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Predigten 2012

PREDIGTEN IN FREIER REDE

Panorama Foto: Ulrich Wirth 2012

© PFARRER HEINZ DIETER MÜLLER

TONSCRIPT: INGE GRONAU

Predigtorte: Klinikum Augsburg (Kapelle) Bezirkskrankenhaus Augsburg (Kapelle) St. Thomas (Kirche)

[email protected] www.pfarrer-mueller.de

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: Di. 13.12.2011 Musikalische Abendandacht Musik: Sabine Dobbertin in: Kapelle - Klinikum Augsburg Tondatei: DS400765 Bild: B. Heinen

O Heiland reiß die Himmel auf..

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Liebe Schwestern und Brüder, ich habe Ihnen heute Abend ein Bild mitgebracht, das uns noch einmal vor Augen führen möchte, was wir gerade gesungen haben: O Heiland, reiß den Himmel auf! Ute Heinen hat dieses Bild vor Jahren einmal gemalt und wir sehen darauf eine Szene, die uns vielleicht auch bekannt vorkommt. Wenn wir in dieser Zeit des Advents selber einmal hinausgehen und dann die Christkindlesmärkte besuchen, dann fühlt man sich sehr schnell dieser einen Hälfte des Bildes nahe. Man erlebt sich dann in einem Strom von Menschen eingekeilt und durchgetrieben durch die engen Gässlein zwischen den Buden, die uns dann auf ihre Weise auf diese Weihnachtszeit einstimmen wollen. Und wenn wir dann einmal nach links und rechts sehen, dann kommt es uns manchmal auch so vor, wie auf diesem Bild. Man sieht Gesichter und man sieht ins Leere. Der Eine kommt mir vor wie der Andere, man geht aneinander vorbei, man fühlt sich wie in einem Strom, getrieben vorwärts.

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Nicht umsonst ist die überwiegende Farbe in diesem Bilde blau, blau wie das Wasser, blau wie das Wasser der Zeit, das vorbeigeht und weiter fließt und wir wissen nicht, wohin es fließt, wir wissen nur eines, es fließt immer schneller mit den Jahren, treibt unser Leben dahin. Wir hoffen, dass dieses Leben ein Leben ist, das aufwärts geht, wie auch in diesem Bild die Bewegung nach oben hin zeilt. Aber erkennen kann man nichts. Nicht die Richtung, nicht die Qualität, es ist ein Getriebensein. Und inmitten dieser Situation kann auch das Andere geschehen, wir hoffen es und wir sehnen uns danach. Eben dann, wenn wir durch eine dunkle Nacht gehen, dass wir mit einem Mal etwas hören, das von ganz woanders her kommt. Es liegt was in der Luft. Und so hoffen wir, dass auch dieser Strom der Zeit, in dem wir uns befinden, nicht ins Ungewisse geht, nicht ins Namenlose fließt, sondern einen Ursprung hat und ein Ziel hat, auf das es zufließt. Und dann kann es passieren, in dieser Vielfalt der Angebote, auf so einem Advents- und Christkindlesmarkt, dass etwas herausragt, heraus sticht für mich und mich erinnert: Da ist doch mehr. Da ist doch etwas, weshalb wir uns hier versammeln, weshalb

wir hier unterwegs sind. Nicht nur der Glühwein und nicht nur die Socken, die angeboten werden und nicht nur die Bratpfannen, nein – da gibt es doch noch etwas ganz Anderes.

Gibt es wirklich mehr? Gibt es wirklich eine Tiefe in all dem, wo ich manchmal keinen Sinn drin sehe? Wo nur die Nacht mich umfängt, meinen Blick verstellt und mir Angst macht?

Und dann kommt dieser Riss, hinein in diese Wirklichkeit, in der wir sind, unerwartet und überraschend und mit einem Mal öffnet sich der Himmel ein klein wenig und wir sehen tiefer und weiter und entdecken vielleicht dieses Eine, das Gesicht der Mutter Maria, das Lächeln des Kindes, oder die Fürsorge des Josefs, die uns anblicken aus dieser Fülle der Namenslosen.

Wir könnten lernen, von einem besonderen Fest, das unsere jüdischen Geschwister kurz vor unserer Weihnachtszeit feiern, ein Lichterfest wie unser Weihnachtsfest und das Chanukka Fest heißt.

Mit ihrem Kind im Arm, behütet und bewahrt, schützend die Arme von Josef um diese kleine Familienszene gelegt. Es ist wie ein kleines Weizenkorn, das da liegt in dieser dunklen Erde, vielleicht ganz schutzlos und dennoch voll Vertrauen, dass Gott auch da ist. Dass dies alles gewollt ist, alles vom Schöpfer gegeben. Und dieser Riss möchte uns erinnern daran: Du bist nicht allein unterwegs in diesem Getriebensein deines Lebens, du bist nicht allein unterwegs in dieser Namenslosigkeit, sondern du hast ein Gesicht, du bist eine Person, er sieht dich an. Das ist deine Überraschung, das ist wie ein Riss durch all das, was ich denke und wie ich mein Leben manchmal sehe.

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Dort gibt es vor Chanukka noch das Fest der Laubhütte. Die Laubhütte, die den Menschen begleitet und erinnert an diesen Zug durch die Wüste, durch das Dunkle und Schwere und immer wieder sollte man diese Hütte bauen, aber sie sollte etwas ganz Besonderes haben, nämlich ein Dach, das nicht fest ist, sondern das offen ist für den Glanz der Sterne, für den Blick zum Himmel hin. Das ist diese sukka, diese Laubhütte, die den Menschen begleitet und erinnert: sei unterwegs in deinem Leben und sei nicht so sehr besorgt um deine Geborgenheit, sie ist manchmal so brüchig wie diese Hütte, in der du jetzt haust. Der Wind pfeift hinein, du siehst den Himmel oben offen, der Regen kann dich treffen und dennoch, dieses Haus ist das Haus, in dem auch Gott ist. In dieser Hütte begleitet er dich auf deinem Weg durch dein Leben. Und ich denke, jetzt beginnen wir auch zu verstehen, wenn uns in der

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Bibel, in den Evangelien von dieser einen besonderen Behausung erzählt wird. Alles war zu und dicht, keine Herberge hatte Platz für Gott, um auf die Welt zu kommen und dann in diesem einen Stall. Und so stelle ich mir diesen Stall auch vor, wie diese Laubhütte, zugig und offen und die Schindeln nicht alle auf dem Dach. Man kann hinaus sehen und ist bereit und offen für den Himmel, der uns begleitet auf unserem Weg und der da ist. Sind wir offen für diesen Riss, s i n d w i r o ff e n f ü r d i e s e Überraschung, dass Gott immer wieder auch uns erlösen möchte aus unserem Getriebensein, aus unserer Uniformität, wo wir uns spüren wie Millionen und dennoch sagt Gott: Keiner unter euch ist gleich einem anderen, wie euer Daumen und der Abdruck eures Fingers nicht gleich ist einem anderen auf dieser Welt. So einzigartig seid ihr, die ich aus meiner Liebe habe kommen lassen. Und wir feiern dieses Fest der Liebe, wir feiern dieses Fest der Verbundenheit, das immerwieder-von-Gott-aufgesuchtwerden, dort, wo wir schon fest sind und zu sind, nicht mehr offen, nicht mehr bereit für das Wunder, da geschieht der Riss – o Heiland, reiß die Himmel auf und komm, komm auch in unser Leben. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: So. 22.12.2011 in: Kapelle - Klinikum Augsburg Tondatei: DS400766 Bild: Wikipedia

Adventskranz

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Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herr Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr, segne du an uns Reden und Hören. Liebe Schwestern und Brüder, ich möchte heute Abend noch einmal an diesen Adventskranz erinnern, ihn noch einmal mir anschauen mit Ihnen, der uns jetzt durch diese lange Zeit des Wartens begleitet hat. Zwei Tage noch, dann werden wir unsere Blicke dem Weihnachtsbaum zuwenden und dieser Adventskranz wird dann ganz schnell aus unserem Blickfeld verschwinden. So treu und lange hat er uns begleitet. Aber, haben wir etwas verstanden und begriffen von dem, was dieser Adventskranz uns sagen möchte, seine stumme Botschaft sozusagen, an was will er uns erinnern? Was möchte er uns denn sagen, dieses Zeichen des grünen Kranzes mit den Kerzen darauf. Es ist interessant, zunächst einmal zu erfahren, dass dieser Adventskranz eine Erfindung sein soll und noch gar nicht eine so lange Erfindung, denn erst 1839 hat Johann Heinrich Wichern, ein evangelischer Pfarrer diesen Adventskranz erfunden.

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Aus einer Not heraus, wie es heißt, denn er hatte junge Menschen von der Straße gesammelt, die keinen Vater und keine Mutter hatten und für sie hat er das „Rauhe Haus“ bei Hamburg gegründet wo diese jungen Menschen Heimat gefunden haben. Und jedes Jahr zur Zeit vor Weihnachten da haben die Kinder in ihrer großen Erwartung und in ihrer Neugierde immer wieder Johann Hinrich Wichern gefragt: „Ja, wann kommt denn nun das Christkind?“ Und nachdem er nicht jeden Tag ihnen von neuem dies sagen wollte, kam ihm diese Idee. Er hat ein großes Wagenrad genommen, auf den Rand des Wagenrad 24 Kerzen aufgereiht, immer rote für die Wochentage und dann 4 große weiße Kerzen für die Sonntage in diesem Lauf der 24 Tage bis Weihnachten. Dies Wagenrad war dementsprechend groß, um 24 Kerzen Platz zu geben, ganze zwei Meter im Durchmesser. Auch hat Wichern immer wieder von der Kanzel von diesem schönen Brauch gepredigt und erzählt und wie gut er bei den Kindern angekommen sei. So haben andere davon gehört und haben es ihm nachgemacht. Mit kleinen Abweichungen, das große Wagenrad ist geschrumpft und kleiner

geworden, damit es auch auf den Tischen bei den Leuten Platz finden konnte, die diesen Brauch auch bei sich einführten. Später kamen die grünen Zweige hinzu und es entstand im Laufe der Zeit das, was wir heute den Adventskranz nennen und ihn auch kennen, von uns zu Hause. Das ist diese eine Geschichte, die Geschichte aus dieser Welt sozusagen, zum Adventskranz. Und ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir wäre das zu wenig. Ich verbinde viel mehr mit diesem Adventskranz und möchte auch, dass dieser Brauch, vielleicht sogar auch von der Bibel her, zu begründen wäre. Und tatsächlich, so meine ich, gibt es eine Verbindung, wenn wir nur tief genug sehen und die Bedeutung dieses Adventskranzes begreifen. Ich denke zunächst an das Symbol des Kreises, der Kreis, der uns erinnert, da geht etwas immer wieder weiter. Der Kreis schließt sich, könnten wir denken, ein Symbol auch für Wiederkehr aber auch von Routine und Langeweile, weil sich was Wiederholen kann, sich breit und endlos macht. Dieser Kreis ist auch Zeichen des Gesetzes, da schließt sich was, ist schlüssig, so ist das in dieser Welt und aus dem wird niemand entlassen. Jeder hat sich diesem Kreis zu unterwerfen, diesem Gesetz, das dem zugrunde liegt. Und

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wir spüren damit schon etwas von einer Bedrücktheit und von einer Last, denn eigentlich hoffen und sehnen wir uns ja nach etwas ganz Anderem. Wir sehnen uns danach, dass dieser Kreis endlich durchbrochen wird, der Kreis der Mühsal, der Kreis des ewig immer gleichen, wo ein Jahr vielleicht dem nächsten gleicht und wir sagen: „Soll denn das immer so weiter gehen?“ Wenn wir uns in einer Situation befinden, wo wir nicht heraus können, weil alle Türen verschlossen sind, wir keine Lösung und Erlösung spüren in der Zeit der Krankheit, in der wir uns befinden, dann kommt etwas ganz Anderes, nämlich diese Sehnsucht, dass dieser Kreislauf durchbrochen wird, von ganz woanders her. Und diese erlösende Hoffnung ist auch verbunden mit diesem Adventskranz, denn in der Mitte dieses Kranzes, da fehlt ja noch etwas, ist eine Öffnung, die Chance des Durchbruches. Dort soll ja diese 5. Kerze kommen, der Erwartete, Erhoffte, der Ersehnte, der sich zeigen mag und...der dann auch erscheint. Das ist die Kunde, die gute und frohe Botschaft, wo Menschen das immer wieder erfahren haben – dieser Kreis wird durchbrochen, das Neue kommt, ganz unerwartet. Und, dann erzählen diese Geschichten der Bibel dieses Unerwartete, ganz Unmögliche, dass eine Jungfrau ein Kind bekommt, das lang erwartet ist, das von einem Vater, von ganz woanders her, in diese Welt gebracht wird.

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Dann merken wir, wie sich mit diesem Adventskranz, diese Wundergeschichten, so zusammenfügen, die wir zu Weihnachten hören. Es ist die Erwartung des Durchbruches von ganz von woanders her. Und es will den Menschen sagen: Hab Geduld, geh diesen Weg und sei offen für die Überraschung, die sich dir auf deinem Weg zeigen kann. Und sei getrost mit dem wenigen Licht, dass sich in dieser Dunkelheit, dir auf diesem Weg zeigen wird, aber hoffe und sehne dich und vertraue darauf, dieses ganz Andere kommt – der Durchbruch von woanders her. Und ich möchte uns auch noch an diesen Kreis erinnern, der uns ebenso in der Bibel auch begegnet, nämlich an einer ganz interessanten Stelle, dort, wo der Begleiter des Volkes Gottes, Mose, auf dem Weg zu Gott hin, sein Volk für einen Moment allein lässt und dann auf den Berg Sinai steigt, um mit Gott zu reden. Das Volk bleibt unten zurück und es dauert nicht sehr lange und sie verlieren den Mut und den Glauben, dass dieser Mose wiederkommen wird und sie sagen bei sich: Wir brauchen etwas anderes, einen neuen F ü h r e r, e t w a s d a s u n s vorangehen soll. Und dann schmelzen sie das Wertvollste was sie haben ein, das Gold, das sie besitzen und es kommt heraus ein Kalb, ein goldenes

Kalb und der hebräische Name für Kalb kann auch so gelesen werden wie das hebräische Wort für Kreis. Das goldene Kalb, ein Kreis. Ein Kreis, der sich wie die Schlange in den eigenen Schwanz beißt, wo es kein Entkommen gibt, wo wir gefangen sind in den Strukturen des Gesetzmäßigen. Das ist das, wenn wir uns ein Hoffnungszeichen zimmern, nur von dieser Seite, unserer Sicht aus. Wenn wir sagen, an das wollen wir glauben, an diese Gesetzmäßigkeit, es hat sich zu schließen, die Rechnung muss stimmen, aufgehen, dem hat sich alles zu unterwerfen. Und dann kennen wir wie die Geschichte weiter geht, zum Glück kommt Mose wieder zurück und dieses Kalb, dieser Kreis der wird dann zerbrochen, zerrieben und zerstoßen und verschwindet. Auch da schon, es kommt einer, der Kreis wird durchbrochen, von woanders her. Nicht Gesetz sondern Liebe und Freiheit, das ist für den Menschen gedacht, von Gott her. Und die Überraschung, dass es immer mal wieder eine andere Wende nehmen wird, dein Lebensweg, wo du denkst, es geht nicht mehr weiter. Da kann die große Überraschung kommen, dass dieser Kreis sich auf tut und du merkst, Gott geht mit, geht mit dir mit, einen ganz neuen Weg.

ganz anderen Augen, wenn wir offen sind für diese Überraschung, dass diese Geschenke, die uns von Gott zugesagt und gedacht sind, dass wir die dann anders ansehen und anders auspacken, nicht in dem Konsumrausch, der ganz schön sein mag, aber wir sind doch eingeladen zu großen, staunenden Augen, wenn Gott sich uns zeigt, in der Tiefe unserer Nacht, dort, das Licht aufgeht und dieser Weg, der sich verschlossen gezeigt hat, mit einem Mal sich öffnet und der Durchbruch ist da, die Nähe aus der Höhe da ist. Gott zeigt sich dir! Mögen wir dieses Weihnachten auch entdecken und möge unsere Zeit der Erwartung, erfüllt werden. Amen.

So gehen wir durch diese Zeit des Adventes, vielleicht mit

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: DoA. 29.12.2011 in: Kapelle - Klinikum Augsburg Tondatei: DS400767 Bild: Wikipedia

Der Messias und die Freude

EG 37,9 - Ich steh‘ an deiner Krippen hier...

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Liebe Schwestern und Brüder, diese Woche zwischen Weihnachten und dem Wechsel in das neue Jahr, diese Woche, die hat es in sich. Wir kommen aus einer Zeit, die so angefüllt war, so aufgeladen an Erwartung und Vorbereitung durch diese 4 Wochen der Adventszeit hin auf den einen, besonderen Abend. Erwartungen haben sich mit diesem Abend verbunden, die wir kannten aus unserer Kindheit. Erwartungen, die wir aufs Neue hin hineingelegt haben in diese eine heilige Nacht. Begleitet von dem Trubel durch diese Tage, das Kaufen der Geschenke, das Denken an alle, die man ganz gerne noch mit einer Weihnachtskarte bedenken und beglücken wollte. Und dann endlich diese Zeit im Kreise der Familie. Sie, die Sie diese Zeit im Krankenhaus bleiben mussten, weil eine Krankheit sie ans Bett gefesselt hat. Sie haben das alles aus der Ferne erlebt, aber dennoch, vielleicht nah in ihrer Erinnerung, in der Hoffnung zumal, es bald nachzuholen, wieder im Kreise der Lieben zu sein.

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Und dann kommt diese Woche danach, in der wir uns jetzt gerade befinden. Die Plätzchen sind aufgegessen, die Weihnachtsgeschenke ausgepackt und wieder weggeräumt und wir gehen weiter und fragen uns in den Tagen danach: „Ja, wo ist denn das geblieben, diese Erwartung, diese Hoffnung, mit diesem Weihnachtsabend etwas Besonderes zu spüren, zu erleben, Innerlichkeit, Beschaulichkeit, wie wir sie ja dann immer umschreiben und uns wünschen. Und merken vielleicht, wir sind nur durchgetaucht durch diese heilige Zeit, tauchen wieder auf, in unserem Alltag, spüren erneut das Gehetztsein, das wieder nach uns greift und fragen uns: „Kann denn das alles gewesen sein?“ Wo ist denn das Weihnachten geblieben, heute, bei mir? Wo kann ich es bewahren und mitnehmen, dieses Wu n d e r s a m e u nd di eses Bedeutungsvolle, das uns da verheißen worden ist, von alters her und das gelten soll, auch heute. Ich bin etwas aufgewacht durch einen Witz in Form eines Cartoons, einer Zeichnung, die ich vor ein paar Tagen gesehen habe. Und ich muss vorweg noch etwas erzählen, denn sonst würden wir diesen Witz nicht ganz verstehen. Wir kennen ja diese gute Tradition, zu Weihnachten mit dem

Nikolaus, oder We i h n a c h t s m a n n , w i e w i r sagen, der dann die Kinder besucht und sie dann auffordert, ihm etwas zu erzählen, ein Gedicht aufzusagen, das sie auswendig gelernt haben, um ihm, dem Weihnachtsmann, eine Freude zu machen. Und manchmal war es so, je böser oder je schlimmer die Kinder waren, umso länger mussten dann die Gedichte sein, die sie auswendig gelernt haben, um dann den Weihnachtsmann zu beruhigen. Und nun komme ich zu unserem Witz oder zu unserem Cartoon, das ich dann neulich sah. Man sieht dort den Weihnachtsmann mit seinem Rucksack voller Geschenke, vor ihm ein kleine Junge, der ihn staunend ansieht, die stolzen Eltern etwas zur Seite stehend, von diesem Kind und dann liest man, in der Sprechblase des We i h n a c h t s m a n n e s , d i e s e bekannte Frage an das Kind: „Na, hast du ein Lied schon runtergeladen?“ Ich hab etwas überlegen müssen, bei diesem Witz und hab dann gemerkt, der trifft den Nerv der heutigen Situation der Jugendlichen. Wir sind sehr stark im Äußerlichen gelandet, die Lieder, das Auswendiglernen, das tragen wir nicht mehr in uns, in unserem Gedächtnis, in unserer Erinnerung, nein, wir speichern es ab auf unseren Festplatten, auf unseren iPods

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und wo auch immer. Dort ist es zuhauf gelagert. Manchmal wissen wir auch gar nicht mehr, was wir da alles auf unseren Festplatten haben, aber wir merken, es ist nicht in uns. Wie die Geschenke, die wir dann auspacken zu Weihnachten und dann irgendwohin stellen, wo sie Staub ansammeln, oder in der Vergessenheit verschwinden. Die Freude, die mit diesem Geschenk verbunden war, die Aufmerksamkeit, die ein anderer an uns weitergeben wollte, damit uns das Geschenk nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich erreicht, wie oft ist denn das eingetreten? Kennen wir es noch? Kommt denn dieses Weihnachten uns innerlich wirklich noch so nahe, dass wir es inwendig spüren, dass es sich dort ereignet, wo es sich eigentlich ereignen sollte, in unserem Herzen, in unserer Seele, in der „Krippe in mir“, die nicht da draußen, oder hier, in unserer Kapelle, da, vor dem Altar sein soll. Nein diese Krippe, das ist ja das ganz Persönliche in mir. Das ist unser Ort, dort, wo wir offen sind, offen für das Ereignis aus dem Himmel, aus der Höhe, dass es Mensch werden will, Mensch werden, auch bei uns. Dieses Weihnachten, dieses ganz persönliche Weihnachten, das kannten die Alten noch. Die auswendig gelernt haben, ja um diese Worte bei sich selber zu spüren, nachzuspüren, sie zu verkosten, in dem sie sie immer wieder wiederholt haben und dann bemerkt haben, mit diesem

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Wiederholen passiert etwas in mir. Dieses Wort, das ereignet sich und öffnet sich mir und ich spüre etwas, was mit diesem Wort verbunden ist und das wird wirklich und lebt. Und so möchte ich uns ein Wort näher bringen aus einem Lied, das mich sehr berührt und das diesen Namen trägt: „Ich steh an deiner Krippen hier“, das Paul Gerhardt gedichtet hat, gebetet hat und das wir auch immer wieder singen. Ich lese uns den letzten Vers des L i e d e s v o r, d a s J o h a n n Sebastian Bach so wunderbar vertont hat. Durch seine Noten hat er den Worten von der Erde die Melodie aus der Höhe des Himmels mit dazu gegeben, dass dieses Lied lebendig wird, hin und her schwingt, Himmel und Erde verbindet. Und dort heißt es im 9. Vers in der letzten Strophe, im letzten Gebetsteil, sozusagen: Eins aber hoff’ ich, wirst du m i r, m e i n H e i l a n d n i c h t versagen. Dass ich dich möge für und für, in, bei und an mir tragen. So lass mich doch dein Kripplein sein, komm, komm und lege bei mir ein, dich und all’ deine Freuden. Mich als Krippe zu sehen, und zu spüren. Mich hinzustellen und mich füllen zu lassen, erfüllen zu lassen, von dieser Bewegung, die Weihnachten beschreibt. Gott, das Wort, wird Fleisch und Mensch.

Taucht ein in diese Wirklichkeit, in dieses Menschsein hinein und verwandelt uns von dort her. Von innen heraus. In, bei und an mir zu tragen, diesen Christus, dieses Kind, das klein ist und das sich mir anbietet und mit mir wachsen möchte, mit unterwegs sein möchte und groß werden will. Und noch etwas ist verborgen in diesen Worten, die wir vielleicht nur dann verstehen, wenn wir sie vom Hebräischen aus begreifen, der Sprache des alten Testamentes, der Sprache der Bibel.

So will uns Gott begegnen, so will er uns begleiten! Und dann verstehen wir und spüren vielleicht auch etwas von dem, von diesem Wissen von früher, dass dieses Lied „O du fröhliche“ immer schon dazu gehört hat, in diese Weihnachtszeit, meist als letztes Lied gesungen, o du fröhliche, o du selige... Die Freude, das ist Gottes Anwesenheit im Menschen auch, so will er sich uns zeigen, so will er von uns gespürt und erspürt und erlebt werden, nicht nur damals, auch heute, auch jetzt. So lasst uns dieses Lied nun auch singen: O du fröhliche! Amen.

Dort ist das Wort für Messias, für den Gesalbten, den Christus, wie wir ihn später nennen, mit den gleichen hebräischen Buchstaben geschrieben wie das hebräische Wort für „Freude“. Und will sagen, wenn das Wort „Freude“ da ist, begegnet es uns in einer anderen Konstellation als der Messias. Beide sind eins, nur etwas anders gebaut, aber mit den gleichen Buchstaben, mit den gleichen Konsonanten. Und überall da, wo wir dann Freude erleben, da ist uns Gott nahe. In diesem Gefühl, in diesem Erleben, da ist er schon da. Und wir sehen immer noch hinauf in den Himmel und wähnen ihn in weiter Ferne, dabei ist er da, auch in unserem Gefühl, in unserer Stimmung, ganz nah, ganz bei dir, in dir.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 31.12.2011 in: Kapelle - Klinikum Augsburg Tondatei: DS400768

Auf der Schwelle Ps. 32,8

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Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr, segne du an uns Reden und Hören. Amen. Liebe Schwestern und Brüder, an diesem besonderen Abend, Jahresabend so wird er genannt. Wir stehen an der Schwelle, von einem Jahr zum anderen. Und so möchte ich Sie einladen, dieses Bild mit mir zu betrachten, das Sie in Händen haben und das unser Liedblatt auf der Vorderseite schmückt. Ein Bild von Andreas Paul Weber, das er 1944 gemalt hat und das diesen Namen trägt, der für uns heute so bezeichnend ist „Auf der Schwelle“. Und so möchte ich, im übertragenen Sinne, mit Ihnen Platz nehmen, bei diesem Kind, im Bild: auf der Schwelle. Wir nehmen Platz, mit all dem, was uns „im Rücken“ liegt und was sozusagen schon vorbei ist, was sich in dem Haus befindet, wir sagen, in die Scheune schon eingeholt worden ist, da wo unsere Erinnerungen sind, da, wo die

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Vergangenheit ist, da wo unser Erlebtes Einzug genommen hat. Zuvor, im Jahresgedenken, haben wir noch einmal über die Schulter geblickt und haben diese zwölf Monate, die hinter uns liegen, abgeschritten und gesehen, was in der Welt, in der Zeit draußen in diesen zurückliegenden 365 Tagen alles passiert ist. Im Anschluss haben wir in unser eigenes Leben betrachtet und vielleicht uns noch an das Eine oder Andere erinnert, was uns begegnet ist, was wir erlebt haben, an Schönem und an Schwerem. Und so sitzen wir jetzt, wie dieses Kind, auf der Schwelle, an der Türschwelle und sehen hinein in diesen Garten, blicken auf den Weg, der vor uns liegt und sehen d a s To r , a m E n d e d e s Gartens, das noch verschlossen ist, denn dieser Blick in die Zukunft, der reicht ja nicht weit. Wir können eine Woche, einen Monat vielleicht übersehen, aber 12 Monate, ein ganzes Jahr, das ist zuviel für unser Vorstellungsvermögen. So viel kann sich da ereignen, hinter dieser „verschlossenen Tür“. Die Hoffnung hegen wir, dass sie sich uns öffnet und wir immer weiter gehen können. Und wir brauchen auch etwas von diesem „Kind“, das ja symbolisch für diese Zuversicht steht, das Kind ist jemand mit Neugierde. Noch

ganz interessiert an dem, was vor ihm liegt, mit dem spielerischen Drang, in sich selber und mit diesem Vertrauen, sich dieser Welt, da draußen, zuzuwenden, sie spielerisch zu entdecken und lustvolle Schritte auf, diesem Wege, zu gehen. Der Maler unseres Bildes hat noch ein paar Utensilien hinein gezeichnet. Ein Pferd, mitten auf dem Weg, in dieser hellen Zone, die von der Sonne beschienen wird, ein zugeklapptes Buch auf seinen Knien und neben dem Kind liegt noch ein größeres Buch, mit einer Zeichnung darauf. Wenn wir diese Symbole uns näher kommen lassen, dann können sie uns auch etwas erzählen von dem, was damit vielleicht gemeint worden ist. Bleiben wir bei den Büchern, bei der Literatur, bei dem, was sozusagen in greifbarer Nähe dieses Kindes ist und denken wir an das, was wir alles so aufnehmen in uns selber, was wir lesen, was wir hinein nehmen in unseren Kopf, in unser Innerstes und vielleicht sollten wir schon gleich hier, etwas von diesem Kind lernen, nämlich das, es ist gut bescheiden zu bleiben, nicht zuviel aufzunehmen, sondern eine gute Wahl zu treffen, welche, von diesen vielen Informationen, die auf uns einströmen, wir aufnehmen wollen.

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Wir schaffen es nicht mehr, in der heutigen Zeit, ohne großen Suchmaschinen auszukommen, weil diese Informationsflut, die auf uns einströmt, einfach zu viel geworden ist. Wir sind gezwungen eine Auswahl zu treffen, darüber, was gut ist, was erträglich für uns ist, was uns weiter bringt, was uns tröstet, oder aber, was uns belastet. Schlimme Nachrichten, Getratsche und Gerede, was nehme ich in mich auf, mit mir mit? Sie merken, wie wichtig es ist, eine Auswahl zu treffen von dem, was wir einlassen in unser „Haus“, in uns selber, wenn wir diesen Weg gehen und dabei ist es gut, leicht den Weg zu gehen, nicht zu viel sich vor- und mitzunehmen. Und dann sehen wir dieses Pferd auf dem Weg und mir fallen dann natürlich, als Bibelleser, auch immer gleich diese berühmten Pferde ein, die schon das Volk Israels bestürmt und verfolgt haben auf ihrem Weg in die Freiheit – die Pferde Ägyptens. Was könnte uns verfolgen auf unserem Weg? Was könnte uns nachhetzen und uns nicht in Frieden lassen, was könnte uns denn ängstigen wollen? Wenn wir weiter gehen, wenn wir den Weg, in die Zukunft, beschreiten wollen? Dieser Weg ist nicht nur ein Weg auf dem Bild, sondern es ist der Weg, den Gott uns schenkt. Die Bibel wählt dieses Bild des Weges schon auf den ersten Seiten und sagt: „So beginnt es. So beginnt dein Leben, nämlich, indem du dich aufmachst

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von diesem Ort, wo es eng wird, wo du verfolgt bist, wo du in Unfreiheit lebst. Dieser Ort trägt in der Bibel einen Namen, er heißt „Ägypten“. Diesen Ort öffnet Gott für dich, du bist an der Schwelle und der Weg öffnet sich dir und er lädt dich ein, diesen Weg zu gehen. Und immer ist dieser Ausgangspunkt besetzt mit Ängsten und mit Zweifeln. Das war so und das ist so. Auch wir machen da keine Ausnahme, wenn wir diesen Weg gehen wollen hinein in dieses Jahr 2012. Der Weg, damit beginnt das Leben. Und die Weisheit der Bibel, die reicht noch tiefer. Wenn wir gehen, dann sagt die Bibel, dann passiert etwas, der Weg entsteht, und auf dem Weg begegnest du dem Wort. Welchem Wort, fragen wir uns? Dem Wort, das sich in dir formt und in dir laut wird, mit jedem Schritt, den du gehst, wo du dich fragen wirst, wozu ist denn dieser Weg gut? Was liegt denn auf diesem Weg, wer schickt mir den? In der Bibel gibt es eine Geschichte dazu. Wo das Volk Gottes in Nahrungsnot gerät und zum Himmel schreit und als Antwort kommt dies Manna, wie wir es aus der Bibel kennen, übersetzt aus dem Hebräischen bedeutet dies Manna, „was ist das“ – man-hu – wir begegnen einer Frage, in uns selber.

Was ist das, auf diesem Weg, den ich gehen muss? Ist es Gutes, ist es Schweres, ist es Verständliches? Macht es Sinn für mich, oder bringt es mich einfach nur ins Fragen, ohne Antworten? Und was geschieht auf diesem Weg? Wir beginnen auf dem Weg zu fragen und zu sprechen. Im Inneren, bei uns, mit einem Gegenüber, wo wir sagen, ich hoffe, dass es Gott ist, dass ich nicht allein unterwegs bin. Zusammen mit ihm, der mich einlädt auf diesen Weg, dass i c h i h m a u f d i e s e m We g begegne, mit ihm das Gespräch suche, in der Hoffnung, dass dieses anfängliche Selbstgespräch nicht zulange um mich selber nur kreist, sondern dass ich bald spüre, da öffnet sich was und ich werde zufriedener, bekomme eine Antwort die tröstet, merke, dass es einen Sinn macht, unterwegs zu sein. So lädt uns die Bibel ein, in ihren Bildern, in ihren G e s c h i c h t e n , d i e s e n We g immer wieder zu wagen und zu gehen aus diesen „Häusern“ heraus, hin in die Welt hinein, ohne großes Wissen wohin und mit wem. Aber mit der Zuversicht dieses Kindes, ausgerüstet mit solch einem Vertrauen. Dass das Reden und das Wort sich auf diesem Weg schon für uns so gestaltet, dass wir getröstet werden, dass wir ermutigt werden, durch andere,

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oder aber durch uns selber, indem diese Worte sich in uns bilden und wir merken, wie schön dieser Weg doch sein kann. Wir kommen von diesem Wunder her, dass Gott selber diesen Weg gewählt hat, in diese Welt hinein, so klein zu beginnen, wie dieses Kind auf der Schwelle, tastend, zögernd diesen Weg zu gehen. Auch ihn hat der Weg gleich nach der Geburt nach Ägypten geführt mit Maria und Josef. Auch er kennt also den Weg, den vormals das Volk Israels gegangen ist. Überall merken wir, wie zentral und wie tief doch diese Bilder der Bibel sind und wie wir ihnen nachgehen können und nacherleben können, indem wir uns selber auf den Weg machen. Sich auf den Weg machen, ausgerüstet hoffentlich mit solchen Worten, die uns begegnen könnten auf diesem Weg, Worten, wie diesen: In den Psalmen steht solch ein Wort: „Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, den du gehen sollst. Ich will dich mit meinen Augen leiten.“ Wie tief dieses Wort ist, wird uns vielleicht bewusst, wenn wir uns erinnern an die Augen, die uns einmal gut getan haben, wenn sie uns angesehen haben. Augen von Vater und Mutter, die uns hoffentlich mit Stolz, mit Freude, mit Güte, mit Liebe angesehen haben. Und wenn nicht, auf jeden Fall sind dies die Augen Gottes, mit denen er uns ermutigt, diesen Weg zu beginnen. Ein barmherziger Blick, das sind die

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Augen Gottes. Ein tiefes Verlangen nach uns, auf dass etwas geweckt wird in uns, damit wir gezogen werden auf diesem Weg, um dorthin zu kommen, unter diese wohl meinenden Augen. Damit wir es dann erleben, dieses gute Gefühl. Und noch etwas zeigt uns dieses Bild, es führt uns vor Augen dieses Bild des Gartens und erinnert uns daran, was wir schon meinen, verloren zu haben, dass es immer noch da ist. Der Garten Eden, das Paradies, aus dem wir meinen vertrieben zu sein. Wir sind weit davon entfernt und dennoch, etwas haben wir mit genommen, unseren Wunsch und unsere Sehnsucht danach. Weil dieser Garten, in der Sprache des Hebräischen, der Ort des Wohlbefindens ist, der Ort des Glückes. Das möchte Gott für uns. Dort hat er uns hinein gegeben und er möchte, dass wir dorthin wieder den Weg zurück finden. Glück und Wohlbefinden, das ist ein Ziel, das uns locken könnte. Auch den Weg zu beschreiten durch dieses Jahr 2012, dass wir Begegnungen machen, die uns erfüllen, gütige und barmherzige Begegnungen, und dass wir diesem Ort immer näher kommen, den Gott uns verheißen hat, den Ort des Wohlbefindens und des Glückes. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: So. 1.1.2012 in: Kapelle - Klinikum Augsburg Tondatei: DS400769

Sei getrost und unverzagt... Josua 1, 1-9

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Bild: Marc Chagall Mose segnet Josua Google-Bilder

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen. Wir wollen in der Stille um den Segen des Wortes beten. Herr, segne du an uns Reden und Hören. Amen. Liebe Schwestern und Brüder hier in der Kapelle, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, liebe Zuseher, die Sie jetzt durch die Übertragungsanlage mit uns hier verbunden sind. Der Predigttext für den Neujahrstag, für den 1. Tag im neuen Jahr steht im Buche Josua im 1. Kapitel. Nachdem Mose, der Knecht des HERRN, gestorben war, sprach der HERR zu Josua, dem Sohn Nuns, Moses Diener: 2 Mein Knecht Mose ist gestorben; so mach dich nun auf und zieh über den Jordan, du und dies ganze Volk, in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, gegeben habe. 3 Jede Stätte, auf die eure Fußsohlen treten werden, habe ich euch gegeben, wie ich Mose zugesagt habe. 4 Von der Wüste bis zum Libanon und von dem großen Strom Euphrat bis an das große Meer gegen Sonnenuntergang, das ganze

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Land der Hetiter, soll euer Gebiet sein. 5 Es soll dir niemand widerstehen dein Leben lang. Wie ich mit Mose gewesen bin, so will ich auch mit dir sein. Ich will dich nicht verlassen noch von dir weichen. 6 Sei getrost und unverzagt; denn du sollst d i e s e m Vo l k d a s L a n d austeilen, das ich ihnen zum Erbe geben will, wie ich ihren Vätern geschworen habe. 7 Sei nur getrost und ganz unverzagt, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat. Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken, damit du es recht ausrichten kannst, wohin du auch gehst. 8 Und lass das Buch dieses Gesetzes nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem, was darin geschrieben steht. Dann wird es dir auf deinen Wegen gelingen, und du wirst es recht ausrichten. 9 Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst. Liebe Schwestern und Brüder, gestern Abend haben wir hier den Altjahresabend gefeiert und miteinander begangen und ich hatte Ihnen gestern dazu ein Bild mitgebracht.

Darauf zu sehen ist ein Junge, auf der Schwelle der Tür, den Blick in den Garten gerichtet, noch sitzt er. Er hat sich noch nicht auf den Weg gemacht. Er sieht den Weg vor sich und sieht das geschlossene Gartentor vor sich und man kann sich überlegen, wie es ihm wohl geht. Er hat den Weg vor sich, dazu muss er nun aufstehen und den ersten Schritt machen. Von einer ganz ähnlichen Situation erzählt uns heute die Bibel, auch da, das Volk Gottes, das herausgeführt worden ist aus dem Lande Ägypten und das diesen langen Weg durch die Wüste unternommen hat mit Mose, ihrem Anführer. Nun kommen sie an eine Schwelle, an den Jordan, der sie trennt von dem verheißenen Land, das ihnen Gott zugesagt hat. Mose stirbt an der Grenze. Bis dorthin sollte sein Weg ihn führen, ab hier muss sein Diener Josua das Volk weiter, hinüber, führen in die Zukunft, in das versprochene, das zugesagte Land, das vor ihnen liegt. Auch wieder so eine Schwellensituation. Man steht davor, man sieht hinein, man sieht aber nicht weit genug und es heißt nun: Mache dich auf und zieh über den Jordan. Aber bevor das passiert, muss noch eine andere Sache dazu kommen, eine Ermutigung, eine Bekräftigung, ein gutes Wort.

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Ein Wort, das trägt und Kraft gibt, diesen Weg zu gehen. Und vielleicht haben wir auch deswegen diesen Brauch übernommen, dass wir gerade an diesem heutigen Tag, an diesem Schwellentag, vom Alten ins Neue, dass wir, wenn wir uns sehen, dann alles Gute wünschen. Viel Glück wünschen. Wir rüsten uns gegenseitig aus, mit diesem guten Wunsch, mit dieser Ermutigung, mit diesem ermunternden, aufmunternden Wort. Es wird schon gut werden. Geh diesen Weg, der vor dir liegt. Denn wir alle wissen ja nicht, was vor uns liegt, wie sich diese Schritte jetzt entwickeln werden, die sich auf dem Weg dann entfalten werden, einer nach dem anderen. Wenn wir zurück denken, dann merken wir nur, wie viel sich so ereignen kann in einem Jahr, Gutes und Schreckliches und dennoch, wir haben es geschafft, bis hierher, aber nicht alle. Es gibt auch Menschen, wie den Mose, die dieses Jahr, als ihr letztes Jahr, hier auf Erden verbracht haben, die eingesammelt worden sind, zu ihren Vätern, wie es in der Bibel heißt. Die ihren Platz gefunden haben, dort, wo Gott dann alles sammelt, wo es dann bei ihm ist. Und wir gehen weiter, mit dieser Zusage, mit dieser Ausrüstung von oben. Sei getrost und unverzagt auf deinem Weg. Es ist ein sehr kräftiges Wort, das immer wieder an solchen Stellen gesagt wird, wo etwas übergeben wird, wo eine Stabübergabe erfolgt und wo jemand ausgerüstet werden

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muss, mit dieser Energie und mit dieser Zusage: Du gehst, aber du gehst nicht allein. Denn da ist diese Kraft von oben, da ist Gott selber, der mit dir geht, wie er schon diesen Weg gegangen ist, in diesen 40 Jahren, durch die Wüste. Er wird auch weiter bei dir sein, selbst wenn du ihn nicht siehst. Auch wenn er dich nur begleitet, in dieser Wolkensäule, oder in dieser Feuersäule, wie es in der Bibel heißt. Du kannst ihn nicht eindeutig sehen, aber er ist da. Und so wird nun dieser Josua aus- und zugerüstet mit diesem Wort: Sei getrost und unverzagt! Und im Hebräischen ist dieses Wort sehr knackig. Man kann es kaum übersetzen. Es bedeutet eigentlich eine Verdoppelung: Sei kräftig und mächtig. Das Wort wird noch mal potenziert, die Kraft nimmt zu: nur zu, geh voran. Und dann hat dieser Josua dies Land vor sich, aber es ist nicht ein freies, unbewohntes Land, sondern da leben ja schon welche drin in diesem Land, die erst einmal vertrieben werden müssen die Kanaaniter wie es heißt, es ist das Lande Kanaan. Und wir denken, das fängt ja gut an, gleich wieder Kriege, gleich wieder Auseinandersetzungen. Aber die Bibel reicht hier weiter. Es handelt sich nicht

nur um so eine oberflächliche Landnahme, denn in diesem Worte Kanaan, dem Kanaaniter, steckt übersetzt, das Wort: „Kaufmann“. Diese Leute, „die Kaufmänner und Kauffrauen“, die sollen wir vertreiben aus dem Land, das uns Gott zugesagt hat. Warum ist denn die Bibel gegen diese Kaufleute? Weil sie nur rechnen mit dem Diesseits. Weil sie ihre Regeln aufstellen: Ich gebe dir etwas und dann gibst du mir etwas. Man geht nicht wirklich miteinander um, sondern es ist immer ein Mittel zum Zweck, der da zwischen zwei Menschen immer wieder ausgehandelt wird. Und das, sagt Gott, das braucht es nicht in diesem Land, das ich euch zugesagt habe. Da gelten andere Maßstäbe. Da ist nicht das Geld das Regierende, wo man sich kaufen und freikaufen kann, wo nur die etwas zu sagen haben, die diese Mittel für sich in Anspruch nehmen. Und wenn wir an das Zurückliegende denken, welche Katastrophen mit diesem Geld und mit dieser Kaufmannssucht angestellt worden ist, in den Jahren, die hinter uns liegen, dann bekommt diese Aussage der Bibel noch einmal eine ganz andere Kraft. Denn sie sagt: So soll es nicht sein! Nicht der Kaufmann soll herrschen in meinem Land, das ich euch zugesagt habe, nein, Freundschaft, Liebe,

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Gerechtigkeit, darum geht es. Diese Werte sollt ihr wieder entdecken und für euch nutzbar machen und dafür habe ich euch diesen Josua ausgewählt. Jehoschua heißt er im Hebräischen. Und auch in diesem Namen verbirgt sich sehr viel mehr. Martin Luther, so habe ich neulich gelesen, der hat sich gegen diese Tradition gewandt und gesagt, das Neujahr, das brauchen wir nicht zu feiern. Viel lieber sei ihm, Jesus, an diesem Tag, zu predigen. Jesus, sein Name soll verkündet werden. Heute haben wir einen Text aus dem alten Testament gehört und da begegnet uns dieser Name: Josua, Jehoschua im Hebräischen. Und das ist der Name: „Jesus“. Jehoshua heißt übersetzt: „Der Herr hilft, der Herr rettet.“ Genau dieser Name ist Jesu Lebensmotto, das ist die Gestalt gewordene Kraft im Namen Jesus. Er hilft, er rettet. Dafür ist Gott Mensch geworden. Das ist sein Auftrag, das ist seine Bestimmung. Das ist sein Wesenskern. Josua, Jehoshua, Jesus, der Herr hilft, der Herr rettet. Josua, der geht mit diesem Volk über den Jordan in das verheißene Land. Diese Begleitung hat uns Gott zugesagt, auch für 2012. Sei getrost und unverzagt! Warum? Weil wir begleitet werden durch diesen, der rettet, Jesus, an unserer Seite. Und er führt uns immer wieder an in diese unbekannten Zonen, seien sie in dieser Welt oder am Lebensende. Auch da überschreiten wir immer wieder Grenzen, wissen nicht, was

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vor uns liegt und Gott sagt: „Ich gebe euch eine Zukunft, ich gebe euch ein Zuhause, ich gebe euch das verheißene Land, wo Milch und Honig fließt. Das verspreche ich euch. Und so begleite ich euch. Und wenn wir sagen: Herr, wer bin ich denn schon, mit meinem Kleinmut, mit meiner Ve r z a g t h e i t , m i t m e i n e r Gebrechlichkeit, mit meiner Krankheit, mit all dem, was mich als Menschen ausmacht? Dann erreicht uns wieder dieses Wort Gottes, das uns dies ganze Jahr begleiten soll: Sei getrost, meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Und umso schwächer du bist, so können wir weiterdenken, umso mehr darf sich Gottes Kraft in uns entfalten, zum Lobe und zum Zeichen, dass Gott diese Welt liebt, dass Gott diese Menschen liebt, die er in diese Welt geschickt hat, denen er ihr Leben gegeben hat und er wird euch auch weiter begleiten, auch durch das Jahr 2012. Darum sei getrost und unverzagt, er ist bei dir und gibt dir die Kraft, die Kraft, die in den Schwachen mächtig ist. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: DoA. 5.1.2012 in: Kapelle - Klinikum Augsburg Tondatei: DS400770-1

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Jahreslosung: 2. Kor. 12,9 Liebe Schwestern und Brüder, wir haben das neue Jahr noch gar nicht so richtig begonnen, 361 Tage liegen vor uns, ein langer Weg und wir wissen nicht, was dieser Weg für uns bereit hält. Es gibt eine gute Tradition in der Kirche, da wird ein Wort, ein Satz aus der Bibel genommen und dieser Satz der soll einen dann begleiten durch das ganze Jahr. Man nennt es eine Jahreslosung. Da wird etwas ausgelost aus dieser dicken Bibel, ein Wort, das man sich merken kann, das einen begleiten kann durch dieses neue Jahr. Die Jahreslosung für das Jahr 2012, steht im 2. Korintherbrief, den der Apostel Paulus geschrieben hat und sie lautet: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!“ Ein mächtiges Wort, möchte ich dazu sagen, das uns anspricht, weil wir zunächst nicht daran denken, dass gerade die Schwachen ausgesucht sind, die, die es nicht bringen. Und es passt auch nicht zu unserer Erfahrung in dieser Welt, da draußen, denn nur die Stärksten können es machen, die Gesunden, die werden angesehen, auf die schaut man, mit denen möchte man zusammen sein. Aber die Schwachen, die Gebrechlichen, die Kranken, da machen wir doch eher die Erfahrung, wer will etwas mit denen schon zu tun haben?

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Die Bibel und der Apostel Paulus, die sagen: Nein, lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Und jetzt denken wir und haben vielleicht das auch so gehört, dieser Paulus, ein Apostel, ein ganz besonders starker und kluger Mensch, was weiß denn der schon? Aber dieser Apostel Paulus, der hat einen Weg hinter sich, der ihn genau dorthin geführt hatte, wo wir gar nicht so gern hinwollen. Nämlich in eine Ohnmacht, eine Hilflosigkeit, hinein. Paulus hatte Schwäche und Schweres erlebt in seinem Leben, er war zuerst ein Verfechter gegen die Christen, verfolgte sie und erlebte dann eine besondere Erfahrung. Auf seinem Weg nach Damaskus, dorthin, wo er die Christen aufspüren und verfolgen wollte, da hatte er eine Erscheinung auf diesem Weg. Christus selber, der Auferstandene begegnet ihm und sagt: Warum verfolgst du mich denn? Und Paulus fällt vom Pferd und wie er wieder aufsteht, kann er nichts mehr sehen. Er ist blind. Paulus ist buchstäblich von seinem hohen Ross herunter geholt worden, auf den harten Boden der Tatschen und Realität. Er, der Große, der Mächtige, der Eiferer, der es genau wissen wollte, der klug war, angesehen, auf einmal ist er im Staube gelandet und hat auch noch seine Gesundheit, sein Augenlicht eingebüßt. So, in diesem erbärmlichen Zusatand wird er nach Damaskus geführt, an der Hand, er muss seinen Weg ertasten und suchen und dort fastet er und weiß nicht, ob und wie es weitergeht, weiß

nicht, ob er jemals wieder sehen kann und dann geschieht dieses Wundersame. Jesus wählt sich aus diesem Ort Damaskus einen Jünger aus mit Namen Ananias (Hananias Apg. 9,10) und sagt: Ananias, geh du hin zu diesem Paulus und sag ihm: Gerade dich habe ich, Jesus, ausgesucht, du sollst jetzt für mich die gute Botschaft zu den Menschen bringen, du sollst ihnen von Gott erzählen, von mir erzählen. Besonders die Schwachen, die Ausgegrenzten, zu denen will ich hingehen. Denen möchte ich helfen, dass sie wieder aufstehen können, wenn sie gestrauchelt sind. Dass die, die sich im Staube fühlen, sich wieder erheben können und ihren Weg finden. Die Blinden sollen wieder sehen und die Lahmen sollen wieder gehen können und die Traurigen sollen froh gemacht werden. Und so geht Ananias zum Paulus und sagt ihm, was er gehört hat und legt ihm die Hände auf und Paulus wird wieder sehend. Und er lässt sich taufen und wird einer, dem sozusagen die Augen wirklich aufgegangen sind. In der Bibel steht es: Ihm fiel es wie Schuppen von den Augen (Apg. 9,18). Wir kennen ja diese Stelle als Redewendung aus der Bibel, Paulus hat es erlebt, seine Augen sind auf einmal richtig offen und er sieht, worum es eigentlich geht. Er kann nun selber berichten, ich habe das erfahren in meinem Leben, dass ich ganz unten war und mit Gottes Hilfe bin ich wieder ein aufrechter Mensch geworden. Wenn man so eine Erfahrung gemacht hat, dass man merkt, hier kommt eine Kraft in mich und aus

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mir heraus, die nicht von mir selber ist, sondern die mir geschenkt wird von Gott, dann sage ich das doch gerne weiter. Hilf auch anderen, die trostlos sind, oder traurig sind und sage ihnen: Verzweifle doch nicht, hab Vertrauen und hab Mut, ringe mit dir und mit Gott. Er wird sich dir schon zeigen in deinem Leben und es wird weiter gehen. Wir lesen in der Bibel, dass Paulus vor diesem Damaskuserlebnis anders geheißen hat, Saulus, er hatte einen ganz anderen Namen gehabt, aber jetzt durch diese Erfahrung bekommt er den Namen Paulus und wenn Sie selber dieses Wort „Paulus“ aussprechen, dann merken Sie, da offnet sich die Lippen und der Mund bei diesem Buchstaben „P“, für Paulus. Sein Mund geht wirklich auf und er erzählt von dem, was er tief innen selber erlebt hat. Von dem, dass diese Gnade Gottes gerade in den Schwachen mächtig ist. Und besonders dann sichtbar, könnte man sagen, wo nichts ist und auf einmal ist da etwas. Auf einmal ist da eine Kraft, auf einmal ist da diese Fröhlichkeit und wir fragen uns, woher kommt die denn? Es ist ein Geschenk. Es kommt überraschend. Und wir befinden uns gerade in einer weihnachtlichen Zeit, wo Gott sich den Menschen geschenkt hat und Kind geworden ist, das feiern wir, dass wir immer wieder beschenkt werden, mit dieser Gnade, die wirksam wird, wenn wir inspiriert sind durch diese Krippe, in die Gott etwas hinein legen kann und was dann groß und kraftvoll wird. Und das Bild zu dieser Jahreslosung, das passt ganz gut dazu, da ist eine Schale zu sehen, die einen Sprung hat und in diese Schale fällt ein Licht, aber aus diesem Sprung und aus der Schale heraus dringt es nach außen und strahlt weiter.

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Auch wir sind manchmal solche Schalen, die einen Sprung haben. Wir haben unsere Macken, sagen wir. Wir haben unsere Fehler. Wir sind nicht vollkommen. Und da könnte ich fast sagen, Gott sei Dank sind wir das nicht. Denn nur so, durch diesen Spalt der Unvollkommenheit, kann Gottes Kraft, sein Licht, nach außen dringen. Und dann wissen wir, nicht wir sind es, sondern wir sind diejenigen, die es weitergeben an andere. Durch uns strahlt etwas in diese Welt hinein. So können wir dann auch andere ermutigen, durch diese Kraft können wir sagen: Hab Mut und hab Vertrauen, Gott kommt auch in deine Welt, in deine Wirklichkeit und er wird dich stark machen und kraftvoll, dass du wieder deinen Weg gehen kannst mit Gott an der Seite. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: DiA. 3.1.2011 in: Kapelle - Klinikum Augsburg Tondatei: DS400770-1

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Jahreslosung: 2. Kor. 12,9 Liebe Schwestern und Brüder, wir haben das neue Jahr noch gar nicht so richtig begonnen, 363 Tage liegen vor uns, ein langer Weg und wir wissen nicht, was dieser Weg für uns bereit hält. Es gibt eine gute Tradition in der Kirche, da wird ein Wort, ein Satz aus der Bibel genommen und dieser Satz der soll einen dann begleiten durch das ganze Jahr. Man nennt es eine Jahreslosung. Da wird etwas ausgelost aus dieser dicken Bibel, ein Wort, das man sich merken kann, das einen begleiten kann durch dieses neue Jahr. Die Jahreslosung für das Jahr 2012, steht im 2. Korintherbrief, den der Apostel Paulus geschrieben hat und sie lautet: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!“ Ein mächtiges Wort, möchte ich dazu sagen, das uns anspricht, weil wir zunächst nicht daran denken, dass gerade die Schwachen ausgesucht sind, die, die es nicht bringen. Und es passt auch nicht zu unserer Erfahrung in dieser Welt, da draußen, denn nur die Stärksten können es machen, die Gesunden, die werden angesehen, auf die schaut man, mit denen möchte man zusammen sein. Aber die Schwachen, die Gebrechlichen, die Kranken, da machen wir doch eher die Erfahrung, wer will etwas mit denen schon zu tun haben?

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Die Bibel und der Apostel Paulus, die sagen: Nein, lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Und jetzt denken wir und haben vielleicht das auch so gehört, dieser Paulus, ein Apostel, ein ganz besonders starker und kluger Mensch, was weiß denn der schon? Aber dieser Apostel Paulus, der hat einen Weg hinter sich, der ihn genau dorthin geführt hatte, wo wir gar nicht so gern hinwollen. Nämlich in eine Ohnmacht, eine Hilflosigkeit, hinein. Paulus hatte Schwäche und Schweres erlebt in seinem Leben, er war zuerst ein Verfechter gegen die Christen, verfolgte sie und erlebte dann eine besondere Erfahrung. Auf seinem Weg nach Damaskus, dorthin, wo er die Christen aufspüren und verfolgen wollte, da hatte er eine Erscheinung auf diesem Weg. Christus selber, der Auferstandene begegnet ihm und sagt: Warum verfolgst du mich denn? Und Paulus fällt vom Pferd und wie er wieder aufsteht, kann er nichts mehr sehen. Er ist blind. Paulus ist buchstäblich von seinem hohen Ross herunter geholt worden, auf den harten Boden der Tatschen und Realität. Er, der Große, der Mächtige, der Eiferer, der es genau wissen wollte, der klug war, angesehen, auf einmal ist er im Staube gelandet und hat auch noch seine Gesundheit, sein Augenlicht eingebüßt. So, in diesem erbärmlichen Zusatand wird er nach Damaskus geführt, an der Hand, er muss seinen Weg ertasten und suchen und dort fastet er und weiß nicht, ob und wie es weitergeht, weiß

nicht, ob er jemals wieder sehen kann und dann geschieht dieses Wundersame. Jesus wählt sich aus diesem Ort Damaskus einen Jünger aus mit Namen Ananias (Hananias Apg. 9,10) und sagt: Ananias, geh du hin zu diesem Paulus und sag ihm: Gerade dich habe ich, Jesus, ausgesucht, du sollst jetzt für mich die gute Botschaft zu den Menschen bringen, du sollst ihnen von Gott erzählen, von mir erzählen. Besonders die Schwachen, die Ausgegrenzten, zu denen will ich hingehen. Denen möchte ich helfen, dass sie wieder aufstehen können, wenn sie gestrauchelt sind. Dass die, die sich im Staube fühlen, sich wieder erheben können und ihren Weg finden. Die Blinden sollen wieder sehen und die Lahmen sollen wieder gehen können und die Traurigen sollen froh gemacht werden. Und so geht Ananias zum Paulus und sagt ihm, was er gehört hat und legt ihm die Hände auf und Paulus wird wieder sehend. Und er lässt sich taufen und wird einer, dem sozusagen die Augen wirklich aufgegangen sind. In der Bibel steht es: Ihm fiel es wie Schuppen von den Augen (Apg. 9,18). Wir kennen ja diese Stelle als Redewendung aus der Bibel, Paulus hat es erlebt, seine Augen sind auf einmal richtig offen und er sieht, worum es eigentlich geht. Er kann nun selber berichten, ich habe das erfahren in meinem Leben, dass ich ganz unten war und mit Gottes Hilfe bin ich wieder ein aufrechter Mensch geworden. Wenn man so eine Erfahrung gemacht hat, dass man merkt, hier kommt eine Kraft in mich und aus

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mir heraus, die nicht von mir selber ist, sondern die mir geschenkt wird von Gott, dann sage ich das doch gerne weiter. Hilf auch anderen, die trostlos sind, oder traurig sind und sage ihnen: Verzweifle doch nicht, hab Vertrauen und hab Mut, ringe mit dir und mit Gott. Er wird sich dir schon zeigen in deinem Leben und es wird weiter gehen. Wir lesen in der Bibel, dass Paulus vor diesem Damaskuserlebnis anders geheißen hat, Saulus, er hatte einen ganz anderen Namen gehabt, aber jetzt durch diese Erfahrung bekommt er den Namen Paulus und wenn Sie selber dieses Wort „Paulus“ aussprechen, dann merken Sie, da offnet sich die Lippen und der Mund bei diesem Buchstaben „P“, für Paulus. Sein Mund geht wirklich auf und er erzählt von dem, was er tief innen selber erlebt hat. Von dem, dass diese Gnade Gottes gerade in den Schwachen mächtig ist. Und besonders dann sichtbar, könnte man sagen, wo nichts ist und auf einmal ist da etwas. Auf einmal ist da eine Kraft, auf einmal ist da diese Fröhlichkeit und wir fragen uns, woher kommt die denn? Es ist ein Geschenk. Es kommt überraschend. Und wir befinden uns gerade in einer weihnachtlichen Zeit, wo Gott sich den Menschen geschenkt hat und Kind geworden ist, das feiern wir, dass wir immer wieder beschenkt werden, mit dieser Gnade, die wirksam wird, wenn wir inspiriert sind durch diese Krippe, in die Gott etwas hinein legen kann und was dann groß und kraftvoll wird. Und das Bild zu dieser Jahreslosung, das passt ganz gut dazu, da ist eine Schale zu sehen, die einen Sprung hat und in diese Schale fällt ein Licht, aber aus diesem Sprung und aus der Schale heraus dringt es nach außen und strahlt weiter.

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Auch wir sind manchmal solche Schalen, die einen Sprung haben. Wir haben unsere Macken, sagen wir. Wir haben unsere Fehler. Wir sind nicht vollkommen. Und da könnte ich fast sagen, Gott sei Dank sind wir das nicht. Denn nur so, durch diesen Spalt der Unvollkommenheit, kann Gottes Kraft, sein Licht, nach außen dringen. Und dann wissen wir, nicht wir sind es, sondern wir sind diejenigen, die es weitergeben an andere. Durch uns strahlt etwas in diese Welt hinein. So können wir dann auch andere ermutigen, durch diese Kraft können wir sagen: Hab Mut und hab Vertrauen, Gott kommt auch in deine Welt, in deine Wirklichkeit und er wird dich stark machen und kraftvoll, dass du wieder deinen Weg gehen kannst mit Gott an der Seite. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: Di. 03.1.2012 in: Kapelle - Klinikum Augsburg Tondatei: DS400770

Jahreslosung 2012 2. Kor. 12, 9

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Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen. Wir wollen in der Stille um den Segen des Wortes beten. Herr, segne du an uns Reden und Hören. Amen. Liebe Schwestern und Brüder, zuvor in der Sakristei hat mich unser Organist angesprochen und gefragt, warum ich denn einen „römischen“ Kragen trage. Und da habe ich ihm sagen müssen, ich käme von einer Beerdigung, die ich in Fischach auf den Dörfern gehalten hätte und deswegen sei ich noch so bekleidet. Aber noch etwas geht mir von dieser Beerdigung heute noch nach. Ich habe dort eine Dame beerdigt, die 89 Jahre alt geworden ist und deren ganz große Liebe das Arbeiten im eigenen Garten war. Auch dort, in der Kirchensakristei, hat mich der Mesner angesprochen – ich war neu, ich mache dort Vertretungsdienst zu den Beerdigungen – und fragte mich: „Soll es wieder so sein, wie üblich?“ und dann fragte ich zurück: „Ja, wie ist es denn üblich hier

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bei euch, die Beerdigung zu halten?“ Er sagte: „Üblich ist die Osterkerze an der einen Seite des Volksaltares und an der anderen Seite stellen wir den Auferstandenen auf.“ Darauf habe ich gesagt: „Selbstverständlich machen wir es so, wie ihr es hier gewöhnt seid in Fischach.“ Und dann ging er an einen Schrank und holte einen ca. 1,50m großen abgeschnittenen Baumstamm, trug ihn an die entsprechende Altarseite und anschließend holte er die Auferstehungsfigur des Christus und platzierte ihn auf diesem abgeschnittenen Baumstamm. Und als ich dieses Bild dann betrachtete und etwas auf mich wirken ließ, da fiel mir dieser Satz ein vom Propheten Jesaja aus dem alten Testament: Jes. 11,1 Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Wo dann dennoch etwas weiter gegangen ist. Wo sich dann neue Kräfte und neue Zweige hervor getan haben. Ein wundervolles Bild, so ein abgeschnittener Baumstamm mit dem Auferstandenen drauf, die Botschaft: Es geht weiter! Dort, geht es weiter, wo wir es nicht für möglich halten. Das ist dies Überraschende, das ich immer wieder aus der Bibel lese und lerne und wo ich mir Kraft und Mut zusprechen lasse, wenn Gott sozusagen

unsere Maßstäbe auf den Kopf stellt. Da wird Gott selber Mensch und gibt sich in unsere Hände, er wird Baby. Er fängt ganz klein a n . N i c h t d i e H e r r s c h e r, sondern die Kleinen, die Verletzlichen, die, die sich ganz in unsere Hände begeben, so beginnt er. Die Nacht wird zum Tage, da wo wir uns schlafen legen und meinen, mit dieser Nacht geht auch etwas zu Ende, wie unser Leben, nein, der Morgenstern zeigt sich und wandelt dieses Dunkle in etwas Helles. Immer wieder dieses Bild, da geht etwas zu Ende und ganz wundersam, mit einer ganz anderen Wendung, geht es weiter. Vielleicht hilft uns dieses Bild auch, wenn wir uns der Jahreslosung nähern, die dieses Jahr für uns ausgewählt worden ist. Sie steht im 2. Korintherbrief im 12. Kapitel und dort heißt es: Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Und diesen Satz, den sagt auch einer, der etwas versteht von diesem Turnaround, von dieser Wende in seinem Leben, der Apostel Paulus. Brillant und einflussreich verfolgt er zunächst einmal die Christen unerbittlich, „ er schnaubte noch mit Drohen und Morden gegen die Jünger“, so berichtet die

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Apostelgeschichte. Und dann, macht er diese Erfahrung, auf dem Weg nach Damaskus. Da begegnet ihm ein „Licht vom Himmel und er hört eine Stimme“. Und Saulus, wie er zunächst heißt, verliert erst einmal sein Augenlicht und wird blind und dann muss der Ananias kommen um ihm zu sagen: „Dich hat Gott auserwählt, du sollst die Botschaft weiter tragen.“ Du, der nichts sehen kann, du, der jetzt schwach geworden ist und der an ein Ende gekommen ist, dich hat er auserwählt, du sollst es sein. Und dann kann er wieder sehen, und wieder sprechen, der Saulus, der durch diese Begegnung mit dem Auferstandenen zum Paulus wird, weil dieser Ananias zu ihm gekommen ist mit dem Auftrag, den er selber aus der Höhe erhalten hatte. Und aus dem Hebräischen übersetzt, heißt dieser „Anan-ias“: Der Herr in der Wolke. „Anan“ ist die Wolke und „ja“, der Herr, der Herr in der Wolke. Und dieser „Herr in der Wolke“, der begegnet diesem Paulus und sagt ihm nun: „Etwas ganz Neues wirst du entdecken in dir, ungeahnte Kräfte, ungeahnte Fähigkeiten und du wirst aus diesen Quellen schöpfen. Und aus diesen Quellen wird dir etwas zukommen, wo du dann von dir selber nur sagen kannst, es ist nicht von mir, es ist aus einer anderen Wirklichkeit, da begegnet wirklich der Himmel mir selber und von dort her bekomme ich meine Nahrung und Kraft. Wie lang doch dieses Volk Gottes durch die Wüste gezogen ist und ständig „der Herr“ in der Wolke, Gott

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selber, ihm voraus geht, Gott in der Wolkensäule bei Tag und in der Feuersäule bei Nacht, wie es die Bibel erzählt. Und warum gerade die Wolke? Weil das das Gebilde ist, das sich immer wieder ändert und sich niemals festlegen lässt. W i r m e i n e n i m m e r, w i r wüssten schon, wie es aussieht, nein, dann verändert es sich wieder. Und wir sehen ganz eigene Gebilde in den Wolken, wenn wir hinsehen und jeder deutet sie auf seine Weise. Und so können wir lernen aus diesem Bild. Wir alle machen ganz persönliche Erfahrungen mit Gott. Für mich sieht er so aus, für dich wieder anders und für den Anderen auch wieder ganz anders. Und jeder hat Recht.

wundersamen Zeit, sich auf sich selber einzulassen, auf all das, was wir nicht mit dem Kopf verstehen, aber was wir spüren und erahnen, vielleicht ist das die Quelle, aus der wir Kraft schöpfen können. Eine nie versiegende Quelle, die uns Kraft gibt, dort, wo wir Vertrauen üben, dort, wo wir anderen Maßstäben glauben und sie einsetzen, da ist der Herr in der Wolke mit uns auf dem Weg. Auch auf dem Weg mit uns durch dieses neue Jahr 2012. Amen.

Keiner kann sagen, nur so ist er und nicht anders. Gott lässt sich nicht festlegen. Aber Gott lässt sich erfahren auf diesem Weg und dort besonders, wo wir lernen, uns auf das Wunder einzulassen, wo wir nicht mehr selber in Kontrolle sind und meinen, wir müssten alles reißen und tun und machen, wir wissen schon, was gut für die Welt ist. Mach halblang! Schraub ein bisschen runter und lass dich überraschen auf deinem Weg. Vertrau aber darauf, dass der, der mit dir geht dir diese Kraft gibt, die du brauchst für den nächsten Schritt. Das ist das, die große Einladung, die Einladung in einer

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 22.1.2011 in: Kapelle - Klinikum Augsburg Tondatei: DS400771

weitere Predigten von Heinz D. Müller Foto: Heinz Dieter Müller Banias 2011 der Hermon Fluss und Dan bilden den Jordan www.pfarrer-mueller.de

Naaman - Nobody is perfect 2. Könige 5, 1-19 Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr, segne du an uns Reden und Hören. Amen. Liebe Schwestern und Brüder, beinahe regelmäßig erscheint einmal pro Jahr in den großen Boulevardblättern ein Vergleichs Bericht der besten Ärzte in den Kliniken Deutschlands. Dort kann man dann nachlesen, wer denn gerade eine gute Hand für was hat, etwas besonderes kann, oder erfunden hat und dann orientieren sich die Menschen ganz gerne an diesen herausragenden Medizinern, weil sie sich von denen Vieles erhoffen. Ich möchte sie heute einladen zu einer Geschichte, aus dem Alten Testament. Auch dort ein Mensch auf der Suche nach Heilung. Ein berühmter, ein angesehener Mensch, einer, der sozusagen zu der ersten Klasse gehört hat, auf der Suche nach Heilung und nach Rettung, auch auf der Suche nach einem Arzt. Es ist eine etwas längere Geschichte, lassen Sie sich darauf ein, in eine andere, in eine entfernte Welt entführt zu werden,

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aber vielleicht dann doch mit dieser Erkenntnis beschenkt zu werden, so weit weg ist uns diese Geschichte gar nicht. Ich lese aus dem 2. Buch Könige im 5. Kapitel Naaman, der Feldhauptmann des Königs von Aram, war ein trefflicher Mann vor seinem Herrn und wert gehalten; denn durch ihn gab der HERR den Aramäern Sieg. Und er war ein gewaltiger Mann, jedoch aussätzig. 2 Aber die Kriegsleute der Aramäer waren ausgezogen und hatten ein junges Mädchen weggeführt aus dem Lande Israel; die war im Dienst der Frau Naamans. 3 Die sprach zu ihrer Herrin: Ach, dass mein Herr wäre bei dem Propheten in Samaria! Der könnte ihn von seinem Aussatz befreien. 4 Da ging Naaman hinein zu seinem Herrn und sagte es ihm an und sprach: So und so hat das Mädchen aus dem Lande Israel geredet. 5 Der König von Aram sprach: So zieh hin, ich will dem König von Israel einen Brief schreiben. Und er zog hin und nahm mit sich zehn Zentner Silber und sechstausend Goldgulden und zehn Feierkleider 6 und brachte den Brief dem König von Israel; der lautete: Wenn dieser Brief zu dir kommt, siehe, so wisse, ich habe meinen Knecht Naaman zu dir gesandt, damit du ihn von seinem Aussatz befreist. 7 Und als der König von Israel den Brief las, zerriß er seine Kleider und sprach: Bin ich denn Gott, dass ich töten und lebendig machen könnte, dass er zu mir schickt, ich solle den Mann von seinem Aussatz befreien? Merkt und

seht, wie er Streit mit mir sucht! 8 Als Elisa, der Mann Gottes, hörte, dass der König von Israel seine Kleider zerrissen hatte, sandte er zu ihm und ließ ihm sagen: Warum hast du deine Kleider zerrissen? Lass ihn zu mir kommen, damit er inne werde, dass ein Prophet in Israel ist.] 9 So kam Naaman mit Rossen und Wagen und hielt vor der Tür am Hause Elisas. 10 Da sandte Elisa einen Boten zu ihm und ließ ihm sagen: Geh hin und wasche dich siebenmal im Jordan, so wird dir dein Fleisch wieder heil und du wirst rein werden. 11 Da wurde Naaman zornig und zog weg und sprach: Ich meinte, er selbst sollte zu mir herauskommen und her treten und den Namen des HERRN, seines Gottes, anrufen und seine Hand hin zum Heiligtum erheben und mich so von dem Aussatz befreien. 12 Sind nicht die Flüsse von Damaskus, Abana und Parpar, besser als alle Wasser in Israel, so dass ich mich in ihnen waschen und rein werden könnte? Und er wandte sich und zog weg im Zorn. 13 Da machten sich seine Diener an ihn heran, redeten mit ihm und sprachen: Lieber Vater, wenn dir der Prophet etwas Großes geboten hätte, hättest du es nicht getan? Wieviel mehr, wenn er zu dir sagt: Wasche dich, so wirst du rein! 14 Da stieg er ab und tauchte unter im Jordan siebenmal, wie der Mann Gottes geboten hatte. Und sein Fleisch wurde wieder heil wie das Fleisch eines jungen Knaben, und er wurde rein. 15 Und er kehrte zurück zu dem Mann Gottes mit allen seinen Leuten. Und als er hinkam, trat er vor ihn und sprach: Siehe, nun weiß ich, dass kein

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Gott ist in allen Landen, außer in Israel; so nimm nun eine Segensgabe von deinem Knecht. 16 Elisa aber sprach: So wahr der HERR lebt, vor dem ich stehe: ich nehme es nicht. Und er nötigte ihn, dass er es nehme; aber er wollte nicht. 17 Da sprach Naaman: Wenn nicht, so könnte doch deinem Knecht gegeben werden von dieser Erde eine Last, soviel zwei Maultiere tragen! Denn dein Knecht will nicht mehr andern Göttern opfern und Brandopfer darbringen, sondern allein dem HERRN. 18 Nur darin wolle der HERR deinem Knecht gnädig sein: wenn mein König in den Tempel Rimmons geht, um dort anzubeten, und er sich auf meinen Arm lehnt und ich auch anbete im Tempel Rimmons, dann möge der HERR deinem Knecht vergeben. 19 Er sprach zu ihm: Zieh hin mit Frieden!.

Eine lange, sehr dichte Geschichte, die uns da, vom Alten Testament her, überliefert wird in die heutige Zeit. So alt die Geschichte auch sein mag, entdecke ich doch viel A k t u e l l e s i n i h r. U n d d i e s e m Aktuellen ist es wert, etwas nachzuspüren, was und wer uns denn in dieser Geschichte alles begegnet. Zunächst einmal diese Suche des Naaman. Er möchte geheilt werden. Er ist einer aus der obersten Schicht in seinem Land, einer der es gewohnt ist, dass die Welt nach seinem Takt sich verhält, der die Welt in Kontrolle hat, der sich nach Außen orientiert und das Äußere gut im Griff hat. Er ist ein Hauptmann von Beruf, doch sein Name erzählt uns mehr, von seinem Menschsein, übersetzt heißt Naaman,

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„Freundlichkeit“. Einer, der freundlich ist, der der Welt auch freundlich zugewandt ist. Der großzügig, huldenreich ist, das schwingt in seinem Namen mit und zeigt etwas von seinem Wesenskern. Von seinem Inneren, dringt etwas nach Außen und spiegelt sich in diesem Namen. So blütenweiß die Weste des Naaman auch sein mag, dennoch, mit einem kleinen Nebensatz macht die Bibel dieses heile und schöne Bild etwas anstößig. Er ist „jedoch“ aussätzig, wird da erzählt. Da findet sich ein kleiner schwarzer Fleck auf seiner blütenweißen Weste. Er ist gezeichnet durch seine Krankheit, da zeigt sich etwas bei ihm, wird sichtbar, an der äußersten Fläche seiner Haut, dort, wo der Kontakt statt findet zur Welt, zu dem „Da draußen“, da ist etwas nicht in Ordnung, da ist etwas unheil, da ist etwas, was ihm zu schaffen macht. Dieses „Aussätzige“, der Aussatz, das ist eine Bezeichnung in der Bibel, die immer wieder vorkommt und eigentlich eine Symptom Beschreibung von Krankheit ganz allgemein ist. Krankheit, ganz allgemein, so sagt es die Bibel, das zeigt in der Berührung zur Welt. Da meldet sich etwas bei uns, wird sichtbar, wofür man noch gar keinen Namen dafür hat, das

noch unbeschrieben ist, ein weißes Blatt sozusagen. Darum gehen wir ja auch zum Arzt und unsere erste Mitteilung, die wir dann dem Arzt sagen, ist: „Uns fehlt etwas.“ Das liegt jeder Krankheit zugrunde, mir fehlt etwas und ich weiß nicht, was es ist. Ich suche noch den Namen, ich suche noch nach einem Grund, ich suche noch, warum das denn bei mir, ausgerechnet jetzt, kommt. Es ist doch alles in Ordnung, ich bin doch ein guter Mensch, ich habe doch niemandem etwas zu Leide getan, ich bin doch freundlich der Welt gegenüber, großzügig und huldenreich, so wie dieser Naaman. Mein Status signalisiert das doch, meint der Naaman, dass alles in Ordnung ist. Mir geht es gut. Ich bin angesehen von der Welt. Warum also ausgerechnet ich? Was fehlt mir denn? Und dann beginnt, wenn wir zum Arzt gehen, das, was wir „Diagnostik“ nennen, da wird geprüft, da werden Untersuchungen gemacht, man versucht den Grund zu finden und wenn alles getan ist, die ganzen Untersuchungen gelaufen sind, dann steht eine Überschrift über unserer Krankenakte, nämlich die Diagnose, die der Arzt gefunden hat und die dann so, oder so heißt, ein Name, eine Bezeichnung, meist in fremd klingender Sprache. Ob wir dann schlauer sind, ob der Arzt

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schlauer ist, das sei einmal dahin gestellt. Aber „das Kind“, die Krankheit, hat erst mal einen Namen gefunden und dann kann man weiter sehen, womit man dann diese Krankheit bekämpft, oder wie man die Gesundheit wieder erlangen kann. Dieser Naaman ist also auf der Suche und hat noch nichts gefunden. Und da kommt dieses kleine Mädchen ins Spiel. Und wir sollten immer, wenn die Bibel von Kindern berichtet, aufmerksam werden. Denn nicht umsonst wird im Neuen Testament das noch einmal von Jesus selber aufgegriffen, dieses Bild der Kinder. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“… Da scheint noch etwas in Ordnung zu sein, bei diesen jungen Menschen. Sie scheinen noch eine Ahnung zu haben, tiefere Weisheit zu besitzen, als es dann die Erwachsenen später haben und wir alle waren einmal Kinder. Wir alle tragen ja diesen Schatz des Wissens, von woanders her, könnten wir sagen, ja noch in uns. Diesen Schatz gilt es wieder zu entdecken. Und dies Mädchen sagt: Da gibt es einen Propheten in Israel, im Nachbarstaat und der könnte doch den Naaman von seinem Aussatz befreien. Und nun geschieht, was wir auch so kennen. Erst einmal wird der Instanzenweg beschritten. Da bekommt Naaman ein Empfehlungsschreiben, wie wir ja auch die Empfehlungsschreiben kennen. Kennst du nicht jemanden und kannst du nicht ein gutes Wort für mich einlegen, damit ich vielleicht dann Vergünstigungen bekomme?

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So ist doch unsere Hoffnung ja auch. Und unser Weg! Und wenn man dann in ein Krankenhaus kommt, dann fängt man auch „top down“ an, wie es so schön heißt. Man geht, je nach „Empfehlungsschreiben“, erst zum Chefarzt und dann zum Oberarzt und dann zu den anderen Ärzten und sucht so seinen Weg und hofft natürlich immer zuerst, an der Spitze, da sei die beste Lösung. An der Spitze dieser Welt. Die müssten doch wissen, wo es lang geht. Die haben das ganze Wissen, das Heilungspotenzial, das kommt von denen da oben. Der König, der Chefarzt, die können das. Und so macht sich auch dieser Naaman auf den Weg, bekommt ein Schreiben von seinem König für den anderen König. Vo n S p i t z e z u S p i t z e sozusagen wird er weiter gereicht, bekommt all die Zuwendung, Ehrerbietung, die man den Privatpatienten heutzutage so zuschreibt. Die bekommen das. Die haben diesen Zugang, diese Privilegien. Und dann geht es denen auch viel besser. So kommt Naaman, mit seinem Schreiben zum König im Nachbarland und als der das liest, wird er bitter böse und zornig, was ist passiert? Der König bekommt eine

Anfrage und merkt gleich, ich bin nicht zuständig, ich kann das gar nicht. Welche Blamage, da kommt jemand in Hoffnung und im Vertrauen. Da wird Erwartung geschürt, der könnte das und dann wird er bloß gestellt – Gesichtsverlust nennt man das, was dieser König erlebt. Und mit Recht wird er sauer, weil, das hat er nicht verdient, wenn man ihm mehr zuschreibt, als er tun kann und somit seine Hilflosigkeit nur offensichtlich macht. Auch das, eine Erfahrung, die wir immer wieder beobachten und erleben. Wenn wir mit Erwartungen an Menschen, an Ärzte herantreten und dann merken in der Reaktion, unsere Erwartung war zu hoch. Wir kennen das in den Krankenhäusern, wenn Menschen sich als „therapieresistent“, wie man so schön dazu sagt, erweisen. Man versucht mit allen Mitteln zu helfen und nichts schlägt an. Man kommt nicht weiter. Dann erleben auch die Ärzte diese Hilflosigkeit, diese Ohnmacht, diesen „Gesichtsverlust“, denn die Erwartung, der soll mich heilen, kann nicht erfüllt werden. Und das macht zornig. Und das erleben und spüren die Patienten, wenn die Ärzte das Zimmer mit dem Patienten darin meiden. Es gibt Untersuchungen darüber, dass Schwestern und Ärzte gerade die Zimmer nicht so häufig aufsuchen, wo Patienten liegen,

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die so schwer erkrank sind, dass man ihnen einfach nicht mehr helfen kann. Hilflosigkeit zeigt sich in diesem Verhalten. Nicht dass dies bewusst, willentlich passiert, aber eine gewisse Kränkung ist es doch, die man sich bewusst machen muss, um dann wieder gut funktionieren zu können und dennoch diese Orte, diese Patienten aufzusuchen. Und nun gibt es diesen einen Mann, der ansprechbar ist, zu dem man kommen kann, mit welchem Anliegen auch immer. Es ist der Prophet Elisa, der Schüler und Nachfolger vom Elia, dem großen Propheten aus dem Alten Testament. Und auch in diesem Namen Elisa schwingt etwas mit, das es wert ist, wenn wir es bergen und heben. Der Name Elisa ist, zusammen gesetzt aus zwei Worten, aus Elohim – für Gott und Jehoschua – das der Herr rettet, heilt, bedeutet. Der Name Elisa will sagen, Gott rettet! Gott hilft! Das verkörpert dieser Prophet! Und Propheten, das sind Menschen, nicht nur damals, sondern auch heute, die eine Botschaft aufnehmen von ganz woanders her und sie dieser Welt bringen. Navi, das hebräische Wort für Prophet heißt: er kommt und er bringt. Er kommt und bringt eine Botschaft, die nicht er selber ist, sondern die größer ist als er selber und ob er sie versteht oder nicht, das ist völlig egal, Hauptsache er bringt diese Botschaft und zeigt diesen Menschen, da ist mehr, als du nur in diesem Äußerlichen wahrnehmen kannst.

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Der Naaman, verkörpert durch seine Gestalt einen Widerspruch, mit dem Äußeren, mit dieser Welt wird er doch so wunderbar fertig, der Feldhauptmann. Und seine Krankheit ist ein Aufschrei. Nein, da ist mehr als nur dieses Kämpfen in dieser Welt, das zeigt sich an diesem Aussatz, an dem, „mir fehlt etwas“. Und es folgt wieder so eine k l a s s i s c h e Enttäuschungsgeschichte. Er kommt zu diesem Elisa und erwartet natürlich eine „Chefarztbehandlung“, er meint, was viel bringt, muss auch viel kosten. Darum nimmt er großes Gepäck mit, viele Geschenke als Honorar, nur dann wenn etwas viel kostet, dann taugt es auch etwas. So ist seine Überzeugung. Und er vermutet, für diese Heilung muss jetzt etwas ganz Spektakuläres passieren, damit er wieder in Ordnung, gesund gemacht wird. Auch wir kennen ja dies, unseren Umgang mit Krankheiten, die zu hartnäckig sind für unser Wissen. Dann kommen Millionen teure Apparate ins Spiel. Und je teurer diese Apparate sind, umso mehr erwarten wir davon, umso besser soll die Heilung sein. Je teuer, je besser.

So denken wir und so wird es uns beigebracht von der Industrie. Und dann sagt dieser Elisa: Steig in den Jordan, tauche siebenmal unter und du wirst geheilt sein. Und wie reagiert Naaman? Er ist enttäuscht, dreht sich auf dem Absatz um und tritt wütend die Heimreise an. Denkt sich, „wie kann man mit so einem Rat einem helfen? Ich war auf etwas ganz anderes aus und erwartet und dann sagt er mir: „versuche es mal mit Wasser!“ So denken wir manchmal auch: „Ja, die Naturmittel, das ist zu wenig. Da muss schon etwas stärkeres her.“ Viel hilft viel... Haman geht den Weg zurück und muss erst von seinen Dienern überredet werden, es doch zu wagen. Sich doch darauf einzulassen, es auch mit diesem zu versuchen, dem Wasser aus dem Jordan! Flüsse gibt es überall, auch in Damaskus, dort wo Haman herkommt. Natürlich! Aber der Jordan ist ein Fluss der Bibel. Und deswegen ist er anders, besonders. Es ist der Fluss, der immer wieder überwunden werden muss. Der überschritten werden muss, wo Mose unterwegs ist ins gelobte Land und dann den Jordan durchziehen muss um dorthin zu gelangen. Der Fluss, der vom Norden kommt. In dem Jesus dann später getauft wird. Es ist der Fluss, der eine Grenze markiert zu einer

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andere Wirklichkeit und dort soll er sich siebenmal untertauchen, wie die sieben Tage der Schöpfung. Er soll all das, was da ist, soll er sozusagen auf sich nehmen und annehmen, die Siebenzahl der ganzen Schöpfung auf sich nehmen und dennoch, wenn er aus diesem Fluss steigt, auf etwas Neues, eine neue Schöpfung hoffen. Das ist, was mit diesem Jordan uns nahe gebracht wird. Wir werden immer wieder bis an eine Grenze geführt und dann denken wir, es ist Schluss. Da kommt nichts mehr danach. Wir erleben das tagtäglich. Jeden Abend, wenn wir uns ins Bett legen und einschlafen, da ist erst einmal Schluss, der Schöpfungstag zu Ende. Wer weiß, ob ein nächster Morgen kommen wird? So überrascht uns das Leben mit jedem Morgen. Morgenlicht leuchte! Und wir sind ja auf dieser Spur, diesem Weg durch die Finsternis, Epiphanias-Zeit, wo ja auch das Kirchenjahr zu Ende gegangen ist und wieder etwas Neues beginnt. Immer wieder diese Schöpfungsmelodie, die jetzt der Naaman an sich selber erlebt und erfährt. Er wagt sich an die Grenze und schöpft sie ganz aus und erlebt das Neue. Ich habe von dem Begriff der Krankheit gesprochen, den die Bibel mit „Aussatz“ umschreibt und nun müssten wir uns auch das Gegenteil, das Gesunde ansehen, was denn die Bibel unter Gesundheit versteht! Im Hebräischen, der Sprache der Bibel, ist dieses Wort für „gesund“ gebaut mit dem Konsonanten des

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Wortes von der Quelle, vom Brunnen. Da, wo geschöpft wird, wo man sozusagen etwas bekommt aus dieser Quelle, wenn man sich mit der Quelle wieder verbindet, dann ist man gesund. Das sagt die Bibel. Und der Brunnen ist ja der Ort, der ganz tief reicht. Wo das Wasser von ganz tief her kommt und ich muss da draus schöpfen aus dieser Tiefe. Wenn ich mich mit der wieder verbinde, bin ich gesund. Und dieses Bild führt uns bis an den Anfang, bis hin zum Garten Gottes, den Garten Eden, das Paradies, wo ja dieser eine Fluss hervor kommt und der sich teilt in vier Flüsse und hinaus fließt in diese Welt. Mit dieser Quelle sich zu verbinden, das heißt Gesundheit. Es ist ein Bild, das wir aufnehmen sollten und könnten, um auch selber wieder zu diesem Ursprung zurück zu finden. Und nun ist dieser Naaman mit der Quelle verbunden, er schöpft sozusagen wieder daraus und er wird jung wie ein Knabe, sagt es die Bibel. Das Kind wird wieder lebendig, der Knabe ist aber auch ein Bild von Auferstehung, da geht etwas unter, dieser alte Körper und ein junger Körper steigt empor. Ein Bild von Tod und Auferstehung.

So weit geht diese Geschichte, diese Heilungsgeschichte aus dem Alten Testament und sagt uns: Immer, wenn wir mit diesen Grenzen zu tun haben, erleben wir etwas von dem: Es geht etwas zu Ende und es beginnt e t w a s N e u e s . To d u n d Auferstehung, das erleben wir inmitten unseres Lebens. Immer wieder da, wo wir an Grenzen kommen und nicht mehr weiter können, da kommt diese Überraschung von ganz woanders her. Das ist die Weihnachtszeit. Dieses Überraschende, wo wir nicht daran glauben, dass es möglich ist, dieses Jungfräuliche, dass daraus etwas Neues passiert und wir wissen nicht, woher und wieso? Aber wir dürfen es glauben und wir dürfen darauf hoffen, dass es sich auch ereignet. Auch bei uns, dieses Überraschende und Neue. Die Geburt, die geschehen kann. Und Epiphanias heißt „Die Erscheinung des Herrn“ und wir fragen gleich weiter: „Wo erscheint er?“ Dort, in deinem Leben. Dort, wo du diesen Aussatz spürst, wo du dich wundgescheuert hast mit der Welt, dort, wo du vielleicht die Richtung verloren hast und nicht mehr weißt, dass tief in dir drinnen, Gott, anwesend ist. Die Quelle wartet, dass sie wieder sprudeln kann. Wende dich ihr zu und lass dich überraschen. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 22.1.2012 in: Kapelle - Klinikum Augsburg Tondatei: DS400771

weitere Predigten von Heinz D. Müller Foto: Heinz Dieter Müller Banias 2011 der Hermon Fluss und Dan bilden den Jordan www.pfarrer-mueller.de

Naaman - Nobody is perfect 2. Könige 5, 1-19 Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr, segne du an uns Reden und Hören. Amen. Liebe Schwestern und Brüder, beinahe regelmäßig erscheint einmal pro Jahr in den großen Boulevardblättern ein Vergleichs Bericht der besten Ärzte in den Kliniken Deutschlands. Dort kann man dann nachlesen, wer denn gerade eine gute Hand für was hat, etwas besonderes kann, oder erfunden hat und dann orientieren sich die Menschen ganz gerne an diesen herausragenden Medizinern, weil sie sich von denen Vieles erhoffen. Ich möchte sie heute einladen zu einer Geschichte, aus dem Alten Testament. Auch dort ein Mensch auf der Suche nach Heilung. Ein berühmter, ein angesehener Mensch, einer, der sozusagen zu der ersten Klasse gehört hat, auf der Suche nach Heilung und nach Rettung, auch auf der Suche nach einem Arzt. Es ist eine etwas längere Geschichte, lassen Sie sich darauf ein, in eine andere, in eine entfernte Welt entführt zu werden,

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aber vielleicht dann doch mit dieser Erkenntnis beschenkt zu werden, so weit weg ist uns diese Geschichte gar nicht. Ich lese aus dem 2. Buch Könige im 5. Kapitel Naaman, der Feldhauptmann des Königs von Aram, war ein trefflicher Mann vor seinem Herrn und wert gehalten; denn durch ihn gab der HERR den Aramäern Sieg. Und er war ein gewaltiger Mann, jedoch aussätzig. 2 Aber die Kriegsleute der Aramäer waren ausgezogen und hatten ein junges Mädchen weggeführt aus dem Lande Israel; die war im Dienst der Frau Naamans. 3 Die sprach zu ihrer Herrin: Ach, dass mein Herr wäre bei dem Propheten in Samaria! Der könnte ihn von seinem Aussatz befreien. 4 Da ging Naaman hinein zu seinem Herrn und sagte es ihm an und sprach: So und so hat das Mädchen aus dem Lande Israel geredet. 5 Der König von Aram sprach: So zieh hin, ich will dem König von Israel einen Brief schreiben. Und er zog hin und nahm mit sich zehn Zentner Silber und sechstausend Goldgulden und zehn Feierkleider 6 und brachte den Brief dem König von Israel; der lautete: Wenn dieser Brief zu dir kommt, siehe, so wisse, ich habe meinen Knecht Naaman zu dir gesandt, damit du ihn von seinem Aussatz befreist. 7 Und als der König von Israel den Brief las, zerriß er seine Kleider und sprach: Bin ich denn Gott, dass ich töten und lebendig machen könnte, dass er zu mir schickt, ich solle den Mann von seinem Aussatz befreien? Merkt und

seht, wie er Streit mit mir sucht! 8 Als Elisa, der Mann Gottes, hörte, dass der König von Israel seine Kleider zerrissen hatte, sandte er zu ihm und ließ ihm sagen: Warum hast du deine Kleider zerrissen? Lass ihn zu mir kommen, damit er inne werde, dass ein Prophet in Israel ist.] 9 So kam Naaman mit Rossen und Wagen und hielt vor der Tür am Hause Elisas. 10 Da sandte Elisa einen Boten zu ihm und ließ ihm sagen: Geh hin und wasche dich siebenmal im Jordan, so wird dir dein Fleisch wieder heil und du wirst rein werden. 11 Da wurde Naaman zornig und zog weg und sprach: Ich meinte, er selbst sollte zu mir herauskommen und her treten und den Namen des HERRN, seines Gottes, anrufen und seine Hand hin zum Heiligtum erheben und mich so von dem Aussatz befreien. 12 Sind nicht die Flüsse von Damaskus, Abana und Parpar, besser als alle Wasser in Israel, so dass ich mich in ihnen waschen und rein werden könnte? Und er wandte sich und zog weg im Zorn. 13 Da machten sich seine Diener an ihn heran, redeten mit ihm und sprachen: Lieber Vater, wenn dir der Prophet etwas Großes geboten hätte, hättest du es nicht getan? Wieviel mehr, wenn er zu dir sagt: Wasche dich, so wirst du rein! 14 Da stieg er ab und tauchte unter im Jordan siebenmal, wie der Mann Gottes geboten hatte. Und sein Fleisch wurde wieder heil wie das Fleisch eines jungen Knaben, und er wurde rein. 15 Und er kehrte zurück zu dem Mann Gottes mit allen seinen Leuten. Und als er hinkam, trat er vor ihn und sprach: Siehe, nun weiß ich, dass kein

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Gott ist in allen Landen, außer in Israel; so nimm nun eine Segensgabe von deinem Knecht. 16 Elisa aber sprach: So wahr der HERR lebt, vor dem ich stehe: ich nehme es nicht. Und er nötigte ihn, dass er es nehme; aber er wollte nicht. 17 Da sprach Naaman: Wenn nicht, so könnte doch deinem Knecht gegeben werden von dieser Erde eine Last, soviel zwei Maultiere tragen! Denn dein Knecht will nicht mehr andern Göttern opfern und Brandopfer darbringen, sondern allein dem HERRN. 18 Nur darin wolle der HERR deinem Knecht gnädig sein: wenn mein König in den Tempel Rimmons geht, um dort anzubeten, und er sich auf meinen Arm lehnt und ich auch anbete im Tempel Rimmons, dann möge der HERR deinem Knecht vergeben. 19 Er sprach zu ihm: Zieh hin mit Frieden!.

Eine lange, sehr dichte Geschichte, die uns da, vom Alten Testament her, überliefert wird in die heutige Zeit. So alt die Geschichte auch sein mag, entdecke ich doch viel A k t u e l l e s i n i h r. U n d d i e s e m Aktuellen ist es wert, etwas nachzuspüren, was und wer uns denn in dieser Geschichte alles begegnet. Zunächst einmal diese Suche des Naaman. Er möchte geheilt werden. Er ist einer aus der obersten Schicht in seinem Land, einer der es gewohnt ist, dass die Welt nach seinem Takt sich verhält, der die Welt in Kontrolle hat, der sich nach Außen orientiert und das Äußere gut im Griff hat. Er ist ein Hauptmann von Beruf, doch sein Name erzählt uns mehr, von seinem Menschsein, übersetzt heißt Naaman,

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„Freundlichkeit“. Einer, der freundlich ist, der der Welt auch freundlich zugewandt ist. Der großzügig, huldenreich ist, das schwingt in seinem Namen mit und zeigt etwas von seinem Wesenskern. Von seinem Inneren, dringt etwas nach Außen und spiegelt sich in diesem Namen. So blütenweiß die Weste des Naaman auch sein mag, dennoch, mit einem kleinen Nebensatz macht die Bibel dieses heile und schöne Bild etwas anstößig. Er ist „jedoch“ aussätzig, wird da erzählt. Da findet sich ein kleiner schwarzer Fleck auf seiner blütenweißen Weste. Er ist gezeichnet durch seine Krankheit, da zeigt sich etwas bei ihm, wird sichtbar, an der äußersten Fläche seiner Haut, dort, wo der Kontakt statt findet zur Welt, zu dem „Da draußen“, da ist etwas nicht in Ordnung, da ist etwas unheil, da ist etwas, was ihm zu schaffen macht. Dieses „Aussätzige“, der Aussatz, das ist eine Bezeichnung in der Bibel, die immer wieder vorkommt und eigentlich eine Symptom Beschreibung von Krankheit ganz allgemein ist. Krankheit, ganz allgemein, so sagt es die Bibel, das zeigt sich in der Berührung zur Welt. Da meldet sich etwas bei uns, wird sichtbar, wofür man noch gar keinen Namen dafür hat, das

noch unbeschrieben ist, ein weißes Blatt sozusagen. Darum gehen wir ja auch zum Arzt und unsere erste Mitteilung, die wir dann dem Arzt sagen, ist: „Uns fehlt etwas.“ Das liegt jeder Krankheit zugrunde, mir fehlt etwas und ich weiß nicht, was es ist. Ich suche noch den Namen, ich suche noch nach einem Grund, ich suche noch, warum das denn bei mir, ausgerechnet jetzt, kommt. Es ist doch alles in Ordnung, ich bin doch ein guter Mensch, ich habe doch niemandem etwas zu Leide getan, ich bin doch freundlich der Welt gegenüber, großzügig und huldenreich, so wie dieser Naaman. Mein Status signalisiert das doch, meint der Naaman, dass alles in Ordnung ist. Mir geht es gut. Ich bin angesehen von der Welt. Warum also ausgerechnet ich? Was fehlt mir denn? Und dann beginnt, wenn wir zum Arzt gehen, das, was wir „Diagnostik“ nennen, da wird geprüft, da werden Untersuchungen gemacht, man versucht den Grund zu finden und wenn alles getan ist, die ganzen Untersuchungen gelaufen sind, dann steht eine Überschrift über unserer Krankenakte, nämlich die Diagnose, die der Arzt gefunden hat und die dann so, oder so heißt, ein Name, eine Bezeichnung, meist in fremd klingender Sprache. Ob wir dann schlauer sind, ob der Arzt

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schlauer ist, das sei einmal dahin gestellt. Aber „das Kind“, die Krankheit, hat erst mal einen Namen gefunden und dann kann man weiter sehen, womit man dann diese Krankheit bekämpft, oder wie man die Gesundheit wieder erlangen kann. Dieser Naaman ist also auf der Suche und hat noch nichts gefunden. Und da kommt dieses kleine Mädchen ins Spiel. Und wir sollten immer, wenn die Bibel von Kindern berichtet, aufmerksam werden. Denn nicht umsonst wird im Neuen Testament das noch einmal von Jesus selber aufgegriffen, dieses Bild der Kinder. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“… Da scheint noch etwas in Ordnung zu sein, bei diesen jungen Menschen. Sie scheinen noch eine Ahnung zu haben, tiefere Weisheit zu besitzen, als es dann die Erwachsenen später haben und wir alle waren einmal Kinder. Wir alle tragen ja diesen Schatz des Wissens, von woanders her, könnten wir sagen, ja noch in uns. Diesen Schatz gilt es wieder zu entdecken. Und dies Mädchen sagt: Da gibt es einen Propheten in Israel, im Nachbarstaat und der könnte doch den Naaman von seinem Aussatz befreien. Und nun geschieht, was wir auch so kennen. Erst einmal wird der Instanzenweg beschritten. Da bekommt Naaman ein Empfehlungsschreiben, wie wir ja auch die Empfehlungsschreiben kennen. Kennst du nicht jemanden und kannst du nicht ein gutes Wort für mich einlegen, damit ich vielleicht dann Vergünstigungen bekomme?

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So ist doch unsere Hoffnung ja auch. Und unser Weg! Und wenn man dann in ein Krankenhaus kommt, dann fängt man auch „top down“ an, wie es so schön heißt. Man geht, je nach „Empfehlungsschreiben“, erst zum Chefarzt und dann zum Oberarzt und dann zu den anderen Ärzten und sucht so seinen Weg und hofft natürlich immer zuerst, an der Spitze, da sei die beste Lösung. An der Spitze dieser Welt. Die müssten doch wissen, wo es lang geht. Die haben das ganze Wissen, das Heilungspotenzial, das kommt von denen da oben. Der König, der Chefarzt, die können das. Und so macht sich auch dieser Naaman auf den Weg, bekommt ein Schreiben von seinem König für den anderen König. Vo n S p i t z e z u S p i t z e sozusagen wird er weiter gereicht, bekommt all die Zuwendung, Ehrerbietung, die man den Privatpatienten heutzutage so zuschreibt. Die bekommen das. Die haben diesen Zugang, diese Privilegien. Und dann geht es denen auch viel besser. So kommt Naaman, mit seinem Schreiben zum König im Nachbarland und als der das liest, wird er bitter böse und zornig, was ist passiert? Der König bekommt eine

Anfrage und merkt gleich, ich bin nicht zuständig, ich kann das gar nicht. Welche Blamage, da kommt jemand in Hoffnung und im Vertrauen. Da wird Erwartung geschürt, der könnte das und dann wird er bloß gestellt – Gesichtsverlust nennt man das, was dieser König erlebt. Und mit Recht wird er sauer, weil, das hat er nicht verdient, wenn man ihm mehr zuschreibt, als er tun kann und somit seine Hilflosigkeit nur offensichtlich macht. Auch das, eine Erfahrung, die wir immer wieder beobachten und erleben. Wenn wir mit Erwartungen an Menschen, an Ärzte herantreten und dann merken in der Reaktion, unsere Erwartung war zu hoch. Wir kennen das in den Krankenhäusern, wenn Menschen sich als „therapieresistent“, wie man so schön dazu sagt, erweisen. Man versucht mit allen Mitteln zu helfen und nichts schlägt an. Man kommt nicht weiter. Dann erleben auch die Ärzte diese Hilflosigkeit, diese Ohnmacht, diesen „Gesichtsverlust“, denn die Erwartung, der soll mich heilen, kann nicht erfüllt werden. Und das macht zornig. Und das erleben und spüren die Patienten, wenn die Ärzte das Zimmer mit dem Patienten darin meiden. Es gibt Untersuchungen darüber, dass Schwestern und Ärzte gerade die Zimmer nicht so häufig aufsuchen, wo Patienten liegen,

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die so schwer erkrank sind, dass man ihnen einfach nicht mehr helfen kann. Hilflosigkeit zeigt sich in diesem Verhalten. Nicht dass dies bewusst, willentlich passiert, aber eine gewisse Kränkung ist es doch, die man sich bewusst machen muss, um dann wieder gut funktionieren zu können und dennoch diese Orte, diese Patienten aufzusuchen. Und nun gibt es diesen einen Mann, der ansprechbar ist, zu dem man kommen kann, mit welchem Anliegen auch immer. Es ist der Prophet Elisa, der Schüler und Nachfolger vom Elia, dem großen Propheten aus dem Alten Testament. Und auch in diesem Namen Elisa schwingt etwas mit, das es wert ist, wenn wir es bergen und heben. Der Name Elisa ist, zusammen gesetzt aus zwei Worten, aus Elohim – für Gott und Jehoschua – das der Herr rettet, heilt, bedeutet. Der Name Elisa will sagen, Gott rettet! Gott hilft! Das verkörpert dieser Prophet! Und Propheten, das sind Menschen, nicht nur damals, sondern auch heute, die eine Botschaft aufnehmen von ganz woanders her und sie dieser Welt bringen. Navi, das hebräische Wort für Prophet heißt: er kommt und er bringt. Er kommt und bringt eine Botschaft, die nicht er selber ist, sondern die größer ist als er selber und ob er sie versteht oder nicht, das ist völlig egal, Hauptsache er bringt diese Botschaft und zeigt diesen Menschen, da ist mehr, als du nur in diesem Äußerlichen wahrnehmen kannst. Der Naaman, verkörpert

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durch seine Gestalt einen Widerspruch, mit dem Äußeren, mit dieser Welt wird er doch so wunderbar fertig, der Feldhauptmann. Und seine Krankheit ist ein Aufschrei. Nein, da ist mehr als nur dieses Kämpfen in dieser Welt, das zeigt sich an diesem Aussatz, an dem, „mir fehlt etwas“. Und es folgt wieder so eine k l a s s i s c h e Enttäuschungsgeschichte. Er kommt zu diesem Elisa und erwartet natürlich eine „Chefarztbehandlung“, er meint, was viel bringt, muss auch viel kosten. Darum nimmt er großes Gepäck mit, viele Geschenke als Honorar, nur dann, wenn etwas viel kostet, dann taugt es auch etwas. So ist seine Überzeugung. Und er vermutet, für diese Heilung muss jetzt etwas ganz Spektakuläres passieren, damit er wieder in Ordnung, gesund gemacht wird. Auch wir kennen ja dies, unseren Umgang mit Krankheiten, die zu hartnäckig sind für unser Wissen. Dann kommen Millionen teure Apparate ins Spiel. Und je teurer diese Apparate sind, umso mehr erwarten wir davon, umso besser soll die Heilung sein. Je teurer, je besser. So denken wir und so wird es uns beigebracht von der

Industrie. Und dann sagt dieser Elisa: Steig in den Jordan, tauche siebenmal unter und du wirst geheilt sein. Und wie reagiert Naaman? Er ist enttäuscht, dreht sich auf dem Absatz um und tritt wütend die Heimreise an. Denkt sich, „wie kann man mit so einem Rat einem helfen? Ich war auf etwas ganz anderes aus und hab‘s erwartet und dann sagt er mir: „versuche es mal mit Wasser!“ So denken wir manchmal auch: „Ja, die Naturmittel, das ist zu wenig. Da muss schon etwas Stärkeres her.“ Viel hilft viel... Naaman geht den Weg zurück und muss erst von seinen Dienern überredet werden, es doch zu wagen. Sich doch darauf einzulassen, es auch mit diesem zu versuchen, dem Wasser aus dem Jordan! Flüsse gibt es überall, auch in Damaskus, dort wo Naaman her kommt. Natürlich! Aber der Jordan ist ein Fluss der Bibel. Und deswegen ist er anders, besonders. Es ist der Fluss, der immer wieder überwunden werden muss. Der überschritten werden muss, wo Mose unterwegs ist ins gelobte Land und dann den Jordan durchziehen muss, um dorthin zu gelangen. Der Fluss, der vom Norden her kommt. In dem Jesus dann später getauft wird. Es ist „der“ Fluss, der eine Grenze markiert zu einer

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andere Wirklichkeit und dort soll er sich siebenmal untertauchen, wie die sieben Tage der Schöpfung. Er soll all das, was da ist, soll er sozusagen auf sich nehmen und annehmen, die Siebenzahl der ganzen Schöpfung auf sich nehmen und dennoch, wenn er aus diesem Fluss steigt, auf etwas Neues, eine neue Schöpfung hoffen. Das ist, was mit diesem Jordan uns nahe gebracht wird. Wir werden immer wieder bis an eine Grenze geführt und dann denken wir, es ist Schluss. Da kommt nichts mehr danach. Wir erleben das tagtäglich. Jeden Abend, wenn wir uns ins Bett legen und einschlafen, da ist erst einmal Schluss, der Schöpfungstag zu Ende. Wer weiß, ob ein nächster Morgen kommen wird? So überrascht uns das Leben mit jedem Morgen. Morgenlicht leuchte! Und wir sind ja auf dieser Spur, diesem Weg durch die Finsternis, Epiphanias-Zeit, wo ja auch das Kirchenjahr zu Ende gegangen ist und wieder etwas Neues beginnt. Immer wieder diese Schöpfungsmelodie, die jetzt der Naaman an sich selber erlebt und erfährt. Er wagt sich an die Grenze und schöpft sie ganz aus und erlebt das Neue. Ich habe von dem Begriff der Krankheit gesprochen, den die Bibel mit „Aussatz“ umschreibt und nun müssten wir uns auch das Gegenteil, das Gesunde ansehen, was denn die Bibel unter Gesundheit versteht! Im Hebräischen, der Sprache der Bibel, ist dieses Wort für „gesund“ gebaut mit dem Konsonanten des

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Wortes von der Quelle, vom Brunnen. Da, wo geschöpft wird, wo man sozusagen etwas bekommt aus dieser Quelle, wenn man sich mit der Quelle wieder verbindet, dann ist man gesund. Das sagt die Bibel. Und der Brunnen ist ja der Ort, der ganz tief reicht. Wo das Wasser von ganz tief her kommt und ich muss da draus schöpfen aus dieser Tiefe. Wenn ich mich mit der wieder verbinde, bin ich gesund. Und dieses Bild führt uns bis an den Anfang, bis hin zum Garten Gottes, den Garten Eden, das Paradies, wo ja dieser eine Fluss hervor kommt und der sich teilt in vier Flüsse und hinaus fließt in diese Welt. Mit dieser Quelle sich zu verbinden, das heißt Gesundheit. Es ist ein Bild, das wir aufnehmen sollten und könnten, um auch selber wieder zu diesem Ursprung zurück zu finden. Und nun ist dieser Naaman mit der Quelle verbunden, er schöpft sozusagen wieder daraus und er wird jung wie ein Knabe, sagt es die Bibel. Das Kind wird wieder lebendig, der Knabe ist aber auch ein Bild von Auferstehung, da geht etwas unter, dieser alte Körper und ein junger Körper steigt empor. Ein Bild von Tod und Auferstehung.

So weit geht diese Geschichte, diese Heilungsgeschichte aus dem Alten Testament und sagt uns: Immer, wenn wir mit diesen Grenzen zu tun haben, erleben wir etwas von dem: Es geht etwas zu Ende und es beginnt e t w a s N e u e s . To d u n d Auferstehung, das erleben wir inmitten unseres Lebens. Immer wieder da, wo wir an Grenzen kommen und nicht mehr weiter können, da kommt diese Überraschung von ganz woanders her. Das ist die Weihnachtszeit. Dieses Überraschende, wo wir nicht daran glauben, dass es möglich ist, dieses Jungfräuliche, dass daraus etwas Neues passiert und wir wissen nicht, woher und wieso? Aber wir dürfen es glauben und wir dürfen darauf hoffen, dass es sich auch ereignet. Auch bei uns, dieses Überraschende und Neue. Die Geburt, die geschehen kann. Und Epiphanias heißt „Die Erscheinung des Herrn“ und wir fragen gleich weiter: „Wo erscheint er?“ Dort, in deinem Leben. Dort, wo du diesen Aussatz spürst, wo du dich wundgescheuert hast mit der Welt, dort, wo du vielleicht die Richtung verloren hast und nicht mehr weiter weißt, dass tief in dir drinnen, Gott, anwesend ist. Die Quelle wartet, dass sie wieder sprudeln kann. Wende dich ihr zu und lass dich überraschen. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: Do. 09-02-2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400772

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Das Ohr und das Wort Liebe Schwestern und Brüder, ich habe heute dies kleine Kunstwerk mitgebracht und Ihnen auch ein Bild mit dazu in die Hand gegeben. Darauf sehen Sie das Ohr aus Holz, das wir dieses Adventstreffen von meinem Vorgänger, einem Seelsorger, als Geschenk bekommen haben. Seitdem steht es bei uns im Büro und wartet noch darauf, dass wir einen geeigneten Platz dafür finden, wo es hängen oder stehen kann. Ein überdimensioniertes Ohr, geschenkt von einem Seelsorger an Seelsorger, ein Hinweis- oder Erinnerungszeichen, Symbol für unsere Arbeit. Das Ohr, das so eine wichtige Rolle spielt und Funktion ausübt und das für etwas steht, was wir immer wieder, auch in den Gottesdiensten, verkünden, das Wort Gottes, auf das das Ohr des Menschen sich bezieht. Beide aneinander gewiesen, beide sollen eine Beziehung aufnehmen. Und dies, unser Ohr ist ein ganz wunderbares Gebilde. Ich habe es mir noch einmal genau angesehen, in medizinischen Büchern und habe festgestellt, dass uns dieses Ohr auf den Weg nimmt und eine Geschichte erzählt.

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Zunächst zeigt es eine Außenfläche, von der wir meinen es wäre schon alles, das Außenohr oder Ohrmuschel, das was wir fühlen und waschen können, aber das ist noch nicht das ganze Ohr. Dann von hier geht es hinein zum mittleren Teil, dem Mittelohr, das mit dem Trommelfell dann endet. Und von dort aus beginnt es spannend und mysteriös zu werden, denn dort geht der Weg weiter über den Hammer, den Ambos und den Steigbügel, die kleinsten und härtesten Knochen im Menschen. Und dort geht es hinüber über einen Abgrund sozusagen, , denn dieser Zwischenraum vom Trommelfell hin zu dem Innenohr, der Schnecke, muss. Und in dieser Schnecke geht es dann über die Sinnesnerven weiter zum Gehirn und dort werden die Informationen verarbeitet, die von außen den Menschen erreichen. Sie merken, welch weiten Weg die Schallwellen gehen müssen bis sie zum Wort werden und verstanden werden. Vom Außenohr, der Ohrmuschel, die bei jedem Menschen einmalig und einzigartig ist, hin zu dem Trommelfell, dann über Hammer, Amboss und Steigbügel zu der Gehörschnecke und dann über 25.000 Sinneszellen, Sinnesnerven hin zum Gehirn. Wo die Schallwellen zu Informationen, Bedeutung und Sinn verarbeitet werden. Ein langer Weg! Und Sie werden merken, auf diesem Weg kann so vieles geschehen, vieles sogar in die Irre gehen, oder missinterpretiert werden, dass es dann eben ganz anders ankommt, als es draußen gesendet worden ist. Und mit den Jahren, da verlieren wir auch noch die aktive Hörkraft und die Missverständnisse werden sich damit auch erhöhen. Sie merken, wir sind angewiesen, dass dieser lange Weg auch so zurück gelegt wird, dass wirklich das ankommt bei uns, was vom Sender aus abgeschickt worden ist. Viele Möglichkeiten der Missinterpretation liegen dazwischen. Und wir könnten fast sagen: Ein Wunder! Ein Wunder, wenn wir uns verstehen, wenn wir miteinander reden. Ganz besonders in der Kommunikation, dem Reden unter einander, merken wir, wie schwierig es ist, wenn zwei Menschen einander etwas erzählen, meistens kommt was ganz anderes an, als was auf der anderen Seite gesagt worden ist. Die moderne Kommunikationsforschung sagt dazu: Jeder Mensch hat vier Ohren, mit denen er höret. Wenn ich jetzt sage: „Das ist meine Bibel“, dann stecken darin schon vier Möglichkeiten, wie Sie das verstehen könnten. Zum einen ist das erst mal eine Information, „meine Bibel“. Aber Sie könnten es auch so hören, dass ich mit Ihnen dadurch eine Beziehung aufnehmen möchte und sie „hören“ heraus: Meine Bibel ist mir wichtig, vielleicht sollte sie auch für dich wichtig werden. Dann könnte diese Information nicht nur eine Information sein, sondern auch ein Appell an Sie: Mach mir doch das nach. Und: Es könnte unsere Beziehung verbessern, wenn Sie heraushören: Ich zeige dir meine, zeig’ mir du deine und lass uns darüber ins Gespräch kommen. So vieles ist in diesem einen Wort, das wir sprechen, ausgedrückt und wir können von Glück reden, wenn wir mit den gleichen Ohren hören und uns dann auch verstehen. Und wir wissen, von den Kindern, die im Mutterleib sind, dass sie ab dem 6. Monat Töne wahrnehmen können, jenseits ihres Raumes. Das heißt, das Wort erreicht uns, die Töne erreichen uns, bevor wir auf die Welt kommen, von einer ganz „anderen Welt“ her. Vom Ohr heißt es auch: es ist das erste das kommt und das letzte das geht. Man kann einen Menschen auf dem Sterbebett, im Koma, noch erreichen über das Ohr. Ihm noch etwas sagen, ihm etwas mitgeben, ein gutes Wort, den Segen.

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So wunderbar ist der Mensch gebaut, so wunderbar ist dieses Ohr, dass wir es nicht nur einfach, sondern gleich in einer doppelten Ausführung haben, das zweite Ohr dient zu unserer Orientierung, dass wir nicht nur hören sondern auch fest stellen können wo wir uns im Raum befinden. Und erstaunlich genug, in dieses Ohr, in dieses menschliche Ohr, legt nun Gott sein Wort. So möchte er sich den Menschen nähern, über dieses Ohr. Und wir merken, wie wichtig es ist, dass die Übersetzung des Wortes auch wirklich gelingt. Deswegen gibt es diese vielen Bibelübersetzungen und vielen Predigten, die immer wieder auf ihre Art und Weise etwas übersetzen von dem Wort, das wir hören und lesen und das wir dann hinein sprechen in diese Welt. So vielfältig ist dieses Wort und so besonders, das Wort sagt uns das Johannesevangelium: das Wort war bei Gott und Gott selber ist das Wort und dieses Wort wurde Fleisch. Welch wundersamer Weg, welch wundersames Geschehen. Dass Gott sich wieder auf den Weg macht und Fleisch wird und diese „Übersetzung“, diesen Weg der Übersetzung auch selber geht. Deswegen ist es auch wichtig, dieses Wort vielfältig aufzunehmen und zu verstehen. Dass wir merken, mit dem Hören ist ja auch etwas anderes noch gemeint, nämlich das, was das Innenohr vielleicht als „Zwischentöne“ vernehmen kann. Ein ganz anderes Wort, dass die Stimme auch zu einer Stimmung wird in uns selber. Wenn das Wort sich verwandelt und dann Raum nimmt in uns, dass wir glauben Gott selber zu hören. So können wir uns dann auch der Bibel anders nähern, dass wir merken, diese Worte Gottes haben einen Weg hinter sich. Nicht nur diesen Weg von ganz oben nach ganz unten, von den äußersten Höhe, bis in die tiefsten Tiefen dieser Welt, sondern auch, vom Buch zum Menschen, von Mensch zu Mensch, von Ohr zu Ohr, legt es immer wieder einen Weg zurück. Und auf diesem Weg möchte es verwandeln, möchte es den, den es erreicht in eine Stimmung bringen, die tröstlich ist, die aufmuntert, die uns Kraft gibt. Die uns die Ängste nimmt, wenn wir in Ängsten sind, die uns Hoffnung gibt, wenn wir in Hoffnungslosigkeit uns befinden. Die uns erreicht in unserer Krankheit, in unserem Bedrücktsein und die uns verwandeln möchte. Weil jedes Wort uns sagen möchte: Ich komme einen langen Weg und dieser lange Weg, der gilt dir. Von Gott her komme ich, um dich zu erreichen und dich aufzurichten, wie wir es aus den Psalmen immer wieder hören und lesen können. Denn dort, z. B. im 17. Psalm, steht: „Ich rufe zu dir, denn du Gott wirst mich erhören. Neige deine Ohren zu mir und höre mein Reden.“ So lädt uns die Bibel ein, von diesem Wort Gebrauch zu nehmen, das Ohr immer wieder hinzuhalten und zu wissen, wir hören Gott, wenn wir sein Wort hören und er selber hört auf unser Schreien und Rufen und dann reagiert er auch. Dann reagiert er und möchte uns erreichen, uns Trost zusprechen und uns helfen. Mögen wir Gottes Wort so immer wieder neu vernehmen und uns von ihm erreichen lassen. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten an: Sexagesimä 12-02-2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400774

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Wer Ohren hat zu hören, der höre! Lk. 8, 4-8 Worte aus Psalm 121: Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe. Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen und der dich behütet, schläft nicht. Siehe der Hüter Israels schläft und schlummert nicht. Der Herr behütet dich. Der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand, dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts. Der Herr behüte dich vor allem Übel. Er behüte deine Seele. Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit. Amen. Wir beten: Guter und barmherziger Gott, am Morgen dieses wunderschönen Tages, dem blauen Himmel und der goldenen Sonne, da sind wir hier versammelt, um auf dein Wort zu hören, uns ansprechen zu lassen von dir, woher wir dieses Wort uns ersehnen. Und wir heben auch unsere Augen auf zu dir Gott, nehmen mit diesem Blick all das mit, was uns belastet, uns auf der Seele liegt, uns ängstigt und schmerzt. Und wir

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halten es dir hin und vertrauen auf deinen gütigen und barmherzigen Anblick, der uns erwärmt an Leib und Seele uns Kraft gibt, Mut gibt, uns aufrichtet von innen her, dass wir unseren Weg gehen können durch diesen Tag, den Weg des Lebens, den Weg, den du uns aufgezeigt hast, voll Vertrauen, dass es ein Weg ist hin zu dir ins Vaterhaus. Dafür danken wir dir durch Jesus Christus, deinen Sohn, unseren Herrn, Amen. Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen. Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Lukas-Evangelium im 8. Kapitel: Als nun eine große Menge beieinander war und sie aus den Städten zu ihm eilten, redete er in einem Gleichnis: 5 Es ging ein Sämann aus, zu säen seinen Samen. Und indem er säte, fiel einiges auf den Weg und wurde zertreten, und die Vögel unter dem Himmel fraßen's auf. 6 Und einiges fiel auf den Fels; und als es aufging, verdorrte es, weil es keine Feuchtigkeit hatte. 7 Und einiges fiel mitten unter die Dornen; und die Dornen gingen mit auf und erstickten's. 8 Und einiges fiel auf gutes Land; und es ging auf und trug hundertfach Frucht. Als er das sagte, rief er: Wer Ohren hat zu hören, der höre! Liebe Gemeinde, diese Holzskulptur steht seit ein paar Wochen bei uns im Büro der Seelsorge. Ein Geschenk von einem Seelsorger an die Seelsorger. Eine Botschaft, könnten wir sagen, wenn da jemand, der in der Seelsorge tätig ist, gerade das Ohr zum Geschenk aussucht und es dann seinen Mitbrüdern mit auf den Weg gibt. Das Hören spielt in unserem Beruf, hier in unserer Tätigkeit als Klinikseelsorger eine große Rolle. Raum geben für die Seele, so umschreiben wir unseren Dienst und sagen dazu, Zuhören ist da der erste Schritt. Zuhören und Hinhören auf das, was die Menschen uns anvertrauen, was sie loswerden wollen. Raum geben, für die Lebensgeschichten, die sie mitbringen, für den Schmerz, der sich in das Wort hinein übersetzen möchte, um dann eben auch behandelt werden zu können. Spurensuche nach dem Sinn unseres Lebens. All das hat mit dem Ohr zu tun, findet über das Ohr statt, spielt das Ohr eine ganz große Rolle. Wen wundert es dann, wenn wir in die Bibel sehen und entdecken, dass gerade in den Evangelien sechsmal diese Worte zu finden sind: wer Ohren hat zu hören, der höre! Und dann habe ich gestaunt zu sehen, dass im letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung des Johannes, dieses, „Wer Ohren hat zu hören“, gleich achtmal vorkommt. Also beinahe doppelt so oft, wie in den vier Evangelien zusammen genommen. Wie um uns noch mal aufmerksam zu machen, welch wichtige Bedeutung dieses Ohr hat. Und so möchte ich mit Ihnen heute in der Predigt den Weg des Wortes durch das Ohres beschreiten, hinsehen und hinhören, wie das Ohr aufgebaut ist und was in diesem Ohr alles passiert, wenn die Schallwellen sich auf den Weg machen und von unserem Ohr dann aufgenommen werden, vom Außenohr, der Ohrmuschel zuerst. Das ist das zunächst sichtbare Zeichen von unserem Ohr und wir

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meinen, das wäre schon alles. Und erstaunlich so habe ich gelernt, bei dem noch mal Hinhören und Hinsehen, was denn dieses Ohr ist, dass jede Ohrmuschel einzigartig ist. Genauso einzigartig wie unser Fingerabdruck einmalig ist. Es gibt keine zwei Ohrmuscheln, die exakt gleich sind, bei dieser Vielzahl der Menschen – bemerkenswert! Diese Einsicht will uns schon zu Beginn etwas mit auf den Weg geben und sagen: All das, was dich erreicht in deinem Ohr, das ist sehr persönlich, hat etwas mit dir zu tun, ist einzigartig, wie deine Ohrmuschel es ist. So, wie du es verstehst, versteht es vielleicht niemand anderes. Deswegen ist das, was wir hören, ja auch so bedeutungsvoll und deswegen sollten wir über das, was wir hören auch ins Gespräch kommen mit den anderen, damit wir uns gegenseitig bereichern, denn keiner wird wohl das, was er hört, genauso verstehen, wie der andere das tut. Wenn ich predige, dann merke ich an den Rückmeldungen, die mich beim Verabschieden am Ende des Gottesdienstes erreichen, jeder hört auf seine Weise, mit seinen Ohren. Natürlich und hoffentlich nicht so, wie ich das immer meinte, dass man es hören sollte, jeder hat ja diese Freiheit, das Wort auf sich wirken zu lassen, mit sich in Beziehung zu bringen und dann seine Schlüsse zu ziehen, seinen Weg mit dem Wort zu gehen. Schon an diesem äußeren Ohr entscheidet sich so wesentliches. Von der Ohrmuschel aufgenommen geht nun der Schall, das Wort, hinein ins Mittelohr und trifft an dessen Ende auf das Trommelfell kommt hier sozusagen an eine Grenze. Wie an jeder Grenze findet nun ein Übergang statt. Der Schall bringt nun diese vermeintliche Grenze, das Trommelfell, in Schwingung. Und die Schwingungen setzen ihren Weg nun fort und, nun wird es richtig spannend, sie passieren einen Übergang aus Knochen, die Hammer, Amboss und Steigbügel heißen. Das sind die kleinsten und härtesten Knochen, die wir in unserem Körper haben. Ein kleines Wunder, auch da. Warum nun gerade diese Namen für die Knochen: Hammer, Amboss und Steigbügel? Vielleicht hat man sich etwas dabei gedacht, vielleicht auch nicht, aber für mich klingt da etwas ganz Wichtiges mit, in diesen Worten. Der Hammer, wie auch der Amboss, da wird etwas behauen, wie beim Schmied wenn er heißes Eisen umformen will wenn er starres Material durch Hitze und Schläge des Hammers bearbeitet. Das will sagen, hier findet ein Prozess, eine Umformung, eine Transformation statt, von den Schallwellen hinüber in etwas anderes. Das, was dann weitergeht und von der Schnecke im Innenohr aufgenommen wird. Auch dort, der Weg geht weiter, er wendet und windet sich und versucht immer mehr, zur Mitte hin zu finden. Das Wort wird bewegt, wird umgeformt im Ohr. Und wir versuchen ja auch in den Worten den Sinn, der darin verborgen liegt, zu ergründen. Das Wort bringt etwas mit, und wir müssen dann dieses Wort öffnen, um hin zu kommen zu dem, was mit diesem Wort uns mitgegeben wird. Und in dieser Schnecke da wird es immer wieder gewendet, hin zu einer Mitte. Für was steht dies Wort „Schnecke“? Zunächst für ein Wesen, das ganz langsam sich bewegt und das sich schnell zurückzieht, sobald man es berühren will, aber etwas Besonderes trägt diese Schnecke mit sich, nämlich dieses Schneckenhaus. Die Schnecke

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führt ihr Heim mit sich, ist immer ihrem Haus, dem zu Hause, ganz nahe. Und Sie spüren vielleicht auch gleich, was das bedeuten könnte, wenn wir uns an diese bekannte Geschichte aus dem neuen Testament erinnern, nämlich an diesen Sohn, der zunächst zu Hause ist und sich dann aufmacht in die Fremde, das Zuhause verlässt. Wir haben ein Zuhause, der Mensch hat ein Zuhause, eine Heimat und er vergisst es immer wieder. Er verlässt es immer wieder. Und dann kommt dieses Wort und erinnert ihn, das Wort vom Vater, das die Sehnsucht in ihm weckt: Komm doch nach Hause, komm doch zurück. Wir haben dieses schon in uns. Die Schnecke erinnert uns in unserem Ohr, dass diese Heimat zu uns gehört. Auch wenn wir sie vergessen und uns manchmal davon entfernen, aber sie ist uns versprochen, gehört zum Menschen. Wie tröstlich, das schon in uns zu haben. Und dieses Wort erinnert uns immer wieder daran. So merken wir schon, wie das in diesem Wort ja immer mehr mitschwingt, mitkommt. Und dann verstehen wir vielleicht dieses Gleichnis auch besser, dass dieses Wort ja da ist, aber manchmal fällt es bei uns auf einen Stein oder unter Disteln oder es bleibt liegen in der Sonne und vertrocknet. Wir hören die Worte und hören sie nicht recht, sind vielleicht mit etwas anderem beschäftigt, sind vielleicht etwas taub geworden und nicht mehr hörbereit. Und dann erinnert uns dieses Wort von Jesus daran: Wer Ohren hat zu hören, der höre. Und er weiß ja ganz genau, wir haben ja diese Ohren. Wir haben ja schon alles in uns, bei uns, es muss nur noch mal so richtig „Klick“ machen in uns selber, damit wir auf die Spur kommen und mehr hören, was mit diesem Wort uns gegeben ist. Und dann merken wir, dass dieses Hören ja mehrschichtig ist, wie ja auch unser Ohr mehrschichtig ist. Da ist ein Weg, der zurück gelegt werden muss. Da gibt es das Außenohr, das Mittelohr, das Innenohr, wie es die Anatomie des Menschen beschreibt. Und so ist es auch mit dem Wort selber, ein Weg ist im Verstehen des Wortes zurück zu legen. Beim Worte „Verstehen“, da merken wir, dass es das Hören noch mal ganz anders gibt, wie es das Wort „Vernehmen“ auch ausdrückt. Ich vernehme etwas, ich höre die Zwischentöne, die mit dem Worte mitschwingen. Und wir kennen das aus unserer Kommunikation, wenn wir mit jemandem sprechen und wir dann das Gefühl haben, na ja, so ganz stimmig ist das nicht, was ich da höre. Ich höre da etwas anderes und dann höre ich nicht mit dem Ohr, sondern wir sagen dann, ich höre mit dem Bauch. Das Bauchgefühl meldet sich dann. Oder aber, wie es unser Sprichwort sagt, der kleine Mann im Ohr meldet sich und flüstert mir etwas ein. Da merke ich, da sind noch andere Stimmen mit dabei, die sich melden, die ich gar nicht so sehen kann, aber die ich mit diesem Ohr, dem symbolischen Ohr, dennoch hören kann. Und so ist das auch zu verstehen, wenn Gott mit Moses spricht. Auf dem Berg allein und dann vor seinem Volk. Und immer wieder wird in der Bibel von der Stimme Gottes gesprochen, aber man fragt sich, wie hört sich das denn an? Hören denn das die anderen? Nein, die Anderen hören das nicht. Mose hört es alleine. Aber erstaunlich genug, dass die Menschen, die mit Mose unterwegs sind, ihm glauben und vertrauen, und sagen, das was du

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hörst, an das glauben wir. Denn so, wie du es sagst, so wie du von der gehörten Stimme, von deinem Gespräch mit Gott erzählst, das hört sich stimmig an für uns, wir können es glauben, aufnehmen. So merken wir, dass dieses Wort Gottes auch die Stimme des Menschen braucht, sein Ohr braucht, um hinein zu kommen, von ihm gehört zu werden, umgewandelt zu werden, aufgenommen zu werden, diesen langen Weg der Schallwellen zu gehen, bis sie dann dort angenommen werden, wo wir zu Hause sind, in uns selber, ganz tief innen. Und so merken wir, dass dieser Weg des Wortes einen langen Weg geht und wir auch etwas Zeit brauchen um dieses Wort Gottes wirklich aufzunehmen und zu verstehen. Nicht so schnell zu sagen: Verstehe schon, habe ich begriffen, mache ich das Buch zu und gehe weiter über zum Tagesgeschäft. Nein, das Wort, das dich von Gott erreicht, das möchte umgewandelt werden in dein Leben hinein, möchte sich ausdrücken dann, in deinem Tun, in deinem Verhalten. So, wie du dich dann dem anderen Menschen zuwendest, daran erkennt der Andere, welches Wort du innen, drinnen, verstanden hast. Das ist der wunderbare Weg des Wortes, den Gott selber geht. Wie es im Johannes Evangelium heißt, das Wort war bei Gott und Gott ist das Wort und das Wort wurde Fleisch. Dieser Weg von ganz woanders her, von dort oben, wo wir sagen, wir heben unsere Augen auf zu den Bergen, dort kommt es her, verwandelt sich, wird Mensch und man kann es sehen. So, wie sich dieser Jesus der Welt zuwendet, den Kranken, den Bedrückten, den Ausgestoßenen, ihnen mit Liebe, mit Achtung, begegnet, sie Heim holt und ihnen von dieser Heimat erzählt – die Menschen haben dran geglaubt. Sie haben gesagt, es ist stimmig, was er uns erzählt. Sein Wort ist wahr. Sein Wort ist wahr! Ich habe Ihnen dieses Bild des Ohres, aufgenommen von unserem Altar aus mit Blick zu unserem Kreuz. Und ich habe gemerkt, da ist eine Beziehung da von diesem Ohr zu diesem Kreuz hin. Wir sagen auch immer, Herr höre mich, höre mein Flehen, höre mich in meiner Not und ich denke an die letzten Worte, die Jesus selber gesagt hat am Kreuz: Eli, Eli, lama asabtani…, aramäische Worte, die übersetzt heißen: mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Dieses aramäische Wort „lama“ kann aber anders ausgesprochen werden, so dass ich das nicht mehr als „warum“ höre, sondern als „Wozu“. Wozu gibst du mir dieses? Wozu bin ich denn auf dieser Welt? Hilf mir, diesen Weg zu verstehen. Und wir merken, mit dem „Wozu“ wird eine Erwartung ausgedrückt die auf eine Antwort hofft, es beginnt ein Gespräch. Ein Gespräch, das wir mit Gott führen können, wie auch immer unser Weg aussehen mag. Herr, lehre du mich dein Wort, dass ich recht höre und ich sicheren Fußes gehen kann. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

Momo Figur in Hannover, Künstlerin Ulrike Enders gehalten an: DiA. 28-02-2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS 400775

Zuhören wie Momo Ps. 39,13 + Ps. 17,6

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Liebe Schwestern und Brüder, ich habe Ihnen heute eine kleine Geschichte mitgebracht aus einem Buch, das für Kinder geschrieben ist, aber von Erwachsenen gerne gelesen wird. Michael Ende hat es geschrieben und dieses Buch trägt den Titel „Momo“. Von einem kleinen Mädchen ist dort die Rede und ihr Nicken deutet mir an, dass Ihnen dieses Buch nicht ganz unbekannt ist. Eine kleine Szene möchte ich Ihnen heute noch mal in Erinnerung rufen, von Momo, die so gut zuhören kann: Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: zuhören. Das ist nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war ganz und gar einmalig. Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den

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anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hätte, dass sie in ihm steckten. Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur einer unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann, wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören! Quelle: Michael Ende, deutscher Schriftsteller, Momo. Oder: Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte, Piper, Ersterscheinung 1973, November 2010

Eine Künstlerin, Eva Ulrike Enders, hat diese kleine Szene in eine Skulptur übertragen. Auf dem Bild davon sehen wir Momo sehr groß und sie hat ein riesengroßes Ohr direkt vor ihrer Brust, in der Höhe ihres Herzens und dieses Ohr hält sie fest an sich gedrückt. Dieser ungewöhnliche Ort des Ohres, auf der Brust, das will auch sagen, diese Momo, die hört mit dem Herzen zu. Da spürt man, da ist eine direkte Verbindung von Ohr zu Herz, von Mensch zu Mensch. So möchten wir gerne gehört werden. So möchten wir gerne verstanden werden. So möchten wir gerne, dass die Begegnungen in unserem Leben auch sind, dass ich mich dadurch wie verwandelt fühle, dass ich über mich hinaus wachse, Dinge bei mir entdecke, die ich so noch gar nicht kenne. Aber, ich brauche den anderen Menschen dazu, ich brauche seine Ohren, damit ich dort hinkomme, wo ich allein und ohne die Ohren der anderen, gar nicht hinkäme. Ohren sind wichtig und nicht umsonst finden wir deswegen dieses Wort auch immer wieder in der Bibel: Wer Ohren hat zu hören, der höre! Und wenn wir dieses Bild von der Momo uns dazu ansehen, dann denken wir gleich mit dazu: ... der höre mit dem Herzen zu, der höre warmherzig zu, der höre offenen Ohres zu und verstehe mich dadurch. Zu Weihnachten, hat uns ein ehemaliger Seelsorger ein Geschenk gemacht, ein riesengroßes Ohr, geschnitzt aus Holz. Und natürlich ist damit eine Botschaft verbunden, die ich einmal so interpretieren will, das Ohr spielt bei uns in der Seelsorge ja eine große Rolle. Wir kommen zu den Menschen unter dem Motto: „Der Seele Raum geben“. Und der Seele geben wir so Raum, indem wir zuhören. Zuhören an erster Stelle, all das aufnehmen, hin lauschen, hin spüren, was uns die Patientinnen und Patienten sagen wollen. Und dazu sind nicht immer Worte nötig. Manchmal kann man auch in der Stille gut miteinander reden. Dann hört man ganz anders, dann hört man mit der ganzen Person, man vernimmt, hört all das, was ganz tief im Menschen vielleicht verborgen ist und so allmählich erst seinen Weg von

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unten nach oben bahnen möchte, bis es dann unsere Lippen erreicht und dann in Worte gefasst werden kann, uns verlässt und dann den anderen erreicht in seinem Ohr und dann dort den Weg durch das Ohr zu ihm dann findet. Das Wort legt immer einen Weg zurück. Es muss ausgesprochen werden und dann muss es erst einmal aufgenommen werden von einem anderen und der muss auch diese Bereitschaft mitbringen, dieses Wort auch wirklich einzulassen. So einzulassen, wie bei dieser Momo, die das Ohr offen hält, damit das Wort dort hinein findet und dann seinen Weg gehen kann. Dass dieses Wort wirklich einen Weg im Menschen zurücklegt, das habe ich anschaulich wieder entdeckt, als ich einen Anatomie-Atlas aufgeschlagen habe, um mir anzusehen, wie das Ohr aufgebaut ist. Da sieht man das äußere des Ohres, wo wir meist meinen, das wäre schon alles, aber das ist nur das äußere, sichtbare Ohr, wir nennen es, das Ohrwatscherl, oder die Ohrmuschel. Von dort geht es hinein bis zum Trommelfell und kommt dort an eine erste Grenze. Wir befinden uns nun im Mittelohr und dann, wenn diese Grenze des Mittelohres überwunden wird, das Trommelfell, dann tut sich dort erst einmal ein Spalt auf, möchte ich fast sagen, eine Überbrückung ist nötig. Diese Brücke bilden drei kleine Knöchelchen, Hammer, Amboss und Steigbügel. Über die muss die Schallwelle des Tones dann drüber, bis der Ton, das Wort, in die Schnecke kommt, dort aufgenommen und ins Gehirn weiter geleitet wird. Wir staunen, wie unglaublich weit und kompliziert dieser Weg ist und auf diesem Weg sind so einige Fehlerquellen, Missverständnisse sagen wir dazu, möglich. Da kann mal was nicht funktionieren, da kann etwas vielleicht alt und brüchig geworden sein, oder sich entzünden und dann ist dieser Weg der Kommunikation gestört. Wenn Sie das auf sich wirken lassen, dann merken Sie, welches Wunder das eigentlich ist, wenn wir reden und wenn wir uns dann auch noch verstehen. Doch das Verstehen hat auch unterschiedliche Qualitäten. Manchmal versteht man nur mit dem Kopf, aber wir möchten doch gerne ganzheitlich verstanden werden, dass auch das Herz mit dazu kommt, dass wir uns verstanden fühlen, dass wir angenommen sind, sagen wir. Dies erwarten wir natürlich auch gerne hier in diesem Haus, dass unser Sprechen und Reden mit unserem behandelnden Arzt, mit dem Pflegepersonal, dass das auch so stattfinden kann, wie ich es im Idealfall hier beschrieben habe. Das Problem ist, dass wir dazu oftmals Zeit brauchen und wir uns diese Zeit nicht nehmen. Zeit, wirklich hin zu hören, nicht vorschnell zu meinen, ich weiß schon, was du sagen willst und mir das Wort abgeschnitten wird, sondern so da zu sein, dass der andere immer mehr erzählen möchte von sich. Dass es dann heraus kommt und man sich erleichtert von dem, was man zu sagen hat.

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So ein Gesprächspartner, so jemand mit einem offenen Ohr, so möchte Gott uns begegnen. Sein Buch, die Bibel, ist eigentlich eine Unterweisung, ist eine Lehre durch das Wort, ein Hinhören des Menschen auf das, was Gott uns sagen will und ein langsames Verstehen. Und umgekehrt ist Gott auch jemand, der uns zuhört. Der die Rufe und das Schreien seines Volkes hört. Auf den ersten Seiten der Bibel, da wird uns erzählt, wie sich Gott dem Mose zeigt und ihm sagt: „Deswegen bin ich hier und hab dich ausgesucht, dass du dieses Volk errettest, diese Menschen errettest, weil ich das Schreien meines Volkes gehört habe. Deswegen komme ich aus der Höhe hinab in die Tiefe zu den Menschen. Das ist die Bewegung Gottes, die wir in Jesus Christus so einzigartig wieder entdecken. Dass er hören möchte und mitgehen möchte, mit den Menschen, dass wir ihn erleben im Gespräch, so wie die Jüngerinnen und Jünger Jesus erlebt haben. Die ihm von ihrem Leiden erzählen konnten, von ihrem Gebrochen sein, von ihrem Ausgestossen sein, von ihren Klagen und er hat zugehört. Und hat gesagt: „Sag mir, was ich für dich tun soll!“ Und das Sagen, dürfen wir ihm immer, im Stillen, hier in der Kapelle, hier im Gespräch, mit anderen Menschen. Wenn wir andere Menschen so erleben, wie wir Momo erleben, dann ist das stellvertretend auch das Ohr Gottes in das wir unser Anliegen hinein geben und dann werden wir Veränderungen erleben bei uns selber. Dass wir uns erleichtert fühlen, dass wir aufblühen, dass wir uns erlöst fühlen von all dem, was uns so schwer auf der Seele liegt. Und so hoffe ich und wünsche ich uns, dass wir diese Erfahrung, die der Beter des Psalmes 39 gemacht hat, dass wir die auch erleben bei uns selber, wenn dort zu lesen und hören ist: Höre mein Gebet, Herr und vernimm mein Schreien. Schweige nicht zu meinen Tränen, denn ich bin ein Gast bei dir, ein Fremdling wie alle meine Väter. Und weiter heißt es im Psalm 17: Ich rufe zu dir, denn du Gott wirst mich erhören. Neige deine Ohren zu mir und höre mein Reden. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten an: DiA - 13-03-2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400776-2

„Das Auge Gottes“ - Mk. 8, 22-28 Heilung eines Blinden

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„Und sie kamen nach Betsaida und brachten zu ihm einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre. Und er nahm den Blinden bei der Hand, führte ihn hinaus aus dem Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: „Siehst du etwas?“ Und er sah auf und sprach: „Ich sehe die Menschen als sehe ich Bäume umhergehen.“ Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurecht gebracht, so dass er alles scharf sehen konnte. Und er schickte ihn heim und sprach: „Geh nicht hinein in das Dorf.“ Liebe Schwestern und Brüder, wir kommen von einem Sonntag her, der zumindest in der evangelischen Tradition einen sonderbaren Namen trägt, er heißt „Okuli“. Das Wort „okuli“ stammt aus dem lateinischen Psalmwort: okuli mei semper ad Dominum – Meine Augen sehen stets auf den Herrn, wo es dann so weiter heißt: denn der Herr wird meine Füße aus dem Netz ziehen. (Ps 25, 15). Das ist die Überschrift zu diesem 3. Sonntag in der Passionszeit, ein Wort, mitten in einer Zeit, wo das Leiden, wo die Schmerzen Jesu bedacht werden und wir unser

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eigenes Leiden und Sterben mit dazu stellen können. Und auf diesem Weg hören wir das Wort: Meine Augen sehen stets auf den Herrn. Was hat es denn mit diesen Augen auf sich? Dieses Bild, das ich Ihnen heute mitgebracht habe, ist entstanden in der Schlosskirche zu Bayreuth. Dort, wenn man den Blick nach oben, auf die Decke richtet, dann kann man dieses „Auge Gottes“ sehen, das herunter schaut auf den Menschen, der sich darunter befindet und empor schaut. Was wir sehen, ist zunächst etwas sehr Abstraktes, dieses „dreieckige Auge Gottes“. Es ist weit weg, nicht in unserer unmittelbaren Nähe. Vielleicht fühlen wir uns als Menschen darunter klein und unbedeutend und spüren dann dieses „Auge Gottes“ über uns. Ich möchte versuchen, mit Ihnen ein paar Schritte zu gehen, dass dieses abstrakte Auge nicht mehr so abstrakt bleibt, sondern lebendiger wird für uns, vielleicht sogar auf Augenhöhe kommt, zu mir und zu dir und wir dann den darin entdecken, der uns gegenüber steht und uns begleiten möchte, wie in dieser Geschichte vom Blinden, die wir zuvor gehört haben, wo einer sich blind erlebt, die Welt um sich herum nicht mehr sehen kann, sich verloren fühlt, weit ab, ausgegrenzt und nicht angesehen ist. Und auf einmal erlebt er dieses Wunderbare, dass da dieser Gott, diese Hilfe nicht mehr so weit weg für ihn ist, unerreichbar, sondern ihn erreicht und ihm nahe kommt, ihn berührt, mit Speichel sogar und ihn dann aus der Blindheit heraus führt in eine Welt, die bunt wird, die sich öffnet und in der er wieder sich umschauen kann und zu Hause ist. Aber dazu muss er erst einen Weg zurücklegen, wie wir dann vielleicht auch diesen Weg zurück legen müssen und uns helfen lassen wollen, von der Bibel selber, dass sich diese Geschichte uns öffnet. Schon dieses Wort des „Blinden“ kann uns da eine erste Spur geben. Denn aus der hebräischen Sprache, der Ursprache der Bibel, da taucht das Wort für „blind“ relativ früh in der Bibel auf, an einer Stelle, wo wir es gar nicht vermuten, in der Paradieserzählung, beim sogenannten „Sündenfall“. Ich denke dabei an diese Stelle, wo Adam und Eva im Paradies sind und von dem Baum der Erkenntnis nehmen. Dort wird erzählt, wird der Mensch dann bekleidet, mit diesem Fell. Das hebräische Wort für „Fell“ kann aber auch mit „blind“ übersetzt werden. Denn das Wort für „blind“ und für „Fell“, oder „Haut“, ist gleich geschrieben, mit den gleichen Buchstaben, nur jeweils anders ausgesprochen. Das Fell, das Adam und Eva umgehängt wird kann auch mit dem Wort für „blind“ gleichgesetzt werden. Mit diesem Nehmen vom Baum der Erkenntnis, so sagt die Bibel, dadurch geht eine Sichtweise verloren. Die Menschen werden blind. Da, wo wir nach dem Äußeren greifen, wie mit dem Griff nach dem Baum der Erkenntnis und uns nur dafür entscheiden, da verlieren wir als Konsequenz einen Blick für das Wesentliche. Wir tragen dann das Fell, das uns umgelegt wird, viel weiter geht unser Blick nicht mehr. Und die Überlieferung erzählt weiter dazu, dass der Mensch vor diesem Griff nach dem Baum der Erkenntnis selber ganz vom Licht umgeben war und dann, nach diesem Nehmen von der Frucht vom Baum der Erkenntnis, da verliert der Mensch dies Licht. Das Auge vorne

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auf der Stirn schließt sich und die anderen Augen öffnen sich, mit denen der Mensch nur noch das Äußere sehen kann. Und auch das ist interessant, dass dieses Wort für „Licht“ und für „Fell“ genau gleich klingt, nämlich „or“. Nur jeweils anders geschrieben mit einem anderen Buchstaben, aber vom Laut her das gleiche Wort. Die Bibel kennt noch diese Zusammenhänge, die sich uns erst einmal wieder erschließen müssen. Wir sind sozusagen auch blind geworden für diese Einsichten, die die Bibel uns wieder schenken möchte. Und so merken wir, dass dieses Auge uns viel sagen möchte, uns erzählen könnte, von einer Welt, die auch da ist, aber die sich uns oftmals verschließt, wenn wir uns nur im Äußeren verlieren, wenn wir nur die eine Seite der Medaille sehen und deswegen ist vielleicht gerade in der Mitte dieses Weges der Passionszeit dieser Hinweis wichtig: Pass auf, dass du nicht nur eine Seite siehst und dich von dieser einen Seite deines Lebens so irritieren lässt, dass du verzweifelst, dass du dich nicht mehr aufgehoben, nicht mehr beschützt fühlst, sondern nur noch den Schmerz siehst, das Leid siehst, die Qual siehst, die Ängste siehst, aber die andere Seite der Rettung, der Begleitung und der Nähe Gottes, übersiehst. Und so begegnet nun Jesus diesem Blinden. Er nimmt ihn erst einmal heraus aus dieser Dorf Gemeinschaft, die ihm vielleicht immer wieder einreden möchte, dass es nur diese eine Seite der Medaille gibt. Jesus möchte ihm durch dieses Hinausführen etwas anderes zeigen. Er nimmt seinen Speichel und benetzt die blinden Augen und macht dieses zweimal, bis dieser Blinde wieder sieht. Und wir wissen ja, welche große Bedeutung dieser Speichel auch bei uns hat. Ich lerne immer wieder, wenn ich zum Fasten gehe, dass es ganz wichtig ist, meine Speise gut einzuspeicheln. Die Verdauung beginnt im Mund, sagt man. Und so ist dieser Speichel auch wichtig, die Informationen, die Nährstoffe, die in uns hinein gehen auch richtig aufzubereiten, damit sie durch uns hindurch gehen kann und unser Körper das eine vom anderen unterscheiden kann, dass wir diese Informationen, diese Bilderflut, die auf uns einströmt, Tag und Nacht, wenn wir den Fernseher aufmachen, dass wir auch da lernen, das eine vom anderen zu unterscheiden. Was nehme ich auf? Welche Bilder bleiben bei mir und welche Bilder lasse ich wieder durch mich hindurch gehen, Bilder vielleicht, die mich schrecken, die mir Angst machen, die lasse ich gehen und greife dann lieber zu denen: Bilder, die mir Trost geben, die mich erfreuen, die mich zur Ruhe und Gelassenheit führen. Und so lehrt Jesus diesen Blinden, das eine vom anderen zu unterscheiden. Dass dann die Augen, die sich ihm öffnen, dass die dann beides wahrnehmen. Nicht nur diese Welt hier, sondern vielleicht schon ein Stück weit von einer anderen Welt wahrnehmen, die auch da ist. „Scharf sehen“ sagt es der Martin Luther, „genau sehen“ sagen es andere Bibelübersetzungen. Dass wir wieder lernen, genau hinzuschauen.

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Und so hat mich auch dieses Kreuz hier an unserer Wand gelehrt, wie denn eigentlich unser Sehen aussehen kann. Da aufgespannt, auf dem horizontalen Balken, dem Zeitstrahl festgenagelt, hebt Jesus seinen Blick ganz hinauf in den Himmel und hilft uns, beide Wirklichkeiten wahrzunehmen und anzusehen. Da ist diese eine Wirklichkeit, in der er lebt, in der er aufgespannt ist, in der er festgenagelt ist, das ist die Zeit in dieser Welt. Und dort im größten Leiden, weist sein Blick noch einmal in eine andere Dimension und sagt: Nicht nur hier sondern auch da. Diesen Blick möchte ich festhalten, nicht nur das Warum, sondern ich möchte auch fragen, wozu das Ganze? Und dort beginnt ein Gespräch an diesem Ort. Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, so haben wir den Psalm 121 mitgebetet, in meiner größten Not, da wo ich gefangen bin, wo ich verzweifelt bin, da schaue ich auf, hin zu Gott. Okuli mei semper ad Dominum. Meine Augen sehen stets auf den Herrn, der meinen Fuß aus dem Netz zieht, der mich heraus holt aus meinem Leiden, aus meiner Not und mir hilft, auch das Zweite zu sehen, das auch da ist, Kreuz und Auferstehung. Nicht getrennt, immer zusammen, das eine folgt auf das andere, gibt dem anderen die Hand. Mit diesem Blick, mit diesen geöffneten Augen, können wir vielleicht diesen Weg anders gehen in dieser Passionszeit, dass wir nicht nur starr auf das Kreuz blicken, sondern als freie, aufgerichtete Menschen Kreuz und Ostern zusammen sehen, den Weg ins Leben finden. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten an: Okuli - 11-03-2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400776

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„Das Auge Gottes“ - Sonntag Okuli - Mk. 10, 46-52 Der blinde Bartimäus Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören. Amen. Der Predigttext steht im Markus-Evangelium im 10. Kapitel Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho weg ging, er und seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an, zu schreien und zu sagen: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Und viele fuhren ihn an, er solle stillschweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Und Jesus blieb stehen und sprach: Ruft ihn her! Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: Sei getrost, steh auf! Er ruft dich! Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Der Blinde sprach zu ihm: Rabbuni, dass ich sehend

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werde. Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege. Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder, auch wir sind auf dem Weg, auf dem Weg in der Passionszeit und in der Mitte dieses Weges sind wir heute hier zusammen gekommen am Sonntag Okuli. Dieser Name kann uns etwas erzählen und deswegen habe ich auch diesen Bibeltext zu diesem Sonntagsnamen gewählt, Okuli – die Augen! Das lateinische Wort ist entlehnt aus dem Psalm 25 und dort steht: Okuli mei semper ad Dominum – Meine Augen sehen stets auf den Herrn, denn der Herr wird meine Füße aus dem Netz ziehen. (Ps 25, 15) Eine Botschaft auf dem Weg, eine Botschaft an uns auf diesem Weg, der doch so mit dem Leid verbunden ist, auf das Leid zusteuert und wir uns dann auch fragen, wie wir uns das gefragt haben im Psalm 121: Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Eine Frage, die uns begleitet auf diesem Weg. Ich habe Ihnen heute ein Bild mitgebracht. Ein Bild, das uns erst einmal in die weite Ferne führt, ein Bild aus den Weiten des Weltalls. Es ist aufgenommen worden 2003 von dem berühmten Hubble-Teleskop, das aus der Umlaufbahn zur Erde seine Aufnahmen aus den Tiefen des Alls macht. Diese Aufnahme hier zeigt einen planetarischen Nebel, auch Helixnebel genannt, der sich im Sternbild Wassermann befindet. Ungefähr 700 Lichtjahre von uns entfernt. Wenn man diese Erscheinung betrachtet, dann wird man vielleicht auch zu dieser Einsicht kommen, zu der Andere gekommen sind, als sie dieses Bild sahen. Sie haben dem Bild den erhabenen Namen gegeben: „Das Auge Gottes“. Das Auge Gottes - aus der Schwärze des Weltalls blickt es, zwei Lichtjahre allein der Durchmesser dieses Auges, auf diese, im Vergleich, kleine Erde. Ein erhabener „Blick“ – von weit weg. Und ich denke bei mir, auch wir tragen doch manchmal solche Bilder mit uns, vom Auge Gottes, und frage mich, wie sieht es uns an? Wohl gesonnen oder strafend? All diese Bilder, die uns begleiten und uns irgendwann einmal eingepflanzt worden sind, die uns vielleicht immer noch beschäftigen oder belasten und vielleicht uns auch in Distanz halten, so, wie dieses Bild uns eine weite Distanz aufzeigt. Aber wir haben doch auch diesen ganz anderen Wunsch in uns, dass uns Gott nahe kommen mag. Dass doch das passieren solle, was die Bibel, das Neue Testament uns immer wieder nahe legt und beschreibt: Gott überwindet diese große, gefühlte, Distanz. Der, der im Himmel ist, kommt auf die Erde, beginnt ganz klein, als Kind. Das ist der Weg Gottes, zu seinen Menschen. Und so müssen wir auch jetzt unseren Blick, der vielleicht in die Distanz und in die Ferne eingestellt ist, dorthin, wo wir unseren Gott vermuten, korrigieren, so korrigieren, dass er uns näher kommt.

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Und er kommt uns nahe in diesem Buch, in seinem Wort. Da vermittelt er sich uns, da will er sich uns zeigen. Und dieses Wort legt doch auch einen ganz besonderen Weg zurück. Es geht ins Ohr hinein und erreicht uns im tiefsten Inneren. Dort möchte Gott zur Welt kommen. Dort möchte er von uns entdeckt werden. Und so möchte ich zunächst einmal auf diesem Weg, durch das Wort, mit Ihnen gehen und hinsehen, was die Bibel, vor allen Dingen das Alte Testament, das ja die Ursprache der Bibel ist, uns offensichtlich machen möchte. Dort in den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabetes, gibt es einen Buchstaben, der heißt ajin. Und dieser Buchstabe heißt auch gleichzeitig, Auge. Der Buchstabe ist zugleich ein Bild, erzählt eine Geschichte und dieses ajin steht auch für die Vielfalt. Es ist das Äußere, das was wir sehen im Außen. Aber noch etwas anderes heißt dieses ajin, es heißt auch „Brunnen“ und „Quelle“. Das gleiche Wort hat doch so viele Bedeutungen in sich selber. So ist das Wort Gottes gebaut. Es ist nicht einseitig, es ist nicht digital, sondern es erzählt Geschichten. Es vermittelt sich in Gleichnissen, möchte immer wieder neu entdeckt werden, entfaltet werden. Wie dieses Wort für Auge, das das Äußere sieht, wie wir es ja auch tun und gleichzeitig aber auch sagt, und es ist auch verbunden mit einem Brunnen, der in die Tiefe führt zu einer Quelle, zu einer Einheit. Beides gehört für das Auge dazu. Nun hat die Wissenschaft uns aufgezeigt, wie wir eigentlich sehen. Wir sehen so, dass wir erst einmal alles mit unserem Auge aufnehmen, viele Details, derer wir uns gar nicht bewusst sind. Von einem beeindruckenden Beispiel habe neulich gelesen. In London gibt es einen jungen Mann, der folgende Begabung hat. Man fliegt mit ihm mit dem Helikopter über London und danach kann er bis ins Detail diese Stadt aus dem Gedächtnis heraus nachzeichnen. Ein Phänomen! Aber so funktioniert das Auge. Es nimmt erst einmal alles wahr. Wenn ich in einen Raum komme und trainiert bin, dann kann ich mit einem Blick sofort viel mehr sehen und aufnehmen, als sonst üblich. Und wir wissen auch, aus der Kommunikationsforschung, dass wenn wir einen Menschen sehen, bereits in den ersten paar Sekunden schon fest steht, ob er oder sie uns sympathisch ist oder nicht. Wir „sehen“ dann auf eine andere Art, mehr, als wir mit dem Verstande wahrnehmen. Und merken dann, dass mit diesem Auge viel verbunden ist. Dass es eine Außensicht gibt und eine Innensicht, wie uns Saint-Exupéry in seinem Buch der kleine Prinz nahe bringen will, wenn er schreibt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar!“ Das heißt, wenn wir sehen, sind immer Gefühle, sind immer Wahrnehmungen auch mit verbunden, es geht um die Einsicht, die wir bei diesem vielen Äußeren, das auf uns einströmt, brauchen. Und ich gehe einen Schritt weiter, zu einem anderen Bild, das wir kennen und wir spüren dann auch gleich, welch tiefe Bedeutung dies Bild haben kann, nämlich „der gute Hirte“. Auch da wieder, aus der Sprache des Hebräischen, der Muttersprache der Bibel, wird das Wort „roe“ für den Hirten genauso geschrieben wie das Wort für „Sehen“. Nur das eine Mal mit einem „ajin“ in der Mitte, das andere Mal mit einem „aleph“. Das „ajin“, das Auge meint immer die Vielheit, und das Sehen hat etwas mit der Einheit zu tun, deswegen dieses „aleph“, die Eins, die Einheit, da drinnen, aber ausgesprochen genau gleich. Man weiß erst aus dem Zusammenhang des Satzes, was jetzt mit diesem „roe“ gemeint ist, der Hirte oder

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das Sehen. Und jetzt merken wir auch, was für einen Auftrag dieser Hirte hat, nämlich er hat den Auftrag, die Einheit der Herde im Blick zu behalten, dass auch nicht Eines aus dieser Herde entweichen kann. So wie es auch beim Mose war, als der seine Schafe hütete und eines entwich. Er hat es sofort wahrgenommen, ist ihm nachgegangen und wem ist er auf dieser Suche begegnet? Gott im brennenden Dornbusch! Das will uns die Bibel sagen: Hab’ Acht auf alles. Nimm es wahr! Lass dir diese Einsicht schenken, damit du das Ganze siehst und nicht an der Vielheit verzweifelst, oder daran, dass du diese Vielheit nicht überblicken kannst. Und wir spüren schon, warum gerade jetzt dieses Okuli auf dem Weg uns begegnet, auf dem Weg hin zum Kreuz, auf dem Weg ins Leiden – weil wir dort genau das erleben. Wir erleben das Zerbrechen der Einheit unseres Lebens. Wenn wir krank sind, dann beginnt unser Leben sich zu fragmentieren, auseinander zu fallen und wir fragen: Wie gehören denn diese vielen kleinen Stückchen überhaupt noch zueinander? Wie kann ich denn einen Sinn finden in all dem? So lautet dann unsere Frage. Und wir merken, dass hier uns der Hirte helfen möchte. Der Hirte, der sagt: Du musst alles zusammen nehmen. Dann wirst du vielleicht verstehen. Lass dir diese Antwort schenken. Letzte Woche habe ich eine Patientin besucht. Immer wieder war sie wegen Untersuchungen nicht auf ihrem Zimmer anzutreffen. Und dann hat es schließlich doch geklappt und wir haben uns gesehen und haben etwas miteinander reden können. Sie hat mir etwas mit auf den Weg gegeben, was mich überrascht und auch getröstet hat. Sie hat mir gesagt: „Es hat gut getan zu wissen, dass Sie immer wieder nach mir sehen.“ Dieses, dass wir immer wieder aufgesucht werden, dass sich jemand um uns kümmert, dass dieses „Auge Gottes“ nicht dort, irgendwo im All, für uns hängen bleiben muss, sondern dass wir das erleben und spüren, hier und jetzt und heute auf meinem Weg. Da sieht mich jemand an, da schaut jemand nach mir, hat Obacht, dass ich nicht ganz in die Irre gehe, in die Leere gehe, dass ich wieder zurück geholt werde dorthin, wo die Einheit ist, wo das Leben ist, wo die „grünen Wiesen“ sind, von denen wir unsere Kraft her bekommen. Das ist, wie Gott uns begegnen möchte, dass er nach uns sieht. Deswegen, meine Augen sehen stets auf den Herrn, das heißt auch, dass ich mich immer wieder konzentriere, meinen Blick, der schweift und abschweift und vielleicht in die Irre geht, dass ich den wieder ausrichte und fokussiere und von dort her meine Spur, meinen Weg wieder aufnehmen kann. In Mexiko gibt es bei den Hulio-Indianern einen schönen Brauch. Wenn ein Kind geboren wird, dann wird diesem Kind vom Vater ein „Auge Gottes“ geflochten. Und das geht so: Man nimmt zwei Stäbe und legt sie so aufeinander, dass eine Kreuzform entsteht und beginnt am 1. Geburtstag mit einem Faden von der Mitte aus zu flechten bis der Faden aufgebraucht ist. Und dann, am 2. Geburtstag nimmt man eine andere Farbe und flechtet diesen Kreis weiter und so geht es immer weiter bis zum 5. Geburtstag. Und so entsteht ein Auge aus vielen bunten Fäden. Ich denke, diese Indianer haben etwas Wesentliches verstanden. Sie haben kein Netz geflochten mit Leerstellen drin, sondern sie haben diese Fäden aneinander gefügt, dass sie eine Einheit bilden. Einen fortlaufenden Strang, so bunt wie das Leben, so bunt wie

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der Regenbogen. So fügt sich das Eine an das Andere und es ergibt dann einen Sinn. Das Auge, das die Einheit im Blick behalten möchte. Dass diese ganzen, wir würden heute in der Computersprache sagen, diese ganzen eckigen Pixel sich so zueinander fügen, dass dieses Bild, das ganze Bild, entstehen kann. Das ist die Botschaft, das ist die Einladung. Aber wir können auch so blind werden, wie der Bartimäus, von dem wir zuvor gehört haben. Doch auch dieser Bartimäus trägt in seinem Namen eine kleine Geschichte, denn der Name ist zusammen gesetzt aus dem Wort bar, das Sohn bedeutet und timäus das der Geschätzte, der Geehrte heißt. Dieser Bartimäus ist geschätzt und geehrt, warum? Nicht, weil er blind ist, sondern weil er in seiner Blindheit aufschreit und nach Hilfe ruft. Meine Augen sehen stets auf dich, Herr. Er „sieht“ ihn äußerlich zwar nicht, aber er spürt ihn, dass die Hilfe in der Nähe ist und er ruft danach, nach noch mehr Nähe, aus seiner Distanz heraus, er ruft nach Hilfe. So kann auch der Bartimäus für uns ein guter Begleiter sein auf diesem Weg, hin durch die Passionszeit. Zu rufen und zu bitten: Komm mir doch näher Gott, komm mir näher Jehoschua, der hebräische Name für Jesus der Programm ist, heißt dies doch: der Herr rettet, der Herr hilft – Jesus! Und er wird nicht lange auf sich warten lassen, sondern sich aufmachen, uns anzusehen, uns aufzusuchen in unserem Leid, in unserer Verzweiflung, dass wir wieder über diese Bruchstücke in unserem Leben nachdenken können und sie von ihm zusammenfügen lassen können. Dass dieses „Auge Gottes“ uns dann auch wieder begegnet so, wie es die Bibel beschreibt und wie es zum Wesen Gottes dazu gehört, der der Barmherzige genannt wird. Warme gütige Augen, die uns anblicken, die uns so anblicken wie eine Höhensonne, dass sich etwas in uns entfalten kann, dass wir wachsen können, dass wir uns aufrichten können, wieder zu dem werden, nach dem wir uns eigentlich sehnen, kein gekrümmter Mensch, ein aufgerichteter Mensch, ein auferstandener Mensch. Das gewähre Gott uns allen. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten an: MuA - 03-04-2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400779

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EG 98 - Korn das in die Erde... Liebe Schwestern und Brüder, ich habe Ihnen heute ein Bild mitgebracht. Ein Bild, das noch einmal das aufgreift, was wir zuvor gesungen haben: Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt. Wir sind unterwegs in einer ganz besonderen Woche. Sie trägt auf der einen Seite den Namen Karwoche, das von dem Wort „Kar“ für Trauer herkommt. Eine Woche, in der das Trauern, das Bedrückt sein, vielleicht auch uns begleitet, uns begegnet, weil wir auf diesen Karfreitag uns zu bewegen, der mit Leid und mit Schmerzen assoziiert wird und dran erinnert, was Jesus durchgemacht hat. Und dann hat diese Woche noch einen ganz anderen Namen, denn sie heißt auch: heilige Woche. Heilige Woche, das „Heilige“ kommt von dem Wort, das für „ganz“ steht, für „vollkommen“. Da ist alles in Ordnung, das sagt dieses zweite Wort und wir spüren schon diese Spannung, zwischen der Trauer und dem anderen, dass alles schon gut sein soll. Schon gut? Wir können es noch nicht sehen, wir können es vielleicht erahnen, vielleicht erhoffen und dennoch ist es da und sagt uns dies „Heilig“. Alles ist schon gut. So machen wir unsere Erfahrung in dieser besonderen Zeit. Und ich möchte mit Ihnen stückweise auch diesen Weg aufnehmen, in der

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Karwoche hin zu der heiligen Woche, dass wir das auch spüren und erleben können bei uns in unserem Leben, dass da ja schon etwas da ist, was gut ist. Wo jemand vielleicht mit uns unterwegs ist, der den großen Überblick hat, der uns aber noch fehlt. Der uns dennoch begleitet und uns beschützt und bewahren will. Vielleicht wie in diesem Bild, das Sie sehen, die Hände, die unter dem Ganzen sind und alles, auch das Dunkle, in Händen hält. Aber erst einmal ist da dieses große Schwarze, das als Hintergrund dieses Bild ausfüllt. Und mir fällt ein, dass die Bibel so ähnlich auch beginnt, mit diesem großen Schwarzen und diesem Dunklen. Schon im 2. Vers im 1. Buch Mose wenn es dort in der Bibel heißt: Und Gott erschuf Himmel und Erde und dann fährt sie fort und erzählt: Und die Erde war wüst und leer. Und eine große Finsternis war da und der Geist Gottes der schwebte über dieser großen Finsternis. So beginnt die Erzählung von der Schöpfung. Da ist erst einmal dieses große Schwarze als Untergrund, als Blaupause sozusagen, auf der dann das andere erscheint. Und die Bibel nennt das große Dunkle das Tohu wa bohu. Worte, die schwer übersetzbar sind und dennoch kann man es erahnen, was damit ausgedrückt wird. Dieses Tohuwabohu, das mit Irrsal und Wirrsal übersetzt wird, das bedeutet aus dem Hebräischen, da ist ein Abgrund, der keinen Boden hat. Es geht immer weiter in das Chaos hinein, da ist nichts, was uns auffangen könnte. Das ist die Beschreibung für das erste Wort dieses Dunklen. Und das Bohu bedeutet, ja, da ist dieser Abgrund und dennoch ist etwas da. Und dennoch ist etwas da, was Sinn macht und was uns auffängt und wo wir geborgen sind. Diese beiden Grundaussagen begleiten uns sozusagen von den ersten Seiten der Bibel her, eine Grundmelodie, eine Schöpfungsmelodie, wenn wir so wollen. Da ist dieser Abgrund da, den wir auch erleben in unserem Leben. Da ist das da, wir gehen und wir freuen uns und mit einem Mal da passiert es, dass das Schicksal, eine Krankheit, eine Begebenheit mir sozusagen den Boden unter den Füßen wegreißt. Und da hilft dann kein gutes Wort mehr, da hilft kein „Es wird schon wieder“. Ich spüre das – es ist bodenlos! Ich fühle mich ohne Boden und ich fühle mich im Fallen. Dann kommt dieses Andere. Vielleicht eine Trotzreaktion unserer Seele, aber im Worte der Schrift es ja da, das sagt: Und trotzdem, und dennoch! Und dennoch ... und wenn ich es nicht erlebe? Ich halte mich an deinem Wort, hilf du mir! Das ist die Grundhaltung des Menschen, schon immer. In seiner Not zu klagen und zu seufzen und in dieses Schwarze hinein zu rufen: Bist du nicht da? Hilf mir doch! Und die Bibel erzählt, das ist der Moment, wo Gott eingreift. Da, wo er unser Seufzen hört, da wird etwas bei ihm in Gang gesetzt. Nämlich, dass er auf diese Sehnsucht reagiert, die wir in uns haben, auch gegen den Augenschein der Wirklichkeit und der Erfahrung hinweg. Trotzdem ja zum Leben sagen, so hat es Viktor Frankl einmal zusammen gefasst. Ein berühmter Neurologe und Psychiater und Begründer der Logotherapie, der sogenannten „Dritten Wiener Schule der Psychotherapie“. Ein Mann, dem im Dritten Reich seine gesamte

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Familie ermordet wurde, der selber drei Konzentrationslager überlebte, immer wieder den sicheren Tod vor Augen. Und dennoch, das Bodenlose war nicht das, an das er geglaubt hat. Das Tohu, das hat für ihn nicht gezählt, an dem Bohu, daran hat er sich festgemacht. Und dennoch mag da ein Grund sein, der mir Sinn gibt, der mein Leben dorthin führt, wo ich es im Moment noch gar nicht ahnen kann. Das ist die Erfahrung, das ist das Gehen in der Passionszeit. Schlimmes zu erleben und dennoch weiterzugehen. Wie auch dieses Korn das erlebt. Das zunächst hinein gegeben wird in dieses Dunkle und Schwarze und wo nach allem menschlichen Ermessen es ja zu Ende gehen soll. Und zunächst einmal passiert gar nichts in diesem Dunklen, in dem Geheimnis, in das dieses Korn hinein gelegt wird und von innen her, man weiß nicht wie, etwas verändert sich. Und es entsteht das, was wir den Weizen nennen und wo die Bibel sagt, die erste Frucht, die erste Pflanze, die hier in dieser Welt das Licht der Welt sozusagen erblickt, das ist der Weizen. Damit fängt es an. Und der Weg dieses Weizens, der geht ja auch weiter. Er reift und er wird geerntet und abgeschnitten, die Spreu wird vom Weizen getrennt und das Korn wird abgeschnitten, es wird mit Wasser vermengt und kommt in den Ofen und dort verwandelt die Hitze noch einmal dieses ganze Gemenge und es entsteht das Brot. Ein langer Weg von diesem Hineingeben in das Geheimnis des Schwarzen und Dunklen bis dann das Brot entsteht. Man könnte meinen, jemand weiß schon, was dann einmal Gutes dabei herauskommen soll. Dieses Brot soll uns ja ernähren, soll das Brot des Lebens werden. Auch da wieder, ein weiter Weg. Dieses Brot, das dort in Bethlehem – im Haus des Brotes – zur Erlösung, zum Ort der Erlösung wird – für uns! Wir sehen, es beginnt immer mit einem Geheimnis und einem langen Weg und wir wissen nicht, wie dieser Weg einmal endet, aber dieses Wort vom Korn, dieser Weg des Kornes zum Brot hin kann uns schon zeigen, da ist jemand, der mehr sieht. Der etwas spürt von diesem Verlangen und von dieser Sehnsucht, die wir Hunger nennen und der gesättigt werden möchte. Der uns Kraft geben möchte auf diesem Weg. In dieser Woche feiern wir auch dieses Geheimnis, dass in all dem, was wir erleben an Schwerem und an Störendem und an Irritierendem, dass alles das hinein mündet in dieses große Wunder der Verwandlung, die wir dann mit Ostern umschreiben. Und ich kann mich noch gut erinnern an die Beerdigung meiner Großmutter. Sie hat ein sehr gesegnetes Alter erleben dürfen, sie ist 100 und ein halbes Jahr alt geworden und da standen wir am Grab und der Sarg wurde hinunter gelassen in die Erde und die kleine Pia, mit drei Jahren stand mit dabei, sah das alles und dann sagte sie diesen einen Satz: „Wird die Oma jetzt gepflanzt?“ Ein kleines Kind mit drei Jahren hat so einen Weitblick gehabt, gemerkt, das ist nur die eine Seite der Medaille, es geht ja weiter. Selbst dort, wo wir sagen, der Weg kommt zu einem Ende, für unsere bewussten Sinne, ja! Und dennoch, etwas in uns weigert sich, das zu akzeptieren. Der Lebensbaum, von dem wir kommen, der ist doch stärker. Vielleicht bewegen wir uns ja von einem Lebensbaum hin zu

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einem anderen. Und dazu gibt es eine schöne Legende, die besagt, dass der Seth, das ist der Sohn, den Adam und Eva nach dem Brudermord bekommen hatten, dieser Seth, der auch übersetzt Setzling heißen kann, der hat bei dem Auszug aus dem Paradies einen Setzling vom Baum des Lebens mitgenommen. Und dann, als sein Vater Adam starb und auf Golgatha beerdigt wurde, hat er dann diesen Setzling des Baumes des Lebens gepflanzt, über diesem Grab. Und der Baum ist groß geworden und Abraham hat unter diesem Baum gesessen und hat die Verheißung von seinem Sohn Isaak dort empfangen und später dann ist dieser Baum gefällt worden und aus dem Baum ist dann das Kreuz für Christus gemacht worden. Und dann dort, von diesem Kreuz, für unsere Augen verborgen, ist dann diese Verwandlung geschehen, das Kreuz wurde zum Baum des Lebens. Ein großer Bogen, ein langer Weg, den wir heute Abend gegangen sind und vielleicht spüren Sie jetzt etwas von dieser anderen Seite von dieser heiligen Woche. Dass wir in dieser Zeit einem Geheimnis nachgehen und dieses Geheimnis einladen, dass es auch in unserem eigenen Leben sich wandelt, dass dieses Korn des Wortes, das in uns hinein gelegt wird, auch wächst und reift und zum Brot des Lebens wird, das uns stark macht, das uns Kraft gibt und das uns Ostern erfahren lässt. Amen.

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Predigten in freier Rede

Evangelische Seelsorge Donnerstag Abendandacht © Pfarrer Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau DS 400646 / 19.08.2010 Klinikum Augsburg

1. Mose 2, 4-9 - Garten Eden Liebe Daniela, eine Geschichte für die Daniela zum Abschied, so lautete die Idee und Bitte von Hildegard. Gleich fiel mir dazu ein die Geschichte vom Garten Eden. Dies Bild verbinde ich mit dir, Daniela mit Blumen! Und dein rührendes Kümmern rund um die Kapelle im Klinikum. Wenn du so willst, ist die Kapelle auch so ein Raum, wie der Garten Eden, wo wir Gott begegnen und wo wir das „Bebauen und Bewahren“ pflegen sollen. Du hast deinen Dienst meisterlich geleistet, geschwisterlich auch für uns, die Evangelischen, dafür von Herzen vergelt‘s Gott! So möchte ich dir zum Ade-sagen, wie die Franken, oder Adiéu-sagen, wie die Franzosen, oder Gott befohlen-sagen, wie der Rest der Welt, eine Predigt von mir schenken. An dem Ort gehalten, der dir so wichtig war und ist, die Kapelle im Klinikum Augsburg. Eine Geschichte in Predigtform, die ich gerne mit dir verbinde und dir widmen möchte, als Dank und Wunsch, dass du, auf deinem weiteren Weg, Wohlbefinden und Glück reichlich finden magst. herzlich verbunden Heinz

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Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr, segne du an uns Reden und Hören. Amen. Das Wort aus der Schrift, das ich mit Ihnen heute gerne bedenken möchte, steht im 1. Buch Mose im 2. Kapitel. Es war zu der Zeit, da Gott der Herr Erde und Himmel machte. Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen. Denn Gott, der Herr hatte noch nicht regnen lassen auf Erden und kein Mensch war da, der das Land bebaute. Aber ein Nebel stieg auf von der Erde und feuchtete alles Land. Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. Und Gott, der Herr pflanzte einen Garten in Eden gen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. Und Gott, der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Und es ging aus von Eden ein Strom den Garten zu bewässern und teilte sich von da an in vier Hauptarme. Liebe Schwestern und Brüder, zu dieser Geschichte habe ich Ihnen dieses Bild mitgebracht und jetzt, wo Sie die Geschichte gehört haben und den Garten und die Natur auf diesem Bild entdeckt haben, dann haben Sie auch diese Verbindung zu diesem Garten Eden hergestellt. Das Bild ist entstanden auf einer meiner Reisen nach Israel. Im Norden von Israel, um die Gegend von Dan herum gibt es ein Naturareal, das mit Wegen ausgestattet ist und den bezeichnenden Namen trägt – Garten Eden! In einem biblischen Land wird man natürlich auch Ausschau halten nach all diesen Plätzen, die in der Bibel uns genannt sind und so dachte und denkt man, dass nun in diesem Bereich dieser Garten Eden vielleicht einmal war. Aber dass das mit diesem Garten nicht so eine historische oder lokale Geschichte ist, das ist mir aufgegangen auf einer anderen Reise in den Iran. Auch dort, wieder kamen wir an eine Stätte, die dann diesen Namen trug – hier soll der Garten Eden einmal gewesen sein. Also man merkt, dieser Garten Eden, der ist vermutlich nicht so sehr in dieser Welt zu suchen, denn jeder kann für sich sagen, dieses Stück Land ist eben dieser Garten Eden, das für mich jetzt eine Bedeutung hat und wo ich an diesen Garten erinnert werde. Neulich habe ich ein Interview im Fernsehen gesehen. Es ging über André Heller, einen bekannten Künstler aus Wien und seinen botanischen Garten den er am Gardasee erworben hatte und ihn weiter kultivierte. Sechs Gärtner arbeiten dort rund um die Uhr, um diesen wunderschönen Garten in Schuss zu halten. Und beim Erzählen über seinen Garten begann André Heller zu schwärmen. Er sagte, egal, wohin ich in dieser Welt reise, immer wieder zieht es mich zurück in diesen Garten, in diese Ruhe und Stille, in diese wundervolle Schönheit, wo Gottes Schöpfermacht abzulesen ist, in einem Blatt, oder in einem Baum, oder in einer Blume. Diese Vielfalt an Wachstum, diese Harmonie, die er in diesem Garten erlebt, bringt ihn immer wieder zum Staunen und in eine ganz tiefe Dankbarkeit, wie schön doch diese Schöpfung gestaltet ist – uns zum Nutzen, die wir betraut werden, verantwortlich mit diesem Geschenk umzugehen. Und Heller begann von seinem Baum zu erzählen, einer alten Eiche: Wenn er mal nicht gut drauf sei, dann lehne er sich immer gerne an diesen Baum und liesse die Kraft in sich fließen, die er darin verspüre. Und sein Erzählen ging weiter zu einem anderen Baum in seinem Garten. Die Menschen, für die er diesen Garten geöffnet hat, damit sie sich auch mit ihm dran freuen können, die haben begonnen, Wünsche an diesen anderen Baum zu heften. Mittlerweile ist dieser Baum ganz behangen, mit vielen ganz intimen, ganz

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erschütternden Wünschen und Danksagungen, die die Menschen an die Äste dieses Baumes gehängt haben. Und für André Heller wurde deutlich, wie sehr wir doch in uns diese Sehnsucht tragen, nach einem Ort, wie diesem Garten Eden. Wo auch wir wieder etwas von dem spüren, von dieser Dankbarkeit, von diesem Aufgehobensein, von dieser Kraft, einem Ort, wo wir wieder zu uns kommen können. Nun ist es interessant zu sehen, dass im Alten Testament dieses hebräische Wort, „Garten Eden“, übersetzt werden kann ins Deutsche, als „der Garten des Glückes“, oder „der Garten des Wohlbefindens“. Dann merken wir, dass dieser Garten Eden ja noch eine ganz wesentlichere und tiefere Bedeutung hat. Da ist etwas in uns angelegt, was nach diesem Glück sucht und dem dieses Glück auch versprochen ist, dieses Gefühl des Wohlbefindens. In dieser, oder in der anderen Welt, die wir suchen – wir sehnen uns nach diesem Ort, wo wir dieses tiefe Glück empfinden. Gott hat es uns gegeben, er hat es geschöpft und gemacht, um den Menschen dort hinein zu stellen. Aber wir wissen auch, dass wir uns jenseits von diesem Paradies, von diesem Garten Eden befinden, denn in dieser Geschichte, die eben auch zum Menschen dazu gehört, hat es diesen Weg aus dem Paradies gegeben. Und deswegen sind wir nach wie vor auf der Suche dorthin zurück. Es gibt ein weiteres Bild, das ich auf einer näher gelegeneren Reise auch gesehen habe, in der Nähe von Bayreuth, da gibt es ein Schloss und dort hängt ein Gemälde. Ein Bild von einem Garten und einem Gärtner, mit einer Schaufel in der Hand, ein Zeichen seines Berufes. Und wenn man genau hinsieht, dann merkt man, dass dieser Gärtner die Züge des auferstandenen Christus trägt, die Wundmale an seinen Händen und an seiner Seite. Eines der ganz wenigen Bilder, die Jesus als Gärtner in einem Garten zeigen. Und wenn wir in das Neue Testament blicken, dann merken wir auch: Am Ende seines Weges, wo es dann hinauf ging zum Berge Golgotha, zum Kreuz, da gab es auch wieder diesen einen Garten, in dem Jesus war, wo er gebetet hat, wo er gefangen genommen worden ist und wo er dann den Weg zum Kreuz angetreten ist. Und später wieder, nach der Auferstehung, die Frauen sehen zunächst nur einen Gärtner und erkennen nicht, dass er der Christus ist. Wieder – Gott in einem Garten. Auf den ersten Seiten der Bibel und dann später im Neuen Testament, wieder dieser Garten, dieser Ort, aber nun ist er mit Christus auch bereichert. Er wartet dort auf uns mit der Schaufel, um diesen Garten nun urbar zu machen, ihn umzupflügen, damit er wieder zu dem wird, was er immer schon hat sein sollen, ein Ort, wo wir zu unserem Glück finden, wo wir das Wohlempfinden erleben dürfen und mit Gott in diesem Garten sind. Amen. 3 von 3

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten an: Ostern - 08-04-2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400780

1. Samuel 2, 1-2.6-8 - Ostererfahrung der Hanna

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Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören. Amen. Der Predigttext für den heutigen Ostersonntag steht im 1. Buch Samuel im 2. Kapitel: Und Hanna betete und sprach: Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn, mein Haupt ist erhöht in dem Herrn, mein Mund hat sich weit aufgetan wider meine Feinde, denn ich freue mich deines Heils. Es ist niemand heilig wie der Herr, außer dir ist keiner. Und ist kein Fels wie unser Gott ist. Der Herr tötet und macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf. Der Herr macht arm und macht reich, er erniedrigt und erhöht. Er hebt auf den Dürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen aus der Asche, dass er ihn setze unter die Fürsten und den Thron der Erden ihm lasse. Denn der Welt Grundfesten sind des Herrn und er hat die Erde darauf gesetzt.

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Liebe Schwestern und Brüder, zu Ostern gibt es diese Tradition, vom Karfreitag an schweigt die Orgel! Um dann noch lauter und fröhlicher zu erklingen, alle Register werden gezogen, dass der volle Klang der Orgel unseren Ostergesang begleitet. Hier in unserer Kapelle müssen wir uns heuer etwas bescheiden. Dieses Ostern wird umgebaut, die Orgel ist verpackt, aber unsere Organistin, Frau Plackner tut ihr Bestes, in die Tasten des Ersatzklaviers zu greifen, um auch unsere Osterlieder fröhlich und lautstark zu begleiten. Aus solcher Inbrunst heraus hören wir heute das Osterlied von der Hanna. Im alten Testament ist es uns überliefert und wir staunen zunächst, dass wir schon dort österliche Klänge hören. Und so möchte ich mit Ihnen heute, in der Betrachtung des Wortes Gottes, dieser Spur erst mal nachgehen, diesem österlichen Klang zu lauschen, ihn in uns aufzunehmen, um ihn dort dann weiter klingen zu lassen, dass auch wir dann fröhlicher werden, auch wenn es uns im Moment vielleicht gar nicht so danach zumute sein sollte. Und schon sind wir dieser Hanna wieder nahe. Denn auch sie hat einen beschwerlichen Weg hinter sich, denn, bevor sie dieses Lied hat singen können, hat sie eine Leidensstrecke zurücklegen müssen. So wie wir ja auch, durch diese sieben Wochen der Passionszeit, einen Leidensweg zurück gelegt haben. Wo wir uns an das Leiden und Sterben Jesu erinnert haben. Auch hier im Haus, unsere persönlichen Nöte erfahren haben, unsere Fragen und unser Ringen mit unserem Leben und unserem Schicksal und vielleicht auch mit diesem Gefühl, warum Gott, hast du mich denn gerade jetzt verlassen? So ging es dieser Hanna sehr lange. Schon ihr Name ist bedeutsam und wir wollen versuchen, diesen Namen erst einmal auszuloten. Denn aus dem Hebräischen klingt er etwas anderes, nämlich Channa und in diesem „Channa“ steckt das Wort chen, von der Gnade. Die Gnädige, die Gütige, das ist diese Channa. Später hat man diesen Namen etwas verändert. In der Übersetzung der Bibel schon, ist das „C“ weggefallen und wir begegnen nur mehr der Hanna und der Legende nach ist aus dieser Hanna dann die Anna geworden, die Mutter von der Maria. Wir sehen auch hier schon einen langen Weg, große Zusammenhänge, die uns die Bibel erzählt, aber sie möchte uns etwas vom Wesentlichen nahe bringen, von Gottes Botschaft, von seiner österlichen Botschaft und diese Hanna die bringt diese Botschaft von Gott auf den Punkt, indem sie sagt: „Der Herr tötet und macht lebendig!“ Das „Tot sein“, das hat sie erlebt in ihrem Leben, Hanna, die eine Frau des Elkana, die kinderlos war, viele Jahre lang und immer wieder darum gerungen und gebetet hatte, Frucht hervorbringen zu dürfen, damit ihr Leben einen Sinn bekommt. Und ihre Nebenfrau, die zweite Frau von Elkana, die Pennina, die hatte zehn Kinder. Und so hat Hanna lange Jahre dies erlebt und erlitten: die Pennina wird voll und ganz beschenkt und sie selber bleibt in ihrem Mangel, in ihrem Verlassensein, ja in ihrem Nicht-Vollkommen-Sein als Frau zurück. Mehr tot als lebendig, das war ihr Leben!

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Und dennoch ging sie immer wieder in den Tempel zum Priester Elihu und hat dort gebetet. Elihu, hat die Hanna beim Beten beobachtet und war erstaunt, denn die Hanna hat beim Beten die Lippen bewegt, aber keinen Ton war zu hören. Seine erste Vermutung war fast eine Unterstellung, er meinte, vielleicht hat sie zuviel Wein getrunken und forderte sie deshalb auf, diesen Wein von sich zu geben doch Hanna sagte: Nein, ich bete, mein Leben ist ein stilles Leben. Es kommt ganz von innen her, es ist ganz an Gott gewendet, es ist ein persönliches, intimes Gespräch, das ich führe und diese Stimme, die kommt nicht nach draußen, die findet innen statt. Und diese Tradition des stillen Gebetes, die findet auch noch heute statt im Judentum. Dort heißt sie das „stehende Gebet“, die amida, von omet, von Stehen. So stehen die Menschen im Stillen und sprechen zu Gott und wir können dieses Gebet auch für uns wieder entdecken und erfahren, was dieses stille Gebet alles bewirken kann. Später sagt Jesus auch zu seinen Jüngern: „Wenn ihr betet, dann plappert nicht und macht laute Worte, sondern geht ins stille Kämmerlein.“ Auch da begegnen wir dieser Tradition wieder. Und Hanna wird erhört. Ihr Gebet findet zu Gott und Gott schenkt ihr die Gnade. Sie, die unfruchtbar war über viele Jahre, sie bringt, neuen Monate nach dieser Tempelerfahrung, einen Knaben zur Welt, Samuel. Dieser Samuel ist der erste, der von Gott berufen wird und Prophet wird. Er wird zum Königsmacher, er salbt zuerst Saul und später den David zum König. Und aus der DavidGeschlechterfolge entstammt dann der Ben David, der Sohn Davids, Messias, der Christus, der dann den Weg zum Kreuz geht. Diesen Weg ein für allemal geht. Die Hanna ist ihn auf ihre Art gegangen und so viele Menschen sind ihn gegangen seitdem, dass sie dem Tod begegnen. Dass sie bis an diese Schranke kommen, wo wir, nach menschlichem Ermessen, nicht mehr weiter sehen können. Hier geschieht Ostern. Gott hat diese Tür des Todes aufgebrochen. Der Tod hat seinen Schrecken verloren, er ist zum Weg ins Leben geworden. Ein Weg ins ewige Leben. Dort, wo dann alles aufgehoben ist und vollkommen da ist, so wie Gott es schon immer gewollt hat. Aber noch sind wir unterwegs. Noch sind wir mit dieser Hanna unterwegs und machen immer wieder diese Erfahrungen. Dass wir einen Weg gehen und das Schicksal erleben und dann aber auch dieses andere von der Hanna lernen dürfen, nämlich an Gott zu bleiben, mit ihm zu ringen, mit ihm zu hadern und ihn zu bitten, zeig du mir einen Ausweg. Dass wir dann auch dieses erfahren dürfen, vom Tod zum Leben hin auferstehen. So möchte dieses Bild uns ein Bild der Hoffnung werden. Dass dieser Weg, den Jesus für uns gegangen ist, dass diese Worte, die er einmal ausgesprochen hat, dass wir die auch erfahren und erleben. Wo er sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!“ Wir dürfen uns einlassen auf diesen Weg und in diesem

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Einlassen auch dieser Wahrheit näher kommen, dass der Weg durch den Tod zum Leben führt. Mögen wir das erfahren, möge Ostern Wirklichkeit werden für uns heute, hier und jetzt. Dass wir das, was Marie Luise Kaschnitz einmal gesagt hat, auch ganz konkret erleben: Manchmal stehen wir auf, stehen wir zur Auferstehung auf, mitten am Tage. Amen

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten an: Ostern - 14-04-2012 in: Kapelle BKH Tondatei: DS400781

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Ostergeschichten - Die Hanna Gestern und Heute 1. Samuel 2, 1-2.6-8 Liebe Schwestern und Brüder, heute Abend habe ich eine Frau ausgesucht aus dem alten Testament, die ich gerne einladen möchte in unsere Mitte. Wir kommen von Ostern her und das, was ich Ihnen heute Abend erzählen möchte, ist so eine Ostergeschichte, wie sie uns die Bibel weiter erzählt und wir wollen dieser Ostergeschichte nachspüren und vielleicht auch sie einladen, dass sie Wirklichkeit wird bei uns. Ostern ist ja dieses Besondere, dieses Geheimnis, das wir immer wieder feiern, dass wir sagen, es ist unmöglich, was da passiert, geschehen ist, mit diesem Jesus, der den Weg zum Kreuz gegangen ist, dann starb und drei Tage lang war nichts, war Leere, war Stille und dann mit einem Mal ist dieser Morgen angebrochen, wo alles jubiliert und die Menschen gemerkt haben, es geht weiter. Jesus Christus ist auferstanden, ein für alle Mal, ist dieser Tod überwunden. Diese Erfahrung, dass unser Leben so sehr in eine Krise kommen kann, dass es gar nicht mehr weitergeht und wie durch ein Wunder auf einmal eine neue Öffnung sich auftut, das haben Menschen immer wieder erlebt in der Bibel. Heute Abend möchte ich ihre Geschichte erzählen, die der Hanna. Sie ist eine besondere Frau, sie gehört zu den sieben

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Prophetinnen im alten Testament und die Hanna hat ein Leben gelebt, das erst einmal sehr traurig war. Sie war eine der Frauen von Elkana. Die andere Frau ist die Pennina, die zehn Kinder hatte und Hanna sehnte sich so sehr nach Kindern, nach Nachwuchs, dass ihr Leben einen Sinn bekommt als Frau, aber ihr Leib blieb verschlossen, wie es heißt. Und jedes Jahr machte sich der Elkana mit seinen beiden Frauen auf zu dem Tempel, um Gott zu feiern und zu loben. Seine Frau Pennina mit ihren zehn Kindern und Hanna, enttäuscht – in ihrer Trauer, ja in ihrer Ausweglosigkeit, dass sie keine Kinder bekam. Und wie sie wieder einmal im Tempel sind, betet diese Hanna ganz inbrünstig zu Gott. Eli, der Priester der an Tür zum Tempel stand schaut ihr zu und wundert sich, dass diese Hanna ihre Lippen bewegt, aber er kann keinen Ton hören. Ihr hat es sozusagen die Stimme verschlagen vor Kummer und vor Sorgen. Ihr Gebet findet ganz tief innen, in ihrem Herzen statt. Und Eli spricht sie an und denkt zunächst einmal, sie hätte vielleicht zu tief ins Glas geschaut und zu viel Wein getrunken und bewegt darum nur ihre Lippen, aber die Hanna versichert ihm und sagt: „Nein, mein Gebet kommt ganz tief von innen, ich schütte Gott meine Sorgen aus“ und Elia spürt und merkt, dass diese Form des Gebetes die tiefste und schönste ist. Ganz innig mit Gott verbunden zu sein und von innen heraus, in der Sprache des Herzens sich mit Gott auszutauschen. Dort in diesem Stillen, dem Verborgenen, da ist Gott anwesend. So sagt auch Jesus dann zu seinen Jüngern später: „Wenn ihr beten wollt, dann geht in euer stilles Kämmerlein“, sperrt die Tür zu und plappert nicht so, dass man euch hört. Macht keine Show daraus. Gott sieht schon in dein Herz, er weiß schon, worum du ihn bittest und was dir wirklich auf dem Herzen, auf der Seele liegt. Und diese Erfahrung, die macht die Hanna. Und ihr Name sagt schon etwas ganz anderes, führt uns schon mal hin auf diese andere Seite, die die Hanna dann eben auch erlebt, nämlich ihr Name bedeutet, in der Sprache des Hebräischen, „Gnade“, die Gnädige – channa, von chen, Gnade! Zwar erlebt diese Hanna, die auf der einen Seite durch das Schwere und Dunkle geht den Tod viel mehr als das Leben, sie trägt doch diese Gnade schon in sich und bei sich, das lässt hoffen. Und Gott reagiert auf ihr Gebet, auf ihren Wunsch, auf ihre Sehnsucht nach Leben und ein Jahr später bekommt nun diese Hanna ihren Sohn, den Samuel, der später ein großer Prophet wird und den Saul zum König salbt und später den David. Und aus diesem Davidsgeschlecht kommt dann eben auch Jesus, der der Sohn Davids genannt wird. Wir merken, dass hier schon ganz am Anfang Gott beginnt, seine Geschichten, seine Ostergeschichten zu schreiben in dem Leben dieser Hanna, die er aus dieser Todeszone herausholt und ihr neues Leben schenkt. Und ein Jahr später, nachdem Hanna ihren Sohn Samuel bekommen hat, macht sie sich wieder auf, mit Elkana und Pennina hin zu diesem Tempel und nun folgt ein ganz anderes Gebet, das österliche Gebet, das ich uns jetzt noch vorlese: Und Hanna betete und sprach: Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn, mein Haupt ist erhöht in dem Herrn, mein Mund hat sich weit aufgetan wider meine Feinde, denn ich freue mich

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deines Heils. Es ist niemand heilig wie der Herr, außer dir ist keiner. Und ist kein Fels wie unser Gott ist. Der Herr tötet und macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf. Der Herr macht arm und macht reich, er erniedrigt und erhöht. Er hebt auf den Dürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen aus der Asche, dass er ihn setze unter die Fürsten und den Thron der Erden erben lasse. Denn der Welt Grundfesten sind des Herrn und er hat die Erde darauf gesetzt. Was für ein Osterweg, den diese Hanna da zurück gelegt hat. Aus dem Tod hin zu neuem Leben! Das hat sie erlebt, der Herr macht tot und auch wieder lebendig. Beides gehört dazu und wir dürfen von dieser Hanna lernen, dass das Leben, ja aller Leben, diesen großen Bogen spannt, dass da das Dunkle und Schwere da ist, aber dass wir uns auch freuen dürfen, die andere Seite, nämlich die gnädige Seite, auch wieder zu erleben. Davon möchte Ostern immer wieder erzählen, uns Mut machen und uns helfen, dass wir uns freuen können, dass das Andere auch mit Teil dieses Lebens ist. Und ich möchte Ihnen jetzt zum Schluss noch eine kleine Ostergeschichte erzählen, die gar nicht vor so langer Zeit passiert ist. Es ist zwei Wochen her, am Dienstag Abend vor dem Karfreitag haben wir drüben im Klinikum einen Gottesdienst gefeiert und wir waren alle zusammen und dann ging die Tür noch einmal auf und eine Frau kam herein mit einem Infusionsständer, voll gehängt mit Medikamten, setzte sich, ständig hat es gepiept und getutet und erweckte dadurch den Eindruck, diese Frau scheint in einer sehr schwierigen Situation zu sein. Nach dem Gottesdienst erzählte sie mir, dass sie so froh war, dass sie den Gottesdienst erleben durfte, denn sie hätte am nächsten Tag eine schwere Operation vor sich. Ich habe ihr Gottes Segen gewünscht für den kommenden Tag und sie umarmte mich und zwei Tage später habe ich sie dann besucht. Sie lag oben auf der Familienstation, ich wusste gar nicht, um was es sich genau gehandelt hatte, aber dann erzählte sie mir ihren Weg. Erst einmal diesen beschwerlichen Weg, den Weg, der mehr dem Tode nahe war, als dem Leben. Sie musste dringend behandelt werden, weil sie einen hohen Blutdruck hatte. Zehn Jahre lang hatten sie und ihr Mann gewartet auf ein Kind und nie hat die Schwangerschaft geklappt. Nach unzähligen Versuchen hat es dann endlich mit großem Glück und mit Hilfe der Kunst der Ärzte ist sie schwanger geworden mit Zwillingen, kam ins Krankenhaus und machte einen Spaziergang und auf so einem Spaziergang fiel sie auf ihren schwangeren Bauch, in der 31. Woche. Man untersuchte den Bauch und stellte fest, dass die Kinder sich nicht mehr bewegten. Mit einem Kaiserschnitt versuchten die Ärzte, die Kinder zu retten. Und während sie noch von der Dramatik erzählte, legte ihr Mann, der auch im Zimmer war, die beiden Karten mit den Bildern der Zwillinge auf ihr Bett. Beide sind gesund, zwar noch im Brutkasten, aber am Leben und die Mutter wohlauf! Und ich habe nicht schlecht gestaunt, als sie mir den Namen dieser Kinder nannten: Denn die Erstgeborene hat den Namen Hanna bekommen! Und ich habe gemerkt, es ereignet sich mitten unter uns, dies Wunder vom Durchbruch, das wir Ostern nennen, wo wir erleben hautnah, das Leben geht weiter fängt von ganz Neuem

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an, mal bei dem einen, mal bei dem anderen und ich wünsche uns allen, dass wir mit Osterohren, solche Geschichten hören und dass sie uns Mut machen und dass wir vielleicht selber einmal von unserem persönlichen Ostern weiter erzählen können. Wenn wir das erleben und erfahren haben, dass wir dann mit den Worten der Hanna auch so sprechen können: Ich war fast tot, doch Gott in seiner Güte und Gnade – er hat mir das Leben neu geschenkt. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten an: DoA - 19.04.2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400782

1. Samuel 2, 1-2.6-8 - Osterspaziergang

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Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da war und der da ist und der da kommt. Liebe Brüder, hier in der Kapelle, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, jetzt ist die Zeit der Osterspaziergänge. Wenn Sie aufmerksam Ihre Schritte hierher auf das Klinikum lenken und an den Bäumen und Sträuchern vorbei kommen, dann können Sie solche Zweige mit ihren Knospen und entfaltenden Blättern sehen. Ich habe diesen Zweig hier vom Haus Tobias mitgebracht. Wir können an diesen Ästen sehen, was sich jetzt im Moment ereignet. Man kann das Eine noch sehen, diese lange Zeit des Aushaltens, der Dürre und der Trockenheit. Der nackte Stamm der Äste ist noch zu sehen, die lange Zeit die da war, wie tot sind Baum und Strauch in der Landschaft gestanden, wo keiner, von aussen betrachtet, wusste, wie geht es weiter. Und mit einem Mal bilden sich an den Enden dieser kleinen Zweige diese Knospen und es bricht durch und neues Leben kommt hervor. Bei manchen schon mehr, bei anderen, die sind gerade dabei, sich zu entwickeln. Und ich finde es sehr spannend, dass gerade in dieser Zeit des Jahres wir dieses andere Ereignis miteinander feiern, dem nachspüren, diesem Durchbruch, diesem Osterereignis. Da war was tot, ist zu einem Ende gekommen und mit einem Mal, wie durch ein Wunder, ist der Durchbruch da, ganz von woanders her, geht es weiter. Wir feiern das Leben. Einmal im Jahr, zumindest in dieser Zeit und durch das Jahr hindurch suchen wir dieses Ereignis immer wieder, gerade dann, wenn wir uns ganz woanders

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empfinden und erleben in unserem Leben – mehr auf dieser dürren Seite, mehr auf dieser trockenen Seite, mehr auf der Seite, wo wir dem Tod uns näher fühlen, als dem Leben. Und so merken wir, dass diese Osterspaziergänge auch einen Vormarsch haben. Ein Weg muss zurückgelegt werden, bis wir zu diesem Ereignis kommen, wo wir dann das Leben wieder umarmen können und empfangen dürfen. Und so möchte ich heute Abend noch einmal eine Person aus der Bibel zu uns hierher einladen. Am Ostersonntag haben wir ihre Geschichte gehört, aber ich denke, es wäre ganz gut, noch einmal diesen ganz langen Weg mit ihr zu gehen, den Weg des Ertragens von Dürre bis hin zum Erfahren des Lebendigen. Ich lade zu uns ein, die Hanna! Hanna, eine der beiden Frauen von Elkana, ihre Mitfrau ist die Pennina. Hanna hat erst einmal ein langes, dürres und trockenes Leben erleben müssen. An der Seite einer Nebenfrau, die gesegnet war mit zehn Kindern! Und sie selber, immer wieder in der Hoffnung, in der Erwartung, in der Sehnsucht, dass sich auch bei ihr dieses neue Leben, die Frucht des Lebens zeigen möchte, aber nein, ihr Leib blieb verschlossen über viele Jahre hin. Einmal im Jahr zieht Elkana mit seinen beiden Frauen zum Tempel hinauf. Mit Pennina ihrer Nebenfrau, die, von ihrem Namen her, „Die Perle“ heißt. Die Perle, rund und schön, so hat sie ihr Leben erlebt und gesehen, das war eine runde Sache mit zehn Kindern gesegnet zu sein, mehr war nicht möglich oder zu erwarten. Und dann die Hanna an ihrer Seite, immer noch unfruchtbar, immer noch dem Tode sich näher fühlend als dem Leben, ein langer Weg der Entsagung, ein langer Weg des Wartens. Wie dieses lange Warten auch im Winter, wenn wir nicht merken, dass sich etwas ereignet, wir die trockenen Zweige sehen an den Bäumen. Und dann sehen wir die Hanna im Tempel, sie betet und wendet sich inbrünstig an Gott in ihrer Verzweiflung, in ihrer Not, in ihrem Alleinsein, in ihrem Flehen um Leben und um Erlösung aus ihrem Leid. Und ihr Gebet, so wird es erzählt in der Bibel, ist so tief und so innig und so wahrhaftig, man sieht nur die Bewegung der Lippen, aber die Laute hört man nicht. Ganz tief in ihrem Herzen, in ihrer Seele, da formuliert sie Worte und spricht sie hinaus in die Weite ihres Herzens, in der Hoffnung, dass Gott der Barmherzige, sie erhören mag. Und die Bibel erzählt, solche Gebete haben eine besondere Kraft, sie bewirken etwas, öffnen die Ohren des Himmels, dass sie erhört werden und Hilfe sich zeigt. So geht Hanna mit ihrem Mann nach Hause und ein Jahr später ist dieses Gebet nach einem Kind erhört, sie gebiert den Samuel, einen ganz Großen! In seinem Namen schon spüren wir, dass sich da etwas abbildet, von der Gabe des Himmels, schmo-el, der Name von Gott. Er trägt den Namen Gottes und wird dann auch zum Königsmacher später beim Saul und beim David und die Geschichte wird weitergehen und aus dieser Geschlechterlinie wird einmal später dieser andere „besondere Sohn“ hervorgehen, der Messias. Auch im Namen der Hanna ist mehr verborgen, im hebräischen Wort der Channa ist das Wort chen als Wurzel vorhanden, das Gnade, die Güte, bedeutet. Die Gnade, ist schon verborgen da, geht schon mit, gerade dort, wo der Mensch sich sehnt und hofft, auch gegen den Augenschein, wo er dranbleibt in seiner Verzweiflung, in seiner Sehnsucht nach Gott. Bereits dort ist die Gnade schon am Wirken. Und diese Hanna ist später, in der neutestamentlichen Tradition, zur Anna geworden, die Mutter von Maria und wir würden heute nicht da sein und da sitzen, als evangelische Christen, wenn es diese Anna nicht gegeben hätte. Diese Schutzpatronin bei Gewitter, zu der Martin Luther Zuflucht gesucht hatte, wo er in seiner größten Not dem Tod sich so nahe fühlte, da rief er diese Hanna, die Anna an:

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„Hilf, heilige Anna, ich will ein Mönch werden.“ Und auch bei ihm wird dieses Andere sichtbar, der Durchbruch zeigt sich, vom Tod findet er zum Leben. Mit derm Osterspaziergang haben wir begonnen und mit einer Ostergeschichte möchte ich schließen. In der Woche vor Ostern waren wir hier versammelt zum Abendgottesdienst. Da ging die Tür auf und zuerst sah man einen Infusionsständer und anschließend eine Frau hinter diesem Infusionsständer herein kommen. Sie setzte sich, das Gerät piepste zunächst etwas störend, aber mit der Zeit wurde das still und die Frau verfolgte den Gottesdienst mit einer großen Intensität. Im Anschluss an den Gottesdienst habe ich mit ihr noch etwas reden können am Ausgang. Und so erzählte sie mir in Kürze von ihrer Not und vom nächsten Tag, der anstehenden Operation, vor der sie sich sehr fürchtete. Wir haben uns wieder gesehen Tage später, nachdem sie erfolgreich operiert war und dann erzählte sie mir ausführlicher ihre Geschichte. Eine Geschichte, die für mich so nah war an der, welche wir heute gehört haben. Auch sie, mit ihrem Mann unterwegs über viele Jahre, immer in der Hoffnung, dass sie ein Kind bekommen könnte, sie hatten alles versucht und jetzt war die letzte Möglichkeit noch zu einer künstlichen Befruchtung. Es hatte geklappt und sie kam hierher um untersucht zu werden, sie hatte hohen Blutdruck und musste beobachtet werden und ging heraus und stürzte und fiel auf ihren Bauch. Die Ärzte konnten im Ultraschall keine Bewegung der Kinder mehr feststellen. Sie musste notoperiert werden und siehe da, die Kinder lebten! Es sind Zwillinge geworden, zwei Mädchen und das älteste Mädchen hat den Namen Hanna bekommen. Ich merke immer wieder, dass diese Geschichten keine alten Geschichten sind, die irgendwann einmal die Bibel uns erzählt, sondern dass diese Hanna-Geschichten sich immer wieder ereignen, durchlebt und neu erfahren werden. Wo Menschen diesen Weg gehen, zunächst in Not und Entsagung sich befinden, aber sich sehnen nach Hilfe und Rettung und dann mit der Güte des Himmels das ganz Andere erleben, den Durchbruch, das Neue, den Neuanfang! Und vielleicht hilft uns diese Geschichte der Hanna, aufmerksamer unsere Osterspaziergänge zu gehen, zu merken, draußen in der Natur, wie vielleicht auch drinnen in unserer Seele, dass sich das Leben rührt und meldet und wieder kommt, wenn wir nur dranbleiben und bitten und flehen und uns öffnen. Und dann, mit Hilfe des Himmels, mit der Hanna diesen Lobgesang singen, der uns überliefert ist: Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn, schreibt die Hanna, mein Haupt ist erhöht in dem Herrn, mein Mund hat sich weit aufgetan wider meine Feinde, denn ich freue mich meines Heils. Es ist niemand heilig wie der Herr, außer dir ist keiner. Und ist kein Fels wie unser Gott. Der Herr tötet und macht lebendig, führt hinab zu den Toten und wieder herauf. Mögen wir auch, immer wieder, diese Erfahrung bei uns selber erleben. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau



gehalten an: Misericordia Domini 22.04.2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400784

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Hesekiel 34, 1-2.10-16.31

Wir beten:

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Foto: Crystal Cathedral Garden Grove, Kalifornien 2004

Guter und barmherziger Gott, du bist unser guter Hirte, der uns begleitet auf unserem Weg, der mit uns ist auf den Straßen dieses Lebens, den geraden und den krummen und schiefen. Du gehst mit uns durch die dunklen Täler unserer Zeit und du richtest uns immer auf durch ein Wort von dir. So bitten wir dich auch an diesem Sonntag, komm du in unser Leben, suche du uns, die wir uns verirrt haben und verloren gegangen sind, hole du uns wieder ein in unserer Verwirrtheit, hol uns heraus aus unseren Ängsten und unserer Trauer und unserer Verzagtheit und führe du uns wieder auf die Straße des Lebens. Dass wir wieder fröhlich werden können, zuversichtlich, dass wir vor uns sehen die Weite und das Schöne, das Zwitschern der Vögel und den Duft der Blumen. Wir danken dir durch Jesus Christus, der du mit uns unterwegs bist durch das Leben in der Zeit. Amen.

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Gnade sei mit euch von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören. Amen. Der Predigttext für heute steht bei Hesekiel im 34. Kapitel. Und des Herrn Wort geschah zu mir du Menschenkind weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: „Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden. Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?“ So spricht Gott der Herr: „ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern. Ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind und sie sollen nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.“ Denn so spricht Gott, der Herr: „Siehe, ich will meine Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und ich will sie erretten von allen Orten, wo sie zerstreut waren zur Zeit als es trüb und finster war. Ich will sie aus allen Völkern heraus führen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes. Ich will sie auf die beste Weide führen und auf den hohen Berg in Israel sollen ihre Auen sein. Da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. Ich selbst will meine Schafe weiden und ich will sie lagern lassen“, spricht Gott der Herr. „Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurück bringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und was fett und stark ist, behüten. Ich will sie weiden wie es recht ist. Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide und ich will euer Gott sein“, spricht Gott, der Herr. Liebe Schwestern an diesem Morgen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, das Bild ist mir noch ganz präsent. Als ich noch Vikar war in einer mittelfränkischen Gemeinde, da wollte ich einen unserer Kirchenvorsteher besuchen, er war tatsächlich Hirte in dem Dorf. Man nannte mir den Ort, wo ich ihn finden könne, wo er gerade mit seiner Herde unterwegs war. Und so fuhr ich mit dem Auto hinauf, in die fränkischen Hügel und irgendwann einmal, da bog ich ab und dann ging es über Feldwege hinweg und endlich sah ich ihn von weitem. Ich stellte mein Auto ab und betrachtete erst einmal dieses szenische Bild vor mir. Da stand er, ein alter, vom Wetter gegerbter Mann, der Hirte, auf seinem Stab lehnend und vor ihm die Weide ausgebreitet und die Schafe darauf, die in Ruhe ihr Mittagessen vor sich hatten. Und so nahm ich dieses Bild des Hirten in mich auf und als ich dann die Wagentür aufmachte und mich auf den Weg zu ihm machte, da schlug dieses Bild mit einem Mal um. Denn nun merkte ich die Sonne, wie sie stach. Ich hörte die vielen Bienen, die mich besummten und die Mücken, die auf mich einströmten und mich stachen. Ich nahm den starken und stechenden Geruch wahr, der sich mir in die Nase bohrte und ich merkte mit einem Mal, dieses idyllische Bild, wurde von der Wirklichkeit eingeholt. Die Wirklichkeit war stinkend, war heiß und war mit Mücken auch sehr unwirtlich besät. Und so habe ich gemerkt, wir alle tragen vermutlich diese beiden Bilder in uns. Das eine, idyllische Bild, vom guten Hirten, meistens Jesus in unserer Vorstellung, der ein Schaf auf seiner Schulter trägt und dann aber wieder die Wirklichkeit, wie sie sich uns zeigt mit den Hirten in unseren Gemeinden und wie wir sie so erleben.

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Sie sind meist geschäftig unterwegs, immer bemüht, die Herde zu erweitern und mehr Schafe in ihre Herde hinein zu bekommen. Das Management hat Einzug gehalten in das moderne Pfarramt und da diktiert der Terminkalender, da diktieren die vielen Sitzungen und vom guten Hirten ist nicht mehr viel zu sehen. Das ist die andere Seite dieser Medaille. Und ich denke an dies aufmunternde und aufrüttelnde Wort von Hesekiel, das passt da ganz gut hinein. Wenn er uns wieder wach rütteln möchte und uns sagen will, wer eigentlich der gute Hirte ist. Der natürlich auch sieht, was hier im Ganzen passiert und wie es aus dem Ruder läuft und dann sagt: Und ich will es wieder sein. Ich will euch zurück holen! Und wir merken dann, spätestens hier, wenn uns Gott wieder sagt, wer eigentlich der gute Hirte ist, dass wir dann ins Grübeln kommen, wer dann die Hirten in dieser Welt sind: Hilfshirten – im besten Sinne des Wortes. Auch die Hilfshirten, wie ich einer bin, tun gut daran, sich immer wieder zu erinnern, woher dieses Bild des Hirten gespeist ist, wo und an wem wir uns immer wieder orientieren sollen. Und so möchte ich mit Ihnen heute Morgen noch einmal in die Bibel schauen und diesem Wort des Hirten nachgehen, so wie es uns aus dem alten Testament überliefert ist. Dort heißt der Hirte im Hebräischen roe. Und dies Wort wird gleich gesprochen, aber etwas anders geschrieben, wie das hebräische Wort für „Sehen“. Wenn man das Wort roe hört, dann weiß man nicht, ob es „Hirte“ bedeutet, oder das andere Wort, das gleichlautend ist. Erst aus dem Zusammenhang des Satzes weiß man, ob es „Sehen“ heißt oder „Hirte“. Und dies will sagen, der Hirte hat etwas mit dem Sehen zu tun. Er ist derjenige, der das Ganze im Blick hat. Der die Einheit sucht! Der dann, wenn eines aus dieser Einheit entschlüpft und sich davon macht, dass er dann sofort alles stehen und liegen lässt und dieses eine sucht, weil er weiß, ohne dieses Eine geht die gesamte Einheit verloren. Dann helfen die 99 Schafe überhaupt nichts mehr, wenn das Eine nicht auch dabei ist um die 100 voll zu machen. Der Hirte also, als erste Spur aus dem Wort Gottes, ist derjenige, der das Ganze im Blick hat und immer wieder sieht und sich bemüht, dass er diese Einheit nicht verliert. Und von dieser Einsicht her, kann man einen Schritt weiter gehen, wenn wir uns das Glaubensbekenntnis unserer jüdischen Geschwister noch mal in Erinnerung rufen, denn dort heißt es: Höre Israel, der Herr unser Gott, der Herr ist Einer. Auch hier begegnet uns wieder dieses Bild der Einheit, um die es letztendlich geht. Der „Herr“, „unser Gott“, sind nicht zwei, sondern Einer. Aber wir kennen aus unserem Leben auch dies, dass diese Einheit uns verloren geht. Gerade dann, wenn wir durch dies vielzitierte dunkle Tal wandern, wir erleben dann bei uns selber, dass unser Bild des Lebens, das ein gutes und schönes Leben sein soll, dass das mit einem Mal erschüttert wird, durch Schicksal oder Krankheit und wir, mit einem Male, nur noch Fragmente haben, einzelne Bausteine und dann nicht wissen, wie passt denn das eine mit dem anderen zusammen. Wo bleibt der Sinn des Ganzen? Und in dieser Situation kann der Hirte uns helfen, einen Sinnzusammenhang in unserem Leben wieder zu finden. Die Spur, wieder zu finden, dass dieses Leben nicht auseinander gerissen, fragmentiert ist. Im Moment vielleicht, der Überblick ist verloren, weil das Schicksal zu stark zugeschlagen hat, du so sehr mit diesem Schicksal ringen musst, dass du nichts mehr anderes siehst, als das Stück vor dir.

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Aber sieh, da ist doch ein Weg. Der Weg ist dir nicht verloren gegangen, ich bin doch mit dir unterwegs auf diesem Weg. Der gute Hirte meldet sich! Der uns hilft, die Einheit wieder zu finden, den Sinn in unserem Leben. Und ich möchte an die ganzen Hirten noch einmal erinnern, die uns in der heiligen Schrift begegnen können, Abraham und Isaak und Jakob, die Erzväter, die alle Hirten waren. Und Mose, der das ganze Volk durch die Wüste geführt hat, immer wieder alles im Blick gehabt hat. Mose beginnt diesen Weg und wird zu dieser Aufgabe ausgewählt – warum? Ich erinnere an die Geschichte. Er hütet die Schafe seines Schwiegervaters Jethro auf einem Berg und eines aus der Herde entschlüpft und Mose lässt alles stehen und liegen und geht und sucht dieses Eine und findet es. Indem er sucht und nachgeht, macht er die Begegnung mit dem brennenden Dornbusch, der brennt und doch nicht verbrennt. Er begegnet Gottes Stimme die ihn aus dem Dornbusch anspricht und als Hirte für sein Volk erwählt. Warum? Weil er dieses eine Schaf nicht hat laufen lassen, sondern dem nachgegangen ist. Das ist die Qualifikation zum guten Hirten. Und so sagt ihm die Stimme aus dem Dornbusch: Du bist es! Führe und leite mein Volk, weil ich ihr Schreien gehört habe. Gott reagiert auf die Not des Menschen. Und er kommt und möchte uns begleiten als der gute Hirte. Und wo immer wir diese Aufgabe aus den Augen verlieren, dem Unbedeutenden, dem Wenigen und Geringen nachzugehen, den wird Gott korrigieren, wenn er sagt: Dann mache Ich das. Ich bringe das wieder so auf die Spur, dass ihr in dieser Suchbewegung auch mich wieder entdeckt und merkt, dass ihr nicht alleine seid. So möchte Gott bei uns sein. Er möchte uns helfen, dass wir all diese Momente unseres Lebens, die schönen und die schweren, die dunklen Elemente, all das, dass wir das auch sammeln und nicht das Geringe verdrängen und sagen, das gehört nicht dazu, zu meinem Leben. Da, wo ich enttäuscht worden bin, das möchte ich lieber nicht mitnehmen. Nein, alles gehört zu dir, nimm es mit und versuch, es in einem Ganzen zu sehen. Den Sinn, die Sinnspur darin aufzuspüren, dass Gott schon bei dir war, auch damals schon in deinen Schmerzen und Nöten, auch damals schon in deiner Traurigkeit, er ist mit dir unterwegs. Und dann können wir uns vielleicht auch dort wieder finden, wo er uns hinführen möchte, auf den Bergen, den Anhöhen, dort, wo wir dann den Überblick wieder bekommen auf den Weg, der hinter uns liegt und wir merken, dieses Land, in das er uns führt, ist groß und weit. Es ist ein Land, wo Milch und Honig fließt. Er führt uns immer wieder dorthin, wo Leben auf uns wartet. So laden wir ihn ein, den guten Hirten, in unser Leben, vertrauen uns ihm an, denn der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 20.05.2012 Palliativ Gedenkgottesdienst in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400785

weitere Predigten von Heinz D. Müller www.pfarrer-mueller.de Foto H. D. Müller Kunstwerk an der Kapellenaussenwand Künstler: Egon Stöckle

Palliativ Gedenkgottesdienst - „Der Weg...“

Liebe Schwestern und Brüder, Frau Dr. Hainsch-Müller hat mit dem Gedicht, das sie heute zufällig ausgesucht hat, die Spur gelegt, die ich mit Ihnen in der Predigt weiter verfolgen möchte. Sie hat das Bild des Weges aufgegriffen, aus dem Gebet von Bonhoeffer, das mit dem Satz endet: „ich verstehe Deine Wege nicht, aber Du weißt den Weg für mich“. Wir haben gerade eben dieses Lied vom guten Hirten gesungen und ich möchte Ihnen diesen Psalm noch einmal vorlesen, so wie er bei mir in der Luther-Bibel steht, denn auch hier begegnet uns dieses Bild vom Wege: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.

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Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal fürchte ich kein Unglück. Denn du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang. Und ich werde bleiben im Haus des Herrn immerdar. Diesen Psalm, den bete ich, den beten wir, von der Seelsorge, sehr oft an den Betten der Menschen, die wir besuchen. Und häufig spüren wir, wie die Menschen ergriffen werden von diesem Bild, das ihnen im Psalm von Gott her angeboten wird, dass sie sich unterwegs aufgehoben, angenommen fühlen, sagen, ja so geht’s mir auch, wie da beschrieben, auch ich bin unterwegs durchs dunkle Tal. Auch ich fühle mich so in einem dunklen Tal, durch das ich da hindurch muss .... und ich sehne mich nach mehr, dass ein „Du“ mit dabei ist, ich nicht allein bin. Aber ich weiß nicht, ob wir genau hinhören, was wir da lesen. Denn es steht dort: „Ob ich schon wanderte im dunklen, Tal…“ Bei meinen Reisen, die ich in den nahen Osten unternommen habe, war ich auch in Israel und konnte dort die dunklen Täler sehen. Eingeschnitten in den Felsen, bei diesem hellen Licht, da ist es wirklich „dunkel“, ja schwarz! Kein Mensch wandert durch so ein Tal freiwillig. Jeder möchte am liebsten die Beine „in die Hand“ nehmen und da durch kommen, so schnell wie möglich. Das ist unser Impuls. Wem, um alles in der Welt, fällt es da ein, zu wandern? Wir haben dieses Bild vor uns, wenn wir in den dunklen Keller gehen, dass wir dann auch anfangen zu pfeifen, wir wünschen uns jemanden an die Seite, wir möchten uns trösten. Wir können das nicht aushalten, diese Dunkelheit, diese Schwärze, dieses Ungewisse, die Vorstellung, was uns da auf diesem dunklen Weg passieren mag? Letzte Woche ist mir eine Situation begegnet, die mir nachgegangen ist. Ich kam zurück aus meinem Urlaub und betrat die Station 5.9., die Palliativstation. Ging am „Wohnzimmer“ vorbei, dessen Tür offen war und sah, im Vorbeigehen, darin eine Frau und einen Mann sitzen, im Gespräch vertieft. Frau Dr. Hainsch-Müller saß vorne am Empfang, ich ging auf sie zu, um mich auf den neuesten Stand bringen zu lassen: Was anliege? Wer da sei? Wo es eventuell gut sein könnte, dass ein Seelsorger vorbei schaute? Sie machte mich auf einen Patienten aufmerksam. Erzählte von dessen Situation, der Familie, wie belastend es für alle sei. Der Patient sei gerade zur Untersuchung, aber sein

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Zwillingsbruder sei da, bei dem könnte ich beginnen. Und wie der Zufall es wollte, war dieser Zwillingsbruder gerade der Mann im Wohnzimmer, mit der Lebensgefährtin des Patienten und ich dachte, ich starte dann gleich dort und ging auf sie zu. Ich begrüßte die beiden, sagte ich sei Pfarrer Müller von der Seelsorge, reichte der Frau meine Hand und merkte gleichzeitig, im Augenwinckel, wie eine Veränderung durch den Mann ging. Er sackte buchstäblich in sich zusammen, begann zu zittern, fand keine Worte, die Tränen strömten ihm aus den Augen. Ich war selber ganz perplex, wusste nicht, was ich denn ausgelöst hätte? Ich nannte doch nur meinen Namen und sagte, dass ich Pfarrer sei und von der Seelsorge komme? So entwickelte sich ein Gespräch, ein sehr langes Gespräch. Und es stellte sich heraus, dass dieser Mann mit der Nennung meines Berufes, das Schlimmste, was er in seinem Innersten befürchtete, eintreten sah, dass ich gekommen sei, um ihm eine schlechte Nachricht zu überbringen, dass sein Bruder verstorben sei! Dass seine Befürchtung, ein Weg sei zu einem unwiederbringlichen Ende gekommen, nun eingetreten sei. Wir konnten das auflösen, sein Bruder lebte. Aber ich habe die ängstigende Befürchtung, dieses Mannes erlebt: der Lebensweg endet! Und wenn dies einmal eintreten und Wirklichkeit werden sollte, dann ist es ganz schlimm. Und so beschrieb dieser Mann im Wohnzimmer auch sein Empfinden auf diese Situation: „Die Gefühle haben mich wie ein Tsunami überrannt.“ So, oder ähnlich, können Menschen reagieren, wenn sie den Weg hier als beendet sehen. Ich möchte diese Situation erst einmal für einen Moment verlassen und mit Ihnen einen zweiten Schritt gehen. Dazu habe ich Ihnen ein Bild mitgebracht. Ein Bild von der Außenwand unserer Kapelle, es ist ein Kunstwerk, das Egon Stöckle für uns hier angefertigt hat, für die Seelsorge und für die Menschen, die hier im Haus sind. Wir müssen zurück denken an eine Zeit, wo die Seelsorge für das Haus noch nicht so sichtbar war. Da war draußen eine weiße Wand, eine „Projektionsfläche“, auf die man alles Mögliche „werfen“ konnte, was man sich denn so von Seelsorge vorstellte. Und wir Seelsorger, damals, wollten ganz gerne, dass wir sichtbarer werden, dass die Menschen sehen können, worum es geht, in der Seelsorge? Und so erzählten sie zunächst einmal Egon Stöckle, was die Seelsorge hier tut. Sie erzählten von den vielen kleinen und längeren Wegen, den Wegbegleitungen, die sich hier im Hause mit den Menschen ergeben und Egon Stöckle hat das Erzählte in ein Kunstwerk gewandelt, das wir außen nun sehen können. Ein Weg ist entstanden! Ein Weg, der sich an dieser Außenmauer entlang entwickelt, ein Weg der nicht gerade ist, sondern Treppen und Stufen

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hat. Es geht hinauf und es geht hinunter, wie Lebenswege halt so sind. Und noch etwas: Dieser Weg ist nicht einheitlich, sondern er ist unterbrochen, die einzelnen Schritte, die einzelnen Erlebnisse im Leben, die sind fragmentiert, nichts mehr Zusammenhängendes. Auf einmal ist alles aufgelöst. Er hat versucht, in ein Bild zu bringen, was er von den Seelsorgern gehört hat und so der Ausdruck seines Empfindens, dass Menschen ihre Situation hier im Krankenhaus erleben. Der Lebensweg, der gerade und weit ist, mit einem Mal wird verengt, durch einen Schicksalsschlag. Er wird unterbrochen, dass man den Tritt nicht mehr sicher spürt, der Boden wird einem unter den Füßen weggezogen. Der Lebensweg löst sich auf, fragmentiert und der Mensch leidet darunter, weil er weder Sinn mehr sieht, noch Ziel. Und die Ungewissheit wächst, wird dieser Weg, mein Weg, einmal ganz abrupt enden? Was kommt dann? Zu diesem Weg, hat Egon Stöckle eine geniale Idee, einen Einfall, gehabt. Er hat gemeint, diese Wand, die darf nicht mehr so bleiben, wie sie ist, es darf keine Wand sein, keine Trennung sein, zwischen dieser Wirklichkeit, die wir hier feiern, nämlich Gottes Gegenwart. Dieser Ort, an dem wir an den Himmel erinnern, der darf nicht abgeschottet, abgeschnitten, sein von der Welt da draußen, die doch auch da ist. Und so hat er diesen Durchbruch in die Wand gemacht. Ein Durchbruch, der einen Blick von hier nach draußen und von draußen nach drinnen ermöglicht – zumindest einen flüchtigen Blick! Und genau an diesem Ort, am Durchbruch, da beginnen nun diese einzelnen Fragmente sich zu ordnen, auf einen Punkt hin, sich zu bewegen. Wie wenn dies uns sagen wollte: Wir sehnen uns danach, dieses Stückwerk, das wir jetzt erleben, das Stückwerk, das wir jetzt empfinden, dass das doch alles einmünden mag in ein großes Ganzes. Wo alles zusammen ist, nichts mehr voneinander getrennt ist, wo wir die Einheit spüren, das Bild der Bibel, wo wir mit Gott zusammen sind. Diese Sehnsucht führt uns der Künstler vor Augen. Für die, die hier drinnen den Gottesdienst feiern, genau gegenüber dem Altar, wo das Brot gebrochen wird, die Gegenwart Gottes gefeiert wird, die Sollen diese Sehnsucht im Blick behalten. Und für die, die draußen an dieser Wirklichkeit vorbei gehen, ist es eine Einladung, dass es da eine Verbindung gibt, auf diesem Weg, den wir oft genug als einsam erleben, vielleicht nur diesseitig und vielleicht auch endend, dass diese Möglichkeit auch da ist, es geht weiter, sehne dich danach. Dass wir auf diesem Weg, der unser Leben ist, auch diese andere Erfahrung machen, nach der sich Bonhoeffer im Gefängnis sosehr gesehnt hat, dass Du, Gott, auch mit dabei bist, auf diesem Weg. Dass dieser gute Hirte uns doch begleiten mag, auch wenn wir ihn nicht sehen, wir uns aber dennoch nach ihm sehnen.

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Und dann, endet dieser Weg, wie Sie auf diesem Bild sehen können, an dieser Tür. Sie sehen auf dem Bild dieses große Kreuz, ein Kreuz, das liegend ist. Wir kennen es von den Übergängen bei der Eisenbahn, das Andreaskreuz, das uns warnt und sagt: Da ist ein Übergang, da könnte es gefährlich werden. Und dieses Kreuz ist interessanterweise im Hebräischen, in der Sprache des alten Testamentes, der letzte Buchstabe im Alphabet. Ein Kreuz. Bis zu dem Kreuz gehen die Buchstaben, bis dahin kann ich etwas ausdrücken, in Worte fassen und dann gibt es keine Ausdrucksmöglichkeit mehr, es verschlägt mir die Sprache. Wird es weitergehen? Auch das Wort für Tod, im Hebräischen, wird so geschrieben mit diesem Zeichen des Kreuzes. Und interessant, wenn man diese hebräischen Buchstaben für Tod in der Bibel hernimmt und den ersten Buchstaben des hebräischen Alphabetes davor setzt, das aleph, das für den Anfang, meist für Gott steht, dann wird aus dem Wort Tod, „meth“, das Wort für Wahrheit, „emeth“. Anders gesagt, wenn „Du“, wenn „Gott“ dabei ist, dann wird dieser „Tod“ sich wandeln. Dann verändert er sich, bleibt nicht mehr das, was wir sehen, sondern wir werden hingeführt in eine andere Wirklichkeit, in eine andere Wahrheit. Die Bibel, das Wort Gottes, sagt uns das alles schon. Der Künstler Egon Stöckle hat das aus den Erzählungen heraus gehört und bietet uns dieses Bild an. Wir können Entdeckungen machen auf diesem Weg und merken, da ist mehr, da ist diese goldene Spur, die wir auch auf diesem Bild sehen, das Zeichen des Beginns, das Zeichen des Himmels. Wenn wir nur gründlich genug hinsehen und uns vielleicht auch aufmerksam darauf machen lassen. Diesen Freitag hatte ich wieder eine Begegnung mit dem gleichen Mann, der letztes Mal, vor einer Woche, so erschreckt war, durch mein Auftauchen. Diesmal wieder im „Wohnzimmer“, auf der Palliativstation. Wir begegneten uns diesmal mit einem kleinen Lächeln im Gesicht. Und wieder, erzählte er viel, wie es ihm ergangen sei auf seinem Weg in der letzten Woche. Und ich spürte dieses Mal beim Erzählen, da blitzte etwas durch, von dieser „goldenen Farbe“. Er erzählte von der tief empfundenen Bedeutung dieser schweren Zeit mit seinem todkranken Bruder. Auch wenn es noch so schwer für ihn sei, wie wichtig, wie tief diese Begegnungen mit seinem Bruder für ihn doch seien. Dass er diese Zeit mitnehmen kann, als Trost, als Vermächtnis, dass ihm sein Bruder vielleicht ermöglichen wolle loszulassen, zu spüren, ich gehe ja weiter mit dir mit, auf dem Weg, aber anders. In deiner Erinnerung, in deiner Dankbarkeit, in deiner Wertschätzung, dass wir das haben erleben dürfen, hier zusammen. Die Länge der Zeit spielt dabei doch keine Rolle. Ob sie lang ist oder kurz, die Qualität der Zeit ist doch etwas ganz anderes. Es ist weiter schwer für diesen Mann, er wird weiter Tränen vergießen und dennoch ist da etwas in ihm in Berührung gekommen, mit diesem ganz „Anderen“. Dass er, trotz allem, nicht allein ist!

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Wir sind heute hier, um noch einmal einen kleinen Trauerweg zu gehen. Erinnerungen werden wach, an die Lieben, die Sie verloren haben, aber vielleicht können Sie auf diesem Weg diese goldenen Spuren auch entdecken, die Dankbarkeit für das, was Sie erlebt, erfahren haben, das mit Ihnen weiter geht. Und auch dann, wenn wir den Menschen, die uns vorausgegangen sind hinterher sehen, auch wir sind ja unterwegs. Auch wir werden einmal diese Erfahrung machen, die die, die vor uns gegangen sind, gemacht haben. Und ich möchte uns allen wünschen, dass wir spüren und erleben, jetzt, jetzt wo wir es können, dass auch das Andere, der Andere, da ist. Dass dieser Durchbruch ja da ist, dass diese andere Wirklichkeit uns auch begleitet, jetzt uns ganz nahe ist. Von dort her können wir uns Trost geben lassen und dankbar sein, dass der gute Hirte mit uns ist, an unserer Seite. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede

Musikalische Andacht Di. 22.05.2012 M K a p e l l e i m K l i n i k u m S usik abi und ne Pfa 19:00 Uhr Do Tex rrer te Hei bberti herzlich Willkommen! nnz

D. M M ülle usik r Tex te

von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten an: MuA - 22.05.2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400786

weitere Predigten von Heinz D. Müller www.pfarrer-mueller.de

EG 503 - Geh‘ aus mein Herz und suche Freud Jeremia 31, 31-34 Liebe Schwestern und Brüder! Ich möchte uns fragen an diesem Abend, wo stehen wir heute? Nicht nur persönlich in unserem Leben, sondern auch im Kreislauf des Kirchenjahres. Wir kommen von Ostern her, haben dieses Großartige erlebt, die Botschaft, dass der Tod nicht das letzte Wort hat in diesem Leben. Und so sind wir weitergegangen in dieser Zeit nach Ostern und sind an diesen Punkt gekommen, den wir letzte Woche gefeiert haben, nämlich Christi Himmelfahrt. Und merken, dieser Auferstandene, er war nur kurze Zeit mit seinen Jüngerinnen und Jüngern unterwegs. Kaum ist er wieder da, kaum hat man sich gefreut, dass man nicht auseinander gegangen ist, schon macht er sich wieder auf in die Lüfte und wie es die Apostelgeschichte beschreibt, er entschwindet in einer Wolke. Oft finden wir diese Szene als Bild in Kirchen, man sieht dann eine Wolke am Himmel und nur noch die Fußspitzen von Jesus. So die bildliche Vorstellung. Und ich denke an die Jüngerinnen und Jünger, wie wird es wohl ihnen ergangen sein? Dieses kurze Aufflammen und dann wieder der Schmerz des Abschiednehmens.

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Und dann kommt diese Zeit, in der wir uns jetzt gerade befinden, die Zeit kurz vor Pfingsten. Und Pfingsten, so erzählt es uns die Apostelgeschichte, da waren die Jüngerinnen und Jünger an einem Ort beisammen, oben im Obergemach eines Hauses. Dort haben sie sich versammelt in einem Raum, haben sich sozusagen abgeschnitten von der Welt. Man kann rätseln, was sie bewegt hat, vielleicht Furcht, vielleicht Verzagtheit und dann warten sie dort „oben“ auf diesen Moment, den Gott ihnen verheißen hat. Nicht nur im neuen Testament, schon im alten Testament und daran möchte ich uns heute erinnern, sagt der Prophet Jeremia zu Menschen in Erwartung: „Siehe es kommt die Zeit“, spricht der Herr, „da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen. Und das soll der neue Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der Herr. Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und ihren Wind schreiben und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein und es wird keiner den anderen noch ein Bruder den anderen lehren und sagen: ‘Erkenne den Herrn!’ Sondern sie sollen mich alle erkennen. Beide, klein und groß“, spricht der Herr, „denn ich will ihnen ihre Missetaten vergeben und ihrer Sünden nimmer mehr gedenken.“ Gott sagt in diesen kurzen Worten, ich will euch neu machen und dieses Neue das soll sich in euch selber vollziehen, in eurem Herzen, in euren Sinnen. Aber wie soll denn das geschehen? Denken wir noch einmal an die Jüngerinnen und Jünger zurück in ihrer Verzagtheit, in ihrer Traurigkeit, dort oben in diesem Zimmer, gefangen und isoliert. Ich denke, was die Bibel hier beschreibt, damit beschreibt sie unser Leben. Sie beschreibt genau das, wo wir immer wieder stehen. Sie beschreibt unsere Erfahrungen nur mit anderen Worten. Da ist etwas, worüber wir uns freuen und wo wir glücklich sind und ein kurzer Moment später kommt das nächste Schicksal um die Ecke und erwischt uns von der Breitseite. Wir sind dann niedergeschlagen und fragen uns: „Gott, wo bist du? Einmal bist du da und dann wieder nicht. Wie soll denn das gehen? Wie sollen wir denn so durch dieses Leben gehen?“ Und dann sagt Gott: „Wartet, ich will euch auch aus dieser Situation führen, aber dazu muss etwas anderes passieren. Ihr müsst von innen her diese Kraft bekommen, dass ihr spürt, ich bin nicht allein. Und diese Kraft „von oben“ die wird uns geschenkt an Pfingsten. Diesen Sonntag werden wir es feiern und die Bibel erzählt uns, da kommt diese Kraft von oben und die Menschen sind befreit und sprechen in ihren Sprachen, sie gehen heraus aus ihrer Gefangenschaft, ins Leben. Und es beginnt in den Menschen selber! Es beginnt im Herzen der Menschen, welches die Bibel als hart und aus Stein beschreibt und sagt: „Dieses steinerne Herz will ich euch nehmen und will euch ein fleischernes Herz geben.“ Und denken wir, was dieses Herz tagtäglich Tag und Nacht für uns tut. Es schickt vom Zentrum, von innen her, das Blut bis an die äußersten Enden unseres Körpers. Es versorgt uns, ist da für uns, lässt nichts aus, geht hinaus in diesen Körper und gibt ihm immer wieder neu, die Kraft, den Sauerstoff, den es braucht. So lockt uns auch dieses Singen des Liedes „Geh’ aus mein Herz“, es lockt uns heraus aus diesem Verzagtsein, aus diesem In-

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sich-gekehrt-sein, geh’ und sieh den Baum, geh’ und Hör den Vogel, geh’ hinaus und sieh, dass Gott sich um das alles kümmert, da ist. Das Leben liegt vor deinen Füßen. Manchmal vergessen wir es. Vielleicht auch aus guten Gründen, weil es zu schwer geworden ist, was wir im Moment zu tragen haben. Und dennoch ist immer wieder diese Erinnerung da, sieh’ nicht zu sehr immer nur auf dich, sieh’ auch hinaus, sieh’, dass der Schöpfer diese Welt mit erhält und trägt, dass er Leben gibt und Leben nimmt und wieder Leben gibt. Die Schöpfung geschieht täglich neu! Und so sind wir eingeladen, uns von diesem Lied mit an die Hand nehmen zu lassen und zaghaft, doch beherzt, aus diesem „Zimmer“, in dem wir selber uns verschlossen fühlen, wieder hinausgeleitet zu werden. Dorthin, wo das Leben seine Melodie für uns bereit hält. Wo es uns wieder aufrichten möchte, uns Kraft geben möchte für den nächsten Schritt. Gott ist an unserer Seite, Gott begleitet uns durch die Krisen und er schickt uns diese Kraft von oben, seinen guten Geist und erneuert uns von innen her. Und so können wir auch von innen her dieses Gespräch immer wieder mit Gott suchen, ihn loben und ihm danken und auch ihm klagen und uns von ihm wieder aufrichten lassen. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau



gehalten an: Trinitatis 03.06.2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400792

weitere Predigten von Heinz D. Müller www.pfarrer-mueller.de

Foto: Google-Bilder Nikodemus bei Jesus. Gemälde von Crijn Henddricksz

Joh. 3, 1-9, Nikodemus - Trinitatis

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Wir hören den Predigttext für den heutigen Sonntag Trinitatis, er steht im Johannes-Evangelium im 3. Kapitel. Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, einer von den Oberen der Juden. Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: „Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen, denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.“ Jesus antwortete und sprach zu ihm: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Nikodemus spricht zu ihm: „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?“ Jesus antwortete: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch und was vom Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe, ihr müsst von neuem geboren werden. Der Wind bläst, wo er will und du hörst sein Sausen wohl, aber du weißt nicht, woher er kommt

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und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ Nikodemus antwortete und sprach zu ihm: „Wie kann dies geschehen?“ Liebe Brüder und Schwestern, ein besonderer Text, diese Stelle vom Nikodemus, denn in den ganzen Evangelien, da kommt Nikodemus nur bei Johannes vor und zwar an drei Stellen: hier im 3. Kapitel und später im 7. Kapitel und noch einmal gegen Schluss bei der Beerdigung von Jesus (Kap. 19, 39), da taucht er noch mal auf der Nikodemus, der dort dann eine Rolle spielt. Ich möchte versuchen mit Ihnen heute, diesem Nikodemus etwas näher zu kommen. Ich möchte verstehen lernen, was diese Geschichte mit diesem Menschen, mit diesem Namen uns sagen möchte. Wir begehen heute das Trinitatisfest, von Ostern kommen wir her, haben uns auf Pfingsten zubewegt und stehen nun, nach der Himmelfahrt von Jesus, an diesem Trinitatisfest, wo wir Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, den wir gerade besungen haben, noch einmal neu verstehen wollen. Und nun begegnen wir diesem Nikodemus. In einer besonderen Situation. Denn er kommt bei Nacht zu Jesus. Und wir sollten uns fragen, was könnte denn das bedeuten? Bei Nacht – wieso? Schämt er sich, oder hat er Furcht, dass er am Tag gesehen wird, wenn er mit diesem Jesus zusammen ist. Wäre das eine Spur? Vielleicht eine sehr menschliche, aber ich glaube, dass die dem Nikodemus nicht gerecht wird. Der Nikodemus ist ja einer „der Oberen der Juden“ und für den frommen Juden hat „die Nacht“ noch eine ganz andere Bedeutung. Im Judentum fängt der neue Tag schon am Abend zuvor an, es ward Abend, es ward Morgen, ein neuer Tag – so die Zählung im Judentum. Das heißt, da wo wir uns schlafen legen, da wo wir die Nacht vor uns haben, nicht wissen, was da passiert, da hofft, da träumt und da erwartet der Mensch schon das Neue. So besehen könnten wir vielleicht diesem Nikodemus näher kommen, er spürt etwas von der Bedeutung des neuen Tages, des Aufbruches, er hat Sehnsucht nach dem Licht, wo er sich vielleicht noch „in der Nacht“ fühlt und empfindet, wo man nichts sieht, nicht zumindest klar sieht. An diesem Ort, dieser Schwelle, kommt er zu Jesus und möchte gerne mehr Klarheit haben. Mehr verstehen! Er hat schon eine Ahnung, aber er ist sich noch nicht ganz sicher. Und dann, vielleicht hilft der Name, Nikodemus, uns weiter. Aus der hebräischen Sprache übersetzt bedeutet nikedam, für Nikodemus, „frei von Blutschuld“. Ein zunächst fremdes, sonderbares Wort, das uns erst einmal mehr verwirrt, als das es uns hilft, Klarheit zu bekommen. Was bedeutet denn das, „frei von einer Blutschuld“? Auch da müssten wir diesem Wort erst einmal etwas folgen, denn das Blut im Hebräischen heißt „dam“. Und wir merken, dieses Wort kommt ja auch beim Adam schon vor, beim ersten Menschen. Der erste Mensch und das Wort für Blut hat eine Verbindung. Und das hebräische Wort für Blut, „dam“, kommt von dem Worte „dome“ und dome heißt: „ich gleiche“. Gleich frage ich mich, wem gleiche ich?. Ich gleiche, wir gleichen Gott und Gott gleicht auch dem Menschen, so sagt es das Wort der Bibel. Da ist eine enge Verbindung da in diesem Wort. Und Blutvergießen, so weit wird dies in der Überlieferung gedeutet, beginnt schon da, wo ich einen Menschen beleidige. Wo ich ihm das Gleichen, die Verbindung mit Gott abspreche. Wenn ich das tue, beleidige ich ihn,

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dann vergieße ich Blut, wenn ich den Menschen nicht mehr in seiner heiligen Verbindung zu seinem Schöpfer sehe. So die alte Deutung. Man muss immer wieder den Menschen in Beziehung zu diesem Gleichnis Gottes sehen. Er gehört nicht nur zu dieser Welt, sondern zu dieser und einer anderen Welt, aus der er kommt. Das deutet dieses Blut, dam/dome, im Worte „Adam“, dem ersten Menschen. Und dieser Nikodemus ist einer, der frei ist von dem, er trägt es in sich, in seinem Namen. Unbewusst lebt er das. Da gibt es eine Verbindung von hier nach da, ich spüre das. Ich stehe dazu. Ich mache nicht diesen Fehler, dass ich dieses Grundgleichnis beleidige, Blutschuld auf mich nehme. Das steckt in diesem Nikodemus alles drin. Und der kommt nun zu diesem Jesus, in der Nacht und möchte mehr erfahren. Er sagt zu ihm auch: „Du bist ein Lehrer, von Gott gekommen, denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn, Gott mit ihm.“ Schon mit diesem ersten Satz sagt dieser Nikodemus, ich weiß und spüre bei dir viel mehr. Mit dir und mit dem, was du tust, da öffnet sich ein Stück weit der Himmel auf dieser Welt. Ich spüre, da ist eine Verbindung da und ich möchte mehr von dieser Verbindung lernen, von dir, als Lehrer. Damit ich anders durch diese Welt gehen kann, damit ich nicht nur diese Diesseitigkeit sehe und daran vielleicht auch verzweifle, sondern, dass die Hoffnung bei mir weiter aufrecht erhalten bleibt, weil ich spüre, da ist doch viel mehr da. Ich kann es nicht sehen, ich kann es aber glauben. Und Glauben ist viel mehr als Wissen. Daran ist dieser Nikodemus interessiert, von diesem Jesus sozusagen die große Wirklichkeit eröffnet zu bekommen. Und dann sagt Jesus zu ihm: „Wahrlich, wahrlich…“ Das heißt, du bist tatsächlich auf dieser Spur, du verstehst etwas und ich möchte auf deine Sehnsucht reagieren. Wenn jemand so zu mir kommt, so sehr nach Antworten sucht, dann bin ich gerne bereit, ihm einen Schritt weiter zu helfen. Und er sagt zu ihm: „… es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Es braucht eben dieses Neue. Wir brauchen diese neue Geburt, zu merken, dass dieser Zyklus geboren werden – sterben, nicht dort endet, sondern dass es weiter geht, die neue Geburt. Dass wir jeden Tag neu etwas entdecken und merken, so ist es immer. Dieses Leben ist ein ewig-währendes Leben, weil es ja von Gott kommt. Und von Gott kann nur etwas kommen, was Bestand hat, was heilig ist, was ganz ist. Deswegen sagen wir auch: Der heilige Geist! Der Geist, der die ganze Wirklichkeit und Wahrheit uns aufschließt. Und Jesus sagt: „Dieser Geist, der kommt, wie der Wind kommt.“ Und der Wind und der Geist im Hebräischen ist das gleiche Wort „ruach“. Er kommt und er hilft uns zu verstehen und tiefer zu verstehen. Und Jesus hilft noch mal und prüft mit diesem Beispiel der Geburt, ob denn dieser Nikodemus es wirklich verstanden hat. Und Nikodemus, der nimmt dieses Bild auf und sagt: „Ja, wie soll denn das funktionieren? Wenn ich alt bin, kann ich dann wieder in meiner Mutter Schoß zurück, um dann neu geboren zu werden?“ Und wir merken, mit dieser Antwort und Jesus merkt das auch, holla, der sieht das Ganze noch mit unseren Augen, mit den Augen dieser Welt.

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Nikodemus versteht die Geburt noch so, wie wir halt die Geburt sehen und erleben, da ist jemand schwanger und dann kommt ein Kind. Und dann beginnt das Leben hier. Aber Jesus sagt: „Nicht nur hier, Himmel und Erde, beides bring doch zueinander und dafür ist doch der gute Heilige Geist da, der von Dort kommt nach Hierher, um dir alles aufzuschließen. Das meine ich mit der neuen Geburt, der Heilige Geist ist derjenige, der das tut, immer wieder neu. Das Zeichen erklärt dir, die Beispiele deutet das Gleichnis, dass wir Menschen Gott gleichen, das hilft dir der Heilige Geist, immer besser zu verstehen. Im Glauben zu verstehen, damit du dann auch danach tun kannst. Das ist der Weg, das ist der Prozess, in den uns diese Trinitatiszeit führt. Es hilft uns, Gottes Wirklichkeit ganz zu verstehen, als Einheit. Und nicht sagen, Gott dort und Jesus hier und der heilige Geist dazwischen, nein, es ist ein Geschehen. Gott zeigt sich mal so und so, aber wir sehen es immer, sozusagen nur, gebrochen. Immer nur eine kleine Wirklichkeit. Aber er sagt, sieh’ doch das Heilige. Sieh doch das Ganze! Versteh doch, dass du es immer mit Gott zu tun hast, du bist doch im Bild und Gleichnis Gottes. Dazu möchte uns dieser Nikodemus führen und begleiten. Diese Trinitatiszeit ist die längste Zeit im Kirchenjahr, die wir durchschreiten. Bis zu 24 Sonntage, hat so eine Trinitatiszeit und zeigt, es ist ein langer Weg. Es ist ein Weg des langsamen Verstehens, es ist ein Weg des Kennenlernens der Geschichten aus der Heiligen Schrift, damit wir sie tiefer verstehen, glauben können und sie umsetzen in unser Tun. Und auf diesem Weg, da begleite uns Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Er helfe uns, dass wir immer mehr verstehen, die Zeichen besser deuten und dass wir diesem Gleichnis immer mehr Wirklichkeit und Raum geben in unserem Leben, dass wir im Bild und Gleichnis Gottes sind. Amen

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten an: DoA. 06.06.2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400796

Kreuz mit der Wunde

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Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. Liebe Schwestern und Brüder, ich habe Ihnen heute Abend ein Bild mitgebracht. Ein Bild, das uns ein Kreuz zeigt. Es ist das dritte Werk von Egon Stöckle, dem Künstler, der auch dieses große Kreuz hier in der Kapelle gefertigt hat und an der Außenwand dieses Kunstwerk, das Sie beim Betreten der Kapelle sehen können. Das dritte seiner Werke, dies Kreuz, soll zukünftig im Konferenzzimmer der Seelsorge angebracht werden. Ich möchte Sie einladen, sich mit mir dieses Bild anzusehen, das ich von diesem Kreuz gemacht habe, ich konnte es Ihnen heute Abend leider nicht mitbringen, denn ich habe dieses Kreuz wieder zum Künstler gebracht, der muss noch eine Vorrichtung anbringen, wie wir dieses Kreuz an der Wand befestigen können.

Foto: Heinz Dieter Müller Künstler: Egon Stöckle

Was Sie vielleicht als erstes auf diesem Bild sehen, an diesem Kreuz, ist diese große Wunde in der Mitte dieses Kreuzes. Das Besondere an

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diesem Kreuz ist, dass es aus drei Stücken gefertigt ist. Sie sehen von oben nach unten diesen Spalt des Mittelbalkens und dann sehen Sie diese große Wunde in diesem Kreuz drinnen und der Balken, der horizontal diese Mittelbalken zusammen hält, da sehen wir die Spuren der Hände, Abdrücke der Hände auf dem Balken. Wir merken, dieser Balken ist geprägt, geprägt von diesen Händen und geprägt von dieser Wunde in der Mitte. Und der Balken der vertikal nach unten geht, ist geteilt in zwei Teile. Man könnte sagen, aus drei Teilen besteht dieses Kreuz. Die Dreiheit, die spielt ja jetzt gerade für uns eine Rolle. Wir befinden uns im Zyklus des Kirchenjahres in der Trinitatiszeit. Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist. All dieses wollen wir immer wieder neu zusammen bringen, zueinander bringen, denn, wir sagen gerne: wir haben ja nur einen Gott. Aber in verschiedenen Weisen zeigt er sich den Menschen und dieses Kreuz hilft uns auch, zu begreifen und zu verstehen, dass alles doch eine Einheit ist. Es wird getragen und zusammen gehalten von diesen Händen, eingeprägt im horizontalen Balken. Alles liegt in Gottes Händen sagen wir. Er führt zueinander, was geteilt ist, was auseinander driften möchte. Und so zeigt uns dies Kreuz etwas elementares, auf den ersten Seiten der Bibel wird uns diese Zweiheit vorgestellt, in Form des Baumes des Lebens und des Baumes der Erkenntnis, von dem dann die Eva die Frucht nimmt, um davon zu essen. Schon dort sagt die Überlieferung, das sind nicht zwei Bäume, sondern es ist ein Baum. Es ist ein Baum des Lebens, der uns geschenkt ist, uns erinnern soll an dies Leben, das uns Gott schenkt. Und immer wieder fällt das alles auseinander für uns, dieses Denken in die Welt hier und die Welt im Himmel, wie wir sagen. Und dennoch haben sie miteinander zu tun, sagt dieses Kreuz. Es hält beides zueinander. Aber für uns ist dies manchmal wie so eine Wunde. Wir reiben uns daran, an dieser Wirklichkeit und sagen, wie hat denn der Himmel etwas mit der Erde zu tun, ich spüre doch meine Schmerzen, ich spüre doch meine Verlassenheit und ich leide an meiner Krankheit. Das ist diese Wunde und die will nicht heilen. So kann uns dieses Kreuz jawohl, diese Wunde ist da. wir immer wieder spüren in das beides zueinander fügt Heilung.

hier einen ersten Trost geben, indem es uns vor Augen führt, Wir leiden an dieser Gebrochenheit und an dieser Spaltung, die unserem Leben, und dennoch sind da diese Hände Gottes, die und zueinander bringt und wir hoffen und wir sehnen uns nach

Ich sehe in diesem Kreuz hier auch unsere Situation in der Seelsorge, Wir Evangelischen und Katholischen arbeiten sehr eng hier in diesem Haus miteinander und dennoch gibt es diese Spaltung, gibt es diese Trennung am Tisch des Herrn. Wir haben noch keinen Weg zueinander gefunden, das Abendmahl miteinander zu feiern und doch sagt die Bibel, ihr lest aus dem einen Buch. Ihr folgt doch diesem einen Gott, bringt es doch irgendwann einmal auf die Reihe, dass ihr auch in Frieden an den Tisch zueinander finden könnt, euch das Brot gegenseitig reicht, dass ich Gott, euch austeile.

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Auch hier kann dieses Kreuz uns, die wir uns im Konferenzzimmer immer wieder zu Besprechungen treffen, ein Mahnzeichen sein, ein Mahnmal sein und uns sagen, versucht doch, diesen Weg in die Einheit zu finden. Zueinander zu finden! Und dennoch ist dieses Kreuz so ehrlich und sagt, die Wunde ist da. Die Trennung ist ja da, aber Gott hält euch zueinander, beieinander. Und dann möchte ich mit Ihnen noch einmal einen Blick in die Bibel werfen, in das Johannes Evangelium, denn dort wird auch von dieser Wunde an Jesu Seite erzählt, bei der Kreuzigung, wo dann der Soldat, um festzustellen, dass Jesus wirklich schon gestorben ist, ihm diese Wunde in die Seite zufügt, aus der dann Blut und Wasser hervortritt, wie es uns Johannes berichtet. Auch da wieder, diese Wunde! Die Wunde an Jesu Körper. Und sie spielt noch einmal eine Rolle, als nämlich die Jünger bei der Auferstehung angstvoll im Raum beieinander sind und gehört haben, von den Frauen, dass Jesus auferstanden ist. Und sie sind beieinander und der Auferstandene tritt zu ihnen und dann sehen sie seine Male an den Händen und die Wunde an seiner Seite. Und dann schreibt Johannes in der Bibel: „Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen.“ An dieser Wunde erkennen sie Jesus, den Auferstandenen. Und sagen, jetzt ist beides da, dieses Eine, das Leiden, die Wundmale, die sind nicht weg, sondern selbst beim Auferstandenen sind sie noch zu sehen und von dort her merken sie, er ist der Gleiche. Der Auferstandene und der, der hier seinen Fuß auf die Erde gesetzt hat, der mit den Jüngern unterwegs war, das ist der Gleiche. Gott verschließt nicht seine Augen vor unseren Schmerzen, vor unseren Wunden, er hat sie aufgenommen in seine Wirklichkeit. Und wenn wir unterwegs sind mit unseren Wundmalen, mit unseren Schmerzen, dann dürfen wir glauben und fast sicher sein, dass Gott in diesem Schmerz mit anwesend ist. Dass er etwas versteht von diesen Schmerzen, sie für ihn nicht etwas sind aus einer anderen Welt, sondern er ist in dieser Welt, er ist bei uns in unserem Schmerz, die Wundmale Gottes, sie zeigen uns seine Nähe. So tief geht er mit uns diesen Weg, dass er auch dort anwesend ist, wirklich ist, da ist, für uns. Darum können wir Gott immer wieder anrufen mit unseren Sorgen, mit unseren Schmerzen, mit unseren Nöten, mit unserem Seufzen und die Bibel sagt: Und Gott hört! Er kommt und zeigt sich uns, wie diesem Thomas und lässt sich dann auch anfassen, in diesen Wundmalen, dass wir sagen, du bist ja da, ganz nah, ganz bei mir, an meiner Seite. Amen. .

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten an: DoA. 28.06.2012 in: BKH-Augsburg Tondatei: DS400797

Kreuz mit der Wunde

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Ich lade Sie ein, das Bild mit mir zu betrachten. Es ist ein Kreuz, das seit kurzem bei uns im Seelsorge-Konferenzzimmer hängt. Der Künstler, der es geschaffen hat, ist Egon Stöckle. Und wenn Sie einmal ins Klinikum hinüber gehen um dort, in der Kapelle, das große Kreuz und an der Außenwand der Kapelle das Kunstwerk, „Der goldene Weg“, zu betrachten, die stammen ebenfalls von Egon Stöckle. Nun, seit ein paar Tagen hängt dieses Kreuz bei uns in der Seelsorge und begleitet uns in unseren Konferenzen, bei den Gesprächen, die wir dort miteinander führen. Evangelische und katholische Hauptamtliche, oder wer auch immer sich in diesem Raum aufhält. Ich habe dieses Foto gemacht, bevor wir noch den Platz an der Wand für dieses Kreuz gefunden hatten und möchte es mit Ihnen anschauen und sehen, was dieses Kreuz uns heute Abend erzählen kann.

Foto: Heinz Dieter Müller Künstler: Egon Stöckle

Das Besondere an diesem Kreuz ist, dass es aus drei Teilen zusammengefügt ist. Sie sehen im breiten, waagrechten Balken diese Einkerbungen, rechts und links, die wir zuerst einmal deuten wollen. Menschen, denen ich dieses Kreuz gezeigt habe und sie mit den Worten aufforderte: „Was siehst du denn in diesem Kreuz?“ haben mir ganz spontan gesagt, diese Einkerbungen, „das sind Kraniche.“ (Zustimmung aus der Runde) Würden Sie auch so sagen! Ja, Kraniche sind Vögel, die zwischen Himmel und Erde sich bewegen.

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Aber vielleicht gibt es noch andere Assoziationen, die uns kommen, denn normalerweise ist Christus ja am Kreuz dargestellt. Aber hier haben nur die Hände ihre Spuren hinterlassen, zumindest deutet sie der Künstler so an. Diese eingeprägten Hände, Zeichen der Hände, an dem großen Querbalken. Und dann, der vertikale Balken in der Mitte, er ist geteilt. Ein Spalt führt von oben nach unten durch diesen Balken hindurch, er besteht aus zwei Hälften. In der Mitte sehen wir diese rot, weißen Einkerbungen. Tiefe Einschnitte, in das Holz. Assoziationen rufen diese Vertiefungen bei uns wach. Ich habe den Künstler gefragt, was er denn zu diesem Kreuz von sich aus sagen wollte und fand es interessant, dass Künstler gar nicht so gerne reden über ihre Kunst, denn sie sagen, es ist schon alles da, schau nur hin. Es sagt dir schon und dann müssen uns die Worte einfallen dazu und so beginnt dann ein Gespräch mit dem Kunstwerk, so, wie mit diesem Kreuz heute Abend. Und so hat Egon Stöckle, der Künstler, mir auch nur wortkarg geantwortet: „In diesem Kreuz, in der Mitte, da ist eine große Wunde.“ Eine große Wunde – die nicht geschlossen ist! Wir sehen in die Tiefe dieser Wunde, wir spüren, dass diese Wunde eine Spaltung zeigt, da ist noch etwas nicht geheilt. Und so haben wir dieses „Beides“ in diesem Kreuz. Die Hände, die uns an Vögel erinnern, so zart sind sie da. Aber schon diese Assoziation an den Vogel ist gar nicht so verkehrt, denn der Vogel ist doch das Wesen, das sich erhebt, zum Himmel hin und wieder zurück kommt, auf die Erde und sozusagen auch uns einlädt: Erhebe dich doch von den Beschwernissen, von denen du dich vielleicht heruntergedrückt fühlst. Schau den Himmel über dir! Oder aber, wir können die Hände sehen in diesem Balken und merken, dass es die Hände sind, die diese Wunde halten. Diese Wund Teile zueinander führt, damit sie heilen können. Und dazu fällt mir ein Satz ein, aus dem Alten Testament. Der Prophet Jesaja erzählt uns von dem Gottesknecht, von dem er sagt: „Durch deine Wunden sind wir geheilt.“ Da ist einer, der hilft uns, dass die Wunden, die da sind, heilen können. Und ich denke, mit diesem Gedanken, mit dieser Hinführung, da kommt uns auch dieses Kreuz näher. Weil wir vielleicht auch an die Wunde denken bei uns selber. Die noch offen ist, die vielleicht in ihrem Heilungsprozess sich gerade befindet, aber noch nicht geschlossen ist. Und sie braucht auch das, was wir mit einem Pflaster dann tun, oder mit einer Klammer, oder mit einer Naht, sie braucht Hilfe, damit die Verbindung wieder entstehen kann, damit sich die Wunde schließen kann. Und wenn wir Kinder haben, oder selber uns noch erinnern können an unser Kindsein, dann wissen wir ja, was unsere Oma, oder unsere Mutter, getan hat, wenn wir mit einer Wunde, einer Schürfwunde, nach Hause gekommen sind, dann hat sie die Hand ganz sachte über die Wunde gelegt und gesagt: „Heile, heile, Segen!“ Die Wunde braucht diese Hilfe, diese Kraft aus der Höhe, diese Unterstützung von Gott her, dass hier wieder etwas heil werden kann, was auseinander gegangen ist, was gebrochen ist, geteilt ist, was verwundet ist. Und dieses Kreuz, dadurch, dass es jetzt dort hängt, wo Menschen sich treffen, in diesem Raum, um miteinander zu reden, kann es ihnen dabei auch eine Hilfestellung sein, wenn man gleich nicht zueinander findet, wenn man merkt, da ist ja noch ein Spalt da, eine Bruchstelle. Wir reden und dennoch fühlen wir uns voneinander entfremdet. Es geschieht überall da, wo Menschen unterwegs sind. Es geschieht auch hier im Krankenhaus. Wenn wir mit Pflegekräften, oder den Ärzten reden, merken wir, wir verstehen uns nicht. Und diese „Wunde“, die kann nicht so angesprochen werden, wie ich das gerne möchte, dass sie heilen kann,

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bis Gottes Segen darüber ist. Darum gibt es diese Räume, wie die Kapelle, hier im Klinikum und im Bezirkskrankenhaus, wo Menschen herkommen können, wie diese Dame, die zuvor hier herein gekommen ist, weil sie sagte: „Ich brauche diesen Raum, um ins Gespräch zu kommen mit Gott, mit dem, der mir hilft, dass etwas heilt, was im Moment sich noch als Wunde anfühlt.“ Und so dürfen wir hoffen und glauben und uns wünschen und uns danach sehnen, dass diese Hände, die auf diesem Balken nur so andeutungsweise zu sehen sind, dass die sich auch in meinem/ unserem Leben zeigen. Die Hände Gottes! Die Hände Gottes, die ausgestreckt sind, wie zum Segen, ausgestreckt für uns und über uns da sind. Uns „heile, heile, Segen“, immer wieder zusprechen. Dass unsere Wunden auch geheilt werden von dem, von dem gesagt ist: „Durch meine Wunden seid ihr geheilt“. Amen

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: Di. 26-06-2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400797

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Das Wunder im Ohr Liebe Schwestern und Brüder, ich habe Ihnen heute diese Holzskulptur mitgebracht. Vor nur wenigen Monaten hat mein Vorgänger in der Seelsorge, Pfarrer Pawelke mir dieses Holzkunstwerk überreicht. Ein schwergewichtiges Geschenk, muss ich sagen, so hat es sich angefühlt in meiner Hand. Und dann habe ich dieses große Ohr betrachtet und habe mich innerlich gefragt, was möchte er mir denn, durch die Blume, mit diesem Geschenk sagen? Das Ohr spielt bei uns in der Seelsorge ja eine große Rolle. Wir kommen zu den Patientinnen und Patienten in Gedanken mit der Überschrift der Seelsorge, nämlich der Seele Raum geben. Das ist unser Motto, das möchten wir gerne, dass das die Patienten erfahren und erleben, wenn wir zueinander kommen, dass ihre Seele Raum gewinnt. Dass sie sich entfalten kann. Und wie kann nun das am besten geschehen, nun auf diese Art und Weise, dass wir erst einmal kommen und ganz Ohr sind für die Menschen, die uns da begegnen. Da merken und spüren sie, da kann ich etwas loslassen, da kann ich etwas erzählen und es ist gut, wenn mir jemand begegnet, der ganz offenen Ohres ist. Wo dann vieles hinein gehen kann, wo ich mich aussprechen kann und auch das Gefühl

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und die Gewissheit haben kann, dass das, was ich sage, das bleibt erst mal beim anderen, das wird nicht weiter erzählt. Aber auch, dass es so tief fällt, dass es auf einen Boden kommt, wo sich etwas Neues bildet, wo ich vielleicht dann zu meinen Antworten komme. Nicht dadurch, dass der andere mir etwas erzählt, sondern dadurch, dass durch mein Reden die Antworten sich dann bei mir selber ergeben. Das nennen wir dann, das aktive Zuhören. Ein Zuhören, wo wir nicht viel sagen, aber ganz präsent sind, ganz für den anderen Menschen da sind. Das Ohr, eines der wichtigsten Instrumente in der Krankenhausseelsorge. Es ist wichtig, dass wir diese Ohren gut pflegen und das schon am Morgen, wenn wir uns die Ohren waschen, wenn wir gut zu unseren Ohren sind, denn diese Ohren sind ein Kunstwerk. Es sind, so erzählen heute die Mediziner, wenn sie die Zeit vor der Geburt betrachten und den heranreifenden Menschen in den neun Monaten der Schwangerschaft untersuchen, die Ohren, das erste Sinnesorgan, das sich beim Menschen ausbildet. Das Kind hört schon im Mutterleib. Hört die Musik, die es von „draußen“ vernimmt, hört und erkennt die Stimme der Mutter später wieder, die Ohren sind da und vernehmen. Und wir können die Ohren nicht schließen. Wir sind offen der Welt gegenüber, außer wir stecken uns Ohropax hinein, oder haben irgendeinen Schaden an den Ohren. Wir sind immer offen für das, was draußen da ist. Und deswegen ist es auch ganz wichtig und vielleicht erleben und spüren wir das auch heute Abend, wie unangenehm es ist, wenn die Türen der Kapelle wegen dem Umbau offen sind. Alles kann ungefragt von draußen her dringen, wir können es uns nicht vom Hals und vom Leib halten, wir müssen zuhören. Wir können es vielleicht ein bisschen dimmen, indem wir unsere Konzentration auf etwas anderes richten, aber die Laute dieser Welt, sie stürmen auf uns ein. Und sie machen etwas mit uns. Deswegen ist die Stille auch so wichtig. Das Ruhige! Aber gehen wir doch einmal in unserer Vorstellung diesen Weg, den ein Laut, oder ein Wort nimmt, wenn es auf dieses Ohr trifft. Das erste und für mich Besondere ist, dass ich gelernt habe, dass die Ohrmuschel, das äußere des Ohres, bei jedem Menschen einzigartig ist. Genau so einmalig und einzigartig wie unser Fingerabdruck. Das heißt, das, was ich höre, schon von draußen, das kann vielleicht nur ich hören. Ein anderer hört es, weil seine Ohrmuschel anders geformt ist, schon eine Nuance anders. Wir merken, dass unsere Ohren uns schon etwas sehr einmaliges vor Augen führen. Vom äußeren Ohr geht dann der Schall, oder das Wort, den Weg weiter nach innen und trifft bald auf eine erste Barriere, nämlich das Trommelfell. Dort wird der Laut in Schwingung übertragen, es findet eine erste Übersetzung statt, ein erstes Übersetzen, ein Hindernis muss überwunden werden. Und dann trifft dieser Laut auf die drei kleinsten und härtesten Knochen in unserem Körper. Hammer, Amboss, und Steigbügel, so die Namen dieser Knöchelchen. Von dort geht es geht es weiter in die Schnecke. Dort beginnt sich das Wort oder der Ton immer weiter hin zu bewegen auf eine Mitte zu. Schon allein diese Worte, Hammer, Amboss, sagen uns, da passiert etwas mit diesem Laut, oder mit diesem Ton, er wird umgeformt. Wir denken gleich an ein Bild vom Schmied, der auf seinem Amboss das Eisen schmieden und formen will, um es zu verwandeln und zu

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verändern. Und wir merken, welche Transformationsarbeit auf diesem kurzen Weg in dem Ohr stattfindet. Bis wir dann, in unserem Gehirn dann das Wort in einen Sinn übertragen, ein Verstehen passieren kann in unserem Kopf. Und sie werden sich jetzt vielleicht selber fragen, auf einem so langen Weg, kann ja auch ganz viel passieren und da haben Sie recht. Da kann eine ganze Menge daneben gehen. Und vielleicht werden wir auch etwas nachgiebiger und haben sogar Verständnis, wenn nicht alles gleich so verstanden wird, wie wir es aussenden. Das heißt dass Verstehen und das Reden, die Kommunikation zwischen Menschen, ist eigentlich eine Glückssache, oder aber ein großes Wunder. Wenn wir uns verstehen, wie wir uns vielleicht verstehen. Das Wort und das Verstehen des Wortes ist eine große Sache. Und Gott kommt zu den Menschen, zuerst einmal durch das Wort. Durch das Wort der Bibel. Auch dieses Wort muss erst mal übersetzt werden, muss erst einmal einen Weg zurück legen, da muss erst einmal aus dem Wort der tiefe Sinn heraus gearbeitet werden, damit wir verstehen, was damit gemeint ist. Und Gott mutet uns das zu dafür gibt es ja auch den heiligen Geist, der uns hilft, der dem Wind gleich ist und dafür Sorge trägt, dass auf diesem Weg zwischen uns und von dem einen zum anderen, das dort schon das rüberkommt, was rüberkommen soll. So legt sich Gott sozusagen auch in unsere Hände, in unsere Ohren und vertraut darauf, dass das, sein großer Sinn, das Wort seiner Liebe uns erreicht, dort wo es uns erreichen soll, nämlich tief innen in uns selber. Wenn wir so miteinander ins Gespräch gehen, wenn wir uns so miteinander treffen, dann hoffe ich, dass Ihnen dieses Bild von dem Ohr und von dem was alles dort passieren kann, auf dem Weg, dass Sie selber etwas gelassener macht. Und auch spannender und vielleicht auch dankbarer, wenn Sie merken, Sie sind gut verstanden worden und vielleicht auch etwas nachlässiger, wenn Sie merken, der Andere hat mich erst einmal gar nicht gehört, dann legen Sie eins nach und versuchen Sie, Ihr Wort so verständlich zu machen wie möglich. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten an: DoA. 28.06.2012 in: Kapelle im Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400797

Kreuz mit der Wunde - Andacht Kapelle

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Liebe Schwestern, an diesem Abend habe ich ein Bild mitgebracht, auf dem ein Kreuz zu sehen ist, gleich in einer doppelten Perspektive. Einmal auf der linken Seite sehen wir das Kreuz, wie es jetzt an der Wand steht. Dies sehen wir und auf der rechten Seite, ein schräger Blick auf das Kreuz und wir merken, es ist nicht direkt an der Wand, sondern da ist etwas Raum zwischen Wand und diesem Kreuz. Es steht auf einem kleinen Podest. Schon die Anbringung dieses Kreuzes war etwas Besonderes. Dies Wandkreuz hat der gleiche Künstler geschaffen, der auch unser großes Holz-Kreuz hier in der Kapelle gefertigt hat, ebenso wie das Kunstwerk an der Außenwand dieser Kapelle. Es ist Egon Stöckle. Dieses Kreuz hier, das habe ich bei ihm in seiner Werkstatt stehen sehen und dann haben wir uns von der Seelsorge entschlossen, dieses Kreuz zu kaufen, damit sein Werk hier erweitert wird. So hängt es, besser gesagt, steht es jetzt oben an der Wand unseres Konferenzzimmers. Wo wir uns von der Seelsorge treffen, wo wir unsere Ehrenamtlichen ausbilden, wo Menschen im Gespräch sind. Da steht nun dieses Kreuz an der Wand. Ein stummes Signal, ein stummes Zeichen und es lohnt sich, dieses Kreuz einmal genauer anzusehen und einen Zugang zu diesem Kreuz zu finden, zu merken, welche Botschaft damit wohl verbunden ist und zu uns kommen möchte.

Foto: Heinz Dieter Müller Künstler: Egon Stöckle

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Künstler schaffen ihre Kunstwerke, aber sie machen dabei nicht zu viele Worte. So auch der Künstler hier, Egon Stöckle. Als er mir das Kreuz gab und ich es anschaute, da wollte ich von ihm wissen: „Was hat dieses Kreuz Ihnen zu sagen, was möchten Sie mit diesem Kreuz ausdrücken?“ Und es kam nur ein Satz zurück. Egon Stöckle sagte: „In diesem Kreuz ist eine große Wunde!“ Wir sehen diesen großen Balken, der von oben nach unten geht, der eigentlich aus zwei Hälften besteht und in diesen Hälften mit eingeprägt, nach innen hinein geschlagen, ist diese Wunde, dieser offene Raum, mit weiß und rot ausgemalt, eine offene Wunde. Zwei Seiten, die zueinander kommen wollen, aber da ist dieser Spalt in der Mitte, auch da, die Wunde ist nicht geschlossen, ist nicht verheilt. Eine offen Wunde! Und vielleicht kommen uns dabei gleich diese Bilder, vertraute Bilder aus unserer Kindheit, aus unserem Umfeld – wenn jemand verletzt ist und dann gütige und freundliche Menschen da sind, die dann kommen und die Hand auf diese Wunde legen. Sie verarzten, sie säubern und dann vielleicht auch noch das Sagen: „Heile, heile, Segen.“ Wir merken, diese Wunde verlangt nach mehr. Sie verlangt nach Zuwendung, sie verlangt nach Unterstützung, von außen, damit hier etwas zueinander kommen kann, was sich im Moment noch schwertut, zu einander zu finden. Diese Wunde sehnt sich, sehnt sich danach, geschlossen zu werden, geheilt zu werden. Und ich denke, dann müssten wir unseren Blick noch einmal nach rechts und links wenden, von diesem Balken in der Mitte zu diesem Querbalken, der auch da ist und der diese Einprägungen uns zeigt, nur schwer zu deuten, ins Holz hineingraviert. Ein paar Finger, Handflächen ins Holz geprägt, Hände, fast unsichtbar, des Auferstandenen. Gottes Hände, sie hüten diese Wunde. In diesen Händen liegt die Wunde. Jesaja schreibt uns das: „Durch deine Wunden sind wir geheilt.“ Der Gottesknecht, der Verwundete, der immer wieder ein Beispiel dafür ist, sich von Gott getragen zu wissen, in Gottes Händen zu ruhen, von dort her den Segen zu empfangen, für die Wunden und Verletzungen im eigenen Leben. Und nun komme ich zu diesem Besonderen, das ich schon angedeutet habe, denn es hat einige Mühe gemacht, dieses Kreuz anzubringen an der Wand. Dieses Kreuz besteht aus drei Teilen. Die beiden Längsbalken, in der Mitte, werden getragen von diesem Querbalken. Sie sind nur ineinander gesteckt. Es gibt keine Schraube und keinen Nagel, der dieses Kreuz zusammen hält. Es sind die „Hände“ im Querbalken, die alles zusammen halten. Nun war die Frage, wie können wir dieses Kreuz an der Wand anbringen? So sind unser Fotograf des Klinikums und ich zu Egon Stöckle gefahren und wir haben überlegt, wie denn dieses Kreuz angebracht werden könne. Und dann hielt ich dieses Kreuz von unten haltend in meiner Hand und sagte, irgendwie, wäre es schön, wenn es so getragen werden könnte. So war die Idee geboren und der Künstler hat das so entwickelt, dass dieses Kreuz auf einer kleinen Plattform steht und nur von zwei Zapfen von unten her gehalten wird. Da sind zwei Löcher unten im Querbalken, da wird das Kreuz darauf gesteckt. Es steht also frei, kann immer wieder abgenommen werden, von diesem kleinen Podest. Und dieses kleine Podest ist wie eine weitere Hand, in der dieses Kreuz steht. Wir haben zuvor im Psalm 63 gelesen: „meine Seele hängt an dir, deine rechte Hand hält mich“. Ich denke, dieses Kreuz lädt uns ein, überall da, wo wir Wunden und Verwundungen erleben, am eigenen Leib, vielleicht auch bei den Anderen und wo wir keine Lösung sehen, wie denn das geheilt werden kann, dass wir dann Ausschau halten, innerlich im Gebet, in unserer Hoffnung, in unserem Glauben, in unserer Sehnsucht, dass da diese Hände sind, Gottes Hände, in denen wir dann all diese Schmerzen und Verletzungen hinein legen können. Von ihm getragen werden. Von ihm Heilung erbitten, dass zueinander findet, was zueinander gehört. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

Pharisäer und Zöllner Lk 18, 9-14

gehalten am: 11.So.n.Trin. 19.08.2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400808

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Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht bei Lukas im Lukas Evangelium im 18. Kapitel: Jesus aber sagte zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein und verachteten die anderen, dies Gleichnis: „Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel um zu beten. Der eine, ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: ‘Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin, wie die anderen Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.’ Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel sondern schlug an seine Brust und sprach: ‘Gott, sei mir Sünder gnädig!’ Ich sage euch, dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. Liebe Gemeinde, diese Geschichte aus der Bibel bietet uns gleich vornweg einen großen Fettnapf an, in den wir nur allzu leicht hinein steigen könnten. Wenn wir von vorne herein meinten, es sei doch ganz klar, was die Bibel hier sagt. Sie zeige uns in dieser Geschichte ganz eindeutig, wer die Guten und wer die weniger Guten seien. Mit dem Ergebnis dass wir dann erleichtert feststellen: Gott sei Dank stehe ich auf der Seite der Guten. Dann wird die Bibel so betrachtet, wie wir sie oft betrachten, als eine Art Geschichtsbuch. Dass man sagt, irgendwann einmal ist das passiert und da haben die und jene Leute gelebt und dann kann ich genau und wissenschaftlich sagen, was das Eine und was das Andere ist. Aber die Bibel, so sagen wir doch, ist ein heiliges Buch. In der katholischen Tradition wird das

Foto: Pharisäer und Zöllner, Hospitalkirche, Hof

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auch noch im Gottesdienst liturgisch gefeiert, wenn aus dem Evangelium vorgelesen wird, dann wird zum Ende noch das Buch geküsst. Ein Zeichen, eine Erinnerung daran, dass dies das Wort Gottes ist. Nicht nur einmal geschrieben, als Geschichtsbuch, nein, es ist ein Buch, das heute, jetzt und hier, für dich lebendig sein und lebendig werden möchte, wenn du es hörst. Wenn du diese Geschichte hörst und hinein spürst in dich, was tut sich da auf? Welches Bild, welche Bilder zeigen sich mir da, wo spüre ich meine Sympathien und meine Antipathien, wer ist mir nahe und wer ist mir ferne in dieser Geschichte? Und so möchte ich uns heute einladen, dass wir auf diese Weise uns dem Text nähern. Auch dort hinauf gehen, in diesen Tempel, an diesen Ort. Das Hinaufgehen ist ja das Zeichen, von unten nach oben, das beschreibt auch den Weg des Menschen, das beschreibt unseren Weg. Wo bin ich gerade? Fühle ich mich im Moment „unten“ und möchte hinauf? Dorthin, wo es luftig ist, wo ich den ganzen Weg überblicken kann, wo das Ziel für mich sichtbar wird? Wo ich dann die Niederungen dieses Lebens etwas hinter mir lassen kann, die nur zu beschwerlich geworden sind und mich belasten? Ich möchte mich auch erheben, möchte mich aufrichten. Vom gebeugten Mensch, als der ich mich im Moment gerade erlebe und empfinde, hin zum aufrechten Gang. Und dort auf dieser Erhöhung, im Tempel, im Allerheiligsten, dort, wo man Gott nahe ist und mit ihm ins Gespräch kommt, dort sind diese beiden Ur-Typen der Bibel, der Pharisäer und der Zöllner. Die Pharisäer, die kommen eigentlich nur in der Bibel vor. In den Geschichtsbüchern dieser Welt, kann man sie sehr selten finden. Das zeigt schon, dass die Bibel uns mit dem Pharisäer etwas sehr Wesentliches nahebringen möchte. Dieser Pharisäer, der uns vorgestellt wird als einer, der ganz vorne dran sein will und ganz heilig sein will und dennoch und vielleicht dadurch, daneben liegt. Das Wort „Pharisäer“ kommt aus der hebräischen Sprache und wenn wir es zurück übersetzen, dann finden wir das Wort „parusch“ darin. „Parusch“, das ist der Abgesonderte, der Getrennte, Abgetrennte. Der, der festgefahren ist in seiner Meinung und meint, nur ich weiß es, wie es richtig ist. Ich bemühe mich und ich tue, aber ich will für mich sein – oder nur mit denen, mit denen ich zusammen dieses Ziel erreiche und ansteuere. Alle anderen, die sind mir fremd, mit denen will ich nichts zu tun haben. Dieses Abgesondert-Sein, in seinem Hochmut und in seiner Überheblichkeit, das ist eine Gefahr im Menschen selber. Und ich denke auch daran, wie wir das praktizieren in den vielen Konfessionen, die es gibt und dann eine sich über die andere erhebt und sagt: „Nur wir wissen es und die Anderen nicht und nur wenn du bei uns bist, bist du bei den Richtigen.“ Dann sind wir sehr schnell in der Gefahr, uns diesen Pharisäern in der Bibel zu nähern. In der Gefahr, das nachzuspielen und nachzuleben, was uns die Bibel als eine Gefahr vor Augen hält und sagt: „Tu es nicht!“ Und sie weiß auch um die Mächtigkeit dieses Pharisäers in uns. Ich erinnere nur an diese eine Szene, die wir alle kennen, wo die Pharisäer Jesus anklagen und ihm dann diese Frage stellen: „Sag uns doch, wer du bist.“ Und es Jesus mit dieser Frage tatsächlich die Sprache verschlägt. Weil er merkt: „Wie soll ich denn darauf überhaupt noch antworten? Wie soll ich denn mit euch ein Gespräch, eine Kommunikation aufnehmen, wenn ihr dieses Grundsätzliche nicht verstanden habt? Wer soll ich denn sein? Ich bin von Gott, wie es jeder Mensch ist, von Gott geschaffen. Wir sind doch seine Kinder. Wie kann dann diese Frage überhaupt aufgebracht werden, wer bist du?“ Und wir merken, wie grundsätzlich das ist, was wir dort erleben und was wir immer wieder erleben, wenn wir anderen Menschen die Frage stellen: „Wer bist du?“ Natürlich bist du Kind Gottes. Natürlich bist du von Gott gewollt in dieser Welt. Diese Frage dürfte gar nicht aufkommen, wenn wir verstanden hätten, wer wir sind. Und Jesus möchte uns wieder zu dem zurück führen, dass wir dann wieder all diese selbst aufgelegten Lasten, dieses alles-selber-machen-zu-können, machen-zu-müssen, besser-zu-sein, Gott gefallen-zu-

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müssen, dass wir das ablegen – und sagen: „Herr, ich bin da! Ich bin Mensch und ich bin unterwegs und auf diesem Weg. Da sammle ich Staub an meinen Füßen.“ Und Jesus selbst ist es, der seinen Jüngern diesen Staub von den Füßen wäscht! Tu es nicht selber, das kannst du gar nicht. Du sammelst vieles auch auf, was dich belastet und was nicht gut ist und deswegen sprechen wir auch immer wieder dieses Sündenbekenntnis im Gottesdienst, weil das ganz einfach passiert in diesen sechs Tagen der Woche, dass sich da manches ansammelt an unseren Füßen. Was wieder abgewaschen werden muss, damit wir dann wieder befreit, diesen Weg nach „oben“ gehen können. Vielleicht kommt uns jetzt dieser Pharisäer etwas näher und wir spüren auch diese Anteile, die wir in uns, ich in mir habe, von diesem Pharisäer, wo ich es immer besser machen möchte und wo ich mich dann exponiere und sage, ich bin schon am richtigen Platz, die armen Anderen, die müssen es noch lernen. Das ist eine gefährliche Position, ein gefährliches Überheblich sein. Nur gut, dass es uns die Bibel immer wieder vor Augen führt und sagt: „Schau hinein in diesen Spiegel, erkenne dich und tu es anders.“ Und dann haben wir den Zöllner. Der Zöllner, der ganz hinten sitzt in diesem Tempel, in sicherer Entfernung. Und ich spüre, viele Menschen haben dieses Gefühl auch in sich, wenn sie diese heiligen Orte aufsuchen, wie ja die Kirche ein heiliger Ort ja sinnbildlich und symbolisch und ja tatsächlich ist. Und dann setzen sie sich ganz hinten hin. Möchten nicht ganz vorne, in der ersten Bank sitzen, weil sie irgendwie spüren, das steht mir vielleicht gar nicht zu, da fühle ich mich unsicher. Es ist ein gesundes Gespür da, von Heiligkeit und von Annäherung und ein Schritt nach dem anderen und nicht gleich nach ganz vorne. Und dieses Sündenbekenntnis „Herr, sei mir Sünder gnädig“, das sprechen wir auch in unserem Gottesdienst, gleich zu Beginn, liturgisch spricht es die Gemeinde als Antwort auf das Bekenntnis der Sünden. Der Sünder, der Zöllner, der ist lebendig in unseren Gottesdiensten. Und dieser Zöllner, das ist einer, der von Berufs wegen diesen Zoll erhebt, der da steht, wo der Weg entlang führt, aber wo der Weg etwas kostet. Wo gesagt wird, wenn du weiterkommen willst in diesem Leben, dann musst du zahlen. Und dieser Zöllner, der erhebt den Zoll. Und manchmal, so erzählen es auch die Geschichten, schlagen diese Zöllner auf den offiziellen Zoll noch ihren privaten Zoll mit drauf. Sie betrügen, oder zumindest, sie fordern mehr, als nötig ist. Und spüren in sich selber vielleicht auch, dass das nicht ganz rechtens ist, was sie da tun. Einen Dienst zu machen, der mir aufgetragen worden ist, ist das Eine. Aber dann noch etwas drauf zu schlagen, was nicht abgemacht ist, im Verborgenen, das ist nicht in Ordnung. Und ich denke, diese vielen kleinen Zöllneraufschläge, die wir da spüren, die machen wir vielleicht auch selber. Ich will jetzt nicht gleich an die Steuererklärung erinnern, die wir jährlich ausfüllen müssen. Überall sind diese kleinen Versuchungen, wo wir etwas machen, was vielleicht nicht ganz in Ordnung ist, aber wo kein Kläger da kein Richter. Und dennoch belastet uns das. Und dennoch nehmen wir das mit und merken, dass dieser Rucksack, den wir dann zu tragen haben, auf unserem Weg nur schwerer wird. Das schlechte Gewissen, sagen wir manchmal. Und das spürt dieser Zöllner, der steht da hinten und sagt, irgendwie, es ist nicht in Ordnung. Und er schlägt sich auf seine Brust. Wir kennen diese Geste, wenn uns etwas nicht einfällt, dann fassen wir uns an den Kopf, dass es uns wieder einfällt und zurecht gerückt wird. Der Zöllner möchte sich wieder zurecht rücken, er möchte wieder aufgerichtet sein, möchte nicht nur beschämt nach unten gucken, sondern wieder den Blick frei schweben lassen können. Und Jesus ist derjenige, der diesen Zöllner ansieht. Wie es eine spätere Geschichte vom Zöllner Zachäus erzählt. Und wenn ich einen Menschen ansehen will, der nach unten schaut, dann muss ich mich hinknien, um nach oben schauen zu können. So tief beugt sich Gott, um uns zu erreichen, uns zu helfen und zu sagen: „Es ist doch in Ordnung. Wenn du dich selber nur erinnerst daran, dass es auch anders gehen kann, dann bist du doch schon auf dem guten Weg. Dann spürst du in dir selber, dass du doch ganz

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anders angelegt bist. Du hast es nicht vergessen, wer du bist, ein Mensch im Bild, im Gleichnis Gottes.“ Wie schön ist es, wieder dahin zurück zu finden, aufrecht zu gehen, beschwingt und fröhlich zu gehen, unbelastet weiter zu gehen, mit frisch gewaschenen Füßen seinen Weg weiter zu ziehen. Das trägst du doch alles schon in deiner Sehnsucht mit mir. Deswegen schlägst du dich an die Brust. Und so können wir in dieser Geschichte uns aussuchen, wo wir stehen, auf der einen Seite, wo wir schon alles wissen und sagen: „Belastet mich nicht, will ich nicht, weiß ich schon!“ oder aber, dass ich sage, ganz tief innen, da spüre ich, da ist noch etwas ganz anderes da, da ist diese Einladung von oben her, aus diesem Tempel, vom Himmel her, die sagt, du bist im Bild und Gleichnis Gottes. Und dann, könnten wir weiter denken und uns sagen: dann lebe doch auch so. Weil die Einladung von Gott doch da ist: Ich sehe dich doch an. In meinen Augen bist du geliebt und angenommen. Es sind barmherzige Augen. Lass dir doch das geben und beschenkt werden, richte dich auf und lass alles andere fallen, was dich belastet und dir schwer ist. Ich schenke dir einen neuen Weg, eine neue Zukunft. Es liegt an uns, sie anzunehmen. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau



gehalten am: 11. So.n.Trin. 19.08.2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400808

weitere Predigten von Heinz D. Müller www.pfarrer-mueller.de

Pharisäer und Zöllner Lk 18, 9-14 Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht bei Lukas im Lukas Evangelium im 18. Kapitel: Jesus aber sagte zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein und verachteten die anderen, dies Gleichnis: „Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel um zu beten. Der eine, ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: ‘Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin, wie die anderen Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.’ Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel sondern schlug an seine Brust und sprach: ‘Gott, sei mir Sünder gnädig!’ Ich sage euch, dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. Liebe Gemeinde, diese Geschichte aus der Bibel bietet uns gleich vornweg einen großen Fettnapf an, in den wir nur allzu leicht hinein steigen könnten. Wenn wir von vorne herein meinten, es sei doch ganz klar, was die Bibel hier sagt. Sie zeige uns in dieser Geschichte ganz eindeutig, wer die Guten und wer die weniger Guten seien. Mit dem Ergebnis dass wir dann erleichtert feststellen: Gott sei Dank stehe ich auf der Seite der Guten.

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Dann wird die Bibel so betrachtet, wie wir sie oft betrachten, als eine Art Geschichtsbuch. Dass man sagt, irgendwann einmal ist das passiert und da haben die und jene Leute gelebt und dann kann ich genau und wissenschaftlich sagen, was das Eine und was das Andere ist. Aber die Bibel, so sagen wir doch, ist ein heiliges Buch. In der katholischen Tradition wird das auch noch im Gottesdienst liturgisch gefeiert, wenn aus dem Evangelium vorgelesen wird, dann wird zum Ende noch das Buch geküsst. Ein Zeichen, eine Erinnerung daran, dass dies das Wort Gottes ist. Nicht nur einmal geschrieben, als Geschichtsbuch, nein, es ist ein Buch, das heute, jetzt und hier, für dich lebendig sein und lebendig werden möchte, wenn du es hörst. Wenn du diese Geschichte hörst und hinein spürst in dich, was tut sich da auf? Welches Bild, welche Bilder zeigen sich mir da, wo spüre ich meine Sympathien und meine Antipathien, wer ist mir nahe und wer ist mir ferne in dieser Geschichte? Und so möchte ich uns heute einladen, dass wir auf diese Weise uns dem Text nähern. Auch dort hinauf gehen, in diesen Tempel, an diesen Ort. Das Hinaufgehen ist ja das Zeichen, von unten nach oben, das beschreibt auch den Weg des Menschen, das beschreibt unseren Weg. Wo bin ich gerade? Fühle ich mich im Moment „unten“ und möchte hinauf? Dorthin, wo es luftig ist, wo ich den ganzen Weg überblicken kann, wo das Ziel für mich sichtbar wird? Wo ich dann die Niederungen dieses Lebens etwas hinter mir lassen kann, die nur zu beschwerlich geworden sind und mich belasten? Ich möchte mich auch erheben, möchte mich aufrichten. Vom gebeugten Mensch, als der ich mich im Moment gerade erlebe und empfinde, hin zum aufrechten Gang. Und dort auf dieser Erhöhung, im Tempel, im Allerheiligsten, dort, wo man Gott nahe ist und mit ihm ins Gespräch kommt, dort sind diese beiden Ur-Typen der Bibel, der Pharisäer und der Zöllner. Die Pharisäer, die kommen eigentlich nur in der Bibel vor. In den Geschichtsbüchern dieser Welt, kann man sie sehr selten finden. Das zeigt schon, dass die Bibel uns mit dem Pharisäer etwas sehr Wesentliches nahebringen möchte. Dieser Pharisäer, der uns vorgestellt wird als einer, der ganz vorne dran sein will und ganz heilig sein will und dennoch und vielleicht dadurch, daneben liegt. Das Wort „Pharisäer“ kommt aus der hebräischen Sprache und wenn wir es zurück übersetzen, dann finden wir das Wort „parusch“ darin. „Parusch“, das ist der Abgesonderte, der Getrennte, Abgetrennte. Der, der festgefahren ist in seiner Meinung und meint, nur ich weiß es, wie es richtig ist. Ich bemühe mich und ich tue, aber ich will für mich sein – oder nur mit denen, mit denen ich zusammen dieses Ziel erreiche und ansteuere. Alle anderen, die sind mir fremd, mit denen will ich nichts zu tun haben. Dieses Abgesondert-Sein, in seinem Hochmut und in seiner Überheblichkeit, das ist eine Gefahr im Menschen selber. Und ich denke auch daran, wie wir das praktizieren in den vielen Konfessionen, die es gibt und dann eine sich über die andere erhebt und sagt: „Nur wir wissen es und die Anderen nicht und nur wenn du bei uns bist, bist du bei den Richtigen.“ Dann sind wir sehr schnell in der Gefahr, uns diesen Pharisäern in der Bibel zu nähern. In der Gefahr, das nachzuspielen und nachzuleben, was uns die Bibel als eine Gefahr vor Augen hält und sagt: „Tu es nicht!“ Und sie weiß auch um die Mächtigkeit dieses Pharisäers in uns. Ich erinnere nur an diese eine Szene, die wir alle kennen, wo die Pharisäer Jesus anklagen und ihm dann diese Frage stellen: „Sag uns doch, wer du bist.“ Und es Jesus mit dieser Frage tatsächlich die Sprache verschlägt. Weil er merkt: „Wie soll ich denn darauf überhaupt noch antworten? Wie soll ich denn mit euch ein Gespräch, eine Kommunikation aufnehmen, wenn ihr dieses Grundsätzliche nicht verstanden habt? Wer soll ich denn sein? Ich bin von Gott, wie es jeder Mensch ist, von Gott geschaffen. Wir sind doch seine Kinder. Wie kann dann diese Frage überhaupt aufgebracht werden, wer bist du?“ Und wir merken, wie grundsätzlich das ist, was wir dort erleben und was wir immer wieder erleben, wenn wir anderen Menschen die Frage stellen: „Wer bist du?“ Natürlich bist du Kind Gottes. Natürlich bist du von Gott gewollt in dieser Welt.

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Diese Frage dürfte gar nicht aufkommen, wenn wir verstanden hätten, wer wir sind. Und Jesus möchte uns wieder zu dem zurück führen, dass wir dann wieder all diese selbst aufgelegten Lasten, dieses alles-selber-machen-zu-können, machen-zu-müssen, besser-zu-sein, Gott gefallen-zumüssen, dass wir das ablegen – und sagen: „Herr, ich bin da! Ich bin Mensch und ich bin unterwegs und auf diesem Weg. Da sammle ich Staub an meinen Füßen.“ Und Jesus selbst ist es, der seinen Jüngern diesen Staub von den Füßen wäscht! Tu es nicht selber, das kannst du gar nicht. Du sammelst vieles auch auf, was dich belastet und was nicht gut ist und deswegen sprechen wir auch immer wieder dieses Sündenbekenntnis im Gottesdienst, weil das ganz einfach passiert in diesen sechs Tagen der Woche, dass sich da manches ansammelt an unseren Füßen. Was wieder abgewaschen werden muss, damit wir dann wieder befreit, diesen Weg nach „oben“ gehen können. Vielleicht kommt uns jetzt dieser Pharisäer etwas näher und wir spüren auch diese Anteile, die wir in uns, ich in mir habe, von diesem Pharisäer, wo ich es immer besser machen möchte und wo ich mich dann exponiere und sage, ich bin schon am richtigen Platz, die armen Anderen, die müssen es noch lernen. Das ist eine gefährliche Position, ein gefährliches Überheblich sein. Nur gut, dass es uns die Bibel immer wieder vor Augen führt und sagt: „Schau hinein in diesen Spiegel, erkenne dich und tu es anders.“ Und dann haben wir den Zöllner. Der Zöllner, der ganz hinten sitzt in diesem Tempel, in sicherer Entfernung. Und ich spüre, viele Menschen haben dieses Gefühl auch in sich, wenn sie diese heiligen Orte aufsuchen, wie ja die Kirche ein heiliger Ort ja sinnbildlich und symbolisch und ja tatsächlich ist. Und dann setzen sie sich ganz hinten hin. Möchten nicht ganz vorne, in der ersten Bank sitzen, weil sie irgendwie spüren, das steht mir vielleicht gar nicht zu, da fühle ich mich unsicher. Es ist ein gesundes Gespür da, von Heiligkeit und von Annäherung und ein Schritt nach dem anderen und nicht gleich nach ganz vorne. Und dieses Sündenbekenntnis „Herr, sei mir Sünder gnädig“, das sprechen wir auch in unserem Gottesdienst, gleich zu Beginn, liturgisch spricht es die Gemeinde als Antwort auf das Bekenntnis der Sünden. Der Sünder, der Zöllner, der ist lebendig in unseren Gottesdiensten. Und dieser Zöllner, das ist einer, der von Berufs wegen diesen Zoll erhebt, der da steht, wo der Weg entlang führt, aber wo der Weg etwas kostet. Wo gesagt wird, wenn du weiterkommen willst in diesem Leben, dann musst du zahlen. Und dieser Zöllner, der erhebt den Zoll. Und manchmal, so erzählen es auch die Geschichten, schlagen diese Zöllner auf den offiziellen Zoll noch ihren privaten Zoll mit drauf. Sie betrügen, oder zumindest, sie fordern mehr, als nötig ist. Und spüren in sich selber vielleicht auch, dass das nicht ganz rechtens ist, was sie da tun. Einen Dienst zu machen, der mir aufgetragen worden ist, ist das Eine. Aber dann noch etwas drauf zu schlagen, was nicht abgemacht ist, im Verborgenen, das ist nicht in Ordnung. Und ich denke, diese vielen kleinen Zöllneraufschläge, die wir da spüren, die machen wir vielleicht auch selber. Ich will jetzt nicht gleich an die Steuererklärung erinnern, die wir jährlich ausfüllen müssen. Überall sind diese kleinen Versuchungen, wo wir etwas machen, was vielleicht nicht ganz in Ordnung ist, aber wo kein Kläger da kein Richter. Und dennoch belastet uns das. Und dennoch nehmen wir das mit und merken, dass dieser Rucksack, den wir dann zu tragen haben, auf unserem Weg nur schwerer wird. Das schlechte Gewissen, sagen wir manchmal. Und das spürt dieser Zöllner, der steht da hinten und sagt, irgendwie, es ist nicht in Ordnung. Und er schlägt sich auf seine Brust. Wir kennen diese Geste, wenn uns etwas nicht einfällt, dann fassen wir uns an den Kopf, dass es uns wieder einfällt und zurecht gerückt wird. Der Zöllner möchte sich wieder zurecht rücken, er möchte wieder aufgerichtet sein, möchte nicht nur beschämt nach unten gucken, sondern wieder den Blick frei schweben lassen können. Und Jesus ist derjenige, der diesen Zöllner ansieht. Wie es eine spätere Geschichte vom Zöllner Zachäus erzählt.

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Und wenn ich einen Menschen ansehen will, der nach unten schaut, dann muss ich mich hinknien, um nach oben schauen zu können. So tief beugt sich Gott, um uns zu erreichen, uns zu helfen und zu sagen: „Es ist doch in Ordnung. Wenn du dich selber nur erinnerst daran, dass es auch anders gehen kann, dann bist du doch schon auf dem guten Weg. Dann spürst du in dir selber, dass du doch ganz anders angelegt bist. Du hast es nicht vergessen, wer du bist, ein Mensch im Bild, im Gleichnis Gottes.“ Wie schön ist es, wieder dahin zurück zu finden, aufrecht zu gehen, beschwingt und fröhlich zu gehen, unbelastet weiter zu gehen, mit frisch gewaschenen Füßen seinen Weg weiter zu ziehen. Das trägst du doch alles schon in deiner Sehnsucht mit mir. Deswegen schlägst du dich an die Brust. Und so können wir in dieser Geschichte uns aussuchen, wo wir stehen, auf der einen Seite, wo wir schon alles wissen und sagen: „Belastet mich nicht, will ich nicht, weiß ich schon!“ oder aber, dass ich sage, ganz tief innen, da spüre ich, da ist noch etwas ganz anderes da, da ist diese Einladung von oben her, aus diesem Tempel, vom Himmel her, die sagt, du bist im Bild und Gleichnis Gottes. Und dann, könnten wir weiter denken und uns sagen: dann lebe doch auch so. Weil die Einladung von Gott doch da ist: Ich sehe dich doch an. In meinen Augen bist du geliebt und angenommen. Es sind barmherzige Augen. Lass dir doch das geben und beschenkt werden, richte dich auf und lass alles andere fallen, was dich belastet und dir schwer ist. Ich schenke dir einen neuen Weg, eine neue Zukunft. Es liegt an uns, sie anzunehmen. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: DoA. 23.08.2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400809

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Zachäus Lk 19, 1-10 Liebe Schwestern und Brüder, ich möchte Ihnen heute gerne die Geschichte vom Zachäus noch einmal in Erinnerung rufen, falls Sie diese Geschichte schon früher einmal gehört haben und wenn nicht, dann hören wir sie heute zum ersten Mal, im Lukas-Evangelium wird sie uns erzählt. Und Jesus ging nach Jericho hinein und zog hindurch. Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. Und er begehrte Jesus zu sehen, wie er denn wäre. Er konnte es nicht wegen der Menge, denn er war klein von Gestalt. Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum um ihn zu sehen, denn dort sollte er durchkommen. Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: „Zachäus, steig eilend herunter, denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt! Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: „Siehe Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es ihm vierfach zurück.“ Jesus aber sprach zu ihm: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn. Denn der Menschensohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“

'Zachäus', 1987 Walter Habdank. © Galerie Habdank

Mit einer „Preisfrage“ fast möchte ich heute Abend beginnen, meine Gedanken mit Ihnen zu teilen. Wer meinen Sie, hört in einer Gemeinde diese Geschichte besonders gerne? Meine Erfahrung ist, dass diese Geschichte gerne von

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Kindern gehört wird. Im Kindergarten, oder dann in den Gottesdiensten für kleine Kinder, da sind die Kinder ganz aufmerksam, wenn sie diese Geschichte hören, denn sie sagen sich, dieser Zachäus, das ist einer von uns. Denn er ist klein von Gestalt, so erzählt es uns die Bibel. Und da fühlen sie sich natürlich besonders angezogen, diese kleinen Menschen, so wie Kinder sich empfinden. Gott hat gerade sie im Blick. Aber es muss nicht unbedingt die Kleinwüchsigkeit sein, die hier ein Kriterium ist, dass Jesus zu diesen Kleinen kommt. Man kann sich oftmals auch selber klein fühlen. Ich habe mal mit einem Menschen geredet, der groß und stark war und dann, als es etwas persönlicher geworden ist und dann sagte er: „Weißt du was, manchmal fühle ich mich so groß! Und deutet mit Damen und Zeigefinger eine Größe von knapp 10 cm an. So groß mit Hut sogar! Ich fühle mich innerlich ganz klein, obwohl ich groß und kräftig bin, aber ganz tief drin, da ist ein ganz kleiner Mensch, verunsichert, mutlos, ganz schnell eingeschüchtert. Also dieser Zachäus, das kann ein jeder Mensch sein, wenn er sich so klein fühlt, wie eben dieser Zachäus. Und es wird erzählt, Zachäus hat einen guten Job. Er ist einer der Oberen der Zöllner. Er verdient viel bei dem, was er tut, indem er anderen Menschen Wegezoll abverlangt, oder sogar angestellte Zöllner hat, die diese Arbeit für ihn verrichten. Menschen müssen bei ihm etwas entrichten, wenn sie weiterkommen wollen. So etwa wie eine Mautgebühr heute auf den Autobahnen, man muss zahlen, wenn man diese Straße benutzen will. Man muss seinen Obulus hinterlassen. Aber die Bibel schreibt und erzählt uns Geschichten, die nicht nur irgendwann einmal passiert sind, sondern die unser Leben betreffen. Und dann denken wir auch an diese anderen „Wegezölle“, die wir entrichten müssen, wenn wir weiterkommen wollen in unserem Leben, was wir dann schon alles haben zahlen müssen. Vielleicht sogar in der Schulzeit, wo wir zahlen mussten, mit Lernen und Büffeln, im Studium, im Beruf. Immer wieder sind auch da diese Zöllner, die uns etwas abverlangen und dann heißt es, es kostet eben etwas, wenn du weiter kommen willst. Wenn wir etwas erreichen wollen im Leben, dann kostet es was. Manchmal kostet es sogar auch unsere Gesundheit. Und es kostet unsere Lebenszeit, unser Wohlbefinden, unsere Fröhlichkeit. Wir müssen unseren Obulus zahlen, um weiter zu kommen, in dieser Welt, auf den Lebenswegen in dieser Wirklichkeit. Wir merken, diese Zöllner, die sind verborgen in unserem Leben, aber sie sind da und wir müssen etwas zahlen. Und dann sagt uns dieser Name des Zöllners etwas ganz Eigentümliches. Aus dem Hebräischen, der Sprache der Bibel übersetzt, da steckt in diesem Wort ein Wort drin „zakkai“, das so viel heißt wie: „Er ist mit einem Verdienst ausgestattet“. Mit welchem Verdienst, um alles in der Welt, ist dieser Zachäus ausgestattet? Zumindest nicht mit einem äußerlichen, denn er ist ja klein. Der Verdienst durch seine Arbeit? Ob es das ist, weiß ich nicht. Aber dieser Zachäus, der benimmt sich so eigenartig. Er möchte gerne etwas. Vielleicht ist da sein „Verdienst“ verborgen. Er möchte diesem Jesus begegnen und ihn zumindest sehen wenn auch aus einer sicheren Entfernung. Er hat in sich diese Sehnsucht. Die Sehnsucht Gott zu begegnen, auch wenn es erst aus einer sicheren Distanz heraus ist. Und deswegen läuft er voraus, er weiß, Jesus wird diesen Weg gehen. Jesus wird in diesem Leben an ihm vorbei ziehen und er klettert in diesen Maulbeerbaum. Ein Maulbeerbaum hat eine Eigenart, er hat ein ganz dichtes Laubwerk. Wenn man mal in diesem Baum drin ist, dann kann man von draußen kaum gesehen werden. Ein sicherer Ausgucksposten erst einmal für diesen Zachäus. Und dann ist er noch so klein und seine Chancen, da drin gesehen zu werden, die sind äußerst gering, das will uns die Bibel sagen. Und dennoch – als Jesus vorbei zieht, da ist es das erste, was ihm auffällt, er sieht diesen Zachäus in diesem Baum, was fast unmöglich ist. Was will uns die Bibel damit sagen? Sie will uns sagen, auch wenn es noch so verborgen ist in dir selber, diese Sehnsucht, dieses Verdienst, das dir mitgegeben worden ist, von ganz woanders her, das Verdienst, das nicht aus dir kommt, sondern das du in dir

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trägst. Wenn du diese Sehnsucht hast und sie ist noch so klein, Gott reagiert da drauf und Gott sieht dich. Vielleicht kommen wir nun selber dieser Geschichte etwas näher, wenn wir uns ganz klein fühlen und wenn wir uns vielleicht als Sünder fühlen und das Gefühl haben, Gott hat doch überhaupt keinen Blick für mich, ich fühle mich so weit weg und möchte mich am liebsten verstecken, irgendwo. Aber du hast in dir ein Fünkchen von dieser Sehnsucht, dann sei gefasst, vielleicht überrascht, denn Gott wird nicht an dir vorüber gehen. Gott wird dich ansehen. Und er sieht dich aus einer ganz interessanten Perspektive an, nämlich von unten nach oben. Du bist „klein“ und doch, Gott bückt sich so weit runter, dass er dich ansieht, wie Jesus den Zachäus ansieht, von unten nach oben, auf dem Baum. Ist das nicht Wunderbar? Er macht sich klein, dass er dir von unten her ins Gesicht sehen kann. Und sagt: „Komm doch herunter, komm doch auf Augenhöhe, komm doch, dass wir uns begegnen können, nicht in der Distanz, sondern ganz nah und ich möchte einkehren zu dir, dass wir an einem Tisch sitzen und dass wir miteinander teilen und ich dir austeilen kann und wir miteinander Mahl halten. Der Tisch, im Hebräischen heißt „schulchan“. Schulchan heißt auch das Austeilen, vom Tisch her teilen wir doch aus und geben dem Anderen, dass sie das haben, was sie brauchen, wenn sie Hunger haben, damit sie den Weg gehen können. Und im Gottesdienst versammeln wir uns doch immer wieder an diesem Tisch, wo das Brot ausgeteilt wird und wir es empfangen und wieder Kraft bekommen für den Weg. Wenn wir unterwegs sind, dann kommt Gott und sucht uns auf, wenn wir das Gefühl haben, wir haben ihn schon lange nicht mehr gesehen. Wir wissen gar nicht, wie er aussieht, aber da ist ein Fünkchen Sehnsucht da, es möge doch anders sein. Und wenn Gott kommt und mich ansieht und aufsieht zu mir, dass ich mich aus meiner Verborgenheit, aus meinem Gefängnis, aus meinem Versteck heraus trauen kann, wieder auf die Straße des Lebens zu gehen, um mit Jesus jetzt weiter zu ziehen. Der immer an meiner Seite ist, weil er mich nicht übersieht mit meiner Sehnsucht. So möchte ich uns einladen, dass wir auch wieder dieses Fünkchen in uns entfachen lassen, von Gottes Gnade her, damit wir wieder die Spur aufnehmen können auf unserer Lebensstraße und dann weiterziehen können mit Gott an unserer Seite. Amen.

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Panoramafoto der renovierten Kapelle: © Ulrich Wirth, 2012

Bibel erleben Predigten in freier Rede

Neue Kapelle - die „Predigt“ des Raumes

von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: DoA. 23.08.2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400810

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Liebe Schwestern und Brüder, heute Abend möchte ich eine Predigt ganz anderer Art mit Ihnen versuchen. Wir haben seit kurzem diese Kapelle renoviert, es hat lange gedauert, über viele Wochen waren hier draußen an den Türen Zeichen, dass hier eine Baustelle ist. Wir haben diese ganze Renovierung im laufenden Betrieb durchgeführt und nun erstrahlt diese Kapelle wieder in einem neuen alten Glanz. Ich möchte mit Ihnen diese Kapelle erneut erspüren, hinsehen und hinhören, denn Räume predigen auch. Räume haben auch eine Botschaft und ich denke, es ist gut, wenn wir schon in diesem Raum sind, dass wir dann auch die Botschaft des Raumes in uns aufnehmen und in ein inneres Gespräch geraten. Das Auffälligste überhaupt an dieser Kapelle ist, dass sie in diesem Haus hier so einen besonderen Ort gefunden hat. Direkt über dem Eingang zum Klinikum, nur eine Etage darüber, ist dieser großen Raum. Es gibt im ganzen Klinikum, abgesehen vom Hörsaal, keinen so großen Raum wie diesen. Das hat schon Bedeutung, meine ich, dass ein Raum, der so groß bemessen ist in diesem Haus, hier in dieser Fülle uns begegnet. Die Seelsorge hat es sich als Leitwort vorgenommen: Der Seele Raum geben! Und wenn Sie in diesen Raum kommen, dann merken Sie, wie viel Raum auf einmal dem Menschen, der Seele zur Verfügung gestellt wird. Aber begehen wir doch erst einmal diesen Raum, sehen wir uns um, was können wir in diesem Raum entdecken? Das erste, worauf hin ich Ihren Blick

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erst einmal lenken möchte, das ist der dunkle, neu gemachte, Boden, auf dem wir uns bewegen und gehen und wenn man in diesen Raum kommt, wird zunächst einmal dieser dunkle Boden auffallen. Früher war hier ein Teppichboden im Grünton. Das ist die erste große und auffallende Neuerung, die in diesem Raum durchgeführt wurde. Künstler haben diesen Raum mit gestaltet und meinten: Dieser Boden muss aus Holz sein und sie haben zu diese dunkle Farbe gewählt. Die einen mögen vielleicht sagen: zu dunkel für mich, macht düster, aber ich möchte versuchen, auch diese Entscheidung für diesen Raum mit biblischen Bezügen zu verknüpfen. Der dunkle Boden erzählt uns etwas, was die Bibel in ihren Bildern auf den ersten Seiten so erzählt. Dort steht: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer und es war finster auf der Tiefe. Und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser und Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht! Dies Finstere, diese Tiefe entdecke ich in diesem dunklen Boden wieder. Wenn wir den Raum betreten, dann sehen wir dies Dunkle und darüber in luftiger Höhe diese über 100 Leuchten, die das „Firmament“ des Raumes für uns erleuchten. Wie ein Blick in den Himmel, wie ein Blick in die Tiefen des Weltalls und dort sehen wir das Licht Gottes, das über uns scheint. Dieser Boden, diese Tiefe, von der die Bibelgeschichte erzählt, wird tohu wa bohu im Hebräischen genannt und hat etwas Besonderes. Es wird übersetzt, „wüst und leer“ oder „Irrnis und Wirrnis“, aber die Worte aus dem Hebräischen, die sind so ganz sperrig, die lassen sich nicht so gut übersetzen – tohu wa bohu! Sie heißen so viel wie: „Es ist bodenlos“. Da gibt es keinen Grund mehr. Es ist unaussprechliche Tiefe da und da ist nichts. Das möchte das Wort sagen: tohu! Und doch folgt gleich ein Widerspruch mit dem: wa bohu! Denn diese beiden Worte besagen: und dennoch ist etwas da! Das ist diese Ambivalenz, die wir immer wieder erleben. Da ist Nichts, so erlebt sich der Mensch, wenn er durch die Welt geht, weil er von der Schwärze und vom Dunklen sich irritiert fühlt, weil er offensichtlich nichts sieht. Und dennoch hofft und wünscht er sich ein Licht in diese Finsternis hinein. Wenn wir diesen Raum hier betreten, zucken wir erst mal zusammen, das Dunkle gefällt nicht und dennoch je länger wir uns in diesem Raum bewegen, spüren wir: Und der Boden trägt doch! Ist gemacht aus Holz, Holz erinnert uns ja auch an diesen Baum des Lebens mitten im Paradies. Da, wo uns „Holz“ begegnet, da spüren wir auch tief innen, dass doch immer wieder diese Verheißung da ist, nach Leben! Wie auch dieses alte Wort uns sagt: wa bohu, und doch ist etwas da. Die Krise, jawohl, sie ist nicht zu verleugnen in dieser Welt und manchmal erlebt man nur diese eine Seite und dennoch ist da ein Boden, ist da etwas, was dich trägt, ist da diese Zusage, dass dieses Licht dir scheint. Wechsle die perspektive, sieh nach oben, richte dich auf. So beginnt die Bibel. So spannt sie den Bogen auf und benennt die Wirklichkeit in dieser Welt. So kommen auch wir in diesen Raum, der so groß ist, und wir spüren, da ist dieses Dunkle und dennoch ist es begehbar und dennoch ist es belastbar und dennoch werde ich nicht untergehen und da über mir, wenn ich mich erhebe, sind diese Lichter, ist das, was Gott sagt: Es werde Licht! Das erleben wir, wenn wir in diesen Raum kommen. Und ich möchte noch zwei, drei Stationen mit Ihnen in diesem Raum begehen. Zunächst ist diese Kapelle ein offener Raum für alle Menschen. Menschen, die hierher kommen, sich gezogen fühlen in Ihrer Sehnsucht, in Ihrer Verzweiflung, aber immer mit diesem Wissen tief innen, es gibt doch jemanden „der größer ist“ als ich, auch wenn ich es nicht glauben kann und keine Antworten habe, aber ich hoffe! Mit dieser Hoffnung im Herzen kommt man in diesen Raum und man soll sich hier angesprochen und aufgehoben fühlen und so gibt es zunächst einmal in der Seelsorge die evangelische und katholische Ausrichtung, die hier im Raum gut ausbalanciert anzutreffen ist und jeweils vom Zentrum ihres Glaubens her, etwas erzählen möchte. Vor ihnen zur Rechten, da befindet sich der Tabernakel. Der zentrale Ort für die katholischen Gläubigen, der Symbol-Ort, wo Gottes Wohnung ist. Der Ort, wo die katholisch geweihten Hostien

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aufgehoben werden, das Brot des Lebens. In der katholischen Tradition ein wichtiger Ort, natürlich auch in der evangelischen Tradition ist das Abendmahl zentral, aber da wird anders mit umgegangen. Und hier, vor mir, sehen Sie die aufgeschlagene Bibel, das Wort Gottes, das in der evangelischen Tradition eine zentrale Bedeutung hat. Martin Luther hat die Bibel in das Zentrum des Gottesdienstes gerückt, hat sie übersetzt, damit jeder Menschen sie lesen kann – jeder für sich! Man braucht keinen Vorleser mehr, man muss nicht Hebräisch, Griechisch oder Latein lernen, man kann es in seiner Sprache lesen und verstehen. Eine Tradition, die sich durch die Bibelübersetzungen auf der ganzen Welt verbreitet hat. Der Tqabernakel, die aufgeschlagene Bibel, da sieht man die beiden Kirchen symbolisch beheimatet, an diesen beiden Orten. Wir haben zuvor das große Glaubensbekenntnis gebetet, das Glaubensbekenntnis von NizäaKonstantinopel, das besagt, die Kirche ist viel größer, da gehört auch noch die Ostkirche mit dazu. Alle, die sich auf das Wort Gottes berufen, was in dem Wort „allgemeine“ ausgedrückt wird! Und für diese Kirche stehen die beiden Ikonen in diesem Raum. Eine Muttergottes-Ikone, hier neben dem Kreuz und in der Nische, gleich neben dem einen Eingang, finden wir eine Dach-Ziegel, bemalt mit dem Christus Antlitz darauf. Und zu dieser besonderen Ikone, der Dachschindel mit dem Christusbild drauf, möchte ich noch etwas sagen. Interessant und nachdenkenswert, dass hier eine Dach Ziegel Verwendung fand, um darauf das Antlitz Christi zu malen. Was wird sich der Künstler dabei gedacht haben? Dazu fällt mir die Geschichte aus der Bibel ein, wo gesagt wird, der Eckstein, den die Bauleute verworfen haben, darauf soll die Kirche stehen. Dieser Eckstein ist wichtig für das Haus Gottes. Aber das ist der Eckstein ganz unten! Wenn das Haus dann fertig ist und das Dach gedeckt, dann ist das Haus erst vollkommen. Und auf dieser Schindel, auf diesem Ziegel von dem fertigen Haus, dort hat der Künstler Christi Angesicht darauf gemalt und wenn wir uns das vergegenwärtigen, welcher Ort das ist, dann merken wir es ist der Ort, der dem Himmel gegenüber ist. Von dort, vom Dach des Hauses, sieht Christus hinauf in den Himmel, ist dem Vater gegenüber. Vater und Sohn ineins. An diesen Himmel will uns Christus weisen. Schau doch diese andere Wirklichkeit, die ist dir nicht fern, durch mich nicht, denn Gott hat mich hierher in diese Wirklichkeit gesandt und ich bin da und helfe euch, wieder diesen Weg zurück zu finden, Beziehung zu finden zu dieser andere Wirklichkeit. Vor dieser anderen Wirklichkeit steht dieser Vorhang, der hinter mir ist. Der Vorhang, der auch im Tempel hing und dann bei Jesu Kreuzigung zerrissen ist und den Blick freigibt auf das Andere. Hinter dem Vorhang erahnen wir diese andere Welt. Die Welt, die uns zugesagt ist, auf die wir uns hinbewegen. Sie ist ganz nah, im Glauben zumindest kann ich sie vorweg nehmen. Ich war neulich auf der Landesgartenschau in Bamberg. Dort gibt es immer einen Ort, wo auch Grabsteine und Grabschmuck gezeigt wird, Künstler können dann zeigen, wie sie mit diesem Thema „Tod“ umgehen und wie sie den dann darstellen. Dort habe ich einen Grabstein gesehen, der mir besonders auffiel. Es war ein Grabstein aus Glasmaterial, der durchsichtig war. Man konnte durch den „Stein“, wie durch einen Vorhang, die Blumen dahinter sehen, die dort hinten angepflanzt waren. Mich hat dieser Stein erinnert an diesen Vorhang, der hinter mir angebracht ist. Wenn wir uns auch noch in dieser Welt befinden und wenn wir auch wissen, da gibt es eine Grenze, dann sagen uns die Künstler von dem Glasgrabmal und der Künstler von diesem Vorhang, dann sagt uns dieser Raum

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hier: Es geht weiter, da ist viel mehr als du mit bloßen Augen wahrnehmen kannst! Da ist eine andere, größere Wirklichkeit, die auf uns wartet. Wir sehen sie hier schon, wenn die Sonne aufgeht, dann begegnet sie uns. Da ist immer wieder diese Erinnerung, dieses Wachhalten der Verheißung, „Auferstehung“ ist die Antwort auf unsere bange Frage. Der Tod wird nicht das letzte Wort haben, Gott wird uns begegnen in seiner Wirklichkeit und wird uns die Augen öffnen, dass wir dann sehen, an was wir jetzt im Moment glauben. Amen.

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Panoramafoto der renovierten Kapelle: © Ulrich Wirth, 2012

Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: DoA. 23.08.2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400810

weitere Predigten von Heinz D. Müller www.pfarrer-mueller.de

Neue Kapelle - die „Predigt“ des Raumes Liebe Schwestern und Brüder, heute Abend möchte ich eine Predigt ganz anderer Art mit Ihnen versuchen. Wir haben seit kurzem diese Kapelle renoviert, es hat lange gedauert, über viele Wochen waren hier draußen an den Türen Zeichen, dass hier eine Baustelle ist. Wir haben diese ganze Renovierung im laufenden Betrieb durchgeführt und nun erstrahlt diese Kapelle wieder in einem neuen alten Glanz. Ich möchte mit Ihnen diese Kapelle erneut erspüren, hinsehen und hinhören, denn Räume predigen auch. Räume haben auch eine Botschaft und ich denke, es ist gut, wenn wir schon in diesem Raum sind, dass wir dann auch die Botschaft des Raumes in uns aufnehmen und in ein inneres Gespräch geraten. Das Auffälligste überhaupt an dieser Kapelle ist, dass sie in diesem Haus hier so einen besonderen Ort gefunden hat. Direkt über dem Eingang zum Klinikum, nur eine Etage darüber, ist dieser großen Raum. Es gibt im ganzen Klinikum, abgesehen vom Hörsaal, keinen so großen Raum wie diesen. Das hat schon Bedeutung, meine ich, dass ein Raum, der so groß bemessen ist in diesem Haus, hier in dieser Fülle uns begegnet. Die Seelsorge hat es sich als Leitwort vorgenommen: Der Seele Raum geben! Und wenn Sie in diesen Raum kommen, dann merken Sie, wie viel Raum auf einmal dem Menschen, der Seele zur Verfügung gestellt wird. Aber begehen wir doch erst einmal diesen Raum, sehen wir uns um, was können wir in diesem Raum entdecken? Das erste, worauf hin ich Ihren Blick

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erst einmal lenken möchte, das ist der dunkle, neu gemachte, Boden, auf dem wir uns bewegen und gehen und wenn man in diesen Raum kommt, wird zunächst einmal dieser dunkle Boden auffallen. Früher war hier ein Teppichboden im Grünton. Das ist die erste große und auffallende Neuerung, die in diesem Raum durchgeführt wurde. Künstler haben diesen Raum mit gestaltet und meinten: Dieser Boden muss aus Holz sein und sie haben zu diese dunkle Farbe gewählt. Die einen mögen vielleicht sagen: zu dunkel für mich, macht düster, aber ich möchte versuchen, auch diese Entscheidung für diesen Raum mit biblischen Bezügen zu verknüpfen. Der dunkle Boden erzählt uns etwas, was die Bibel in ihren Bildern auf den ersten Seiten so erzählt. Dort steht: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer und es war finster auf der Tiefe. Und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser und Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht! Dies Finstere, diese Tiefe entdecke ich in diesem dunklen Boden wieder. Wenn wir den Raum betreten, dann sehen wir dies Dunkle und darüber in luftiger Höhe diese über 100 Leuchten, die das „Firmament“ des Raumes für uns erleuchten. Wie ein Blick in den Himmel, wie ein Blick in die Tiefen des Weltalls und dort sehen wir das Licht Gottes, das über uns scheint. Dieser Boden, diese Tiefe, von der die Bibelgeschichte erzählt, wird tohu wa bohu im Hebräischen genannt und hat etwas Besonderes. Es wird übersetzt, „wüst und leer“ oder „Irrnis und Wirrnis“, aber die Worte aus dem Hebräischen, die sind so ganz sperrig, die lassen sich nicht so gut übersetzen – tohu wa bohu! Sie heißen so viel wie: „Es ist bodenlos“. Da gibt es keinen Grund mehr. Es ist unaussprechliche Tiefe da und da ist nichts. Das möchte das Wort sagen: tohu! Und doch folgt gleich ein Widerspruch mit dem: wa bohu! Denn diese beiden Worte besagen: und dennoch ist etwas da! Das ist diese Ambivalenz, die wir immer wieder erleben. Da ist Nichts, so erlebt sich der Mensch, wenn er durch die Welt geht, weil er von der Schwärze und vom Dunklen sich irritiert fühlt, weil er offensichtlich nichts sieht. Und dennoch hofft und wünscht er sich ein Licht in diese Finsternis hinein. Wenn wir diesen Raum hier betreten, zucken wir erst mal zusammen, das Dunkle gefällt nicht und dennoch je länger wir uns in diesem Raum bewegen, spüren wir: Und der Boden trägt doch! Ist gemacht aus Holz, Holz erinnert uns ja auch an diesen Baum des Lebens mitten im Paradies. Da, wo uns „Holz“ begegnet, da spüren wir auch tief innen, dass doch immer wieder diese Verheißung da ist, nach Leben! Wie auch dieses alte Wort uns sagt: wa bohu, und doch ist etwas da. Die Krise, jawohl, sie ist nicht zu verleugnen in dieser Welt und manchmal erlebt man nur diese eine Seite und dennoch ist da ein Boden, ist da etwas, was dich trägt, ist da diese Zusage, dass dieses Licht dir scheint. Wechsle die perspektive, sieh nach oben, richte dich auf. So beginnt die Bibel. So spannt sie den Bogen auf und benennt die Wirklichkeit in dieser Welt. So kommen auch wir in diesen Raum, der so groß ist, und wir spüren, da ist dieses Dunkle und dennoch ist es begehbar und dennoch ist es belastbar und dennoch werde ich nicht untergehen und da über mir, wenn ich mich erhebe, sind diese Lichter, ist das, was Gott sagt: Es werde Licht! Das erleben wir, wenn wir in diesen Raum kommen. Und ich möchte noch zwei, drei Stationen mit Ihnen in diesem Raum begehen. Zunächst ist diese Kapelle ein offener Raum für alle Menschen. Menschen, die hierher kommen, sich gezogen fühlen in Ihrer Sehnsucht, in Ihrer Verzweiflung, aber immer mit diesem Wissen tief innen, es gibt doch jemanden „der größer ist“ als ich, auch wenn ich es nicht glauben kann und keine Antworten habe, aber ich hoffe! Mit dieser Hoffnung im Herzen kommt man in diesen Raum und man soll sich hier angesprochen und aufgehoben fühlen und so gibt es zunächst einmal in der Seelsorge die evangelische und katholische Ausrichtung, die hier im Raum gut ausbalanciert anzutreffen ist und jeweils vom Zentrum ihres Glaubens her, etwas erzählen möchte. Vor ihnen zur Rechten, da befindet sich der Tabernakel. Der zentrale Ort für die katholischen Gläubigen, der Symbol-Ort, wo Gottes Wohnung ist. Der Ort, wo die katholisch geweihten Hostien

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aufgehoben werden, das Brot des Lebens. In der katholischen Tradition ein wichtiger Ort, natürlich auch in der evangelischen Tradition ist das Abendmahl zentral, aber da wird anders mit umgegangen. Und hier, vor mir, sehen Sie die aufgeschlagene Bibel, das Wort Gottes, das in der evangelischen Tradition eine zentrale Bedeutung hat. Martin Luther hat die Bibel in das Zentrum des Gottesdienstes gerückt, hat sie übersetzt, damit jeder Menschen sie lesen kann – jeder für sich! Man braucht keinen Vorleser mehr, man muss nicht Hebräisch, Griechisch oder Latein lernen, man kann es in seiner Sprache lesen und verstehen. Eine Tradition, die sich durch die Bibelübersetzungen auf der ganzen Welt verbreitet hat. Der Tqabernakel, die aufgeschlagene Bibel, da sieht man die beiden Kirchen symbolisch beheimatet, an diesen beiden Orten. Wir haben zuvor das große Glaubensbekenntnis gebetet, das Glaubensbekenntnis von NizäaKonstantinopel, das besagt, die Kirche ist viel größer, da gehört auch noch die Ostkirche mit dazu. Alle, die sich auf das Wort Gottes berufen, was in dem Wort „allgemeine“ ausgedrückt wird! Und für diese Kirche stehen die beiden Ikonen in diesem Raum. Eine Muttergottes-Ikone, hier neben dem Kreuz und in der Nische, gleich neben dem einen Eingang, finden wir eine Dach-Ziegel, bemalt mit dem Christus Antlitz darauf. Und zu dieser besonderen Ikone, der Dachschindel mit dem Christusbild drauf, möchte ich noch etwas sagen. Interessant und nachdenkenswert, dass hier eine Dach Ziegel Verwendung fand, um darauf das Antlitz Christi zu malen. Was wird sich der Künstler dabei gedacht haben? Dazu fällt mir die Geschichte aus der Bibel ein, wo gesagt wird, der Eckstein, den die Bauleute verworfen haben, darauf soll die Kirche stehen. Dieser Eckstein ist wichtig für das Haus Gottes. Aber das ist der Eckstein ganz unten! Wenn das Haus dann fertig ist und das Dach gedeckt, dann ist das Haus erst vollkommen. Und auf dieser Schindel, auf diesem Ziegel von dem fertigen Haus, dort hat der Künstler Christi Angesicht darauf gemalt und wenn wir uns das vergegenwärtigen, welcher Ort das ist, dann merken wir es ist der Ort, der dem Himmel gegenüber ist. Von dort, vom Dach des Hauses, sieht Christus hinauf in den Himmel, ist dem Vater gegenüber. Vater und Sohn ineins. An diesen Himmel will uns Christus weisen. Schau doch diese andere Wirklichkeit, die ist dir nicht fern, durch mich nicht, denn Gott hat mich hierher in diese Wirklichkeit gesandt und ich bin da und helfe euch, wieder diesen Weg zurück zu finden, Beziehung zu finden zu dieser andere Wirklichkeit. Vor dieser anderen Wirklichkeit steht dieser Vorhang, der hinter mir ist. Der Vorhang, der auch im Tempel hing und dann bei Jesu Kreuzigung zerrissen ist und den Blick freigibt auf das Andere. Hinter dem Vorhang erahnen wir diese andere Welt. Die Welt, die uns zugesagt ist, auf die wir uns hinbewegen. Sie ist ganz nah, im Glauben zumindest kann ich sie vorweg nehmen. Ich war neulich auf der Landesgartenschau in Bamberg. Dort gibt es immer einen Ort, wo auch Grabsteine und Grabschmuck gezeigt wird, Künstler können dann zeigen, wie sie mit diesem Thema „Tod“ umgehen und wie sie den dann darstellen. Dort habe ich einen Grabstein gesehen, der mir besonders auffiel. Es war ein Grabstein aus Glasmaterial, der durchsichtig war. Man konnte durch den „Stein“, wie durch einen Vorhang, die Blumen dahinter sehen, die dort hinten angepflanzt waren. Mich hat dieser Stein erinnert an diesen Vorhang, der hinter mir angebracht ist. Wenn wir uns auch noch in dieser Welt befinden und wenn wir auch wissen, da gibt es eine Grenze, dann sagen uns die Künstler von dem Glasgrabmal und der Künstler von diesem Vorhang, dann sagt uns dieser Raum hier: Es geht weiter, da ist viel mehr als du mit bloßen Augen wahrnehmen kannst! Da ist eine andere, größere Wirklichkeit, die auf uns wartet. Wir sehen sie hier schon, wenn die Sonne aufgeht, dann begegnet sie uns. Da ist immer wieder diese Erinnerung, dieses Wachhalten der Verheißung, „Auferstehung“ ist die Antwort auf unsere bange Frage. Der Tod wird nicht das letzte Wort haben, Gott wird uns begegnen in seiner Wirklichkeit und wird uns die Augen öffnen, dass wir dann sehen, an was wir jetzt im Moment glauben. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: So. 26.08.2012 in: 12. So.n.Trin. Kapelle Klinikum Augsburg Tondatei: DS400811

weitere Predigten von Heinz D. Müller www.pfarrer-mueller.de

Zachäus in uns - Lk 19, 1-10

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören. Amen. Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Lukas-Evangelium im 19. Kapitel. Es ist eine sehr bekannte Geschichte und wenn ich sie uns vorlese, werden sich sicherlich auch innere Bilder bei uns melden, aus jener Zeit, wo wir diese Geschichte vielleicht das erste Mal gehört haben. Und Jesus ging nach Jericho hinein und zog hindurch. Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. Und er begehrte Jesus zu sehen, wie er denn wäre. Er konnte es nicht wegen der Menge, denn er war klein von Gestalt. Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum um ihn zu sehen, denn dort sollte er durchkommen. Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: „Zachäus, steig eilend herunter, denn ich muss heute in deinem Hause einkehren. Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt! Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: „Siehe Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es ihm vierfach zurück.“ Jesus aber sprach zu ihm: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn. Denn der Menschensohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“

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Liebe Gemeinde, ich komme gerade von einer Reise zurück und wenn man eine Reise, über mehrere Tagen macht, dann fährt man gewöhnlich Stationen ab, bewegt sich von einer zur nächsten, macht dazu Foto Aufnahmen, folgt einem Programm, wo jeder Tag seinen Plan hat und dann, wenn man zurück kommt, steht man vor vielen hunderten Foto Aufnahmen und muss nun versuchen, diese Fotos wieder seinen jeweiligen Aufnahme Orten zuzuordnen, an denen man zuvor halt gemacht hat. Es ist schnell passiert, dass man dann nicht mehr weiß, wo man war, aber wenn man die Erlebnisse mit den Bilder zueinander bringt, dann lebt das wieder auf, was man erfahren hat und wo man sich damals gerade befand. Man braucht die Ortsbestimmung, um sich zu erinnern, wo genau man vorbei gekommen ist. Und deswegen muss man immer wieder kurz innehalten und sich vergegenwärtigen, wo man gerade ist? Ortsbestimmung ist angesagt! Auch hier in unserer Geschichte. Ein Name wird genannt, der Erinnerungen wachruft. Den kennen wir doch – Jericho, den Ort haben wir schon mal gehört! Jericho, ein Ort, wo Jesus hindurch zieht und wo er dann dem Zachäus begegnet. Jericho der Ort auch, einer ganz besonderen Geschichte. Im Alten Testament wird sie erzählt, dort wo das Volk Gottes nach 40 Jahre Weges durch die Wüste ankommt. An den Jordan kommt, um das verheißene Land, Kanaan, zu betreten. Die erste Stadt, der sie begegnen, an der sie Halt machen, ist Jericho. Jehoschua, der Sohn von Nun, wie ihn die Bibel nennt, ist damals der Anführer, er hat von Mose den Stab übernommen, das Volk in das gelobte Land, Kanaan, hineinzuführen. Und so kommen sie zu dieser Stadt Jericho, die erst einmal eingenommen werden muss. Sie erinnern sich, siebenmal müssen die Israeliten die Stadtmauern umrunden, dann erst fallen die Mauern in sich zusammen und sie können Jericho erobern. Eine besondere Person spielt bei dieser Eroberung eine entscheidende Rolle, nämlich die Hure Rahab, die den Kundschaftern hilft und die ihnen sagt: „Die Kanaaniter sind schwach und haben Angst vor euch, es wird ein leichtes Unterfangen sein.“ Diese Geschichte wird wach in der Erinnerung wenn wir den Namen „Jericho“ hören und wir sollten uns da noch einmal klar werden, was uns die Geschichte damit sagen könnte. Was steckt in diesem Wort „Jericho“ und was könnte es bedeuten? Im Wort Jericho, steckt das hebräische Wort für „Mond“ drin, jareach, der Mond. Die Mondstadt, so könnte Jericho übersetzt werden. In die zieht Jesus nun ein. Der Mond steht doch dafür, dass er die Zeit repräsentiert, er verändert sich, hat nie die gleiche Form. Nimmt zu bis Vollmond und wieder ab und dann beginnt wieder dies Spiel von neuem. Wir wissen auch, wie abhängig wir sind von diesem Mond, der die Vergänglichkeit der Zeit uns vorhält. Frauen haben eine besondere Beziehung zu diesem Mond, der Monatszyklus weist uns darauf hin. Mond hat auch eine Beziehung zum Wasser, das gleichzeitig die Chiffre für die Zeit in der Bibel ist. Wir merken, in diesem Jericho steckt sehr viel drin und da zieht Jesus hindurch. Es ist die die Mondstadt und Mond ist auch der Ort, wo es dunkel ist und wo es gut munkeln ist, wie wir das in unserem Wortspiel auch gerne sagen. Also dort, wo Zwielichtiges vielleicht zu Hause ist. Und da ist ja auch die Rahab, die Hure, zu Hause. Da ist auch Zachäus, der Zöllner. Also da sind die Leute, die erst mal in einem düsteren Licht uns erscheinen und da hindurch zieht Jesus. Jesus, der für das ganz Andere auch steht. Wir erkennen es von unseren Liedern, wenn wir singen „Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu dieser Zeit“. Jesus, die Sonne, die hinein geht in die

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Mondstadt, das Dunkle, erleuchtet. So komponiert die Bibel Wesentliches. Erzählt uns etwas von unserem Leben, erzählt uns, wie Gott die Welt sieht, was er mit dieser Welt vorhat, dass er dort, wo Dunkelheit ist, erst einmal Licht hinein bringen möchte. Wie schon zu Beginn der Bibel! In diesem Land Kanaan, wo die Kanaaniter zu Hause sind, die Kaufleute wie man das Wort Kanaaniter übersetzten kann aus dem Hebräischen. Diejenigen, die nur etwas geben, wenn sie etwas dafür bekommen, wo die Gleichung immer gleich ausgeht, gibst du mir etwas, bekommst du von mir etwas, wo alles austariert ist, berechenbar ist, wo das Gesetz zu Hause ist. Das ist das Land, das erobert wird. Das ist das Land, wo Jehoschua hinein zieht, um dort zu Hause zu sein. Die Mondstadt, die erleuchtet werden möchte. Und die letzten Worte aus unserem Gleichnis, die sagen auch, was dort passieren soll: Denn der Menschensohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Das ist die Bewegung! Das ist die Geschichte Gottes in dieser Welt. Hinein zu kommen dort, wo es nötig ist. Dorthin zu kommen, wo wir es brauchen und wo wir es nicht bekommen durch eine Gleichung, ein Bezahlen, sondern, wo wir es bekommen, umsonst. Einfach so! Einfach so, weil da jemand da ist, der sucht. Weil jemand da ist, dem am Herzen liegt, dass die andere Seite auch etwas davon hat, ohne etwas dafür zu geben. Das ist die Bewegung, die Bewegung Gottes zu den Menschen hin. Und da, in dieser Stadt Jericho, da lebt dieser Zachäus. Zachäus, eine besondere Gestalt! Wenn Sie irgend jemanden fragen: „Kennst du jemanden aus der Bibel?“ Zachäus wird mit Sicherheit immer wieder da genannt werden. Schon in den Kindergottesdiensten, da ist diese Geschichte der Top-Renner. Warum? Weil sich die Kinder identifizieren können, mit diesem Zachäus, er ist doch einer von ihnen, klein von Gestalt! Und zu dem kommt Jesus. Da fühlen sich die Kinder geehrt, da fühlen sie sich ernst genommen, da fühlen sie sich angenommen. Aber nicht nur die Kinder, weil sie noch klein von Wuchs sind, sonst würden wir sagen, aber wir sind doch schon rausgewachsen aus diesem Stadium, wir sind doch schon in die Jahre gekommen und haben an „Größe“ dazu gewonnen, in unserem Leben. Wir merken, „an Größe dazu gewinnen“, da steckt ja schon dieses Verdienstvolle drin, dass ich mehr dazu gewonnen habe, in meinem Leben. Und das steckt in diesem Zachäus auch drin, dieser „Verdienst“. Dieses, „du gibst mir etwas und dann lasse ich dich ziehen!“ Du musst für deinen Weg bezahlen. Wenn du weiterkommen willst, dann hast du hier etwas zu entrichten, ohne diesen Zoll, diesen Wegzoll gibt es kein Fortkommen in diesem Leben. Und wir merken und spüren, dass dieser Zöllner, dieser Oberste der Zöllner, auch heute noch unterwegs ist in unserem Leben. Dort, wo wir immer wieder bezahlen müssen für das, wenn es weitergehen soll. Im Beruf bezahlen wir, in der Schule bezahlen wir, im Studium bezahlen wir. Immer müssen wir Leistung geben, damit dann auf der anderen Seite wieder etwas herauskommt. Und das ist mühsam und das kostet etwas. Und es kostet so viel, dass wir heute merken und spüren, dass sich sogar ein Phänomen daraus entwickelt hat. Wir sagen Burnout dazu, wir verbrennen auf diesem Weg, weil wir zu viel geben müssen, zu viel Energie hinein stecken müssen, damit dieser feurige Wagen, den wir befahren, dass der weiter geht. Und vielleicht merken wir dann auch dieses Andere, dieses Andere, was beim Zachäus noch lebendig ist und weshalb er in der Bibel erwähnt wird, weshalb er ein Vorbild ist für die Kleinen, wie für die Großen, denn in dem Wort Zachäus steckt das hebräische Wort, zakkai, „Verdienst“ drin. Aber ein Verdienst ganz anderer Art! Schon in seinem Namen ist dem Zachäus etwas mitgegeben worden umsonst. Er hat etwas bekommen in seinen Genen, in seiner Zurüstung zum Menschsein, als Kind Gottes, in diese Welt hat er dieses Verdienst in sich, nämlich, dass er noch von seinem Ursprung weiß. Er weiß, da gibt es noch etwas anderes. Und deshalb sucht er. Und nun hört er, dieser Jesus kommt und er hat das ganz feste Gespür und Gefühl, ja der könnte es sein. Und ich habe zuvor von diesem Josua erzählt,

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Jehoshua im Hebräischen, das ist der hebräische Name für Jesus und der bedeutet, „Der Herr rettet, der Herr hilft“! Zu dem will Zachäus hin. Da spürt er, der Herr kann helfen, der Herr kann retten. Ich möchte Ausschau halten nach ihm auf meinem Lebensweg. Aus diesem Maulbeerbaum, auf den ich klettern kann und aus sicherer Entfernung Ausschau halten kann, ohne gesehen zu werden. Denn der Maulbeerbaum ist hat ein dichtes Laubwerk. Ich kann sehen, aber die anderen können mich nicht sehen. Welch toller Platz! Aus sicherer Entfernung kann er warten und schauen, aber bevor er reagieren kann, passiert schon das Andere, er wird gesehen von dem einen, der unten unterwegs ist. Der spürt nämlich von der anderen Seite her diese Sehnsucht in uns. Da, wo das Seufzen ist, da wo das Klagen ist, da, wo das Suchen ist, da ist Gott schon da. Da ist Gott schon unterwegs und er sieht mich, bevor ich mich melden kann. Das erzählt die Bibel von Anbeginn an. Deswegen ist auch Gott gekommen, um sein Volk aus der Sklaverei und Knechtschaft zu retten, weil die Bibel sagt, und Gott sagt es: „ich habe das Seufzen meines Volkes gehört!“ Deswegen schicke ich dich, Mose, damit du sie heraus führst aus dieser Knechtschaft in ein Land, das ich ihnen verheißen habe. Und diese Verheißung gilt für uns alle, damals und heute. Und diese Verheißung, die spricht Jesus dem Zachäus zu und sagt: „Komm herunter, heute, jetzt, ist diesem Hause Heil widerfahren!“ Du „altes Haus“, sagen wir scherzhaft, wenn wir uns begegnen. Mit dem Haus sind wir gemeint. Dir ist heute Heil widerfahren. Bei dir kehre ich ein und ich kehre ein, unvorbereitet. Du musst nicht saubermachen, in deinem Haus. Wir kennen das, von den Hausfrauen, da kann man erst das Haus betreten, wenn alles blitzblank ist. Wenn Besuch kommt, dann muss das Geschirr aufgeräumt sein, die Küche, die muss spiegeln. Hier ganz anders. Wer weiß, wie dieses Haus des Zöllners aussieht. Unaufgeräumt, das „Geschirr“ noch da vom Vormittag und Jesus sagt: „Es spielt keine Rolle. Ich will an deinem Tisch sein.“ „Am Tisch des Herrn!“ Da lädt Jesus uns ein, und dieser „Tisch des Herrn“ ist bei einem jeden von uns da. Tisch, schulchan aus dem Hebräischen, heißt „schicken“. Tisch, der Ort, wo etwas geschickt wird, wo etwas ausgeteilt wird, das Schicksal gerecht verteilt wird an alle. Der Ort, wo wir die Nahrung erhalten, das Brot des Lebens, um weiter zu kommen in dieser Welt. Auch heute! Jeden Gottesdienst, in der Regel, sind wir eingeladen an den Tisch des Herrn, wieder die Nahrung zu bekommen, das Manna, das Brot des Lebens, um den Weg fortzusetzen, auf dem wir uns befinden. Aber auch das Andere aus dieser Geschichte zu erleben, bei dir diesen „Zachäus“ zu bemerken und zu entdecken, im Verborgenen, und noch einmal die Zusage und Vergewisserung zu erhalten, auch bei mir ist er lebendig, er ist da, der die Sehnsucht trägt, die Sehnsucht nach dem Herrn auf diesem Weg. Jesus ist da, auch bei dir in deinem Haus, schau dich um, lass dich ansprechen, lass dich einladen, lass dir austeilen das, was du brauchst, Nahrung zum Leben, damit du weitergehen kannst. Und dann, dann geschieht die Verwandlung von ganz von allein. Und nun weiß dieser Zachäus, was er tun muss. Von innen her, aus seiner Verwandlung heraus weiß er, jetzt gebe ich, ohne zu fragen. Jetzt gebe ich zurück. Jetzt sehe ich deutlich die Menschen, die was brauchen. Ich bin ein Anderer geworden. Aus diesem Anderssein, aus diesem Zurückgekommensein in sein eigenes „Haus“, in sein eigenes Leben. Ein Haus, in das Jesus ja jeden hinein führen will, das Haus beim Vater. Dann bin ich der, der ich immer schon war, Kind Gottes. Dann brauche ich keine Ethikanweisung mehr von draußen, dann bin ich so, wie ich bin, schon recht. Recht gemacht, zu recht gerückt, erlöst, von Gott her und dann geht es wie von selbst. Ich wünsche uns allen, dass wir diesem Zachäus neu begegnen bei uns, ihn auch groß und anders werden lassen, damit auch wir groß und anders werden und dann als Kinder Gottes getrost weiter gehen, weil wir wissen, wir sind nicht allein, wir sind begleitet. Der Herr, der rettet, ist immer an unserer Seite, Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: So. 26.08.2012 in: 12. So.n.Trin. Kapelle Klinikum Augsburg Tondatei: DS400811

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Zachäus in uns - Lk 19, 1-10

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören. Amen. Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Lukas-Evangelium im 19. Kapitel. Es ist eine sehr bekannte Geschichte und wenn ich sie uns vorlese, werden sich sicherlich auch innere Bilder bei uns melden, aus jener Zeit, wo wir diese Geschichte vielleicht das erste Mal gehört haben.

Foto: 'Zachäus', Sieger Köder

Und Jesus ging nach Jericho hinein und zog hindurch. Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. Und er begehrte Jesus zu sehen, wie er denn wäre. Er konnte es nicht wegen der Menge, denn er war klein von Gestalt. Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum um ihn zu sehen, denn dort sollte er durchkommen. Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: „Zachäus, steig eilend herunter, denn ich muss heute in deinem Hause einkehren. Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt! Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: „Siehe Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es ihm vierfach zurück.“ Jesus aber sprach zu ihm: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn. Denn der Menschensohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“

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Liebe Gemeinde, ich komme gerade von einer Reise zurück und wenn man eine Reise, über mehrere Tagen macht, dann fährt man gewöhnlich Stationen ab, bewegt sich von einer zur nächsten, macht dazu Foto Aufnahmen, folgt einem Programm, wo jeder Tag seinen Plan hat und dann, wenn man zurück kommt, steht man vor vielen hunderten Foto Aufnahmen und muss nun versuchen, diese Fotos wieder seinen jeweiligen Aufnahme Orten zuzuordnen, an denen man zuvor halt gemacht hat. Es ist schnell passiert, dass man dann nicht mehr weiß, wo man war, aber wenn man die Erlebnisse mit den Bilder zueinander bringt, dann lebt das wieder auf, was man erfahren hat und wo man sich damals gerade befand. Man braucht die Ortsbestimmung, um sich zu erinnern, wo genau man vorbei gekommen ist. Und deswegen muss man immer wieder kurz innehalten und sich vergegenwärtigen, wo man gerade ist? Ortsbestimmung ist angesagt! Auch hier in unserer Geschichte. Ein Name wird genannt, der Erinnerungen wachruft. Den kennen wir doch – Jericho, den Ort haben wir schon mal gehört! Jericho, ein Ort, wo Jesus hindurch zieht und wo er dann dem Zachäus begegnet. Jericho der Ort auch, einer ganz besonderen Geschichte. Im Alten Testament wird sie erzählt, dort wo das Volk Gottes nach 40 Jahre Weges durch die Wüste ankommt. An den Jordan kommt, um das verheißene Land, Kanaan, zu betreten. Die erste Stadt, der sie begegnen, an der sie Halt machen, ist Jericho. Jehoschua, der Sohn von Nun, wie ihn die Bibel nennt, ist damals der Anführer, er hat von Mose den Stab übernommen, das Volk in das gelobte Land, Kanaan, hineinzuführen. Und so kommen sie zu dieser Stadt Jericho, die erst einmal eingenommen werden muss. Sie erinnern sich, siebenmal müssen die Israeliten die Stadtmauern umrunden, dann erst fallen die Mauern in sich zusammen und sie können Jericho erobern. Eine besondere Person spielt bei dieser Eroberung eine entscheidende Rolle, nämlich die Hure Rahab, die den Kundschaftern hilft und die ihnen sagt: „Die Kanaaniter sind schwach und haben Angst vor euch, es wird ein leichtes Unterfangen sein.“ Diese Geschichte wird wach in der Erinnerung wenn wir den Namen „Jericho“ hören und wir sollten uns da noch einmal klar werden, was uns die Geschichte damit sagen könnte. Was steckt in diesem Wort „Jericho“ und was könnte es bedeuten? Im Wort Jericho, steckt das hebräische Wort für „Mond“ drin, jareach, der Mond. Die Mondstadt, so könnte Jericho übersetzt werden. In die zieht Jesus nun ein. Der Mond steht doch dafür, dass er die Zeit repräsentiert, er verändert sich, hat nie die gleiche Form. Nimmt zu bis Vollmond und wieder ab und dann beginnt wieder dies Spiel von neuem. Wir wissen auch, wie abhängig wir sind von diesem Mond, der die Vergänglichkeit der Zeit uns vorhält. Frauen haben eine besondere Beziehung zu diesem Mond, der Monatszyklus weist uns darauf hin. Mond hat auch eine Beziehung zum Wasser, das gleichzeitig die Chiffre für die Zeit in der Bibel ist. Wir merken, in diesem Jericho steckt sehr viel drin und da zieht Jesus hindurch. Es ist die die Mondstadt und Mond ist auch der Ort, wo es dunkel ist und wo es gut munkeln ist, wie wir das in unserem Wortspiel auch gerne sagen. Also dort, wo Zwielichtiges vielleicht zu Hause ist. Und da ist ja auch die Rahab, die Hure, zu Hause. Da ist auch Zachäus, der Zöllner. Also da sind die Leute, die erst mal in einem düsteren Licht uns erscheinen und da hindurch zieht Jesus. Jesus, der für das ganz Andere auch steht. Wir erkennen es von unseren Liedern, wenn wir singen „Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu dieser Zeit“. Jesus, die Sonne, die hinein geht in die

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Mondstadt, das Dunkle, erleuchtet. So komponiert die Bibel Wesentliches. Erzählt uns etwas von unserem Leben, erzählt uns, wie Gott die Welt sieht, was er mit dieser Welt vorhat, dass er dort, wo Dunkelheit ist, erst einmal Licht hinein bringen möchte. Wie schon zu Beginn der Bibel! In diesem Land Kanaan, wo die Kanaaniter zu Hause sind, die Kaufleute wie man das Wort Kanaaniter übersetzten kann aus dem Hebräischen. Diejenigen, die nur etwas geben, wenn sie etwas dafür bekommen, wo die Gleichung immer gleich ausgeht, gibst du mir etwas, bekommst du von mir etwas, wo alles austariert ist, berechenbar ist, wo das Gesetz zu Hause ist. Das ist das Land, das erobert wird. Das ist das Land, wo Jehoschua hinein zieht, um dort zu Hause zu sein. Die Mondstadt, die erleuchtet werden möchte. Und die letzten Worte aus unserem Gleichnis, die sagen auch, was dort passieren soll: Denn der Menschensohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Das ist die Bewegung! Das ist die Geschichte Gottes in dieser Welt. Hinein zu kommen dort, wo es nötig ist. Dorthin zu kommen, wo wir es brauchen und wo wir es nicht bekommen durch eine Gleichung, ein Bezahlen, sondern, wo wir es bekommen, umsonst. Einfach so! Einfach so, weil da jemand da ist, der sucht. Weil jemand da ist, dem am Herzen liegt, dass die andere Seite auch etwas davon hat, ohne etwas dafür zu geben. Das ist die Bewegung, die Bewegung Gottes zu den Menschen hin. Und da, in dieser Stadt Jericho, da lebt dieser Zachäus. Zachäus, eine besondere Gestalt! Wenn Sie irgend jemanden fragen: „Kennst du jemanden aus der Bibel?“ Zachäus wird mit Sicherheit immer wieder da genannt werden. Schon in den Kindergottesdiensten, da ist diese Geschichte der Top-Renner. Warum? Weil sich die Kinder identifizieren können, mit diesem Zachäus, er ist doch einer von ihnen, klein von Gestalt! Und zu dem kommt Jesus. Da fühlen sich die Kinder geehrt, da fühlen sie sich ernst genommen, da fühlen sie sich angenommen. Aber nicht nur die Kinder, weil sie noch klein von Wuchs sind, sonst würden wir sagen, aber wir sind doch schon rausgewachsen aus diesem Stadium, wir sind doch schon in die Jahre gekommen und haben an „Größe“ dazu gewonnen, in unserem Leben. Wir merken, „an Größe dazu gewinnen“, da steckt ja schon dieses Verdienstvolle drin, dass ich mehr dazu gewonnen habe, in meinem Leben. Und das steckt in diesem Zachäus auch drin, dieser „Verdienst“. Dieses, „du gibst mir etwas und dann lasse ich dich ziehen!“ Du musst für deinen Weg bezahlen. Wenn du weiterkommen willst, dann hast du hier etwas zu entrichten, ohne diesen Zoll, diesen Wegzoll gibt es kein Fortkommen in diesem Leben. Und wir merken und spüren, dass dieser Zöllner, dieser Oberste der Zöllner, auch heute noch unterwegs ist in unserem Leben. Dort, wo wir immer wieder bezahlen müssen für das, wenn es weitergehen soll. Im Beruf bezahlen wir, in der Schule bezahlen wir, im Studium bezahlen wir. Immer müssen wir Leistung geben, damit dann auf der anderen Seite wieder etwas herauskommt. Und das ist mühsam und das kostet etwas. Und es kostet so viel, dass wir heute merken und spüren, dass sich sogar ein Phänomen daraus entwickelt hat. Wir sagen Burnout dazu, wir verbrennen auf diesem Weg, weil wir zu viel geben müssen, zu viel Energie hinein stecken müssen, damit dieser feurige Wagen, den wir befahren, dass der weiter geht. Und vielleicht merken wir dann auch dieses Andere, dieses Andere, was beim Zachäus noch lebendig ist und weshalb er in der Bibel erwähnt wird, weshalb er ein Vorbild ist für die Kleinen, wie für die Großen, denn in dem Wort Zachäus steckt das hebräische Wort, zakkai, „Verdienst“ drin. Aber ein Verdienst ganz anderer Art! Schon in seinem Namen ist dem Zachäus etwas mitgegeben worden umsonst. Er hat etwas bekommen in seinen Genen, in seiner Zurüstung zum Menschsein, als Kind Gottes, in diese Welt hat er dieses Verdienst in sich, nämlich, dass er noch von seinem Ursprung weiß. Er weiß, da gibt es noch etwas anderes. Und deshalb sucht er. Und nun hört er, dieser Jesus kommt und er hat das ganz feste Gespür und Gefühl, ja der könnte es sein. Und ich habe zuvor von diesem Josua erzählt,

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Jehoshua im Hebräischen, das ist der hebräische Name für Jesus und der bedeutet, „Der Herr rettet, der Herr hilft“! Zu dem will Zachäus hin. Da spürt er, der Herr kann helfen, der Herr kann retten. Ich möchte Ausschau halten nach ihm auf meinem Lebensweg. Aus diesem Maulbeerbaum, auf den ich klettern kann und aus sicherer Entfernung Ausschau halten kann, ohne gesehen zu werden. Denn der Maulbeerbaum ist hat ein dichtes Laubwerk. Ich kann sehen, aber die anderen können mich nicht sehen. Welch toller Platz! Aus sicherer Entfernung kann er warten und schauen, aber bevor er reagieren kann, passiert schon das Andere, er wird gesehen von dem einen, der unten unterwegs ist. Der spürt nämlich von der anderen Seite her diese Sehnsucht in uns. Da, wo das Seufzen ist, da wo das Klagen ist, da, wo das Suchen ist, da ist Gott schon da. Da ist Gott schon unterwegs und er sieht mich, bevor ich mich melden kann. Das erzählt die Bibel von Anbeginn an. Deswegen ist auch Gott gekommen, um sein Volk aus der Sklaverei und Knechtschaft zu retten, weil die Bibel sagt, und Gott sagt es: „ich habe das Seufzen meines Volkes gehört!“ Deswegen schicke ich dich, Mose, damit du sie heraus führst aus dieser Knechtschaft in ein Land, das ich ihnen verheißen habe. Und diese Verheißung gilt für uns alle, damals und heute. Und diese Verheißung, die spricht Jesus dem Zachäus zu und sagt: „Komm herunter, heute, jetzt, ist diesem Hause Heil widerfahren!“ Du „altes Haus“, sagen wir scherzhaft, wenn wir uns begegnen. Mit dem Haus sind wir gemeint. Dir ist heute Heil widerfahren. Bei dir kehre ich ein und ich kehre ein, unvorbereitet. Du musst nicht saubermachen, in deinem Haus. Wir kennen das, von den Hausfrauen, da kann man erst das Haus betreten, wenn alles blitzblank ist. Wenn Besuch kommt, dann muss das Geschirr aufgeräumt sein, die Küche, die muss spiegeln. Hier ganz anders. Wer weiß, wie dieses Haus des Zöllners aussieht. Unaufgeräumt, das „Geschirr“ noch da vom Vormittag und Jesus sagt: „Es spielt keine Rolle. Ich will an deinem Tisch sein.“ „Am Tisch des Herrn!“ Da lädt Jesus uns ein, und dieser „Tisch des Herrn“ ist bei einem jeden von uns da. Tisch, schulchan aus dem Hebräischen, heißt „schicken“. Tisch, der Ort, wo etwas geschickt wird, wo etwas ausgeteilt wird, das Schicksal gerecht verteilt wird an alle. Der Ort, wo wir die Nahrung erhalten, das Brot des Lebens, um weiter zu kommen in dieser Welt. Auch heute! Jeden Gottesdienst, in der Regel, sind wir eingeladen an den Tisch des Herrn, wieder die Nahrung zu bekommen, das Manna, das Brot des Lebens, um den Weg fortzusetzen, auf dem wir uns befinden. Aber auch das Andere aus dieser Geschichte zu erleben, bei dir diesen „Zachäus“ zu bemerken und zu entdecken, im Verborgenen, und noch einmal die Zusage und Vergewisserung zu erhalten, auch bei mir ist er lebendig, er ist da, der die Sehnsucht trägt, die Sehnsucht nach dem Herrn auf diesem Weg. Jesus ist da, auch bei dir in deinem Haus, schau dich um, lass dich ansprechen, lass dich einladen, lass dir austeilen das, was du brauchst, Nahrung zum Leben, damit du weitergehen kannst. Und dann, dann geschieht die Verwandlung von ganz von allein. Und nun weiß dieser Zachäus, was er tun muss. Von innen her, aus seiner Verwandlung heraus weiß er, jetzt gebe ich, ohne zu fragen. Jetzt gebe ich zurück. Jetzt sehe ich deutlich die Menschen, die was brauchen. Ich bin ein Anderer geworden. Aus diesem Anderssein, aus diesem Zurückgekommensein in sein eigenes „Haus“, in sein eigenes Leben. Ein Haus, in das Jesus ja jeden hinein führen will, das Haus beim Vater. Dann bin ich der, der ich immer schon war, Kind Gottes. Dann brauche ich keine Ethikanweisung mehr von draußen, dann bin ich so, wie ich bin, schon recht. Recht gemacht, zu recht gerückt, erlöst, von Gott her und dann geht es wie von selbst. Ich wünsche uns allen, dass wir diesem Zachäus neu begegnen bei uns, ihn auch groß und anders werden lassen, damit auch wir groß und anders werden und dann als Kinder Gottes getrost weiter gehen, weil wir wissen, wir sind nicht allein, wir sind begleitet. Der Herr, der rettet, ist immer an unserer Seite, Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: So. 02.09.2012 in: St. Thomas - Kriegshaber Tondatei: DS400812

weitere Predigten von Heinz D. Müller www.pfarrer-mueller.de

Zachäus Lk 19, 1-10 Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören. Amen. Liebe Gemeinde, vielleicht ist es Ihnen zuvor aufgefallen - ich sehe auch ein bisschen in die Richtung der Konfirmanden, die ja den Gottesdienst mit ganz anderen Ohren hören, - ob sie diesen Zusammenhang entdeckt haben, dass wir den Satz aus der Evangelium-Lesung von dem Zöllner: „Gott sei mir Sünder gnädig“, gleich zu Beginn des Gottesdienstes im Sündenbekenntnis selber schon gesprochen haben. Dort kommt auch dieser Satz vor: Gott sei mir Sünder gnädig! Wir als Gemeinde sprechen also etwas nach von diesem Zöllner aus unserer Geschichte, wo Pharisäer und Zöllner im Tempel beieinander sind. Und gleich sollten wir uns fragen: Ja hat denn dieser Zöllner etwas mit uns zu tun? Wenn auch wir diese Worte vermutlich jeden Sonntag sprechen? Ich möchte uns heute an diesen Zöllner noch etwas näher heranführen, indem ich Ihnen die zweite Geschichte erzähle, die auch bei Lukas, kurz nach dieser Erzählung, uns überliefert ist.

Foto: 'Zachäus', Sieger Köder

Und Jesus ging nach Jericho hinein und zog hindurch. Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. Und

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er begehrte Jesus zu sehen, wer er wäre. Er konnte es nicht wegen der Menge, denn er war klein von Gestalt. Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum um ihn zu sehen, denn dort sollte er durchkommen. Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: „Zachäus, steig eilend herunter, denn ich muss heute in deinem Hause einkehren. Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt! Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: „Siehe Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es ihm vierfach zurück.“ Jesus aber sprach zu ihm: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn. Denn der Menschensohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ Diese Geschichte von Zachäus, ist sehr bekannt. Wir alle kennen sie, vielleicht sogar noch aus den früheren Tagen, aus unserer Kindergottesdienstzeit. Warum ist sie denn so populär, gerade bei Kindern? Der Text hilft uns das heraus zu finden denn er sagt, dieser Zachäus war klein von Gestalt. Das heißt, die kleinen Kinder können sich identifizieren, sind mit diesem Zachäus auf Augenhöhe und sagen, er ist ja einer von uns. Und wenn dann zu diesem Zachäus noch Jesus kommt und ihn sieht, dann freuen sich die Kinder indem sie richtig weiter denken, dann kommt er sicher auch zu mir. Und diese Gedanken Verbindung ist vollkommen richtig. Aber dieser Zachäus ist nicht nur wer für kleine Leute. Er sitzt vermutlich, im Bild gesprochen, auch bei uns selber auf dem Maulbeerbaum, ganz versteckt und man muss schon ganz genau hinsehen, um ihn zu entdecken. Ich hatte neulich ein Gespräch mit einem jungen Mann. Ein sehr persönliches Gespräch. Und wie die vielen jungen Menschen heutzutage, war er ein hochgewachsener, ein Baum von einem Kerl, größer noch als ich. Er erzählt mir von seinem Leben und wie er sich selber sieht. Und dann sagt er: „Weißt du was, manchmal fühle ich mich so klein mit Hut.“ Wir merken an dieser Aussage, dass Kleinsein nichts mit körperlicher Größe zu tun hat. Dieses Kleinsein ist, wie wir uns selber sehen, wie uns die Welt vielleicht einen Spiegel vorhält und uns immer wieder einzureden versucht: Das kannst du nicht, dafür bist du noch zu klein, zu dumm dazu, wie auch immer diese Worte manchmal gelautet haben, die sich aber bei uns eingeprägt haben. Und dann ist unser Körper in die Höhe gewachsen, aber etwas anderes ist nicht mitgewachsen, das Selbstvertrauen - so wie ich mich selber sehe und empfinde. Und wir spüren schon an dieser Stelle, wie wichtig diese Geschichte aus der Bibel ist, aus dem Wort Gottes, das doch immer gelten möchte, nicht nur damals, irgendwo zu Zeiten Jerichos, sondern auch heute, wo Menschen sich verstecken, aus welchen Gründen auch immer, damit sie nicht gesehen werden, weil sie Scham empfinden, weil sie sich nicht unter die Leute trauen, weil sie meinen, die Anderen würden meine Einsamkeit schon an der Stirn mir ablesen, deswegen gehe ich gleich gar nicht in die Menge, sondern bleib auf diesem Baum, diesem Maulbeerbaum, der deswegen so bekannt und berühmt, weil er so ein starkes Blätterwerk hat, dass man, wenn man mal drinsitzt, von draußen gar nicht mehr gesehen werden kann. Aber auch das hilft nichts, denn der Schlusssatz unserer Erzählung heute ist ja der: Gott sucht und Gott findet! Und ob wir nun in dieser Kirche sind, oder nicht sind, er ist unterwegs und er sucht den Menschen, aber welchen Menschen sucht er? Diesen Zachäus, das ist das Beispiel. Was können wir lernen von diesem Zachäus? Als Zöllner wird er uns vorgestellt. Zöllner im Auftrag der Römer, dort aufgestellt, an den Straßen, wo man hindurch ziehen muss. Und dann stehen sie da, die Zöllner und halten die Hand auf und man muss zahlen, wenn man weiterkommen will. Man muss seinen Obulus entrichten, damit man seinen Weg weitergehen kann in dieser Welt. Das ist der Zöllner, der uns etwas abverlangt. Wo du etwas zahlen musst, wenn du weiterkommen willst. Du musst lernen, in der Schule gut sein, damit du weiter kommst im Leben. Da sind die Zöllner schon zu

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Hause. Schon bei uns, immer wieder etwas abverlangen und wo wir zahlen müssen. „Nichts ist umsonst“, diesen Satz haben wir doch schon so oft gehört und wenn wir alt geworden sind in diesem Leben, dann wissen wir, wie sehr er sich bewahrheitet hat. Überall spielt das Geld eine Rolle und wir merken, wie wir in dieser Knechtschaft, in dieser Gewalt dieses Geldes und dieses Geldumlaufes eigentlich verstrickt, verhangen sind. Der Zöllner – auch heute lebt er und ist aktiv und ist da. Das ist die eine Seite, die Schattenseite, möchte ich fast sagen, von diesem Zöllner. Aber warum dann, um alles in der Welt, sollen wir uns an ihm ein Beispiel nehmen? Warum sprechen wir seine Worte nach, am Beginn unseres Gottesdienstes? Warum kommt Jesus gerade zu ihm? Da könnte uns das Wort Gottes weiter helfen. Aus dem Hebräischen, der Sprache der Bibel, da ist die Spur gelegt, da heißt dieses Wort „zakkai“, von dem Zachäus kommt, das ist jemand, der ein Verdienst mitbekommen hat. Ein Verdienst ganz anderer Art. Nicht selber verdient, sondern verdient, indem er es geschenkt bekommen hat, ausgerüstet ist mit einer Fähigkeit. Diese Fähigkeit gilt es wieder zu entdecken. Das „Verdienst“, diese Fähigkeit des Zachäus ist, dass er eine Hoffnung, ein Verlangen, eine Sehnsucht in sich spürt, Rettung ist auf dem Weg, nach ihr will ich Ausschau halten, wenn auch aus sicherer Distanz heraus, man kann ja nie wissen. So manche Versuche in meinem Leben, aus diesem Teufelskreis heraus zu kommen, die haben nicht gefruchtet. Aber da kommt dieser Eine, den möchte ich sehen. Zachäus spürt, das ist die Richtung, die in die richtige Richtung führt. Das ist „sein Verdienst“, dass diese Sehnsucht in ihm lebendig ist. Diese Sehnsucht, es könnte doch ganz anders auch gehen. Es muss nicht immer nach den Gesetzmäßigkeiten dieser Welt laufen, dass ich meine Hand aufhalte, der Andere gibt etwas hinein, dann wird ein Vertrag geschlossen, aber man bleibt auf Distanz. Man macht ein Geschäft, man begegnet sich nicht als Mensch. Das ist dieser Zachäus, die gute Seite in ihm, die ich heute auch für uns wieder heben möchte, damit wir sie vielleicht auch bei uns selber wieder spüren und erspüren, diese Sehnsucht nach Hilfe und nach Rettung. Da ist doch jemand da, der sucht und sucht vielleicht auch mich. Und dann wird dieser Ort genannt, durch den Jesus geht – Jericho! Auch da sollte es klingeln bei uns, denn dieser Ort, der hat ja eine ganz besondere Bedeutung gehabt im Alten Testament. Nach dem Durchzug durch die Wüste, nach 40 Jahre kommt dieses Volk an den Jordan und am anderen Ufer beginnt das gelobte Land, Kanaan, in das sie hinein ziehen mit Josua, der das Volk anführt. Jehoschua heißt er im Hebräischen, das ist der hebräische Name für Jesus. Jehoschua, übersetzt, der Herr rettet, der Herr hilft. Er geht voran! Und dann kommen sie an diese Stadt Jericho. Und auch da wieder hilft uns das hebräische Wort, diesen Ort zu erschließen und zu begreifen, was dort geschieht. Im Wort Jericho steckt nämlich das Wort jerach, Geruch drin und jarech, das ist der Mond. Die Mondstadt! Jericho, die Mondstadt, was könnte das bedeuten? Was hat das mit dem Geruch zu tun? Nun, wir wissen alle, wie Geruch sich schnell verflüchtigt. Kurz ist er da und dann schon wieder weg. Der Geruch ist ein Ausdruck auch von der Kurzlebigkeit des Augenblickes und der Zeit. Und der Mond der symbolisiert ja auch dieses Gehen und Vergehen. Er ist mal ganz da und dann nur viertel, dann nur halb und dann dreiviertel und dann ganz weg und dann beginnt der Zyklus mit dem vollen Mond aufs Neue. Der Mond steht für unsere Monate und für das Jahr, ist das Sinnbild der Zeit. Werden und Vergehen, das symbolisiert der Mond. Und in dieser Mondstadt findet diese Geschichte statt. Dort, wo es finster ist, dort wo wir Menschen uns ausgesetzt sehen, dies erleben, da geht etwas zu Ende. Wo sie vielleicht auch daran verzweifeln, dass sie sagen, wie in einem Hamsterrad fühlen wir uns, immer wieder das Gleiche. Ist denn da kein Herauskommen aus diesem Rad der Zeit? Sollte das Leben alles gewesen sein, Werden und Vergehen? Ist denn das nicht zu wenig?

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Das sind die Fragen, die sich die Menschen in diesem Jericho stellen und an denen sie vielleicht auch verzweifeln. Und in dieser Mondstadt, durch die zieht nun dieser Eine hindurch. Wir singen das Lied dann anschließend gleich, „Sonne der Gerechtigkeit“ – Jesus ist damit gemeint, er die Sonne, das ganz Andere. Er ist das Leben. Er steht für das Leben auch jenseits von diesem Werden und Vergehen. Er erzählt uns doch: „Ihr seid aufgehoben in Ewigkeit!“ Eine ganz andere Zeit ist mit ihm angebrochen und uns zugesagt. Und nun spüren wir vielleicht, was uns dieser Zachäus sagen kann. Der in diesem Jericho lebt und dieses Gefühl in sich hat, da muss es doch noch mehr geben, noch mehr geben als Werden und Vergehen, da muss es doch dieses ganze Leben geben, das Leben hier und in der anderen Welt, das ewige Leben. Aber wie komme ich dort hin? Er kommt dort hin, weil er dieses Verdienst in sich hat, diese Sehnsucht, dem Einen zu begegnen, der doch das Leben ist, der die Wahrheit ist. Und, der sieht ihn – und der sieht ihn in seiner Verborgenheit, in seinem Versteck und sagt zu ihm: „Komm herunter, heute, jetzt, ist der Augenblick und ich kehre ein bei dir und nehme Platz an deinem Tisch in deinem Haus.“ Auch da wieder können wir dieses Bildwort ruhig ganz persönlich nehmen, denn wenn wir uns begegnen, begegnen wir uns doch auch oftmals mit diesem Gruß: „Na, du altes Haus, schon lange nicht mehr gesehen.“ Wir sind dieses Haus! Gott kommt und will Wohnung nehmen bei dir an deinem Tisch. Nun, dieser Tisch, ist der Ort, den wir kennen, wenn wir das Heilige Mahl feiern am Altar. Wenn wir kommen und ausgeteilt wird das Brot des Lebens, wo unsere Not gestillt wird, wo uns Mut gemacht wird, weiter zu gehen, wo uns gesagt wird, wer wir sind, nämlich Kinder Gottes, nämlich die, die ausgerüstet sind mit einem tiefen Wissen, da ist doch mehr. Wir müssen es nur immer wieder erleben und erfahren an uns selber, in uns selber, dass das Wort Gottes lebendig ist, uns dies erzählen möchte, uns aufrichten möchte von innen her. Und dort, an diesem Tisch, passiert dann dieses Austeilen des Schicksals. Von dort dann werden wir geschickt, wieder hinein ins Leben. Damit wir weiter gehen können, damit wir mehr erfahren, aber dann in einer anderen Haltung. In dieser Haltung die ich zu Beginn dieses Gottesdienstes uns zugerufen habe, fröhlich zu sein, aufgerichtet zu sein, mit dem Wissen und der Hoffnung, Überraschung ist da und wir bekommen sie umsonst. Das ist die Gnade. Da gibt es kein Hand aufhalten, wo wir Gott etwas geben müssten, damit wir etwas bekommen. Nein, er gibt zuerst. Da hat das endlich aufgehört, dieses Spiel, das gespielt worden ist in diesem Lande Kanaan, das heißt nämlich das Land der Kaufleute. Die Kanaaniter sind die Kaufleute. Gibst du mir was, kriegst du was von mir, so läuft das Spiel. Doch nun nicht mehr, Geben zuerst, umsonst, nicht darüber nachdenken, was dabei heraus kommt, großzügig sein, lieben und nicht fragen, bekomme ich dann wieder etwas zurück? Das ist nicht die Frage. Dann erlebt man die Liebe auch nicht richtig. Und dies Neue erlebt dieser Zachäus in der Begegnung mit Jesus, der neuen Sonne. Und weil das in diesem Hause geschieht und weil Jesus da unterwegs ist, können auch wir, glaube ich, ganz erwartungsvoll Ausschau halten bei uns selber.

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Durch welche Straße kommt er denn bei mir? Wird er mich entdecken in meinem Maulbeerbaum und wird er mich ansprechen, dann, endlich mich erlösen aus dieser Einsamkeit, aus dieser Erhöhung, keinen Kontakt zum Boden der Wirklichkeit mehr zu haben. Jesus sagt: „Komm runter, nimm dieses Leben wie es ist.“ Und auf einmal merkt Zachäus, wie leicht ihm alles fällt. Ganz wie von selbst, von dort her, kann Zachäus alles richtig machen. Er gibt umsonst weiter, er ist fröhlich, er ist offen für das Leben, das nun wirklich bei ihm Gast geworden ist. Amen

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: DiA. 04.09.2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400813

weitere Predigten von Heinz D. Müller www.pfarrer-mueller.de

Neue Kapelle-Licht-Stein

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören. Amen. Liebe Schwestern und Brüder, ich weiß nicht, ob es Ihnen bewusst ist, dass wir jetzt hier in einer Kapelle zusammen sind, die frisch renoviert worden ist. Über viele Monate hinweg war hier eine Künstlerin am Werk um all dieses hier, was Sie sehen, neu aufzubessern, etwas anders zu arrangieren und diese Kapelle nun wieder an die Besucherinnen und Besuchern zu übergeben. So ein Raum, so ein großer Raum, in einem Krankenhaus ist etwas Besonderes. Auch besonders, dass dieser Raum nie abgeschlossen ist. Jederzeit können Menschen hierher kommen, können hier Ruhe finden, können ihre Gedanken schweifen lassen, können diese Gedanken auch zum Kreuz, zu Gott, hin bringen, je nachdem, welchen Weg diese Menschen zurück gelegt haben bisher. Oder sie können eine Kerze anzünden und in ein stilles Gebet hier treten. So wird dieser Raum hier lebendig durch die Menschen, die herkommen, ihr Schicksal hier hinein bringen und danach dann wieder etwas von hier mitnehmen, was sie hier erfahren haben, um dann in das Leben wieder zurück zu kehren. So ein Raum, eine Kapelle, ist ein besonderer Ort. Und dieser Raum spricht auch zu uns. Das, was sie hier sehen, all das ist eine Botschaft, die sich an uns

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wendet, ob wir es nun wahrhaben wollen oder nicht. Und, so meine ich, dass die Botschaften hier in diesem Raum uns auch etwas von der Bibel nahebringen. Indem sie Geschichten aus der Bibel aufgreift, oder an sie erinnert, ob der Künstler das bewusst machte sei dahin gestellt. Vielleicht hat er intuitiv, aus seinem Gespür heraus, sein Werk so hier eingebracht, wie wir es jetzt sehen. Ich möchte mit Ihnen einen kleinen Weg in dieser neuen Kapelle wagen und Ihnen ein paar Dinge aufzeigen, die mir wichtig geworden sind und Ihnen vielleicht auch schon aufgefallen sind, als Sie diesen Raum betreten haben. Das erste, was mir auffällt, gerade am Abend, ist das Licht der vielen Lampen. Wenn wir den Blick erheben, dann sehen wir sie. Ich habe zuvor noch mal gezählt, 110 Lampen hängen hier, zwischen Himmel und Erde sozusagen, in diesem Raum. Ich wüsste keine andere Kapelle, die so viele Lichter uns anbietet und uns diese Lichter vorhält. Und dann, wenn Sie genau hinsehen, merken Sie, dass diese Lampen einen silbernen Streifen haben. Das Licht leuchtet und spiegelt sich in diesem silbernen Reifen der nächsten Birne. Silber ist die Farbe, die für den Mond steht. Und zuvor haben wir dieses Lied ja gesungen: „Der Mond ist aufgegangen“. Das ist die Einladung zum weiter Sinnen, die uns die Lampen hier anbieten, denk an den Mond, der da ist, der besungen wird, er birgt ein Geheimnis. Auch er empfängt sein Licht von woanders her. Der Mond ist das Zeichen am Himmel auch, das sich ständig verändert. Die Sonne, die bleibt. Sie verschwindet zwar am Abend, aber sie taucht wieder auf, am neuen Tag, in der gleichen Gestalt und die Sonne strahlt. Aber der Mond verändert sich. Für unsere Augen zumindest. Wir sehen den vollen Mond und dann nimmt er ab und mehr ab und irgendwann einmal ist er gar nicht mehr zu sehen und wir beginnen uns zu fragen, wo ist er geblieben? Und dann kommt er langsam wieder, die Sichel zeigt sich und der Mond nimmt zu. Und wir lernen in der Schule, wie wir das ablesen können, die Phasen des Mondes. Der Mond ist das Zeichen der Zeit. Die Zeit, die sich verändert, ein Zeichen auch für unser Leben, das irgendwann einmal auch abnehmen wird, die Fülle der Jahre, sie werden weniger und wir stellen uns dann auch diese Frage: Wo geht es denn hin? Soll denn das der Lauf des Lebens sein, immer wieder das Gleiche, einmal ist es ganz und dann verschwindet es. Ist das das Rad der Zeit, das immer eine Gleichförmigkeit uns vorhält? Sollte es nicht etwas Anderes auch noch geben? Das ist die Frage, die den Menschen bewegt, der in einer Klinik diesen Raum hier aufsucht, weil er bei sich selber, durch das Schicksal, durch seine Krankheit, auch dieses Gespür hat, etwas geht weg, ich verliere etwas. Und wir beschäftigen uns ja auch, in den Zeiten der Krankheit, mit der Frage: mir fehlt etwas. Und dies begegnet uns wieder, wenn wir in diesen Raum kommen, in diese Kapelle, und die Silberstreifen an den Lichtkörpern deuten, ein sehr ehrliches Zeichen, das hier aufgenommen wird und sagt: Ja, so ist es! Der Mond ist aufgegangen, das Vergängliche ist da, und wir sehen ihn auch immer wieder vergehen wobei die Frage an uns nagt: Wo geht es hin? Doch das Lied, das wir gesungen haben, geht ja weiter, hilft uns noch tiefer zu sehen, weil das Lied sagt, unser Auge kann nicht alles sehen, nicht alles begreifen, etwas bleibt verborgen. Diese Verborgenheit, die leuchtet dann, hinter diesem Silbernen hervor, das Licht. Die Sonne ist auch da. Wir besingen sie in anderen Liedern: z.B. „Die Sonne der Gerechtigkeit“, die aufgehen mag in dieser Zeit. Die da ist, die das Vollkommene uns auch vor Augen hält und sagt, das Eine, das Ganze, Volle, da ist. Seit Alters her verbinden wir Jesus auch mit dieser Sonne. Ja, das Kreuz, wie wir sagen, das Vergängliche, worunter wir leiden ist da, aber sieh doch auch das Andere, das Licht, das Vollkommene, die Auferstehung. Wo dann all das vollkommen und ganz ist, was wir im Moment nur halb sehen können. Ich komme zur zweiten Begegnung mit dem Licht. Das wir am Morgen während der Gottesdienste erleben können. Ein Grund auch weshalb wir hier so angeordnet sitzen. Die Gemeinde blickt über den Altar hinaus auf diesen weißen Vorhang hinter mir.

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Hinter diesem verschleiernden Vorhang geht die Sonne auf und zeigt uns diese andere Wirklichkeit, die wir noch nicht voll und ganz sehen können. Etwas ist noch davor. Wir können hier in dieser Welt nicht das Ganze sehen. Und deswegen bewegen wir uns auch in dieser Welt in dieser Grundhaltung des Glaubens. Ein Glaube, der sagt: Ich möchte über den Horizont dieser Welt hinaus schauen. Auch wenn es mir schwerfällt, ich möchte da dran bleiben. Dieses: „Dennoch glaube ich es, dennoch wage ich es“. Diesen Schritt, auch auf diesem Boden, auf dem wir uns bewegen und der so dunkel ist, wie in unserer Kapelle, und düster, wie manchmal sich auch unser Lebensweg anfühlt. Ich weiß es nicht, wohin es gehen soll. So wagen wir uns Schritt für Schritt durch dieses Leben. Und hier in diesem Bereich, im Zentrum der Kapelle, in der Mitte dieses Weges sehen wir diese Erhebung, dieses Neue, was neu hinzugekommen ist in dieser Kapelle, diese Erhebung aus Beton, auf dem der Altar und der Pfarrer dann eben steht, wenn er den Gottesdienst hält. Auch diese Erhebung, ist ein künstlerisches Element, nicht nur um einfach den Holzfußboden durch ein anderes Material abzugrenzen, damit man merkt, hier ist etwas anderes. Das wäre die einfache Erklärung. Aber ich denke, da steckt mehr dahinter. Ich möchte, diese Betonplatte, die an einen Steinboden erinnert, mit einer Geschichte aus der Bibel in Verbindung bringen, die mir sehr wichtig ist. Wir alle haben sie vielleicht einmal gehört. Im Alten Testament wird erzählt von den beiden Zwillingsbrüdern, Esau und dem Jakob, die um den Segen des Vaters streiten. Jakob ist der Schlauere, sagen wir mal und er bekommt den Segen nur durch eine List, aber dann muss er Reißaus nehmen, weil er sich vor seinem Bruder fürchtet. Er macht sich auf, so erzählt es die Bibel, nach Beerscheba und auf dem Weg dorthin wird er müde. Es wird Nacht. Jakob nimmt einen Stein, legt ihn zu seinem Haupte und schläft auf diesem Stein ein. In der Nacht hat er einen Traum und er sieht eine Leiter, die Himmel und Erde verbindet und Engel steigen auf dieser Leiter auf und nieder. Er erkennt, hier ist heiliger Boden. Hier ist die Verbindung zwischen Himmel und Erde, da ist keine Trennung mehr da, beide gehören zueinander. Welch wundervolle Erinnerung! In jedem Gottesdienst inmitten dieser Düsterheit und Schwärze des Bodens einen Ort zu haben und wo wir sagen können, gerade da, gerade dort, wo du dich verfolgt fühlst, wo du nicht mehr weiter weißt, wo du verzweifelt bist, wo du dich in den Schlaf legst und der Schlaf, so sagt es ja auch Siegmund Freud, ein kleiner Tod ist, dort, wo du dich schon fast sterbend erlebst, mit einem Mal, auf diesem Stein, erkennst du, Himmel und Erde haben eine Verbindung. Sie sind nicht getrennt. Es geht weiter sozusagen. Wir sehen nur die eine Hälfte, aber da ist das Ganze, das Vollkommene, es ist doch da, glaube, vertraue, von dort her. Und nun wird es aber wirklich spannend, denn das alte Testament, die hebräische Sprache hilft uns, dieses Wort „Stein“ besser zu verstehen. Aus dem Hebräischen ist es zusammen gesetzt aus zwei Worten, nämlich aus dem Wort für „Vater“ und für „Sohn“. Even so der Name im Hebräischen für Stein, ist zusammen gesetzt aus den beiden hebräischen Worten für Vater und Sohn. Vater und Sohn in einem, dafür steht dieser Stein. Und wir denken immer, es sind verschiedene oder zwei und wir versuchen immer wieder, das zueinander zu bringen und das, was uns der Glaube, was uns die Bibel immer wieder sagt: Gott ist Einer! In Jesus kommt er zu uns, aber es bleibt Gott. Er ist Gott, er ist Einer. Nur wir hier auf dieser Welt, wir erleben das immer wieder getrennt, immer wieder anders und wir ringen dann mit diesem Problem. Und so merken wir, wie dieser Raum auf einmal zu sprechen beginnt. Wie diese Elemente hier in diesem Raum ihre Geschichte haben und dass diese Geschichten mit der Bibel zusammen zu bringen sind. Und dann spüren wir etwas mehr Sicherheit, wenn wir in diesen Raum kommen und sind vielleicht dankbar für das, was die Künstler für uns tun, dass sie sozusagen eine Übersetzung uns anbieten mit dem, was sie uns zeigen, in ihrer Sprache, in ihren „Worten“, in der Kunst erzählen

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sie uns Geschichten von Himmel und Erde, sie erzählen uns Geschichten, wie reich und wie tief und wie wunderbar doch diese Welt, die Schöpfung ist. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: DoA. 06.09.2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400814

weitere Predigten von Heinz D. Müller www.pfarrer-mueller.de

Hebr. 10,19-21- Vorhang

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören. Amen. Liebe Schwestern und Brüder, wenn ich Ihnen sage, dass auch Räume eine Botschaft haben und zu uns sprechen, wie wird das bei Ihnen ankommen? Dieses Jahr war ich auf einer griechischen Insel und besuchte dort einige Kirchen. Dabei fiel mir auf, die Kirchenräume dort sind allesamt malerisch ausgefüllt, mit lauter Szenen aus der Bibel. Da gibt es bald keinen weißen Fleck mehr auf den Wänden. Übervoll sind sie bemalt mit Heiligengeschichten, Legenden und vor allem mit Szenen aus der Bibel. Dort ist es offensichtlich, dass die Kirchen-Räume sprechen, zu denen, die dort hingehen, diesen Raum aufsuchen und sich dann von den Geschichten mitnehmen lassen und dabei entdecken, was diese Geschichten mit ihrem eigenen Leben zu tun haben. Nun, wenn ich Sie einlade, diesen Raum hier, unsere neue renovierte Kapelle, anzusehen, dann werden Sie sagen: Erst einmal fällt mir auf, dass diese Wände überhaupt nicht bunt bemalt sind. Sie haben eher eine dezente Farbe. Aber auch sie sind gestaltet von einer Künstlerin und nicht einfach vom Maler angemalt. Die Künstlerin hat einen warmen Ton für die Wände gewählt, der uns

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etwas erdiges vorhält, uns erinnert an diese Welt und diese Wirklichkeit der Erde. Aber das ist nur das Eine. Ich möchte erst einmal Ihre ganze Aufmerksamkeit auf ein Kunstwerk lenken, das sich Ihnen gegenüber befindet. Das Erste, was Ihnen auffallen wird, der Vorhang ist so schlicht, wie die Wand von vorhin und dennoch handelt es sich auch hier um ein Kunstwerk, das Prof. Heppich ein bekannter Künstler aus Nürnberg, speziell für diese Kapelle angefertigt hat. So einfach und so bescheiden dieser Vorhang auch sein mag, spielt er doch eine besondere Rolle. In der Bibel kommt der Begriff Vorhang 38-mal vor, vor allem im Alten Testament, aber auch später, im Neuen Testament, hat er eine Bedeutung an zentraler Stelle. Zunächst begegnet uns der Vorhang bei der Anfertigung der Stiftshütte. Die Stiftshütte die die Bundeslade beherbergt. Auf dem Weg durch die Wüste zieht die Stiftshütte mit dem Volk Gottes, sie ist Begegnungsort mit dem Heiligen, mit Gott und in dieser Stiftshütte ist der Vorhang die Trennwand zum Allerheiligsten. Jenseits des Vorhanges steht nämlich die Bundeslade, die Gottes Gegenwart repräsentiert. Der Mensch ist von dem Allerheiligsten zunächst getrennt, bleibt davor stehen. Und wir kennen das von unserer Sprache, wenn wir vom Profanen reden, damit meinen wir den weltlichen Bereich vor diesem Fanum, dem Heiligen. Die Bibel erzählt damit keine Abgrenzung oder Ausgrenzung, vielmehr schwingt hier Ehrfurcht vor dem Heiligen mit und das tiefe Wissen, dass die Wirklichkeit Gottes von dieser Seite der Wirklichkeit aus einfach zu groß ist, um begriffen zu werden. Wir haben dieses Wortspiel vom Heiligen und Profanen heute nicht mehr so präsent für uns. Aber dass Menschen auch immer wieder etwas jenseits von unserer Wirklichkeit geahnt haben, gewusst haben, dran geglaubt haben, das ist mir auf meiner Reise nach Irland noch mal deutlich geworden. Die Kelten dort, ein geheimnisvoller alter Volksstamm, der hatte etwas gewusst von dieser Anderswelt, wie sie das nennen, die Welt jenseits unseerer Verstandesgrenze. Und diese Anderswelt, ist getrennt durch eine „dünne Zeit“, so sagen sie es. Sie ist uns ganz nah und doch getrennt. Doch ich kann ihr begegnen, wenn ich hinausgehe in die Natur und einen Stein umwende, dann sagen sie, kann es geschehen, dass ein Engel hervorkommt und wegfliegt. So nah ist uns diese andere Wirklichkeit, diese Anderswelt. Wenn, so müssten wir sagen, wir nur diese Augen hätten. Wenn wir nur diesen Glauben hätten und die Gewissheit, dass wir nicht allein sind, abgesondert, nur in dieser Wirklichkeit gefangen. Nein, es gibt eine Wirklichkeit, die größer ist als die wahrnehmbare, die uns umfängt und die uns ganz nahe ist. Manchmal so nahe, wie nur durch einen dünnen Vorhang von uns getrennt. Und, wenn ich die Augen des Glaubens habe, kann ich hindurch sehen, in diese andere Wirklichkeit. Jeder, der in diesen Gottesdienstraum kommt, der hat diesen Vorhang vor sich. Die Seele nimmt das auf, unser Verstand sieht zunächst vielleicht etwas Nützliches, sieht vielleicht nur eine Abdeckung, sieht nur einen Schutz, damit die Sonne uns nicht zu sehr blendet. So besehen hätte der Vorhang dann nur eine Funktion. Aber ich habe gelernt, dass es in Gottesdiensträumen selten nur Funktionales gibt. Alles, oder das Meiste, hat eine Bedeutung. Möchte uns weiter führen, tiefer führen, möchte uns den Horizont erweitern. Jedes Kunstelement hier in dieser Kapelle spricht eine Sprache und wenn wir nur genau hinschauen, lauschen und spüren, dann können wir das entdecken. Auch im Neuen Testament begegnen wir dem Vorhang. Dort, wo Jesus am Kreuz stirbt. Da lesen wir bei allen drei Evangelisten. Und der Vorhang im Tempel zerriss, von oben nach unten. Ein Riss nicht von unten nach oben, sondern, von oben nach unten. Der Blick wird frei gemacht zwischen Himmel und Erde. Keine Trennung mehr zu dieser ganz anderen Wirklichkeit. Da ist jetzt

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dieser Zugang da. Und der Hebräer-Brief der nimmt das auf, diesen Zugang und sagt, Jesus ist der, der nun diesen Weg von dieser Welt durch den Vorhang in diese andere Welt uns zeigt. Da ist nichts mehr verhangen, da ist nichts mehr verstellt, jetzt ist der Weg mit ihm und durch ihn frei. Und er ist der Erste, der den Weg in diese andere Wirklichkeit auch geht und wiederkommt, wie es Johannes sagt (Joh. 14). Im Hebräerbrief ,10. Kapitel, steht: Weil wir denn nun liebe Brüder durch das Blut Jesu die Freiheit haben zum Eingang in das Heiligtum, den er uns aufgetan hat als neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das ist das Opfer seines Lebens. Deswegen der Riss von oben nach unten. Gott schafft diesen Durchbruch. Gott ist es, der der Handelnde ist. Der uns diesen Weg zeigt uns die ganze Wirklichkeit aufschließt. Damit wir nicht getrennt sind, im Profanen, nicht wissen, was im Allerheiligsten ist. So groß ist seine Liebe zu uns, diese Sehnsucht, die immer wieder von oben nach unten kommt und uns auch hilft, den Weg von hier nach dort zu finden. Und jetzt könnten wir vielleicht auch spüren, was es bedeutet, da zu sitzen, wo Sie sitzen, da zu stehen, wo ich jetzt stehe und dann zu sehen, diese andere Wirklichkeit, die ist uns so nah. Die lockt uns, die durchscheint, die uns tröstet von der anderen Seite und sagt: Schau, blauer Himmel, schau, die Sonne geht auf. All das, auch wenn es für dich noch verhangen ist, noch nicht ganz deutlich ist. Aber im Glauben, in der Hoffnung, hast du schon jetzt einen Zugang, lass dich ziehen, komm und begegne mir, der Weg, der ist frei. Amen.

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Bibel erleben

Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller

Christus Ikone -Psalm 4,7

Tonscript: Inge Gronau

Liebe Schwestern und Brüder, ich möchte heute Abend über einen Satz nachdenken, aus Psalm 4,7 in unserer Bibel: Herr, lass leuchten über uns das Licht deines Antlitzes.

gehalten am: DoA. 11.10.2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400815

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Seit ein paar Monaten erstrahlt die Kapelle hier im Klinikum im neuen Licht. Über viele Monate ist hier gearbeitet worden, um diesem Raum wieder seine alte und neue Frische zurück zu geben. Und dabei habe ich gemerkt, dass in diesem Raum Orte sind, die es wert sind, entdeckt zu werden. Die es wert sind, ihnen wieder nahe zu kommen, um zu entdecken, was uns dieser Raum auch erzählen kann, von der Kunst her, die hier zu sehen ist. Heute Abend möchte ich mit Ihnen in eine kleine Nische in unserer Kapelle gehen. Wenn man durch die eine Türe herein kommt, dann befindet sie sich gleich um die Ecke. Man muss sie wirklich erst entdecken, um darin auch dies zu finden, eine Dach-Ziegel mit dem Antlitz Jesu darauf gemalt. Die „Dach-Ziegel“ ist eine Ikone und ich finde es bemerkenswert, dass der Maler und Künstler gerade eine Schindel, die für ein Dach normalerweise bestimmt ist, als Grundlage genommen hat, um darauf das Antlitz Christi zu malen.

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In dieser Nische, kann man dem Antlitz Christi begegnen, man kann es ansehen und kann sich von dem Antlitz Christi auch ansehen lassen, man kann in Beziehung zu diesem Antlitz treten, bei sich all das benennen, was einem auf dem Herzen liegt und sich dabei unter Gottes Augen empfinden. Wie geht es einem Menschen, der das Antlitz Gottes aufsucht? Ich erinnere an das zu Beginn gehörte Psalm Wort: „Herr, lass leuchten über uns das Licht deines Antlitzes!“ Dies Licht, das stelle ich mir warm vor, das stelle ich mir aufmunternd vor, das ist wie ein Mantel, der mich umgibt, mit all meiner Gebrochenheit, in all meiner Scham, in all meiner Suche. Wo ich mich wärmen lassen kann, von diesem Licht, das mir begegnet. Aber noch viel mehr, denke ich, ist uns mit diesem Kunstwerk mitgegeben, wenn wir ihm nur tief genug nachgehen. Denn diese Schindel, die befindet sich ja auf dem Dach des Hauses, dort ist ihr Ort. Das Haus, ein großes Symbol Bild in unserer Bibel, im Psalm 23 begegnet es uns, dass wir aufgehoben sind im Hause des Herrn immerdar. Denn dieser lange Weg, den wir zurück legen in diesem Leben, so hoffen wir doch, dass der doch wieder dorthin zurück führen möchte, wo die Heimat ist, das Haus, wo ich geborgen bin. Und es ist interessant, wenn man der hebräischen Sprache nachgeht, dass das erste Buchstabe der Bibel ein „B“ ist. Und dies „B“ das„beth“ ausgesprochen wird, heißt übersetzt, „ Haus“. Mit einem großen „beth“ beginnt die Bibel und erzählt uns von diesem Haus. Das Haus, diese Welt, die ein großes Haus ist. Und wir können diesem Bild nachgehen. Wir bewegen uns von einem Zuhause in das nächste, so ist der Weg. Er führt von einem zum anderen und wir denken auch an den verlorenen Sohn, der ein Haus, sein Vaterhaus verlässt und sich hinaus begibt in die Welt, seine Erfahrungen macht, aber auch sein Scheitern erlebt. Und dann am Ende, dort wo es nicht mehr weitergeht, kommt die Erinnerung, kommt die Sehnsucht, kommt dieses Wissen, da gibt es doch ein Haus für mich. Es gab es schon einmal, ich habe es verloren und ich sehne mich so sehr danach zurück. Und diese Sehnsucht, die beginnt ihn zu ziehen und hilft ihm, diesen Weg zurück zu finden in das Vater Haus. Diese Ikone, die wir da in der Nische finden, die zeigt uns etwas, ein Bruchstück, ein Teilstück von diesem Haus und sagt uns: Auch wenn nur noch so ein Stück übrig geblieben ist von deinem Wissen von diesem Haus, es genügt schon. Es soll dich erinnern, dass es jemanden gibt, der dich gerne sieht und dessen Augen und unter dessen Blick du dich gerne aufhalten kannst. Hab Vertrauen und komm und halte dich dort auf, wo du gerne gesehen wirst. In dieser Nische, in dieser intimen Atmosphäre, dort, wo man nicht gesehen wird von den anderen, die vielleicht in diesen Raum kommen, dort bin ich ganz auf Du und Du mit dem Gegenüber, mit meinem Gott, mit meinem Herrn, mit dem, der mich gerne ansieht. Und dann ist die Schindel, dieser Ziegel, ja aus einem Material, das uns auch noch etwas erzählen möchte. Denn auf den ersten Seiten der Bibel, dort, wo Gott den Menschen erschafft, da nimmt er Erde und formt die Erde und haucht seinen Odem hinein und der Mensch wird zum Menschen, wird zum Gegenüber Gottes. Und Adam, das Wort für den Menschen kommt vom Hebräischen „ani dome“ und das heißt „Ich gleiche“! Ich gleiche, das ist unser Name! Ich gleiche meinem Gegenüber. Gott sagt: Du gleichst mir und ich gleiche dir, so nah sind wir. Es ist uns eingeschaffen in unser Wesen. Von dort her kommen wir, ausgerüstet mit diesem Odem Gottes. Und wenn wir diese Ikone dann betrachten, die uns gemalt und vorgehalten wird, dann sagt sie: Schau, das bist auch du. Daher kommst du, so nah bin ich dir wie auf dieser Ikone das Antlitz Gottes, das Antlitz Christi. So eng sind wir verbunden, erinnere dich doch. Denk doch darüber nach. Lass dich von diesem Gedanken bewegen und aufrichten und dir wieder Mut geben, auch wenn du dich verloren fühlst und wenn du gebeugt bist, von Gram oder Schuld, oder was auch immer. Lass dich ansehen, komm unter meinen Blick, von dort her wirst du wieder Kraft bekommen, aufgerichtet werden. Mögest du das erleben und erfahren, was dieser Satz aus dem Psalm 4 uns sagt: „Herr, lass leuchten über uns das Licht deines Antlitzes“, damit wir wieder das Leben spüren, das du uns schenkst. Auf dass wir dir danken können, für jeden Tag, den wir erleben. Amen.

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Bibel erleben Predigten in freier Rede von Heinz D. Müller Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 19.So.n.Trin. 14.10.2012 in: Kapelle Klinikum-Augsburg Tondatei: DS400816

weitere Predigten von Heinz D. Müller www.pfarrer-mueller.de

Psalm 23 i.d.Übersetzung von Buber/Rosenzweig Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus, Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören. Amen. Liebe Schwestern und Brüder, diese bekannten Worte vom Psalm 23 mögen vertraut sein in der Übersetzung von Martin Luther, die wir zuvor gehört haben. Ich möchte uns diesen Psalm noch einmal vorlesen, aber nun in einer anderen Übersetzung, nämlich der von Martin Buber und Franz Rosenzweig. Martin Buber, selber Jude und in der hebräischen Sprache zu Hause, aber er war auch in der deutschen Sprache in ganz besonderer Weise zu Hause. Das kann man seiner Übersetzung des Alten Testamentes in die deutsche Sprache in einer ganz wundervollen Art und Weise nachempfinden. Wenn wir dieser Übersetzung noch einmal lauschen, dann können diese Worte auch noch einmal neu an uns herantreten. Worte Gottes aus dem Psalm 23:

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