Schweizer Erfahrungen mit Schulentwicklung *)

1 Jürgen Oelkers Schweizer Erfahrungen mit Schulentwicklung*) 1. Terra incognita Mein Thema hat verschiedene Komplikationen. Die geringste mag sein...
Author: Guido Fiedler
13 downloads 2 Views 39KB Size
1 Jürgen Oelkers

Schweizer Erfahrungen mit Schulentwicklung*)

1. Terra incognita

Mein Thema hat verschiedene Komplikationen. Die geringste mag sein, dass es eine etwas seltsame Rolle ist, als Deutscher, der in der Schweiz lehrt, über Schweizer Projekte vor deutschem Publikum zu sprechen und dabei voraussetzen zu müssen, dass die Schweiz in Deutschland zumeist eine terra incognita ist, die mal magischen, mal unverständlichen Gehalt annimmt. Das gilt in bestimmter Hinsicht auch umgekehrt, in der Schweiz ist Hochdeutsch bekanntlich Verkehrsrisiko, man erkennt unmittelbar, wer nicht dazu gehört. Das Risiko, über diese unbekannte Landschaft, die nur touristisch „Heidi-Land” ist, zu sprechen, besteht darin, dass ein Schweizer an meiner Stelle das Thema vermutlich anders darstellen würde. Wer beide Seiten kennt, kann vergleichen, wer nur die eigene vor Augen hat, wählt Understatement oder ist selbstkritisch. Das freilich mag hingehen. Viel schwieriger ist es, das Thema selbst und seinen Gegenstand richtig in Anschlag zu bringen, ohne die bekannten Klischees bemühen zu müssen. Es geht nicht um eine putzige Bergwelt mit Jodeleinlagen und Dialekten, die noch das Schwäbische an Unverständlichkeit überbieten. Schulreform und Qualitätsentwicklung in der Schweiz setzen 26 Kantone voraus, die über mehr Bildungshoheit verfügen als die 16 deutschen Bundesländer. Aber schon diese Beziehung trügt, weil Förderalismus in der Schweiz etwas ganz Anderes meint als in Deutschland. Die wichtigste Differenz: Es gibt keine KMK. Die EDK, die Schweizerische Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren, hat wohl einen Präsidenten, auch ein Sekretariat und Mitarbeiter, aber zum Glück keine Entscheidungsbefugnis. Das politische System beruht auf Abstimmung und setzt Autonomie voraus. Ausgenommen einem interkantonalen Konkordat über drei Turnstunden pro Woche, das auf das Jahr 1874 zurückgeht, gibt es im Bereich der obligatorischen Schule keine verbindlichen Regelungen, die eine lockere und jederzeit revidierbare Rahmenabstimmung übersteigen würden. Im Prinzip kann jeder Kanton machen, was er will. Wie funktioniert ein solches System? Und kann es überhaupt funktionieren? Wenn man das deutsche Bildungssystem mit dem schweizerischen vergleicht, dann fällt zunächst auf, wie schwach oder besser wie schlank die Bildungsbürokratie in der Schweiz ist. Die eigentlichen Träger des Systems sind nicht die Kantone und schon gar nicht der Bund, sondern die Gemeinden, die die Schulen unterhalten, die Lehrkräfte einstellen und für die Qualitätssicherung im Rahmen kantonaler Vorschriften verantwortlich sind. Die Schulaufsicht führt ein demokratisch legitimiertes Milizgremium; jede Gemeinde hat eine gewählte Schulpflege oder Schulkommission, in der Bürgerinnen und Bürger die politischen Geschäfte der Schulentwicklung leiten. Vergleichbares gibt es in Deutschland nicht, schon der Ausdruck „Milizsystem” ist unbekannt und verleitet zu Missverständnissen. Gemeint ist die Übernahme von Aufgaben im Sinne des Gemeinwesens ohne feste Stelle und mit zeitlich *)

Vortrag auf dem 7. Treffpunkt Pädagogik am 29. Januar 2005 im Forum am Schlosspark Ludwigburg.

2 befristeter Beschäftigung. Unterstellt wird, dass Bürgerinnen und Bürger sich für öffentliche Belange interessieren und nach einer Einführung in das Amt - deswegen „Miliz” - fähig sind, anfallende Aufgaben zu bewältigen und Probleme zu lösen. Dieses System basiert auf örtlicher Vernetzung und braucht keine entwickelte Bürokratie. Wenn von „Oberbehörden” die Rede ist, dann im Sinne von Regel gebenden und im Konfliktfalle ausgleichenden Instanzen, die den Rahmen beaufsichtigen, aber nicht operativ tätig sind und wenn, dann nur subsidiär in dass Spiel der Kräfte eingreifen. Für einen deutschen Beobachter ist dieses schon aus historischen Gründen faszinierend. Es gibt keine preussischen Lösungen und auch der Code Napoléon ist nie kopiert worden ist. Reformen sind seit der liberalen Entwicklung der Volksschule und so der öffentlichen Bildung nach 1830 nie „top-down” angelegt gewesen, weil von Oben nach Unten nichts einfach durchgereicht werden konnte. Umgekehrt, jede Reform muss die Zustimmung der Basis finden, genauer: ohne Abstimmung und letztlich Volksentscheid läuft nichts. Das erklärt zweierlei, die Vorsicht der Politik und die Rücksicht auf Bewährtes. Wie lässt sich dieses weit verzweigte, auf kleinem Raum hoch komplexe, von Eigensinn geprägte Bildungssystem reformieren? Die Entwicklungen seit Mitte der neunziger Jahre müssen vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher Schul- und Bildungskulturen verstanden werden, die Reformen sind regional verschieden und haben kein gemeinsames Zentrum, wenngleich zwischen den Kantonen und besonders den Regionen für Austausch und Abstimmung gesorgt ist. Es wird also nicht sechsundzwanzig Mal das pädagogische Rad neu erfunden, vielmehr handelt sich um ein lernfähiges System, das allgemeine Reformmaximen auf örtliche und regionale Verhältnisse hin anzupassen versteht, ohne dass dabei je eine grosse Verwaltungsmacht aufgebaut wurde. Das System ist nur örtlich wirklich verdichtet und besteht ansonsten aus kommunikativer Abstimmung, die grossen Raum lässt für Besonderheiten. Damit sage ich zugleich, dass eine Gesamtdarstellung angesichts der lokalen Verzweigungen ziemlich unmöglich ist und jedenfalls einen Vortrag überfordern würde. Ich werde also nicht die Frage beantworten, wie es generell um die Schulreform in der Schweiz bestellt ist, sondern nur die Entwicklungen in einem Kanton berücksichtigen, auch weil ich diese Entwicklungen aus eigener Anschauung am Besten kenne. Im Mittelpunkt meines Vortrages steht die Schul- und Organisationsreform im Kanton Zürich zwischen 1995 und 2005, also der letzten zehn Jahre. Der Kanton Zürich hat seit jeher eine gewisse Führungsposition im Bildungswesen inne gehabt, mindestens in dem Sinne, dass hier Entwicklungsarbeit betrieben wird, von der auch andere Kantone profitieren. Die Reform in Zürich reicht von der Lehrerbildung bis zur Basisstufe,1 viele Vorhaben wurden aufwändig evaluiert, und die meisten Projekte sind durch Volksabstimmungen auch legitimiert worden.2 Insofern steht hinter dem Vorhaben politischer Konsens, auch wenn vieles umstritten war oder noch ist. Die verschiedenen Projekte in Zürich haben allgemeine Prämissen und Zielsetzungen für Veränderungen, die als grundlegend angesehen werden für die Qualitätsentwicklung im Bildungssystem. Ein komplexes System kann nur mit dem Zusammenspiel von Einzelprojekten verändert werden, nie in toto, und es kann auch immer nur das vorhandene 1

„Grundstufe” im Kanton Zürich: Das ist die Integration des zweijährigen Kindergartens mit der ersten Volksschulklasse. In anderen Kantonen ist von „Basisstufe” die Rede, wobei auch andere Relationen vorkommen, etwa die Integration eines einjährigen Kindergartens mit den ersten beiden Schulklassen. 2 Ein neues Volksschulgesetz ist allerdings bei der Volksabstimmung gescheitert und muss neu vorgelegt werden. Streitpunkt war vor allem die Grundstufe.

3 eigene System verändert und nicht ein fremdes kopiert werden. In Zürich stehen hinter den Projekten sechs grundlegende Maximen: 1. Mehr Autonomie für die einzelne Schule bei grundlegend veränderter Schulaufsicht. 2. Aufbau von kompetenten und weisungsbefugten Schulleitungen. 3. Besondere Massnahmen für Problemsituationen wie hohe Anteile fremdsprachiger Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern. 4. Veränderung der Lektionenschule: Integration sozialpädagogischer und schulpsychologischer Dienste. 5. Neuausrichtung der Lehrerbildung in Richtung fachliche und überfachliche Standards. 6. Nutzung der Bildungsforschung für die Systemsteuerung. Im Folgenden werde ich mich im Wesentlichen auf drei Projekte beziehen, nämlich den Aufbau kompetenter Schulleitungen, externe Evaluationen sowie neue Instrumente für die Schulentwicklung. Diese Projekte sind ausgereift genug sind, um vorsichtige Schlussfolgerungen zuzulassen.

2. Aufbau von Schulleitungen

Neuartige Formen der Schulleitung sind im Rahmen des Zürcher Reformprojekt „Teilautonome Volksschulen”, abgekürzt „TaV”, entwickelt worden. Dieses Projekt ist im Zuge der kantonalen Verwaltungsreform entstanden, die nach Grundsätzen des New Public Management konzipiert wurde. 3 Im Blick auf die Schulverhältnisse in Zürich müssen nochmals müssen einige Besonderheiten beachtet werden: Mit „Volksschule“ wird in Zürich die gesamte obligatorische Schulzeit bezeichnet, die sich in Primarschule (erste bis sechste Klasse) und einer gegliederten Oberstufe (siebte bis neuen Klasse) unterteilt. De Gliederung der Oberstufe umfasst drei und nicht wie in anderen Kantonen zwei Niveaus. Der Übertritt in das Gymnasium erfolgt entweder nach der sechsten4 oder nach der achten, bzw. neunten Klasse. Daher gibt es Langzeit- und Kurzzeitgymnasien, die weniger Zeit als die deutschen Gymnasien zur Verfügung haben und vermutlich keine schlechtere Qualität hervorbringen.5 Die weitaus meisten Kinder besuchen aber die Volksschule. Der Anteil der Schüler auf Privatschulen liegt unter fünf Prozent, in der Primarschule bei knapp zwei Prozent. Die durchschnittliche Klassengrösse beträgt durchgehend etwa 20 Schüler, die Abiturientenquote liegt bei 15 Prozent, der Ausländeranteil beträgt durchschnittlich etwa 25% pro 3

Das Kürzel dieser Reform heisst wif! und steht für „Wirkungsorientierte Führung der Verwaltung des Kantons Zürich.“ Die Grundsätze und Verfahren dieser Reform sind in einem Gesetz geregelt, dass vom Zürcher Souverän am 1. Dezember 1996 angenommen wurde. Den Leitlinien und Regelungen dieser Reform sind auch die Schulen und Hochschulen des Kantons unterworfen, entschieden qua Volksabstimmung durch den Souverän, der zuvor schon das Berufsbeamtentum abgeschafft hatte. Die weitgehende Verwaltungsreform, die auf Flexibilisierung, Zielsteuerung, Leistungsbeurteilung und fortlaufende Evaluation der Qualität setzt, war die Voraussetzung dafür, die Schulorganisation ähnlich weitgehend zu verändern.

4

Der Übertritt erfolgt dann in so genannte „Untergymnasium”, das zwei Schuljahre dauert. Daran schliesst sich das vierjährige Gymnasium an, das vier Jahre dauert. Nicht alle Gymnasien führen auch Untergymnasien, im Kanton Zürich sind es 11 von 21. Gymnasien nach deutschem Muster gibt es nicht. 5 Vergleichsstudien liegen nicht vor.

4 Jahrgangsstufe, ausgenommen, ähnlich wie in Deutschland, die Sonderklassen.6 Dabei können je nach örtlicher Situation starke Unterschiede auftreten. „Teilautonome Volksschulen“ sind nicht qua Dekret eingeführt, sondern mit hohem Aufwand entwickelt worden. Das zu erwähnen ist wichtig, weil Qualitätssicherung vor allem von der Entwicklungsarbeit abhängt. Die Teilnahme am Versuch war freiwillig, die Projektzeit beträgt drei Jahre, die ersten Schulen haben im Jahre 2000 die Arbeit abgeschlossen. Bis Mitte des Jahres 2004 nahmen 70 Gemeinden sowie die Städte Zürich und Winterthur am Versuch teil, insgesamt mit rund 200 eigenständigen Schuleinheiten aus dem Bereich Volksschule und Kindergarten.7 Das Projekt ist Ende des Jahres 2004 abgeschlossen worden und stellt die Basis eines neuen Volksschulgesetzes dar, über das im Mai 2005 abgestimmt wird. Was sind die Ergebnisse des Projekts im Blick auf die Schulleitungen? Die Zürcher „teilautonomen Volksschulen“ basieren auf der Idee der Flexibilisierung und der Verlagerung der Verantwortung in die Handlungseinheit vor Ort, deren Leitung besondere Kompetenzen erhält. Dabei hat sich gezeigt, dass „Flexibilisierung“ keineswegs als neo-liberale Schimäre abgetan werden kann, auf die sich Schulen nur zu ihrem Nachteil einlassen können. Im Verlaufe der Entwicklung „teilautonomer Volksschulen” sind zum Teil sehr weitgehende Flexibilisierungen erreicht worden, mit denen die Schulleitungen vor Ort gestärkt wurden. Sie erhalten Macht und Kompetenz, also sind nicht länger lediglich ein besonders belastetes Mitglied des Kollegiums, das Anderen nichts zu sagen hat. Mit Fortgang des Projekts sind die neuen Leitungen zunehmend mehr als zentrales Element der Schulentwicklung etabliert worden. Sie lösen die alten „Hausvorstände“ der Volksschulen ab, die ohne besondere Befugnisse auskommen mussten und wesentlich nur mit Verwaltungsarbeit belastet waren. Die Akzeptanz des neuen Systems bei der Lehrerschaft ist insgesamt positiv, die Anfangschwierigkeiten sind überwunden, keine der mehr 200 Versuchsschulen ist aus dem Projekt ausgeschieden und keine ist nach dem Versuch zum alten System zurückgekehrt. Die Effekte des Versuchs zeigen sich in den einzelnen Schulen, also nicht lediglich in den Evaluationsberichten. Man erkennt auch, dass nichts wirklich verordnet werden kann und die Reform die Zustimmung der Lehrkräfte finden muss. Sie müssen Nutzen in dem sehen, was sich ändert. Im Unterschied zu den alten Hausvorständen erfahren die neuen Schulleitungen einen, wie es in einer Evaluationsstudie heisst, „enormen Zuständigkeitszuwachs“ (RHYN/WIDMER/ROOS/NIDERÖST 2002, S.79). Das wird entgolten: Die meisten der alten Hausvorstände haben keine Unterrichtsentlastung, während die Hälfte der Schulleitungen in den Projektschulen8 über mehr als sieben Lektionen Unterrichtsentlastung verfügt (ebd., S. 98). Die grösste Belastung erfahren Schulleitungen „durch das Hin und Her zwischen Unterricht und Schulleitungstätigkeit,“ die viele administrative Arbeit und den darauf bezogen hohen zeitlichen Aufwand (ebd., S. 127). Aber: Je früher eine Schule in das Reformprojekt eingestiegen ist, desto mehr Aufgaben haben die Schulleitungen heute, für die sie - und nur sie - zuständig sind. Sie etablieren also ihren Einfluss und bauen ihn aus, und dies offenbar irreversibel (ebd., S. 132).

6

Hier liegt der Ausländeranteil bei 58% (Daten nach: Die Schulen im Kanton Zürich 2002). 1997 nahmen 22 Schulen am Versuch teil, 1998 29 weitere, 1999 39 weitere, 2000 23 weitere, 2001 40 weitere und 2002 45 weitere. Bis 2004 waren ein Drittel aller Schulklassen am Versuch beteiligt. 8 Die Projektschulen sind unterschiedlich gross und verfügen auch über eine unterschiedliche Ausstattung. 7

5 Es gibt noch andere Effekte: Die Basisideen der Schulautonomie, ursprünglich in der Lehrerschaft stark umstritten, haben mit der Projektarbeit bei den verschiedenen Akteursgruppen eine inzwischen „ausgeprägte Akzeptanz“ (ebd., S. 94) erhalten, auch aus Gründen der Belastungsverteilung. Im Bereich „Schulentwicklung“ nähern sich die Lehrkräfte und die Leitungen der Versuchsschulen sogar ihrer Optimalvorstellung der Zuständigkeitsverteilung an (ebd., S. 90). Das bestätigt den Befund einer früheren Studie, wonach die Tätigkeit der Schulleitungen positiv beurteilt wird, weil für eine sinnvolle Arbeitsteilung gesorgt ist (ebd., S. 102). Generell stehen die Lehrkräfte umso mehr auch ideell hinter dem Projekt, je nachhaltiger sie den Prozess an ihrer Schule erlebt haben. Sie sind nicht abstrakt zu überzeugen, aber sie erhöhen ihre Belastungen, wenn sie eine sinnvolle und für sie ertragreiche Reform vor sich sehen. In den Projektschulen gibt es keinen Abfall schulischer Leistungen, die Eltern beurteilen diese Schulen positiver als Eltern von Schulen, die am Projekt nicht teilnehmen (MAAG-MERKI 2000). Das Kerngeschäft der Lehrkräfte ist nach wie vor der Unterricht. Die Schulleitungen sind für Stellenausschreibungen, Besetzung von Stellvertretungen sowie Koordination der Weiterbildung zuständig, was einer Umsteuerung von Bedürfnis auf Bedarf entspricht. Die Qualitätsentwicklung der Lehrkräfte muss auf den Bedarf der Schulen Rücksicht nehmen und das verlangt kompetente Schulleitungen. Ihnen obliegt im weiteren Sinne die Organisationsentwicklung sowie die Öffentlichkeitsarbeit, und die Schulleitungen sind auch bei der Besetzung der Stellen beteiligt. Im Blick auf den Unterricht der Lehrkräfte sind Veränderungen der Zuständigkeit eingeleitet worden. Schulleitungen können Konventionen ausarbeiten und durchsetzen, etwa im Blick auf schulintern einheitliche Regeln und Formate der Notengebung, sie führen Unterrichtsbesuche durch und übernehmen Aufgaben in der Personalentwicklung, was alles Auswirkungen auf den Unterricht hat oder haben kann (RHYN/WIDMER/ROOS/NIDERÖST 2002, S. 141). Zu den neuen Aufgaben und Kompetenzen der Schulleitungen zählen etwa: • • • • •

Entscheid über Beginn und Ende des Unterrichts, über Lektionen- und Fächerverteilung innerhalb der Woche und des Schuljahres, über Blockzeiten, Pausen, Projekte und Werkstattunterricht, Minimalisierung der Lektionen für bestimmte Fächer zugunsten fächerübergreifender Aktivitäten, Verteilung der Schüler auf altersdurchmischte Gruppen und mehrklassige Abteilungen, Einteilung der Lerngruppen nach Leistung, Geschlecht oder Neigung auf der Primarstufe für einzelne Projekte und kürzere Zeitspannen, flexiblerer Einsatz der Lehrkräfte, Fächerabtausch und vermehrte Erteilung kleinerer Teilpensen.

Das muss jeweils mit dem Kollegium abgestimmt sein und ist allein aus diesem Grunde eine komplexe Führungsaufgabe. Nicht alle diese Massnahmen werden unmittelbar Erfolg haben, schon gar nicht gleichzeitig. Die Entwicklung von Schulqualität muss immer von verschiedenen Optiken ausgehen und unterschiedliche Interessen in Rechnung stellen. Das Tagesgeschäft hat Vorrang, und die Reformen werden sich daran messen lassen müssen, was sie zur Verbesserung des Tagesgeschäfts beitragen. Aus den bisherigen Erfahrungen mit „teilautonomen Volksschulen“ lassen sich im Blick auf Erfahrungen mit neuen Schulleitungen vorsichtig einige Verallgemeinerungen ableiten, die auch über den Kanton Zürich hinaus von Interesse sein dürften. Neue

6 Organisationsformen verbessern die Unterrichtsqualität nicht automatisch, aber Unterricht ist abhängig von einer qualitativ guten Schulorganisation. Ohne Schulleitungen, die über Kompetenz und Weisungsbefugnis verfügen, ist Qualitätssicherung nur zufällig oder individuell möglich. Sie wäre abhängig vom je gegebenen oder nicht gegebenen Engagement der einzelnen Lehrkräfte, das bekanntlich abnutzen oder sich überraschend verlagern kann. Die Verbesserung der durchschnittlichen Bildungsqualität der Schüler, die Forderung nach PISA, kann aber nicht der Zustimmung oder Ablehnung einzelner Lehrkräfte überlassen bleiben, sondern verweist auf hohen Steuerungsbedarf und so auf Leitung. Genereller gesagt und auf Unterricht bezogen: Die Schulentwicklung vor Ort muss mit dem Umfeld abgestimmt sein und Akzeptanz finden, das verlangt Leitung, weil allgemeine Ziele vertreten werden und der Unterricht inhaltlichen Standards verpflichtet ist, die nicht beliebig individualisiert werden können. Lehrmittel reichen zur Steuerung nicht aus, die Ziele und Standards des Unterrichts müssen abgestimmt sein, transparent dargestellt werden und sich überprüfen lassen. Gemeinsame Richtlinien für die Notengebung - für fast alle Schulen heute keine Praxis und eine mittlere Revolution - sind dabei nur der Anfang. Der Grundsatz lautet: Mehr Autonomie für die einzelne Schule verlangt im Gegenzug mehr Leitung und eine andere Form von Kontrolle. Eine neue Form von Kontrolle sind nicht nur Tests, sondern auch externe Evaluationen. Dieser Ausdruck löst bei deutschen Lehrkräften immer noch Stirnrunzeln und Abwehr aus, während in der Schweiz wiederum Entwicklungsarbeit vorliegt, über die ich im Folgenden kurz berichten werde. Auch dieses Projekt der Bildungspolitik wird in Deutschland allmählich Realität werden, so dass sich vielleicht auch hier ein Blick über den Zaun lohnt.

3. Externe Evaluationen

Evaluation von Aussen stellen eine weitgehende Veränderung der Schulaufsicht dar, die in ihrer Grundform aus dem 19. Jahrhundert stammt und die nicht zufällig „Inspektorat“ hiess. Ein Inspektor9 überwacht, aber entwickelt nicht; das neue Problem ist, wie Kontrolle und Entwicklung zusammen gebracht werden können. „Kontrolle“ ist nicht wörtlich zu nehmen, es geht nicht um Kommissare, die in die Schule kommen, sondern um Experten, die über einen kritischen Blick verfügen, der der Schule weiterhilft. Die Experten sind unabhängig und können thematisieren, was ihnen auffällt; eine Loyalität zum Kollegium ist nicht gegeben. Hier setzt ein weiteres Zürcher Projekt an, das der „Neuen Schulaufsicht.“ Das neue Verfahren versteht Schulaufsicht als Teil der Schulentwicklung. Gemeint ist Folgendes: Alle Schulen sollen in Zukunft im Abstand von vier oder fünf Jahren extern evaluiert werden.10 Die Daten beschreiben Stärken und Schwächen, sie dienen der weiteren Entwicklung der Schulen und werden in Zielvereinbarungen umgesetzt. Dieses Konzept verlangt drei hauptsächliche Akteure, nämlich Evaluationsteams, die Schulpflege in den Gemeinden und die Schulleitung. Mit „Hausvorständen“ alter Art wäre das Konzept nicht durchsetzbar. Nur mit Schulleitungen neuer Art lässt sich eine längerfristige Entwicklung auf der Basis von

9

Das lateinische Verb inspicere bezieht sich auf „hineinsehen,“ „mustern“ oder „untersuchen,“ also auf ein Objekt oder eine Situation, die selbst passiv gelassen werden. 10 Bedingung dafür ist die Annahme eines neuen Gesetzes für die Volksschule, das im Mai 2005 zur Abstimmung steht.

7 Zielsteuerungen erreichen, die verantwortlich umgesetzt werden müssen, also nicht lediglich einen stillschweigenden kollegialen Konsens voraussetzen. Das Modell der „neuen Schulaufsicht” im Kanton Zürich ist seit 1999 mit über sechzig Schulen ausprobiert worden, die sich wiederum sämtlich freiwillig beteiligt haben. Die entsprechende Fachstelle führt standardisierte Evaluationen durch, die von den Schulen nach Abstimmung mit den Schulpflegen in Auftrag gegeben werden. Die externe Evaluation setzt eine Selbstevaluation der Schule voraus und wird von den Teams der „Neuen Schulaufsicht” durchgeführt. Das Verfahren und seine Rahmenbedingungen lassen sich allgemein so beschreiben: • • • • •

Die Teams der „neuen Schulaufsicht” sind unabhängig, sie arbeiten im Auftrag der Behörde, aber folgen keinen Weisungen. Die Evaluationen werden mit höchstmöglicher Transparenz der Kriterien und Verfahren durchgeführt, die vorher offen gelegt werden.11 Die Schulen erstellen Selbstevaluationsberichte, die Evaluationsteams besuchen die Schulen, erheben Daten und legen ihrerseits Berichte vor, die die Grundlage sind für das weitere Vorgehen. Die Evaluationsberichte werden im Kollegium sowie mit den Eltern und Schülern ziel- und entwicklungsbezogen diskutiert. Schulleitung und Schulpflege vereinbaren auf dieser Basis die Entwicklungsziele und besondere Massnahmen für den nächsten Berichtszeitraum.

Die „Neue Schulaufsicht“ ist ihrerseits evaluiert worden. Die Daten zeigen, dass ein solches Verfahren vor allem auf Zustimmung bei den Schulen stösst, die sich ernst genommen fühlen und die erfahren, dass und wie sie von den ursprünglich gefürchteten externen Evaluationen profitieren. Die Schulen befürworten das Projekt und stufen es als Qualitätsgewinn ein. Die Verfahren der Datenerhebung werden als zweckmässig eingeschätzt und die Ergebnisse erhalten hohe Glaubwürdigkeit. Schwierigkeiten bereitet noch die genaue Festlegung der Folgen, die Evaluationsberichte sind nicht in jedem Falle Grundlage für wirksame Zielvereinbarungen und so für eine gezielte Entwicklungspolitik der einzelnen Schule. Ein Manko ist auch, dass der Unterricht vor allem aus Zeitgründen zu wenig berücksichtigt wird (BINDER/TRACHSLER 2002). In diesem Sinne sind auch Projekte der externen Evaluation abhängig von der eigenen Entwicklung. Sie lernen mit Fortgang der eigenen Praxis. Zum Beispiel muss eine Sprache entwickelt werden, die deutlich genug ist, auch Schwächen zu thematisieren, ohne die evaluierte Schule vor den Kopf zu stossen. Oder es müssen Wege gefunden werden, wie Schulen auf Schwächen reagieren können. Wenn der Bericht einfach stehen bleibt oder, wie man in der Schweiz sagt, „schubladisiert“ wird, hat niemand etwas davon. Auf der anderen müssen Schulen handeln können, was etwa die Fort. und Weiterbildung auf eine neue Basis stellen würde. Sie muss „on demand“ Angebote bereit stellen, die die Schulen abrufen können. Damit würde die externe Evaluation auch Ausbildungsfolgen oder Konsequenzen für die Personalentwicklung haben. Wesentlich für die Qualitätsentwicklung sind aber nicht nur neue Formen der Organisation wie kompetente Schulleitungen oder die Steuerung der Entwicklung durch externe Evaluationen; wichtig ist auch und nicht zuzletzt, dass brauchbare Instrumente zur 11

Inzwischen liegt für diesen Zweck ein eigenes Handbuch vor (Verfahrensschritte 2001).

8 Verfügung stehen, die von der Lehrerschaft auch tatsächlich akzeptiert werden. Diese Dimension ist in der deutschen Pädagogik immer unterschätzt worden, inzwischen gibt es aber auch hier eine Dynamik, die imstande ist, die Praxis nachhaltig zu verändern.

4. Neue Instrumente für die Praxis Ein im Kanton St. Gallen erprobtes neues Verfahren ist der Klassencockpit,12 ein Internet-Angebot für die Bestimmung des Leistungsstandes einer Klasse. Es handelt sich um ein Evaluationsinstrument, das den Lehrkräften erlaubt, den Lernerfolg ihrer Klasse mit dem Lernerfolg anderer Klassen zum gleichen Thema im gleichen Fach zu vergleichen.13 Die Schüler bearbeiten standardisierte Leistungstests, die von den Lehrkräften korrigiert werden. Die Lösungen der einzelnen Schüler werden mit Hilfe einer Eingabemaske über das Internet in die Datenbank des Klassencockpit eingelesen. Die Datenbank enthält die Daten anderer Klassen, die einen kantonalen Durchschnitt bilden, so dass ein Vergleich der Leistungen möglich wird. Im Blick auf diesen Vergleich weiss man dann, wo man steht. Die Vergleichdaten können klassenspezifisch wie schülerspezifisch abgerufen werden, die Eingabe ist anonym. Das Instrument wird erfolgreich genutzt, die Zustimmung der Lehrkräfte ist gross, die Kritik betrifft eher den noch restriktiven Einsatz des Instruments. In Befragungen zeigt sich, dass die Lehrerinnen und Lehrer den Test und seine Auswertung nicht nur zur Standortbestimmung nutzen wollen, sondern auch zur Anpassung der Schülerbeurteilung, zur Planung der Übertritte von der Primar- in die Sekundarschule und nicht zuletzt zur Optimierung des eigenen Unterrichts (MOSER 2003). Der Grund für diese hohe Akzeptanz ist nicht nur die Nützlichkeit des Instruments, sondern auch der Einsatz von Vergleichstests, die nicht für die schulische Selektion genutzt werden. Die Tests sollen leistungsfördernd wirken, die Förderung des Leistungsverhaltens setzt voraus, dass der Leistungsstand der Klasse eingeschätzt werden kann, ohne dass die Bezugsnorm allein die Normalverteilung der jeweiligen Klasse wäre. Auf dieser Linie wird im Kanton Zürich ein „Handbuch Schulqualität” entwickelt und werden in der Schweiz nationale Bildungsstandards in Auftrag gegeben, die zu einem interessanten Test für die kantonale Bildungsautonomie werden. Aber das ist natürlich nicht alles. Ein wesentliches Ergebnis der Forschung, das sich in etwa mit den deutschen Daten der IGLU-Studie deckt, ist die Schere im Leistungsverhalten nach der dritten Klasse. Zwischen der dritten und der sechsten Klasse, also mit Zuwachs der fachlichen Anforderungen des Unterrichts, entstehen offenbar die grossen Diskrepanzen und Unterschiede, die auch von PISA beschrieben worden sind (MOSER/RHYN 2000; MOSER/KELLER/TRESCH 2002). Eines der grossen Probleme wird sein, diesen Schereneffekt zu minimieren,14 was nur mit wirksamen Förderprogrammen möglich ist. Diese Programme setzen eine Abkehr von der 12

http://www.klassencockpit.ch Derzeit werden ausgewählte Bereiche in den Fächern Mathematik und Deutsch angeboten. Anhand von Aufgabensätzen (Orientierungsmodulen), die dreimal jährlich zur Verfügung gestellt und im Internet ausgewertet werden, können die Lehrkräfte die Leistungen ihrer Klasse im Blick auf diese Module vergleichen. Derzeit bietet Klassencockpit von der dritten bis zur neunten Klasse solche Orientierungsmodule an, auf der Oberstufe (Sekundarstufe I) sind zwei Niveaus erhältlich. Klassencockpit wird bereits in verschiedenen Kantonen angewendet, darunter inzwischen auch im Kanton Zürich. 14 Der Effekt hat nicht nur mit den Herkunftsmilieus der Schülerinnen und Schüler zu tun, die auch in den Schweizer PISA-Daten als zentraler, aber nicht einziger Faktor für das Zustandekommen der Leistungen nachgewiesen ist (Bildungsmonitoring 2002). 13

9 reinen Lektionenschule voraus und sind nicht einfach zu haben, schon gar nicht durch einfache Verwaltungsvorschriften. Wer ernsthaft fördern und nicht bloss unterrichten will, braucht dafür Ressourcen und Know How. Förderprogramme erreichen ihre Ziel nur, • • • • •

wenn früh nicht-selektive Tests eingesetzt werden, flexible Lektionenpools zur Verfügung stehen, eine kompetente Schulleitung für Abstimmung und Prioritätenbildung sorgen kann, verbindliche Standards vorhanden sind und die Qualität der Schulen sich am Ergebnis bemisst.

Das ist schwer genug, bedenkt man, dass die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in den entscheidenden Leistungsfächern bereits bei Schuleintritt weit auseinander liegen (STAMM/MOSER/HOLLENWEGER 2004) und jede Klasse eine Leistungshierarchie entwickelt, deren Rangverteilung auch beim Wechsel der Lehrkraft mit hoher Wahrscheinlichkeit erhalten bleibt. Die Probe auf die Förderung ist die Veränderung der Hierarchie, an der vor allem die besten Schüler starkes Interesse haben. Gelöst ist das auch in der Schweiz bislang nicht, aber letztlich heisst Schulreform von blossen Defizitbestimmungen los zu kommen und eine Orientierung zu etablieren, die an den Ressourcen der Schüler wie der Lehrkräfte ausgerichtet ist. Ein weiteres, ganz neues Projekt heisst „Stellwerk”, es dient der Bestimmung des individuellen Standortes der Schülerinnen und Schüler Mitte des achten Schuljahres. Mit Hilfe einer Analyse des Leistungsstandes jedes einzelnen Schülers soll ermittelt werden, wie und in welchen Bereichen die Schüler bis zum Ende des 9. Schuljahres gezielt gefördert werden können, um das Niveau zu erreichen, eine Lehrstelle finden zu können. Dieses Förderprogramm ersetzt in Teilen den Lehrplan, der zugunsten von gezielten Nachbesserungen in bestimmten Kompetenzbereichen gelockert oder suspendiert wird. Es ist illusorisch zu erwarte, dass die Schülerinnen und Schüler bis Mitte der 8. Klasse einen angeglichenen Leistungsstand erreichen werden, was immer man tun kann, die Öffnung der Schere zu verringern. Aber die Schule kann mit gezielten Förderprogrammen die Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Im Kanton Zürich wie überhaupt in der Schweiz sind vor allem grössere Firmen dazu übergegangen, Lehrlinge mit eigenen Tests und Assessments auszuwählen (MOSER 2004). Der Volksschulabschluss ist dadurch systematisch entwertet worden, heute bekommen Schulabgänger in bestimmten bereichen eine Lehrstelle nicht mehr, weil sie gute Schulnoten nachweisen können, sondern weil sie firmeneigenen Aufnahmeprüfungen bestanden haben. Dabei werden Tests verwendet, die private Büros entwickelt haben und auf die die Schulen keinerlei Einfluss nehmen können. Das Projekt “Stellwerk” soll dieser Entwertung der allgemeinbildenden Schule entgegenarbeiten, indem die für den Bewerbungsmarathon und die Lehren selbst erforderlichen Kompetenzen nachgebessert werden. Das Projekt dient vor allem den leistungsschwächeren Schülern. Zur Qualitätssicherung auf Seiten der Lehrkräfte sind verschiedene Ideen entwickelt worden, darunter eine, die mit dem Abstand der Besten zu tun hat. Der Schweizer Think-Tank Avenir Suisse hat eine Studie in Auftrag gegeben, die ausgehend von Leistungsmessungen die Unterschiede zwischen den Lehrkräften darstellt, also bessere und schlechtere Leistungen der Schüler auf die Kompetenz der Unterrichtenden zurückführt (MOSER/TRESCH 2003). Dabei ist

10 klar erkennbar, wie das entsteht, was man neuerdings best practice nennt, also professionelles Können von Lehrkräften, die besser als andere das Leistungsverhalten der Schüler befördern. Das Erfolgsgeheimnis ist einfach und zugleich schwer: Man muss strukturierten, angemessen fordernden und auf die Lehrkraft zentrierten Unterricht verbinden mit solchen Methoden selbsttätigen Lernens, die der Klassensituation angemessen sind. Was man auf keinen Fall tun darf, ist den guten Unterricht aufgrund der Theorie oder des didaktischen Prinzips vor sich zu sehen. Es kommt auf den richtigen Mix an, wobei konservative Methoden des lehrerzentrierten Unterrichts nicht ausgedient haben, etwa weil die konstruktivistische Didaktik dies sagt, sondern in ein Verhältnis gesetzt werden müssen, das zu den Möglichkeiten der jeweiligen Lerngruppe passt. Nach den Daten der Schweizer Studie trägt Unterricht dann zur Leistungsverbesserung bei, • • • • •

wenn er klar strukturiert ist, die Lehrkraft Verantwortung für den Verlauf übernimmt, den Lernfortschritt überprüft, deutliche Urteile über die erreichten Leistungen abgibt und weiss, wie schwächere Schüler gefördert werden können.

Die Studie von Avenir Suisse ist umgesetzt worden. Lehrkräfte, die weniger gut abgeschnitten haben, wurden in Gruppengesprächen konfrontiert mit denen, die es offenbar besser konnten. Allerdings betraf das nicht Lehrkräfte aus ein- und derselben Schule. Wenn aber jede Form kollegialer Kränkung vermieden wird, kann direkt Know How transferiert werden. Die Lehrkräfte müssen sich vergleichen, ihre persönliche Kompetenz im Blick auf Unterricht, nicht nur die anonym die Leistungen ihrer Klasse mit denen anderer Klassen, wie dies im Klassencockpit der Fall ist. Im Ergebnis zeigt sich, das Lehrkräfte von dieser Form des Coachings profitieren, wenn sie die Ergebnisse an sich herankommen lassen und offen sind für den Tatbestand, dass Andere besser sind als sie und sie aber lernen können, ihre eigene Kompetenz zu verbessern. Aus dieser Studie ist schliesslich noch ein weiteres Projekt15 entstanden, das „Check Five“ heisst. So wird ein vergleichender Leistungstest im Kanton Aargau genannt, der im fünften Schuljahr der Primarschule durchgeführt wurde. Das Projekt ist vom kantonalen Parlament in Auftrag gegeben worden und hat den Zweck, ein Instrument zu entwickeln, mit dem sich die Ergebnisse von Evaluationsstudien an die Lehrkräfte rückvermitteln lassen. Die PISAResultate haben auch die Schweizer Lehrkräfte nur am Rande berührt. Man sieht das etwa daran, dass sie sich an der öffentlichen Diskussion kaum beteiligt haben; wenn aber derartig aufwändige Studien auch einen praktischen und nicht bloss einen politischen oder wissenschaftlichen Wert haben sollen, dann ist die Frage unausweichlich, was die Lehrkräften mit solchen Daten anfangen können. „Check Five“ ist darauf eine Antwort. Der Test wurde im vergangenen Jahr durchgeführt und betraf vier Dimensionen, nämlich • • • •

15

Mathematik, Deutsch, kooperatives Problemlösen und selbst reguliertes Lernen.

Es handelt sich um Dissertationsprojekt von SARAH TRESCH am Pädagogischen Institut der Universität Zürich (Fachbereich Allgemeine Pädagogik). Ich beziehe mich auf einen Vortrag von Frau TRESCH im Kolloquium des Fachbereichs Allgemeine Pädagogik des Pädagogischen Instituts der Universität Zürich am 12. Januar 2005.

11 Weil hinter dem Test eine politische Absicht steht, rechnete das Projektteam mit erheblichen Widerständen in der Lehrerschaft und wäre zufrieden gewesen, wenn sich 40 Klassen gefunden hätten. Von den 370 Lehrpersonen, die im Kanton Aargau in der fünften Klasse unterrichten, meldeten sich 262, der Test wurde schliesslich mit 140 Klassen und 2.531 Schülern durchgeführt. Die Akzeptanz solcher Verfahren ist grundsätzlich offenbar vorhanden. Die Lehrkräfte wurden vor Durchführung des Tests befragt, mit welchen Einstellungen und Erwartungen sie an das Projekt herangehen, für das sie sich freiwillig gemeldet haben. Jede einzelne Lehrkraft erhielt zwei Monate nach dem Test eine Rückmeldung, die zeigt, wie ihre Klasse im Vergleich zum Gesamtergebnis abgeschnitten hat. Das Ergebnis wurde strukturiert durch „Mindestziele“, die der Lehrplan vorgegeben hat. Sie kann man erreichen, nicht erreichen oder überbieten. Die Ergebnisse müssen mit den Schülern in einer frei gewählten Form kommuniziert werden. Dabei können die Lehrkräfte auch die Eltern einbeziehen. Die Rückmeldung erhielt einen vorstrukturierten Teil für die Folgemassnahmen, in dem kategorial unterschieden wird, auf welchen Ebenen und in welchen Bereichen die Lehrkräfte in Einsicht ihrer Ergebnisse tätig werden können. Auf diese Weise lassen sich Handlungen antizipieren und klassifizieren, womit auch die Auswertung erleichtert wird. Nach der Rückmeldung der Ergebnisse erfolgten noch zwei weitere Befragungen, die die Umsetzung erheben. Sie haben vier hauptsächliche Ziele: • • • •

Wie gehen die Lehrkräfte mit den Daten ihrer Klasse um, zumal dann, wenn sie nicht gut sind? Wie analysieren sie die Ursachen? Wie reflektieren sie die Qualität ihres Unterrichts im Lichte der Daten? Und welche Massnahmen ergreifen sie zur Verbesserung der Qualität?

Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen, und ich kann der Auswertung auch nicht vorgreifen. Nur ein Teilergebnis: Dieses Verfahren stösst auf hohe Akzeptanz bei den Schüler, was auch aus anderen Studien hervorgeht. Objektivierte, transparente Verfahren der Leitungsmessung sind keine Horrorerfahrungen, sondern wirksame Instrumente, sofern sich die Daten ins Feld rückübersetzen lassen und die Lehrkräfte erreichen. So gesehen liegt der primäre Gewinn der PISA-Studien nicht in der Anreicherung der Publikationslisten der Forscher, sondern in der Verbesserung des Arbeitswissens der Praxis.

5. Ausblick: Verbesserung ist immer möglich

Was kann man tun, wenn dies alles nicht kommt oder mindestens nicht sofort umgesetzt wird? Schulentwicklung ist auch unterhalb der Schwelle von Bildungsstandards, externen Evaluation und einer komplexen Organisation der Qualitätssicherung möglich. Ich nenne am Schluss meines Vortrages ganz einfache Massnahmen, die in Schweizer Schulen entweder bereits realisiert sind oder entwickelt werden. Es sind Massnahmen zur Verbesserung, die jederzeit und überall eingesetzt werden könne, ohne grosse Kosten zu verursachen. Die vier Massnahmen reagieren auf Kritik, die auf dem diesem Wege ernst genommen wird, was wiederum die Beziehungen der Schule zu ihrem Umfeld verbessert. Ich könnte auch sagen, die Schulen werden auf diesem Wege kundenorientierter, und das sollte auch das deutsche Schulsystem nicht einfach den Privatschulen überlassen.

12

Ein immer wieder vorgebrachter und wie ich finde berechtigter Vorwurf, den etwa viele Eltern äussern, ist der mangelnder Transparenz der Leistungsentwicklung der Schüler. Wenn Zeugnisse verteilt werden, ist es zu spät, in diese Entwicklung einzugreifen, was viele Eltern gerne täten, weil sie mit den Rückmeldungen der Kinder oft nicht zufrieden sind. Das hängt mit dem Phänomen zusammen, dass viele Schüler lieber auf schlechte Zeugnisse warten als ihr Leistungsverhalten zu verändern. Intransparenz bringt für sie kurzfristig Vorteile, wobei die Eltern oft ahnen, was auf sie zukommt. Es gibt Schweizer Schulen, die den Eltern alle vier Wochen den Leistungsstand ihrer Kinder mitteilen. Die Schulen legen Datenbänke an, in denen alle Lehrkräfte die Noten der schriftlichen Leistungen eintragen. Die Eltern erhalten dann regelmässig einen Auszug, der sie über den Stand informiert und den sie unterschreiben müssen. Sie können dann überlegen, welche Strategien sie ergreifen, wenn ein Leistungsniveau erreicht ist, der weder sie noch ihre Kinder zufrieden stellt. Ein weiteres Ärgernis ist oft die mangelnde Transparenz sowohl der Lernziele als auch der Anforderungen. Auch hier kann man abhelfen. Manche Schule teilen den Schülerinnen und Schülern am Freitag nach der letzten Stunde schriftlich mit, was in der nächsten Woche an Zielen erreicht werden soll, welche inhaltlichen Anforderungen auf sie zukommt und welche zeitlichen Ressourcen sie benötigen, um gute Leistungen zu erzielen. Die Schüler führen Lerntagebücher und können so ihren Lernfortschritt selbst kontrollieren. Die transparenten Ziele erlauben es, die Zeit einzuteilen und die notwendigen Leistungen vor sich zu sehen, ohne vom Fortgang des Unterrichts überrascht zu sein. Die Schulen verlangen so aktives Lernverhalten und Rechenschaft über den Fortgang der Entwicklung hin zum Ziel. Eine Möglichkeit dafür sind direkte Rückmeldesysteme, die manche Schulen „Lernpass“ nennen. Sie dienen der wechselseitigen Abstimmung und Kontrolle des Verhaltens. • • • • •

Die Schüler tragen jeden Tag oder an verabredeten Tagen ein, welche Ziele in welchen Fächern sie an dem bestimmten Tag erreichen möchten. Sie protokollieren am Ende des Tages, was sie erreicht haben. Sie schätzen nach vorgegeben Kategorien ihr Arbeits- und Lernverhalten ein. Die Lehrkraft erhält eine Rückmeldung, ob die Ressourcen und Lernhilfen ausreichend waren. Die Schüler erhalten abschliessend von den Lehrkräften eine Rückmeldung, wie der Verlauf des Tages und die Leistungen eingeschätzt wurden.

Mein viertes Beispiel betrifft Form und Inhalt der Zeugnisse. Sie sind oft Ärgernisse, nicht wegen der Noten, sondern weil diese zu wenig aussagen. Als eine erste Reaktion auf die zunehmende Entkoppelung von Schulzeugnis und Lehrstellenmarkt ist im Kanton Zürich das Oberstufenzeugnis (siebte bis neunte Klasse) gründlich verändert worden, um realistische Aussagen zu erreichen. Die wesentliche Änderung geht dahin, in bestimmten Fächern Kompetenzniveaus zu unterscheiden, also etwa in Deutsch nicht mehr pauschal Noten zu geben, sondern mit vier Notenniveaus erreichte oder nicht erreichte Kompetenzen zu bewerten. Noten werden dann vergeben in Hörverstehen, Leseverstehen, Sprechen und Schreiben. In Zukunft werden auch überfachliche Kompetenzen bewertet. Früher wurde „Fleiss, Ordnung und Betragen“ mit „gut“, „genügend“ und „ungenügend“ bewertet, wobei faktisch fast immer nur die Note „gut“ vergeben wurde. Neu wird mit einem Viererschema von „trifft“ bis „trifft nicht zu“ das Arbeits- und Lernverhalten sowie das Sozialverhalten der

13 Schülerinnen und Schüler bewertet. Im Bereich „Arbeits- und Lernverhalten“ gibt es drei Kategorien, die in sich differenziert bewertet werden, nämlich Lernmotivation und Einsatz, Aufgabenbearbeitung und Selbsteinschätzung. Die Schüler können sich also nicht mehr einfach auf das Erreichen eines Notenschnitts einstellen, der für die Versetzung relevant ist; sie müssen damit rechnen, dass ihr Verhalten bewertet wird und im Zeugnis erscheint. An dieser Stelle schliesst sich nicht etwa der Kreis, sondern bleibt viel zu tun. Zum Glück aber ist die Zeit jedes Vortrages begrenzt. Als Ausländer in der Schweiz mit deutschem Pass bleibt mir nur noch, der deutschen Bildungsdiskussion ein Ende der Hysterie zu wünschen. Die Schulqualität wird nicht dadurch besser, dass ständig „Bildungskatastrophen” weniger ausgerufen als beschworen werden. Wer das Bildungssystem entwickeln will, muss mit seiner Widerständigkeit rechnen. Schulen sind darin ebenso listig wie erfolgreich, sich Reformzumutungen zu entziehen. Die ständige Krise fördert nur die Unlust. Wer will schon in einem System arbeiten, dem ständig unterstellt wird, es befände sich in einem „katastrophalen” Zustand? Demgegenüber wird es darauf ankommen, genau zu bestimmen und abzusichern, was das Schulsystem leisten soll und was nicht. Vielleicht ist Schweizer Pragmatismus dabei keine schlechte Strategie.

Literatur

Bildungsmonitoring Schweiz: Für das Leben gerüstet? Die Grundkompetenzen der Jugendlichen - Nationaler Bericht der Erhebung PISA 2000. Neuchâtel 2002. BINDER, H.-M./TRACHSLER, E.: wif! –Projekt “Neue Schulaufsicht an der Volksschule. Externe Evaluation. Luzern 2002. Die Schulen im Kanton Zürich. Herausgegeben von der Abteilung Bildungsplanung/Bildungsstatistik der Bildungsdirektion des Kantons Zürich. Ausgabe 2002. Zürich 2002. MAAG-MERKI, K.: Teilautonome Volksschulen aus der Sicht der Eltern. Einstellungen, Erfahrungen und Wünsche. Bericht zuhanden der Bildungsdirektion. Zürich 2000. MOSER, U.: Klassencockpit im Kanton Zürich. Ergebnisse einer Befragung von Lehrerinnen und Lehrern der 6.Klassen über ihre Erfahrungen im Rahmen der Erprobung von Klassencockpit im Schuljahr 2002/2003. Bericht zuhanden der Bildungsdirektion des Kantons Zürich. Ms. Zürich 2003. MOSER, U.: Jugendliche zwischen Schule und Berufsbildung. Eine Evaluation des Übergangs von der obligatorischen Schulbildung in die berufliche Grundbildung bei Schweizer Grossunternehmen unter Berücksichtigung des internationalen Schulleistungsvergleichs PISA. Ms. Zürich 2004. MOSER, U./RHYN, H.: Lernerfolg in der Primarschule. Eine Evaluation der Leistungen am Ende der Primarschule. Aarau 2000. MOSER, U./KELLER, F./TRESCH, S.: Evaluation der 3. Primarschulklassen. Schlussbericht zuhanden der Bildungsdirektion des Kantons Zürich. Ms. Zürich 2002. MOSER, U./TRESCH, S.: Best Practice in der Schule. Von erfolgreichen Lehrerinnen und Lehren lernen. Buchs: Lehrmittelverlag des Kantons Aarau 2003. RHYN, H./WIDMER, TH./ROOS, M./NIDERÖST, B.: Zuständigkeiten und Ressourcen in Zürcher Volksschulen mit und ohne Teilautonomie (TaV). Evaluationsbericht im Auftrag der Bildungsdirektion des Kantons Zürich. Ms. Zürich 2002. STAMM, M./MOSER, U./HOLLENWEGER, J.: Lernstandserhebung in den 1. Klassen des Kantons Zürich. Schlussbericht zuhanden der Bildungsdirektion des Kantons Zürich. Ms. Zürich 2004.

14 Verfahrensschritte der Externen Schulevaluation. Zürich 2001.