Raul Zelik Nach dem Kapitalismus? Perspektiven der Emanzipation oder: Das Projekt Communismus anders denken

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Raul Zelik Nach dem Kapitalismus?

Perspektiven der Emanzipation oder: Das Projekt Communismus anders denken

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Raul Zelik Nach dem Kapitalismus?

Raul Zelik, Dr.phil., ist Schriftsteller und Professor für Politik an der Universidad Nacional de Colombia in Medellín (Fakultät für Geistes- und Wirtschaftswissenschaften). Er forscht zur Entregelung von Staatlichkeit und zu den Transformationsprozessen in Südamerika. Im Juni 2011 erscheint sein Erzählband »Berlin Tropikal« im Blumenbar Verlag.

Raul Zelik

Nach dem Kapitalismus? Perspektiven der Emanzipation oder: Das Projekt Communismus anders denken

VSA: Verlag Hamburg

www.vsa-verlag.de

Für Anregungen und Hinweise, Kritik und ein erstes gründliches Lektorat sowie für die Aufforderung, dieses Buch überhaupt zu schreiben, und die konkreten Redaktions- und Lektoratsarbeiten möchte ich Elmar Altvater, Leo Kühberger bzw. Christoph Lieber (vom VSA: Verlag) herzlich danken.

© VSA: Verlag 2011, St. Georgs Kirchhof 6, 20099 Hamburg Alle Rechte vorbehalten Druck und Buchbindearbeiten: Idee, Satz & Druck, Hamburg ISBN 978-3-89965-449-3

Inhalt

In der Finanzkrise ........................................................................................ 7 Konkrete Utopien ...................................................................................... 15 Die Krisen ................................................................................................... 19 Green New Deal, Wachstumsbeschränkung? ......................................... 24 Das Scheitern des Staatssozialismus ......................................................... 29 Führungsmission, Autoritarismus, herrschende Gruppe .............................. 31 Nachholende Entwicklung, »halber Fordismus«, das Primat der Politik und seine Grenzen ................................................... 38 Fetisch Markt/Fetisch Plan? ......................................................................... 41

Der lateinamerikanische »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«? .............. 50 Ecuador – Bolivien – Venezuela .................................................................. 52 Antiinstitutioneller Widerstand, »rhizomatische« Struktur, Staat ............... 68 »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« – eine vorläufige Bilanz ...................... 74

»Computer-Sozialismus«, postkapitalistischer Übergang? .................... 81 Fluchtlinien der Emanzipation ................................................................. 93 Peer Production – freie Assoziation der Produzenten? ........................ 114 Gesellschaftliche Prozesse anders denken: Deleuze/Guattari ............. 121 Das Vorhaben des Communismus .......................................................... 133 Literatur .................................................................................................... 135

In der Finanzkrise

Im Sommer 2009 erzählte der US-amerikanische Großinvestor Mohamed El-Erian in einem Interview mit dem Züricher Tagesanzeiger,1 er habe seine Frau im Herbst 2008 zweimal zum Geldabheben geschickt, weil er den Zusammenbruch der globalen Finanzsysteme innerhalb der nächsten Stunden befürchtete. In der Anekdote war die ganze Absurdität der Krise verdichtet. Da war zum einen die fast schon drollige Hilflosigkeit: Nachdem es der Mann und seine Kollegen berufsmäßig verbockt, sprich verzockt hatten, sollte die Ehefrau retten, was zu retten war – und zwar ausgerechnet, indem sie Geldscheine von der Bank holte, die doch bei einem echten Fall-Out des Geldwesens schnell nur noch Papier wert gewesen wären. Den Protagonisten der Krise fiel im Herbst 2008 offensichtlich nicht mehr viel ein. Zum anderen war da das Ausmaß der Krise. Der Zusammenbruch des Finanzwesens war offensichtlich eine reale Option; die Finanzmärkte und mit ihnen das Geld standen am Abgrund. Dass diese Gefahr inzwischen gebannt ist, wird längst nicht nur von Linken bezweifelt, für die die Krise zugegebenermaßen oft auch millenaristische Funktionen zu erfüllen hat. Glaubt man den Expertengesprächen auf den Wirtschaftsseiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, so bietet sich wahrlich kein erfreuliches Bild. James Galbraith, Ökonomieprofessor in Austin/Texas (und Sohn des Keynes-Schülers John K. Galbraith), sieht trotz der Niedrigzinspolitik der westlichen Notenbanken und der dadurch in Gang gesetzten Geldschöpfung eine schwere Deflation in den USA heraufziehen (FAZ 13.12.2010). Sein australischer Kollege Steve Keen wies einige Monate zuvor darauf hin, dass die Krise schon deshalb nicht überwunden sei, weil wir uns weiterhin in der größten Finanzblase aller Zeiten befinden (FAZ 8.1.2010). Und der Währungsexperte John Talyor (FAZ 13.11.2010) stellt trotz des Wirtschaftswachstums das Auseinanderbrechen des Euro-Raums, eine neuerliche Rezession in den USA und eine Verschärfung der Schuldenkrise in Japan in Aussicht.

1 Online unter: www.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/konjunktur/Die-aktuelle-Erholung-ist-nicht-dauerhaft/story/26591327/print.html.

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Tatsächlich haben die G8-Staaten in den letzten drei Jahren nichts Wesentliches unternommen, um zumindest die offensichtlichsten Ursachen der Finanzkrise zu bekämpfen.2 Trotz Obamas Change-Rhetorik haben die Finanzmärkte weiter völlig freie Hand bei ihren spekulativen Geschäften. Das westliche Krisenmanagement hat sich darauf beschränkt, große Privatvermögen durch staatliche Hilfspakete vor Verlusten zu schützen. Auf diese Weise wurden zwar die großen Banken und stockholders gerettet, die strukturellen Probleme hingegen weiter vertieft. Denn anders als es uns die Wirtschaftsseiten der großen Zeitungen glauben lassen, stellt es keinen Grund zur Erleichterung dar, wenn die Deutsche Bank wieder Rekordgewinne einfährt und die Finanzbranche insgesamt beste Ergebnisse erzielt. Die Erholung der Finanzmärkte verweist im Gegenteil vielmehr darauf, dass das Spiel auf immer dünnerem Eis weitergeht: Der Finanzsektor ist aufgebläht, eine reinigende Korrektur wurde verhindert. Die von den Zentralbanken festgesetzten Niedrigzinsen, die eigentlich die Konjunktur ankurbeln sollen, haben eine neue Spekulationsspirale in Gang gesetzt. Die Reichtumskonzentration nimmt immer groteskere Formen an, die Umverteilung nach oben beschleunigt sich. James Galbraith formuliert gegenüber der FAZ (13.12.2010): »Das Kernproblem ist, dass die Struktur des amerikanischen Bankensystems in der gegenwärtigen Struktur zementiert wurde. Sie zeichnet sich durch eine extreme Konzentration auf Institute aus, die sich vor der Krise sehr übel verhalten haben. Sie haben durch ihr Tun maßgeblich zu den Strukturproblemen unserer Volkswirtschaft beigetragen. Jeder weiß, dass der Finanzsektor viel zu groß ist (...) Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass es den amerikanischen und europäischen Volkswirtschaften vor 25 oder gar 30 Jahren besser ging,

2 Verschiedene Autoren (vgl. Bischoff u.a. 2011, Altvater 2010) haben darauf hingewiesen, dass die Finanzkrise mit tieferliegenden Krisen verschränkt ist, die sich durch politisches Krisenmanagement kaum lösen lassen. Die Aufblähung der Finanzmärkte hat in diesem Sinne mit einer strukturellen Überkapitalisierung zu tun und dem Mangel an produktiven Investitionsmöglichkeiten. Trotzdem hätten die G8-Regierungen immerhin die Möglichkeit gehabt, die Finanzblasen zu bekämpfen. Sie hätten die Vernichtung überflüssigen Kapitals, d.h. großer Spekulationsvermögen zulassen und die internationalen Finanzmärkte regulieren können. Anders als behauptet wurde, hätte der kontrollierte Konkurs vieler Großbanken nicht zwangsläufig zum Zusammenbruch der Geldversorgung geführt. In Deutschland etwa wurden die produktiven Investitionen kleiner und mittlerer Unternehmen in der Krise sowieso in erster Linie von Sparkassen und öffentlichen Banken (und nicht von den geretteten Privatbanken) getragen.

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als die Finanzbereiche im Verhältnis zum Sozialprodukt deutlich kleiner als heute waren.« Die Aufblähung des Finanzsektors ist für das kapitalistische System zum Problem geworden. Zwar stellt die Geldform einen notwendigen Bestandteil des Kapitalzyklus dar, weil sich Mehrwert als Geld realisiert und re-investiert werden muss; aus diesem Grund ist es idiotisch, das Geldwesen abschaffen, ohne über Lohnarbeit und Kapitalverwertung sprechen zu wollen. Doch andererseits steht außer Frage, dass die Verselbständigung der Finanzmärkte unkontrollierbare, selbstzerstörerische Dynamiken auslöst. Denn auch wenn Investoren und Banker viel vom »arbeitenden Geld« fabulieren, bleibt die chrematistische, sprich die Geldwert-Seite der Ökonomie immer von der Wertschöpfung durch Arbeit abhängig. In diesem Sinne bedeutet das rasante Wachstum der Finanzvermögen in den vergangenen 30 Jahren nichts anderes, als dass monetäre Werte geschaffen wurden, die von realen Arbeitsprozessen nicht mehr gedeckt sind. Am Hypotheken-Crash lässt sich das nachzeichnen (einen guten Überblick bietet Altvater 2010). Die Banken schöpften Geld, indem sie – ohne größere Sicherheiten zu verlangen – private Konsum- und Hypothekenkredite vergaben. Den abhängig Beschäftigten erlaubte das, ihr Lebensniveau trotz Lohnsenkungen zu halten. Die Banken verbrieften die Kreditforderungen, bündelten sie zu Paketen und verkauften sie auf internationalen Märkten. Auf diese Weise wurden die Finanzvolumen nicht nur immer weiter ausgedehnt, weil auf Grundlage der Papiere neue Derivate kreiert wurden, sondern auch die Risiken konnten ausgelagert und internationalisiert werden. Für die Inhaber der teilweise hochkomplexen Finanzmarktpapiere war zwar die Bindung an die reale Arbeitswelt nicht mehr zu erkennen, doch sie blieb dennoch bestehen: Als immer mehr verschuldete Hausbesitzer ihre Kredite – aufgrund von Arbeitslosigkeit oder weil ihre Löhne zu niedrig waren – nicht mehr bedienen konnten, blieben die Rückflüsse aus. Zunächst konnten die Banken ihre Ansprüche noch durch Zwangsräumungen und -verkäufe realisieren. Doch als immer mehr Häuser auf den Markt gelangten und die Immobilienpreise einbrachen, wurden die Kredite »faul«. Die von privaten Ratingagenturen mit AAA bewerteten Papiere waren innerhalb kürzester Zeit entwertet. Es hilft eben nichts: Geld arbeitet nicht. Dass sich die Banken seitdem wieder erholt haben, ist aber nicht nur deshalb problematisch, weil der Finanzsektor aufgebläht ist. Negativ ist ihr Erfolg auch, weil sich die aktuellen Bankengewinne u.a. aus der Überschuldung öffentlicher Haushalte speisen. Dass Kredite – mit denen Banken ihr Geld verdienen – auch eine Schuldnerseite implizieren, große Kreditge9

schäfte und Bankgewinne also mit einer hohen Verschuldung einhergehen müssen, ist banal, wird aber meistens ausgeblendet. Im Euro-Raum ist diese Verbindung im letzten Jahr deutlich geworden (vgl. Krätke 2011). Dass Griechenland, Irland und Spanien am Rande der Zahlungsunfähigkeit stehen, hat verschiedene Gründe. Irland, das lange Zeit als Investitionsparadies galt, weil die Deregulierung von Finanzmärkten und Arbeitsbeziehungen hier besonders weit fortgeschritten war, muss heute für Bankenverluste geradestehen und ist durch den überproportional großen Finanzsektor von der Krise noch stärker betroffen als andere EU-Staaten. In Südeuropa leiden die Ökonomien zudem darunter, dass sie, nicht zuletzt wegen der Produktivitäts- und Niedriglohnpolitik in Deutschland, an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt haben und eigentlich ihre Währung abwerten müssten, was innerhalb des Euro-Raums aber nicht möglich ist. Die Überschuldung dieser Staaten, die eben keine verschwenderischen »PIIGS« sind, wie die bürgerlichen Wirtschaftsmedien unterstellen, sondern ihre periphere Stellung in der europäischen Ökonomie durch eine besonders weitreichende Deregulierung der Finanz-, Spekulations- und Immobilienmärkte zu überwinden versuchten, hat zur Herabsetzung ihrer Kreditwürdigkeit geführt. Dies treibt die Risikoaufschläge für öffentliche Anleihen in die Höhe und setzt die betroffenen Staaten noch stärker unter Druck. Da ihre Insolvenz die europäische Gemeinschaftswährung als ganze erschüttern würde, müssen die anderen Euro-Mitgliedsländer stützend zur Seite springen: Diverse Rettungsschirme sind gespannt worden. Für Banken und Vermögensbesitzer ist diese Konstellation hochlukrativ: Die Banken können zu niedrigen Zinsen Geld von den europäischen Notenbanken aufnehmen und es direkt oder über Zwischenstationen zu höheren Zinsen an eben jene Staaten verleihen, die aufgrund der Schuldenkrise zur Aufnahme teurer Anleihen gezwungen sind. Beste Zinsen bei hoher Sicherheit also. Das Problem an diesem Geschäftsmodell besteht nun nicht nur darin, dass es die Allgemeinheit finanziert (weil die Staaten die Zinsen nur aufbringen können, indem sie Steuern erhöhen3 oder öffentliche Ausgaben kürzen); es sich also um eine Umverteilung zugunsten der Vermögensbesitzer handelt. Die ganze Operation birgt auch immer größere Risiken. Aufgrund der steigenden öffentlichen Verschuldung und der weiter expan3

Dabei sind Steuererhöhungen keineswegs ausgeschlossen. Während die progressiven Steuersätze der Großverdiener in den meisten OECD-Staaten in den letzten 25 Jahren herabgesetzt wurden, ist die Umsatzsteuer, die Niedrigverdiener überproportional belastet, deutlich gestiegen.

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dierenden Privatvermögen werden die Nationalstaaten bei der nächsten Krise kaum noch in der Lage sein, rettend zu intervenieren. Banken und Unternehmen werden dann an niemanden appellieren können, ihr System zu stabilisieren. Der Kollaps der Finanz- und Geldsysteme steht weiter als Gefahr im Raum. Die gesellschaftlichen Folgen eines solchen Zusammenbruchs sind kaum zu kalkulieren. Denn unsere Gesellschaft ist in einem Maße mit dem Geld verschränkt, dass man sich fragen muss, was ohne es überhaupt von ihr übrig bliebe. Die Verschränkung von Gesellschaftlichkeit und Geld gehört zu den grundlegenden Paradoxa der bürgerlichen Welt. Die Geldform der Waren, heißt es bei Marx, verbirgt den gesellschaftlichen Charakter der Privatarbeiten und die gesellschaftlichen Bedingungen der einzelnen Arbeiter (MEW 23: 90). Anders ausgedrückt: Auf der einen Seite setzen Arbeitsteilung und Spezialisierung – konstituierende Merkmale moderner Gesellschaften – den gesellschaftlichen Charakter der Arbeit voraus, da wir (mit Ausnahme kleiner Subsistenzgemeinschaften) von der Vergesellschaftung unserer Arbeitsprodukte abhängig sind. Kaum jemand lebt von den unmittelbaren Produkten seiner Arbeit – nicht einmal der Bäcker, der immerhin einen Teil seiner Brötchen essen kann. Arbeitsteilige Gesellschaften implizieren Kooperation. Die notwendige Vergesellschaftung der Arbeit jedoch findet in der bürgerlichen Gesellschaft auf dem Markt statt, auf dem sich die Einzelnen als Konkurrenten begegnen. Eine bizarre Anordnung: Ausgerechnet Markt und Geld, die die Fragmentierung der Gesellschaft beständig reproduzieren und Anreize liefern, sich auf Kosten anderer Vorteile zu verschaffen, sollen die gesellschaftliche Kooperation sicherstellen. In diesem Zusammenhang hat uns die Finanzkrise nah an einen Bruchpunkt geführt. Zwar stimmt es, dass der Fall-Out der Geldsysteme nicht zwangsläufig das Ende des Geldes bedeuten müsste, weil Gesellschaften relativ kreativ darin sind, Geld zu »erschaffen«. Die staatsozialistischen Länder, wo das offizielle Geld nur beschränkte Funktionen ausübte,4 belegen das deutlich. Da das sozialistische Geld zum Warenhandel nicht wirklich geeignet war, brachte die Gesellschaft Substitute hervor, vor allem in Form

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Das Geld war in den staatssozialistischen Ländern zwar Zahlungs- und Wertaufbewahrungs-, aber eben kein Akkumulationsmittel. Zudem war es im Alltag oft wertlos: Wichtige Güter ließen sich aufgrund der Mangelsituation nicht mit Geld erwerben, sondern mussten informell »organisiert« werden.

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ausländischer Devisen.5 Dennoch würde ein Kollaps der Finanzsysteme die gesellschaftliche Ordnung insgesamt zur Disposition stellen. Vor diesem Hintergrund ist erstaunlich, wie wenig in den vergangenen Jahren darüber gesprochen wurde, was an die Stelle des finanzgetriebenen Kapitalismus treten könnte. Francis Fukuyamas antimarxistische HegelVolte, mit der er den bürgerlichen Liberalismus zur höchsten Stufe historischer Entwicklung erhob (und deren Geschichtsdeterminismus eine Spiegelung des staatsmarxistischen Fortschrittsverständnisses war), ist selbst längst Geschichte. Wir wissen, dass der Kapitalismus wie jede andere gesellschaftliche Formation endlich ist. Trotzdem diskutieren wir nicht darüber, was danach kommen und vor allem wie es dazu kommen könnte. Von Slavoj Žižek (1999) stammt das Bonmot, es falle uns leichter, uns das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen – »als würde der Kapitalismus selbst dann intakt bleiben, wenn das gesamte Leben auf dem Planeten verschwindet« (ebd.). Die Hollywood-Narrationen zeugen davon: Armageddon, Independence Day, 2012, Krieg der Welten, Terminator, Matrix – wir verfügen über ein gewaltiges apokalyptisches Bilderarsenal. Das realistischere Szenarium hingegen ist ein blinder Fleck: Der globale Kapitalismus kann kollabieren. Wie könnten Grundlagen einer anderen, vernünftigeren Ordnung aussehen? Der von Marx kommenden Linken widerstrebt es, sich Gegenentwürfe auszumalen. In der »Vermessung der Utopie« (Zelik/Altvater 2009) haben wir über dieses Problem diskutiert. Dem Utopismus wohnt eine Tendenz zur träumerischen Harmlosigkeit oder aber zum großen technokratischen Entwurf inne, der Gesellschaften autoritär übergestülpt werden will. Eine emanzipierte Gesellschaft hingegen kann nur aus selbstbestimmter Gestaltung vieler entstehen. Sobald Befreiung am Zeichentisch entworfen wird, verliert sie ihren emanzipatorischen Charakter und wird zum neuen autoritären Projekt. Trotzdem muss man über Perspektiven nachdenken. Für Marx, dem es lächerlich erschien, »Rezepte für die Garküche der Zukunft zu verschreiben«, ergab sich der positive Gegenentwurf zum Kapitalismus im Wesentlichen aus drei Elementen: der Kritik der Verhältnisse, der Selbstorganisation der Arbeiterklasse und den sozialisierenden Praktiken in der kapitalistischen Produktion selbst. Es scheint, dass das nicht reicht. 5 Hier wird der Denkfehler mancher Wertkritiker deutlich: Eine Warengesellschaft lässt sich nicht einfach durch die Abschaffung des Geldes überwinden. Sie kann nur durch die Überwindung von Warenbeziehungen überwunden werden. Das jedoch impliziert eine gesellschaftliche Transformation, in der sich die Gesellschaft (Re-)Produktion, Arbeit und Verteilung gemeinschaftlich aneignet.

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Die linke Kritik der Verhältnisse ist stumpf geworden: Häufig gleicht sie einem Leierkastengedudel, das seit 150 Jahren – manchmal überzeugender, sich manchmal auch nur reflexartig an Gewissheiten klammernd – immer wieder auf dieselben Zusammenhänge verweist. Die politischen Organisationen der Arbeiterschaft sind kooptiert, wobei die Entwicklung der brasilianischen Regierungspartei PT (Partido dos Trabalhadores) belegt, dass auch im 21. Jahrhundert eine alles beherrschende Tendenz zur Assimilation an die Macht besteht. Und die Vermassung und Sozialisierung in der Produktion schließlich ist von neuen Individualisierungen durchkreuzt, verschoben und aufgehoben worden. Auf irgendeine Weise muss ein Gegenprojekt also doch skizziert und entwickelt werden. Befreiung bedarf eines politischen Programms, um das herum sich alternative Vorstellungen, Wünsche, Handlungen kristallisieren können. Doch wie lässt sich über gesellschaftliche Entwürfe sprechen, ohne eine Führungsperspektive einzunehmen? Wie kann man Dinge benennen, ohne Festschreibungen vorzunehmen? Wie kann man über etwas radikal Anderes nachdenken, ohne idealistisch und rein hypothetisch zu werden? Eine Möglichkeit könnte sein, von der Differenz auszugehen. 150 Jahre soziale Kämpfe, Reformismus und Revolution haben eine Vielzahl von Erfahrungen hervorgebracht. Im Sinne der Linguistik Ferdinand de Saussures könnten wir behaupten: Der Sozialismus ist, was er nicht ist. So wie sich in der Sprache Signifikanten über Differenz bestimmen – Worte unterscheiden sich von anderen Worten und sind letztlich darüber besetzt, was sie nicht bedeuten –, so könnte ein emanzipatorisches, rätedemokratisches, communistisches6 Projekt dadurch umrissen werden, was es nicht sein soll. Die Linke müsste sich dann jedoch ausführlich mit ihrem vielfältigen Scheitern beschäftigen. Und genau das vermeidet sie. In der Kritik der Kapitalverhältnisse ist sie fleißig (leider oft eher fleißig als originell), doch die Erklärungen, warum die vielen staatlichen und nicht-staatlichen Befreiungsversuche des 20. Jahrhunderts scheiterten und inwiefern auch der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« die Antworten, die er im Namen trägt, bislang schuldig geblieben ist, sind meist nur oberflächlich. Zu groß ist die Furcht, dass mit einer Kritik des Sozialismus das emanzipatorische Pro-

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Wenn das Wort Kommunismus, wie Harvey (2010) vorschlägt, wieder als emanzipatorischer Begriff tauglich werden soll, muss es sich von seiner staatssozialistischen und parteikommunistischen Aufladung lösen. Der Rückgriff auf das »C« der Pariser Commune soll das an dieser Stelle andeuten.

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jekt als solches verloren gehen könnte, wie es in der Vergangenheit schon häufiger der Fall war.7 Dieser Essay soll zu dieser kritischen Absetzbewegung beitragen. Er soll sich in Anbetracht anstehender Brüche – der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, stößt an Grenzen – ein Feld abstecken, das es weiter zu erkunden lohnt. Jene Wege, die schon mehrfach in die Sackgassen von Autoritarismus oder Selbstmarginalisierung geführt haben, muss man nicht immer wieder neu beschreiten. Der Sozialismus ist das, was er nicht ist: die Differenz zu anderen Begriffen. Er kann sein, was er noch nicht war, und kann – hier ist der programmatische Unterschied zu Frühsozialismus und Utopismus begründet – doch nur werden, was im Existierenden bereits angelegt ist. Eine andere Gesellschaft entsteht aus der Flucht vor/der Differenz zu anderen Gesellschaftsformationen – und ist genau deshalb konkret: Sie geht nicht aus utopischen Blaupausen hervor, sondern aus den sozialen Praxen von vielen, die das Neue im Bestehenden vorwegnehmen.

7 Zum Beispiel bei den »neuen Philosophen« in Frankreich, die 1968 als Maoisten antraten und sich ihre Medienpräsenz heute mit (sozial-)rassistischen Statements erkaufen.

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Das Vorhaben des Communismus...

... das uns so utopisch erscheint, wird permanent von gesellschaftlichen Bewegungen materialisiert: globale Kämpfe gegen die Privatisierung von Wasser oder Gen-Patenten, genossenschaftliche Arbeitsformen, das Engagement in Basisgewerkschaften und politischen Gruppen, die Kritik der Verhältnisse, Alltagssolidarität, das Schaffen experimenteller Kooperation usw. Weil Herrschafts- und Warenverhältnisse nicht einfach »abgeschafft« werden können, sondern durch Aneignung prozesshaft überwunden werden müssen, können Alternativen zum Kapitalismus nur aus solchen singulären Praxen entstehen. Politische und soziale Aneignung, solidarische Verteilung, gemeinschaftliche Produktion sind Ausdruck jener »wirklichen Bewegung, die den jetzigen Zustand aufhebt«, d.h. aufheben könnte. Die Existenz solcher Praxen stellt nun nichts Neues dar. Widerstände gegen herrschende Verhältnisse gibt es, seit es entsprechende Verhältnisse gibt – ganz einfach deshalb, weil Herrschaft und Widerstand miteinander verschränkt sind. Und auch konkrete Gegenprojekte (in Form von kommunitären Gemeinschaften, Genossenschaften, sozialen und politischen Organisationen usw.) hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Es kann also nicht darum gehen, etwas neu zu erfinden. Neu können höchstens die Strategien sein, die Praxen der Widerständigkeit zu erkennen, zu erzählen, in Beziehung zu setzen und zu stärken. Hier gilt es, den schmalen Grat zu finden, der zwischen den selbstgenügsamen Grass-Root-Logiken der Basisbewegungen und den Machtperspektiven repräsentativer, institutionalisierter, staatszentrierter Politik hindurchführt. Dabei bewegen wir uns in einem Dilemma: Wir wissen, dass wir den Macht-, Feindschafts- und Kriegslogiken entfliehen müssen, für die Carl Schmitt den Soundtrack geschrieben hat, bewegen uns aber gleichzeitig auf einem Feld, das von eben solchen Logiken strukturiert ist. Bewegungen, die die Gesellschaft verändern, werden von Seiten des Status Quo nur so lange toleriert, wie sie marginal sind. Sobald es ihnen gelingt, eine Ordnung zu transformieren, wird ihnen der Krieg erklärt. Das war im 20. Jahrhundert immer wieder so und hat sich – in modifizierter Form – auch bei den lateinamerikanischen Linksregierungen der letzten Jahre wiederholt. 133

Die Frage ist jedoch, ob man solche Kriegserklärungen annehmen muss oder ob es nicht Möglichkeiten gibt, sich der hegenden Logik der Feindschaft zu entziehen. Machtauseinandersetzungen lassen sich bisweilen auch dadurch gewinnen, dass man vor bestimmten Formen der Konfrontation flieht. Auch hier wieder der doppelte Perspektivwechsel: von Macht- und Staatskritik ausgehen, ohne das Terrain politischer Macht preiszugeben; »theoretisch schielen lernen«, Verschränkungen suchen, Verknüpfungen herstellen. Vor allem aber sich weder vom Zynismus hauptberuflich-gelangweilter Kritikexperten noch von allgemeiner Verzweiflung anstecken lassen. »Denke nicht, dass man traurig sein muss, um militant zu sein, auch wenn das, wogegen man kämpft, abscheulich ist«, schreibt Foucault. Es stimmt, dass die neoliberale Ideologie zwar »bei großen Teilen der Bevölkerung diskreditiert ist, die Subjekte diese Ideologie (aber) tief in ihre Handlungsmuster und ihren Habitus eingeschrieben« haben (Candeias 2011: 59). Der Common Sense ist heute so vereinzelt-konkurrent und die soziale Fragmentation so weit fortgeschritten, dass sich nur noch abstrakt von Gesellschaft reden lässt. Und es stimmt auch, dass autoritäre, ethnisierende Lösungen in den westlichen Industriestaaten Aufwind haben. Eine Entdemokratisierung der Gesellschaft scheint heute sehr viel wahrscheinlicher als die Entfaltung eines alternativen Projekts von unten. Und doch haben wir Wesentliches auf unserer Seite: Das Gemeinschaftliche ist vernünftig, weil unser Leben der Kooperation bedarf, weil gesellschaftliche Lösungen für die anstehenden großen Krisen die beste Option darstellen, weil das Gemeinschaftliche – gegen die Verhältnisse – täglich produziert wird und weil wir uns letztlich nach kooperativer Gemeinschaftlichkeit sehnen. Verstanden als umfassende, radikale Demokratisierung, als Aneignung der Gesellschaft durch sich selbst hat das Gemeinschaftliche, hat das Vorhaben des Communismus eine Zukunft: Es ist die klügste, auch begehrenswerteste Option für jene Stürme, die uns bevorstehen.

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