällen Non-Compliance ganz einfach das Resultat dessen ist, dass psychisch Kranke in unserer Gesellschaft so lange alleine gelassen werden, bis ihre Auffälligkeit diejenigen, die sich nicht entziehen können – meist Nachbarn oder Vermieter – zu sehr stört. Das ist in doppelter Hinsicht dramatisch: Zum Ersten werden Behandlungschancen vertan, weil es erst nach der Chronifizierung und unter Zwang und damit in zweifacher Hinsicht unter sehr viel schlechteren Bedingungen zum ersten Behandlungsversuch kommt. Zum Zweiten stellt es die Rechtfertigung einer Zwangsmaßnahme erheblich in Frage, wenn die Zwangsmaßnahme erst dadurch notwendig wird, dass zuvor Hilfe nicht gewährt worden ist. Andererseits ist es natürlich undenkbar, einen Therapieversuch, der zwangsweise erfolgen muss, deshalb nicht zu unternehmen, weil der Umstand, dass der Therapieversuch nur (noch) unter Zwang erfolgen kann, dem vorangegangenen Versagen des Hilfesystems geschuldet ist. 39 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Freiwilligkeit in der Praxis der Psychiatrie bei weitem überwiegt. Der Anteil der Patienten psychiatrischer Kliniken, die gegen ihren Willen behandelt werden, liegt irgendwo im einstelligen Prozentbereich; s. Finzen/Haug/Beck/Lüthy, Hilfe wider Willen, Köln 1993, S. 13 f.

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Im Ergebnis heißt das: Die Legitimität von Zwangsmaßnahmen steht und fällt mit der Qualität der sozialpsychiatrischen Versorgung!

Schluss 2: Entscheidungen ohne Gewissheit Die Frage, ob die Behandlungsverweigerung Ausdruck der authentischen Willensentscheidung des Betroffenen ist, oder ob sie Ergebnis des Unvermögens, die Notwendigkeit der Behandlung zu erkennen und nach dieser Einsicht zu handeln (gepaart mit einem Mangel an Vertrauen in die Behandler), ist, kann niemals sicher beantwortet werden. Denn schon hinsichtlich ihrer begrifflichen Voraussetzungen herrscht Ungewissheit – ganz gleich, ob wir uns für den juristischen Begriff des freien Willens, den Begriff der authentischen Person40 oder einen anderen entscheiden. Betreuer und Richter können sich deshalb nicht einfach auf die Medizin verlassen, sondern müssen ihren eigenen Sachverstand und ihre Erfahrung der medizinischen Einschätzung entgegensetzen. Die Chance, eine richtige Entscheidung zu treffen, ist sehr viel größer, wenn die Beteiligten versuchen, dem Betroffenen mit Empathie und Geduld zu begegnen. In Anbetracht dessen, wie schwer eine Zwangseinweisung wiegt, ist die Forderung nach einem obligaten Zweitgutachten41 – wenigstens in den Fällen des § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB – richtig. Darüber hinaus wäre es mE sinnvoll, wenn der Gutachter an der persönlichen Anhörung teilnehmen würde.42 Ganz pragmatisch betrachtet: Gelegenheit schafft Diebe. Je leichter das Tor zum Zwang sich öffnet, desto häufiger wird von diesem Weg auch Gebrauch gemacht werden.43 Schließlich sollte der Betreuer nicht alleine entscheiden, ob er ein Genehmigungsverfahren einleitet, sondern wenigstens versuchen, andere in diese Entscheidung einzubeziehen. In Frage kommen insbesondere der Hausarzt, der Psychiater, soziale Dienste und Angehörige – jeweils so vorhanden. Die

40 Maio verwendet den Begriff der Authentizität in einem Sinne, der sich von dem Begriff des freien Willens, den die Rechtswissenschaft bevorzugt, nicht oder nur wenig unterscheidet. Die Probleme sind dieselben: „Es liegt auf der Hand, dass die Definierung der authentischen Person Probleme bereiten kann, denn mit dem Vorwand der Authentizität kann natürlich jede Art de Bevormundung und der Disziplinierung nichtkonformistischer Menschen der Boden ge-

r

ebnet werden.“ (Maio, Ethische Reflexionen zum Zwang in der Psychiatrie, in: Rössler/Hoff, Psychiatrie zwischen Autonomie und Zwang, Würzburg 2005, 145-164, ). 41 Dafür plädieren Müller (Peter Müller, Zum Recht und zur Praxis der betreuungsrechtlichen Unterbringung, BtPrax 2006, 123-125) und Garlipp (Garlipp, Die Zwangsbehandlung eines Betreuten aus ärztlicher Sicht, in: Diekmann u.a. (Hg.), Der Mensch im Mittelpunkt. Betrifft: Betreuung 10, Köln 2010, 119-125). 42 Das ist auch jetzt natürlich möglich und vereinzelt auch Praxis. Es erfordert allerdings Engagement, denn Richter und Gutachter werden den Betroffenen idR gemeinsam aufsuchen müssen. 43 „Wenn der Betreuer sich zu wenig Zeit nimmt für die Förderung ambulanter Behandlung, kann er schnell einweisen, auch in Fällen, in denen die ambulante Behandlung ausreichen würde.“ (Müller, Peter, Zum Recht und zur Praxis der betreuungsrechtlichen Unterbringung, BtPrax 2006, 123-125 ).

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Beteiligten sollten sich die Zeit nehmen, um die Frage in einer Fallkonferenz zu besprechen und zu versuchen, einen Konsens hinsichtlich der Erforderlichkeit einer Zwangsmaßnahme herzustellen. Wenn sie die oben schon einmal erwähnte Handlungshilfe von Warmbrunn und Stolz44 zu Hilfe nehmen, um diese Entscheidung vorzubereiten, dann wird das Risiko, eine falsche Entscheidung zu treffen, effektiv minimiert.45 Wenn der Betreuer den Antrag auf Genehmigung der Unterbringung erst nach einem solchen Verfahren stellt und wenn das gerichtliche Genehmigungsverfahren – sei es in der jetzigen Form – sehr gewissenhaft und kritisch geführt wird, dann bestehen gute Chancen, dass die Grenze der Freiheit zur Krankheit im konkreten Fall richtig bestimmt wird.

44 Warmbrunn/Stolz, Wann ist der Wille „frei“?, BtPrax 2006, 167-170. 45 Zur Qualität des Genehmigungsverfahrens: Melchinger, Zivilrechtliche Unterbringungen. Wird die Praxis Qualitätsansprüchen gerecht?, BtPrax 2009, 59-63. Zur Qualität des Vollzugs der Zwangseinweisung: Wurzel, Zwischen Schutz und Trauma. Die zwangsweise Unterbringung psychische kranker Menschen als Herausforderung, BtPrax 2006, 135-137.

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