POLITIK. Die Wut des Drachen

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Author: Silvia Maier
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Die Wut des Drachen

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2008 soll nach dem Willen der chinesischen Führung zum Jahr des nationalen Triumphs werden. Mit Olympia will sich das Land als Großmacht auf der internationalen Bühne zurückmelden. Aber Olympia droht nun zum Alptraum der KP-Bosse zu werden. Von Erich Follath

MACHTDEMONSTRATION Reservisten der Volksbefreiungsarmee versammeln sich in einem Stadion in Nanjing.

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ADRIAN BRADSHAW / DPA

NATIONALSTOLZ Staatschef Hu Jintao hält die olympische Fackel am 31. März auf dem Tiananmen-Platz in Peking. Ein Welt-Sportfest der Superlative soll Chinas Großmachtstellung bestätigen.

Die als Triumphzug geplante weltweite Fackel-„Reise der Harmonie“ wurde zum Spießrutenlauf. 10

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enn China sich erhebt, erzittert die Welt – Napoleon Bonaparte hat das gesagt, und dieser Satz gefällt der KP-Führung in Peking offensichtlich so sehr, dass er in diesen Tagen öfter in offiziellen Reden auftaucht. Als Leitmotiv, sozusagen. Nach chinesischer Meinung ist es jetzt so weit. Die Welt sollte nach Pekings dringendem Wunsch ehrfürchtig und beeindruckt innehalten: Das Reich der Mitte beansprucht seinen Platz als Großmacht. Und will das zeigen mit einem WeltSportfest der Superlative. Nach Opiumkriegen und aufgezwungenen Verträgen im 19. Jahrhundert, nach der weiteren Demütigung durch die Kolonialmächte und die japanischen Aggressoren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nach den inzwischen auch in Peking als schlimme Verfehlungen begriffenen kulturrevolutionären Exzessen Maos meldet sich das Land zurück im Konzert der großen Nationen – allen schlimmen Naturkatastrophen und selbstverschuldeten Kalamitäten zum Trotz. Im Selbstverständnis seiner Machthaber ist diese Volksrepublik China den USA mindestens ebenbürtig, in manchen Bereichen überlegen. Als Staat mit den größten Devisenreserven der Welt (über 1600 Milliarden Dollar), als Staat, der Jahr für Jahr über 60 Milliarden Dollar Direktinvestitionen anlockt, als Staat, der vermutlich schon im nächsten

Jahr Deutschland als Exportweltmeister ablösen wird und nach Berechnungen der Investmentbank Goldman Sachs um 2040 die größte Volkswirtschaft der Erde stellen dürfte. Der stolze Drachen auf dem großen Sprung: 2008, so war es geplant, sollte das Jahr Chinas werden, das erfolgverheißende Jahr der Ratte, die nach dem chinesischen Kalender Kraft und Ausdauer symbolisiert, das Jahr des Durchbruchs, dem das ganze Land entgegenfieberte. Das Olympische Jahr, in dem sich Chinas Triumph mit prächtigen Spielen in sensationellen Stadien vor einer beeindruckenden Kulisse bestätigen sollte – wie in einem Diadem, in dessen Glanz sich die Herrscher widerspiegeln. Nicht dass es an ausländischen Claqueuren und ehrlichen Bewunderern fehlte. „Der Aufstieg Chinas ist wahrscheinlich das wichtigste Ereignis dieser Jahrzehnte“, sagt der ehemalige Vize-Außenminister der USA Richard Armitage. Konrad Seitz, früher deutscher Botschafter in Peking, sekundiert: „Die Entwicklung verschiebt fundamental die politischen Machtverhältnisse in Asien und die Wettbewerbssituation auf den Märkten.“ Heinrich von Pierer, umstrittener Ex-Siemens-Chef, gibt sich schon seit langem als China-Apologet und führt eine lange Liste von Lobbyisten an, die jede offene Peking-Kritik für kontraproduktiv halten: „Wir können uns gar nicht leisten, in der Volksrepublik nicht dabei zu sein.“ spiegel special

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Longwu-Tempel in der Nordwestprovinz Quinghai, Zentrum eines überwiegend von Tibetern bewohnten Gebiets. Nach dem Aufstand in Lhasa patrouilliert überall die Polizei. Dutzende „Aufrührer“ wurden in den letzten Tagen verhaftet, sie sollen sich an gewalttätigen Plünderungen beteiligt haben, im Auftrag der „Dalai-Clique“, wie die Sprecherin im Staatsfernsehen immer wieder behauptet. Die Frauen flüstern, während der Bericht läuft. Angst vor Spitzeln. Die Hasstiraden hätten nichts an ihrer Verehrung für den Gottkönig geändert, sagen sie. Bilder von ihm dürfen sie nicht besitzen. „Aber wir tragen den Dalai Lama im Herzen.“ spiegel special

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„Eine Welt, ein Traum“ – so lautet das von den Chinesen für die Pekinger Spiele gewählte Motto. Und akribisch gingen die KP-Oberen daran, den Ablauf des Jahres 2008 zu organisieren, bis ins Detail zu orchestrieren: ein Jubel-Volkskongress im März; ein Triumphzug der olympischen Fackel in den Monaten danach, von San Francisco über Daressalam bis Canberra und dann quer durch das eigene Land mit einem Abstecher zum höchsten Berg der Welt; am 8. August in Peking dann die feierliche Eröffnung der Spiele in Anwesenheit der wichtigsten Politiker. An fast alles hatten die bewährten ZK-Allesplaner in ihren Amtsstuben gedacht. In ihren Kampagnen zur Förderung der höheren Zivilisation („wenming“) trimmten sie die als notorisch unhöflich geltenden Pekinger sogar darauf, nicht mehr öffentlich zu spucken, die Polizisten sollten freundlicher winken und wenigstens rudimentäres Englisch lernen, die Pendler sich endlich diszipliniert an den Busbahnhöfen anstellen – geübt wurde das beim „Tag des Schlangestehens“.

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ur eines hatten die Politik-Kalligrafen in ihrer Detailversessenheit außer Acht gelassen: das große Bild. Sie hatten offensichtlich für ausgeschlossen halten, dass ihr eigenes Volk, oder vielmehr eine der „nationalen Minderheiten“, die sich Pekings Herrscher im Lauf der Ge-

THE NEW YORK TIMES/REDUX/LAIF (R.); DAVID GRAY / REUTERS (O.)

Schlüsselfragen vom Weltwirtschaftsforum in Davos, nebst Antworten der „International Herald Tribune“: „Welches ist die Geldquelle, die Amerikas Ökonomie flüssig hält? China. Die Lokomotive, die das Weltwirtschaftswachstum voranzieht? China. Der Riesengorilla, der die Jobs aus dem Westen absaugt? China.“ Die „New York Times“ hat, nach dem von ihr proklamierten Ende der amerikanischen Vorherrschaft, schon „das chinesische Jahrhundert“ ausgerufen. „Das Land hat sich verändert, nun verändert es die Welt.“ Die Frage ist nur, wie.

UNTERDRÜCKUNG Chinesische Grenzsoldaten besetzen ein Kloster in Tibet am Fuß des Mount Everest, bevor die Olympia-Fackel auf den höchsten Berg der Welt getragen wird. Wegen regierungskritischer Internet-Artikel erhält der Bürgerrechtler Hu Jia (u., mit Frau und Tochter) dreieinhalb Jahre Haft. 11

GLITZERMETROPOLE Shanghai bei Nacht: Wo sich heute im Geschäftszentrum Pudong Wolkenkratzer erheben, gab es vor drei Jahrzehnten fast nur sumpfige Äcker und schäbige Hütten. Im Vordergrund eine Skulptur, die während des Shanghai-eArts-Festivals gezeigt wurde.

Den allermeisten Tibetern bedeutet die Steigerung des Lebensstandards weniger als ihre religiöse Freiheit. 12

schichte gewaltsam eingemeindet hatten und längst durch materielles Entgegenkommen befriedet glaubten, gegen sie aufstehen könnte. Dass den allermeisten Tibetern die Steigerung des Lebensstandards weniger bedeutet als ihre religiöse Freiheit; dass sie sich in ihrer Heimat durch den permanenten, staatlich geförderten Zuzug von Han-Chinesen überfremdet fühlen, ihrer kulturellen Identität beraubt. Und dass viele bereit sind, für ihren spirituellen und politischen Führer, der nun schon seit 49 Jahren im Exil lebt, ihre Existenz zu riskieren. 22 Menschen kamen bei den Unruhen seit Ende März nach chinesischen Angaben ums Leben, mehr als 200 nach Angaben aus tibetischen Kreisen. Hunderte wurden verhaftet, Schnellgerichte verurteilten Demonstranten wegen Aufruhrs zu hohen Gefängnisstrafen; darunter besonders viele Mönche. Klöster wurden besetzt, neue, verschärfte Indoktrinierungskampagnen angeordnet. Was in der sogenannten Autonomen Region Tibet und in den teilweise von tibetischen Bevölkerungsanteilen mitgeprägten Provinzen Gansu, Quinghai, Yunnan und Sichuan vorgeht, weiß im Westen niemand genau – Peking hat die Regionen wochenlang abgeriegelt und verhindert, dass sich irgendein Journalist oder Diplomat ein unabhängiges Bild macht. Proteste gegen ein solches Vorgehen wurden weitgehend ignoriert oder als unverschämte „Einmischung in innerchinesische Angelegenheiten“ abgetan. Immer wieder aber drangen Bilder aus dem abgeschotteten Land, die Demonstranten mit tibetischen Fahnen und Dalai-Lama-Bildern zeigten und andeuteten, dass die Staatsmacht den Widerstand

noch nicht umfassend zerschlagen hat. Dass der weiterschwelt. Nach wochenlanger scharfer Kritik aus Europa und den USA bewiesen Chinas politische Führer dann, dass sie auch anders können: Auf das furchtbare Erdbeben in der Provinz Sichuan am 12. Mai reagierten sie prompt und unbürokratisch. Premier Wen Jiabao war schon wenige Stunden nach der Katastrophe vor Ort, die Armee leistete Hilfe, die Medien berichteten rund um die Uhr und offensichtlich ohne Restriktionen – auch über Fehlschläge bei den Bergungsarbeiten. Hat die Regierung wirklich „Lehren aus den negativen Reaktionen“ gezogen, wie der Pekinger Medienprofessor Shi Anbin von der Qinghua Universität gleich eilfertig jubelte?

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ie KP-Bosse hatten jedenfalls nicht verhindern können, dass die olympische Flamme, die weltweit das chinesische Wunder begleiten und beleuchten sollte, zur „Flame of Shame“ wurde, der geplante Triumphzug zum Spießrutenlauf. Schon am Tag, als in Griechenland das olympische Feuer entzündet wurde, störten Demonstranten erfolgreich und zwangen Chinas Staatsfernsehen, der Jubelberichterstattung verpflichtet, zu kunstvollen Schnitten. Die anschließende sogenannte Fackel-„Reise der Harmonie“ sahen die Menschen dann nur mehr in zeitversetzten, gesäuberten TVBildern. Der Rest der Welt aber wurde fast täglich Zeuge von Pro-Tibet- und Anti-KP-Protesten. Besonders unangenehm fielen dabei die bulligen Herren in Blau auf, Pekinger Spezialtrupps einer Militäreinheit, die von Paris bis Bangkok mit Brachialspiegel special

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IMAGO / IMAGINECHINA

gewalt Demonstranten abdrängten. Ein absurdes Spektakel, ein PR-Desaster ungeheuren Ausmaßes. Für die Chinesen heißt es in Verbindung mit Olympia und ihrem Möchtegern-Jubeljahr 2008 nun plötzlich: eine Welt, ein Alptraum. Symbolisiert durch zwei politische Führer, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Auf der einen Seite steht Zhang Qingli, 57 Jahre alt, verhasster KP-Chef von Lhasa und gnadenloser Scharfmacher, der nicht nur – wie die gesamte Pekinger Führungsspitze – die exiltibetische „Clique“ des umstürzlerischen Aufruhrs, der Brandschatzung und diverser Morde beschuldigt, sondern ihren Führer auch noch in stalinistisch-kulturrevolutionärer Wortwahl als „Wolf in Mönchskutte, als Teufel mit dem Gesicht eines Menschen“ beleidigt. Auf der anderen Seite der Dalai Lama, 72 Jahre alt, Friedensnobelpreisträger, weise und mild lächelnd über die Verbalinjurien des Hetzers von Lhasa. „Ich weiß nicht, was ich ihm getan habe, aber ich bete für ihn wie für alle Chinesen“, sagt der von seinen Landsleuten als Gottkönig Verehrte Anfang Mai dem SPIEGEL in seiner indischen Exilhauptstadt Dharamsala. Und natürlich wolle er China keineswegs spalten und strebe nicht die staatliche Unabhängigkeit Tibets an, sondern bestehe „nur“ auf einer echten Autonomie. Eine Regelung, die ihm „im Idealfall einer Entwicklung Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ die Rückkehr nach Lhasa erlauben und seinen Landsleuten kulturelle und religiöse Freiheiten bringen könnte. Wo da die Sympathien der Welt liegen, ist nicht schwer zu erraten. Und so brennt China imagemäßig im vorolympischen Fegefeuer, steht spiegel special

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am Pranger. Im Zentrum des Interesses zwar, aber so ganz anders als von Peking geplant. Unangenehme, weit über die Tagesereignisse hinausgehende Fragen drängen sich auf: Was sagen die Ausschreitungen in Tibet und die Reaktion der Machthaber über unseren „Partner“ Volksrepublik und die Möglichkeit, ihn in die demokratische Völkergemeinschaft einzubinden? Ist der Westen einer Selbsttäuschung erlegen, wenn er die pragmatischen und wirtschaftlich doch so weltoffenen KP-Regenten auf dem Weg auch zu einer politischen Öffnung, zu mehr Liberalität und Pluralismus gesehen hat – China Morgana?

VOLKSZORN Demonstranten rufen in Peking zum Boykott der Carrefour-Supermärkte auf. Sie werfen Frankreich vor, die olympische Flamme ungenügend vor TibetAktivisten geschützt und den Dalai Lama zum Ehrenbürger von Paris gemacht zu haben.

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ANDY WONG / AP

AUFRECHTER GANG Junge Chinesinnen üben ihren Auftritt als Hostessen bei den Olympischen Spielen. Sie trainieren beispielsweise mit Büchern, die sie auf den Köpfen balancieren, oder, wie auf diesem Bild, mit Tellern, die sie vor sich hertragen, für die Verleihung der Medaillen.

Gibt es eine angemessene „olympische Antwort“ für deutsche Politiker und Vorstandsvorsitzende jenseits von unsinniger Kraftmeierei („Wirtschaftsboykott durchsetzen“) und Duckmäusertum („Chinesische Gefühle schonen“)? Haben wir gar keine Einflussmöglichkeiten in Peking, oder beweist die überraschende Ankündigung der KP-Führer Ende April, nun doch mit „privaten Vertretern des Dalai Lama“ Kontakte aufzunehmen, gerade das Gegenteil – Druck lohnt sich?

DEMOKRATIE UND NATIONALES TRAUMA

D Die kommunistische Partei sieht in ihren Bürgern keine mündigen Mitspieler, sondern nur Untertanen. 14

er Westen und China – das ist oft ein beiderseitiges Missverständnis: zwei gegensätzliche Welten, zwei divergierende Träume voneinander. Praktisch jeder Chinese weiß um die mehrtausendjährige Geschichte des Landes, die spätestens mit der Shang-Dynastie um 1600 vor Christus ihren Anfang nahm und die schon Bronzewaffen und Geschichtsschreibung auf Knochen kannte. Weiß um die politischen Führer, die bald ihre Herrschaft mit dem „Mandat des Himmels“ rechtfertigten, und um den ebenso effektiven wie grausamen Kaiser Qin Shihuangdi, der 221 vor Christus zum ersten Mal das Riesenreich einte und sich dann mit einer gigantischen Tonkriegerarmee als Grabbeigabe verewigte. Stolz sind die Chinesen auch auf ihre Herrscher in der Ming-Dynastie, deren Flotten im 15. Jahrhundert bis nach Indien und Afrika vordrangen und die – wären sie nur willens und interessiert gewesen – als Seefahrer große Teile der Welt hätten erobern können. Filme und Schulbücher halten die Erinnerung an die großen historischen Zeiten wach, als das Land

sich – völlig zu Recht – als technologischer und ökonomischer Nabel der Welt fühlte. Diesem Avantgarde-China vergangener Zeiten verdanken wir Seide, Seismograf und Schießpulver; es entwickelte den magnetischen Kompass und die mechanische Papierherstellung. Aber wir verdanken ihm nicht nur Erfindungen. Das Reich der Mitte besaß ein hochentwickeltes Staatswesen, als die Menschen in Europa und Amerika noch mit primitiven Waffen jagten oder im mittelalterlichen Dunkel vor sich hindämmerten. Und China brachte Denker wie Konfuzius und Menzius hervor, Philosophen, die bei allem konservativen, Gehorsam gegenüber Autoritäten fordernden Gedankengut doch die Basis für Aufstieg durch Leistung, für eine Meritokratie legten – und die den Aufstand gegen ungerechte Führer durchaus für berechtigt hielten. Noch im 16. Jahrhundert galt China als der Staat mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt – oder als gleichauf mit den Westeuropäern –, bis es dann lange in selbstgewählter Isolierung versank. Keiner symbolisiert sie besser als Kaiser Qianlong, der 1793 zum Abgesandten des britischen Königs mit dessen Handelsvorschlägen sagte, es bestehe „keinerlei Bedarf“ an englischen Produkten, aber der Barbar könne nach dem Kotau gern Gehorsam schwören. So viel Arroganz war eine Einladung an die Kolonialmächte, die das Reich bald mit Opium überschwemmten und es, abhängig gemacht und am Boden liegend, seiner Schätze beraubten. Als wehrloses, missbrauchtes Opfer schildern chinesische Geschichtsbücher das Land, erzählen ausführlich von der britischen Kanonenbootpolitik, der Zerstörung des „Nationalheiligtums“ Sommerpalast durch spiegel special

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perimentieren wollten, zog die KP schnell die Reißleine – sie hatte festgestellt, dass auf dem Land fast immer Unabhängige, der Vetternwirtschaft unverdächtige Kandidaten die Wahlen gewannen; stellenweise gehörten mehr als 40 Prozent der lokalen Führer nicht mehr zur Partei. Peking ordnete unmissverständlich an, deren „führende Rolle“ sei sicherzustellen. Chancenreicher sind womöglich parteiinterne Entwicklungen. Staatspräsident Hu ließ im vergangenen Juli unter Spitzengenossen eine geheime Umfrage durchführen, wen sie sich als Kandidaten fürs Politbüro wünschten – ein Stimmungsbild, nicht verbindlich, aber vielleicht ein kleiner Schritt Richtung Transparenz und Mitbestimmung. Allerdings ist es noch ein langer Weg bis zu japanischen Verhältnissen, die manche optimistische China-Watcher in Peking voraussehen. Sie hoffen, dass sich ähnlich wie bei der Tokioter Dauer-Regierungspartei LDP interne Fraktionen bilden, die dann kontrovers um unterschiedliche Politikwege streiten.

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hinas Führung sendet in diesen Tagen widersprüchliche, manchmal geradezu gegensätzlich Signale aus – nicht nur gegenüber dem Dalai Lama. Sondern zum Beispiel auch in Sachen Rechtssystem und Justiz. Ende 2003 hat das Zentralkomitee der KP zugestimmt, den Schutz des Privateigentums in die Verfassung aufzunehmen, Privatunternehmen wurden im neugefassten Artikel 11 „ermuntert“ und „unterstützt“ – eine wahrhaft epochale Wende im kommunistischen Reich. Ein anderes Gesetz ermöglicht es jedem Bürger, den Staat zu verklagen. Die Verfassungswirklichkeit sieht anders aus: Nach wie vor werden über Nacht für neue Autobahnen und Hochgeschwindigkeitszüge Häuser niedergerissen, ohne dass ihre Bewohner befragt würden. Private Anwälte mögen im Einzelfall – etwa bei Vergehen gegen den Arbeitsschutz oder extremen Umweltvergehen – erfolgreich gegen Firmen und auch einmal gegen den Staat klagen. Ein Arbeiter, der wegen einer defekten Maschine beide Arme verlor, erhielt in Shenzhen 30 000 Dollar Schmerzensgeld zugesprochen; eine Baufirma in Peking, die 500 Hilfskräfte ein Jahr lang nicht entlohnte, wurde zu 608 000 Dollar Schadensersatz verurteilt. Auch hochrangige Provinzpolitiker wie der frühere Shanghaier KPChef Chen Liangyu wandern, wenn sie gar zu sichtbar korrupt sind, hinter Gitter. Doch das bleiben Ausnahmen. Es gibt Ansätze für eine Zivilgesellschaft in der Volksrepublik China, immer wieder versu-

Pekings Schande Nirgendwo leben Kumpel so gefährlich, ist ihr Leben so wenig wert wie in der Volksrepublik. In den letzten Jahren starben in China jeweils mehrere tausend Menschen bei Grubenunglücken – obwohl die Gesetze einen geregelten Arbeitsschutz vorschreiben. Und unfassbar für ein kommunistisches Land: In der Provinz Shanxi müssen Minderjährige in Ziegeleien schuften; die Partei musste jetzt einräumen, dass skrupellose Arbeitgeber über tausend Zwangsarbeiter ausbeuteten, darunter viele Kinder.

BLUTIGES MASSAKER Mit brutaler Gewalt ließ Chinas Führung 1989 die Demonstrationen rund um den Tiananmen-Platz von Panzern niederwalzen. Dabei gab es viele hundert Tote.

ULLSTEIN BILD

acht gegen Peking verbündete ausländische Armeen. Und natürlich von der Besatzung durch die Japaner und den von ihnen angerichteten Massakern im Zweiten Weltkrieg. Die Schmach ist im Selbstverständnis der Nation tief eingebrannt, die KP hält die kollektive Erinnerung bewusst wach. Die drei politischen Führer, die China nach dem Ende der letzten kaiserlichen Dynastie ab 1911 entscheidend prägten, machten ihrem Volk allesamt ein überraschendes Versprechen: Sie gelobten die Einführung der Demokratie. Republikgründer Sun Yat-sen wollte nach einer dreijährigen Militärherrschaft das Reich in Richtung Pluralismus erziehen, eine Entwicklung, die schon vor seinem Tod 1925 gescheitert war. Mao Zedong einte 1949 das vom Bürgerkrieg zerrissene Reich (und fügte ihm durch den Einmarsch der Volksbefreiungsarmee 1951 in das zuvor 40 Jahre lang unabhängige Tibet verlorengegangenes Gebiet hinzu); der Große Vorsitzende wollte mit seiner KP und einer „neuen revolutionären Demokratie“ regieren – im Klartext hieß das: den Klassenfeind ausrotten. Für Deng Xiaoping, der das Land nach Maos Tod aus der Anarchie heraus und in den ManchesterKapitalismus hineinkatapultierte, war Demokratie dann immerhin schon „eine entscheidende Vorbedingung für die Emanzipation des Geistes“. Das klang freilich besser, als es sich in der Praxis anfühlte. Deng wollte Kontakte zur Außenwelt, er suchte die Wirtschaftsöffnung, aber penibel von der Partei kontrolliert. Er war sich bewusst, dass „bei geöffnetem Fenster“ auch gefährliche „Schmeißfliegen hereinkommen“. Der chinesische Napoleon – in Sachen Körpergröße wie Durchsetzungskraft seinem Spitznamensgeber durchaus vergleichbar – zeigte, wie wenig er gewillt war, sich von Oppositionellen hineinreden zu lassen. Am dramatischsten 1989, als er die Demonstranten auf dem Platz des Himmlischen Friedens von seinen Militärpanzern niederwalzen ließ. Wie unterschiedlich sie es auch meinten, eines verbindet die Demokratievorstellungen der großen Drei nach Ansicht des amerikanischen China-Experten John Thornton, der an der Pekinger Tsinghua-Universität lehrt: „Sie stimmten darin überein, dass Demokratie kein Selbstweck ist, sondern ein Mechanismus, um Chinas entscheidendes Ziel zu verwirklichen: nie mehr von fremden Mächten herumgestoßen zu werden.“ Vor dem Hintergrund dieses nationalen Traumas sind auch die Demokratie-Beteuerungen der heutigen KP-Größen zu verstehen. Inhaltlich wichtiger sind den führenden chinesischen Politikern nur noch zwei Begriffe: Harmonie und Stabilität – damit meinen sie nichts anderes als die Zementierung der KPHerrschaft. Staatspräsident Hu Jintao nennt Demokratie „das gemeinsame Ziel der Menschheit“. Das westliche Modell mit Gewaltenteilung, Presse- und Versammlungsfreiheit sowie freien Wahlen erscheint ihm allerdings „für China eine Sackgasse“. Pluralismus-Experimente auf lokaler Ebene aber sind erlaubt. Seit Ende der achtziger Jahren können sich parteilose Kandidaten bei Dorf-Bürgermeisterwahlen aufstellen lassen. Als allerdings auch Distrikte und Großstädte wie Shenzhen mit dem System ex-

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Die KP ist dabei, einen mit fremdenfeindlichen Tönen gespickten Nationalismus zur neuen Staatsdoktrin zu machen.

entzündet haben. Der behinderte Diskuswerfer Fang Zheng darf nicht an den auf Olympia folgenden Paralympics 2008 teilnehmen, obwohl er den chinesischen Rekord hält – er hat seine Beine unter einem Militärpanzer am Tiananmen-Platz verloren, gilt als „unzuverlässig“. Und gegen die tibetischen „Terroristen“ geht die Staatsgewalt jetzt nicht nur mit aller juristischen Härte vor, sondern feuert auch propagandistisch weiter aus allen Rohren. Die Minderheit vom Dach der Welt habe sich mit antichinesischen Kräften im Westen verbündet, lautet die Maxime. Für Amerikaner und Europäer seien die Unruhen nur ein Vorwand: Sie gönnten den Chinesen nicht ihre Tage des Ruhms, ihre glanzvolle, olympisch demonstrierte Rückkehr an die Spitze der Welt und suchten deshalb nur einen Vorwand, das Mega-Fest zu stören. Es ist eine Verschwörung fremder Mächte: Sie wollen uns demütigen, weil sie nicht ertragen können, wie erfolgreich wir geworden sind; sie bleiben Rassisten; einmal Kolonialmacht, immer Kolonialmacht – so dröhnen landauf, landab nationalistische Parolen.

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SINOPIX / LAIF (L.); CHIEN MIN CHUNG / ONASIA.COM (R.)

LUXUS FÜR REICHE Eine Wohnanlage für Millionäre, die sich vor Kidnapping fürchten, ist das „Palais de Fortune“ in Peking. Der stark gesicherte Neubaukomplex besteht aus 172 villenartigen Einheiten, von denen jede umgerechnet knapp zwei Millionen Euro kostet. Die Eingangshalle ist klassischem französischen Stil nachempfunden.

chen mutige Menschen, ihre Freiheiten auszuweiten – aber es sind sehr zarte Pflänzchen, die den Beton der Diktatur durchbrechen wollen und die schnell zerdrückt werden können. Vor allem, wenn die Partei den inneren Zusammenhalt des Reiches bedroht sieht – wie jetzt in Tibet und auch im „Wilden Westen“ der muslimischen Uiguren in Xinjiang –, schlägt sie brutal zurück. Kein „Rückfall“, wie viele im Westen meinen, sondern immer noch der Normalfall chinesischer Politik. China hat sich äußerlich dramatisch gewandelt, Städte wie Shanghai, Kanton und Peking wirken mit ihren Wolkenkratzern, Boutiquen und Fünfsternehotels moderner als viele im Westen. In ihrem Inneren und in ihrem Wesen aber ist die Volksrepublik, wenn sie sich existentiell vom Chaos („luan“) bedroht fühlt, immer noch ein Polizeistaat. Die KP sieht in ihren Bürgern keine mündigen Mitspieler, sondern nur Untertanen. Vom Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 bis heute führt eine gerade, leider ununterbrochene Linie. China bleibt Weltmeister bei der Zahl der Hinrichtungen, schlägt dabei – was für eine aparte Gesellschaft! – Iran und USA. Im vergangenen Jahr steckten die Behörden 740 Bürger wegen „Subversion“ ins Gefängnis oder in Arbeitslager, doppelt so viele wie zwei Jahre zuvor. Die westliche Vorstellung, dass mit der Vergabe der Olympischen Spiele in Peking eine Art trojanisches Pferd zur Förderung der Menschenrechte untergejubelt worden sei, erweist sich als reichlich naiv. Das Gegenteil scheint richtig: Die Behörden wollen ungestörte Spiele und schlagen deshalb eher brutaler zu. Der Bürgerrechtler Hu Jia erhält wegen regierungskritischer Internet-Artikel dreieinhalb Jahre Haft; seine Frau und seine fünfmonatige Tochter werden in ihrer abgesperrten Wohnanlage mit dem Namen „Bo Bo Freedom City“ Tag und Nacht überwacht und immer wieder schikaniert. Fünf Jahre muss der Dissident Yang Chunlin ins Gefängnis, nur weil er „Menschenrechte statt Olympische Spiele“ gefordert hat – das Urteil wird in der Woche verkündet, in der sie in Athen das olympische Feuer

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m Internet wächst der Hass gegen die „undankbaren und hinterwäldlerischen Tibeter“ und ihre westlichen „Handlanger“ schnell zur Lawine. Korrespondenten werden von Bloggern als „kaltblütige Hitler-Typen“ geschmäht und manche sogar mit dem Tode bedroht. Der Zorn richtet sich vor allem gegen die Franzosen, denen vorgeworfen wird, erst die Flamme absichtlich nicht genügend vor Aktivisten geschützt und dann auch noch den Dalai Lama zum Ehrenbürger von Paris gemacht zu haben. Tausende Demonstranten sind schon gegen Carrefour, Symbol der französischen Wirtschaftspräsenz in China, auf die Straße gezogen und haben zum Boykott französischer Waren aufgerufen. Das allgegenwärtige Geschichtsbewusstsein soll die Überzeugung verbreiten, nur die KP könne das Land so mächtig machen, dass es niemand mehr wagt, auf China herabzusehen und es herumzustoßen. Die Partei, die den diskreditierten Kommunismus ad acta gelegt und durch einen knallharten Kapitalismus ersetzt hat, suchte immer eine Ersatzideologie, ein Bindeglied zum Volk. Sie flirtete mit der Idee, einen staatstragend definierten Konfuzianismus und einen Harmonie und Ausgleich betonenden Buddhismus als Ideologie zu lancieren. Sie ist jetzt dabei, einen mit fremdenfeindlichen Tönen gespickten Nationalismus zur neuen Staatsdoktrin zu machen. Das Konzept scheint aufzugehen: China schart sich derzeit um die ansonsten wenig geliebte Partei, sogar ein Großteil der Jugend und der liberalen Intellektuellen. Die KP-Bosse setzen mit ihrer Kampagne aber auch kaum kontrollierbare chauvinistische Kräfte unter den Han-Chinesen frei, rund 92 Prozent der über 1,3 Milliarden Bürger der Volksrepublik. Schon zweimal zuvor hat die Partei mit dem Feuer gespielt: 1999, als amerikanische Nato-Militärs während des Kosovo-Kriegs die Botschaft der Volksrepublik in Belgrad bombardierten, ließ sie empörte Nationalisten von der Leine; desgleichen 2005, als Japan in seinen neuen Schulbüchern die an den Chinesen begangenen Greueltaten verharmloste. Beide spiegel special

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Male versuchte die Polizei, die Proteste in geordneten Bahnen zu halten – und scheiterte. Die Zahl der Demonstranten wuchs schnell an, die aufgeputschte Masse schlug Fenster ein, warf Autos um. Mit Mühe gelang es, wieder Ruhe herzustellen. Vergleichbare Bilder während der Olympischen Spiele will die Partei um jeden Preis vermeiden: Ausschreitungen gegen die Gäste bei den JubelSpielen, Proteste, die sich dann womöglich sogar gegen sie selbst richten könnten – ihr Alptraum. Doch wie der einmal freigelassene Dschinn wieder zurück in die Flasche gepresst werden soll, das ist wohl auch der Führungsspitze nicht ganz klar. Sie hat zur Beruhigung ein neues Zauberwort erfunden: „rationaler Patriotismus“. Wo diese Art des gelenkten Nationalgefühls anfängt und aufhört, möchte natürlich die Partei bestimmen – und erweckt dabei den Eindruck, dass sie kaum mehr der eine, einige und einheitliche Monolith ist, als den sie sich selbst darstellt. Nicht nur beim Umgang mit dem Dalai Lama zerren Kräfte in unterschiedliche Richtungen.

NEUER LACK UND ALTER KERN

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an sei stolz, wie die Tibeter in ihre Schranken gewiesen worden seien, wie man das Problem beseitigt habe, verlautet aus Peking, und wie so vieles aus China in diesen Wochen lässt auch dieser Satz den Kopf schütteln. Es gibt so vieles, worauf die Chinesen wirklich stolz sein dürfen. In keinem anderen Staat spiegel special

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der Welt konnten sich jemals so viele Menschen in so relativ kurzer Zeit aus der extremen Armut befreien, über 300 Millionen in etwa 30 Jahren. Das Wirtschaftswachstum ist trotz zunehmender Probleme mit Umweltkatastrophen und Energieknappheit immer noch atemraubend. Shanghai, die „Bar Rouge“ am Bund. Prächtig erleuchten die Scheinwerfer die alte Prachtstraße am Huangpu-Fluss, die Kolonialbauten sind aufwendig restauriert. Glanzvoll ist auch die Feier in dem Etablissement über den Dächern – chinesische Milliardäre, westliche Wirtschaftsbosse, langbeinige asiatische Schönheiten in Haute Couture. Der Blick geht hinüber zum Grand Hyatt, dem höchsten Hotel der Welt; auf der anderen Seite hinter dem Häusermeer lockt Xintiandi, das Vergnügungsviertel für gehobene Ansprüche. In Steinwurfweite voneinander entfernt liegen dort das Gründerhaus der chinesischen KP und das Geschäft mit einigen der teuersten Autos der Welt. Kein Zweifel, der Osten ist rot. Ferrari-rot. Pekings Volkswirtschaft ist nach Kaufkraftparität bereits an Japan und Deutschland vorbeigezogen, Vizeweltmeister nach den USA – und unaufhaltsam auf dem Weg zur Nummer eins. China ist die Werkbank der Welt geworden, produziert mehr Spielzeug, Kleider und Schuhe als jedes andere Land. Manche Arbeiter basteln in dunklen Klitschen und unter kaum menschenwürdigen Bedingungen Plastiktaschen und Christbaumkugeln, Charles Dickens

PLATZ FÜR NEUES Der Bauwut in Chinas Metropolen müssen viele alte Gebäude weichen. Hier demontieren Bauarbeiter ein Haus in Peking.

Um sich Energieressourcen und Nahrungsmittelreserven zu sichern, startete Peking in der Dritten Welt eine CharmeOffensive. 17

ZERSTÖRUNG Es war ein Wettlauf gegen die Zeit, da nach dem verheerenden Erdbeben vom 12. Mai in der Provinz Sichuan Tausende Menschen unter Trümmern und Schlamm begraben waren. Um verschüttete Überlebende zu retten, schickte Chinas Führung verstärkt Truppen in die Katastrophenregion.

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lässt grüßen. Aber China ist längst nicht mehr nur das Billigland für ausländische Produzenten, es hat den Sprung auf die nächste Entwicklungsstufe längst geschafft und eilt mit Riesenschritten die Globalisierungsleiter hinauf. Mehr als jede zweite Digitalkamera weltweit, jedes dritte Handy, jede vierte Waschmaschine werden hier produziert, bei Fernsehgeräten wie Klimaanlagen liegt China besonders weit vorn. Kaum ein Staat ist so in den Weltmarkt integriert, so mit ihm verflochten wie China. Die Märkte West und Ost ergänzen sich dabei, ohne dass Verbraucher es noch registrieren: Ob bei Wal-Mart in der amerikanischen Stadt Peking (sie borgte sich ihren Namen von Chinas Kapitale, weil sie „genau gegenüber“ auf dem Globus liegt) oder in Paris, Prag und Paderborn: Die Chancen sind überwältigend groß, dass billige Produkte made in China im Regal stehen. Und auch Schwaben sparen durch Fernost. Die Baden-Württemberg-T-Shirts („Wir können alles außer Hochdeutsch“) ließ die Stuttgarter Landesregierung kostengünstig im Reich der Mitte produzieren. Die Chinesen nehmen „uns“ Arbeitsplätze weg, indem sie ganze Pleite-Fabriken in Deutschland abund im eigenen Land wieder aufbauen. Die Chinesen sichern heimische Arbeitsplätze, indem sie immer mehr Güter nach Deutschland exportieren und auch als Importeur ungeheure Dynamik entwickeln. Seit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Peking und Bonn 1972 hat sich das Handelsvolumen rapide gesteigert, seit 1986 verfünf-

zehnfacht. VW verkauft in der Volksrepublik mehr Autos als in Deutschland. Selbstbewusst wagen sich andererseits chinesische Gründerkonzerne wie Haier oder Lenovo auf den Weltmarkt und hoffen, nach dem Zukauf westlicher Firmen bald auf einen Marken-Wiedererkennungswert wie Sony oder Microsoft. Ihr milliardenschwerer Staatsfonds geht auf teure, aber strategisch bedeutsame Shopping-Touren – ihre Begehrlichkeiten reichen von deutschen Traditionsfirmen wie der Dresdner Bank bis zur Nasdaq-Hochtechnologie.

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ie stecken auch erhebliche Gelder in Staatsanleihen – nur mit chinesischer Hilfe können die Amerikaner permanent über ihre Verhältnisse leben. Schon heute sind die Supermacht USA und die kommende Weltmacht China in einer Weise voneinander abhängig, dass sie sich durch einen abrupten und umfassenden Abzug von Geld und Güterverkehr gegenseitig in den Ruin treiben könnten. Zum Glück spricht nichts dafür, dass sie so selbstmörderisch sind, es auch zu tun. Peking hat andere Sorgen: die hohe Inflation von derzeit über acht Prozent, die extrem gestiegenen Lebensmittelpreise (Schweinefleisch allein im vergangenen Jahr um 100 Prozent), die enormen Einkommensunterschiede, die sogar die Indiens übertreffen. Die Kluft zwischen Arm und Reich, Küste und Binnenland nimmt weiter zu, ohne dass die Regierung ein durchgängig schlüssiges Gegenkonzept erkennen ließe. Sogar die KP musste zugeben, dass spiegel special

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POLITIK Manchmal sogar eine unheimliche. Peking lässt auch militärisch die Muskeln spielen. Um stolze 17,6 Prozent wächst der Wehretat in diesem Jahr – er dürfte inzwischen weltweit der zweithöchste hinter dem der USA sein (wenngleich die chinesischen Rüstungsausgaben nicht viel mehr als ein Siebtel der gigantischen amerikanischen ausmachen). In den letzten Jahren hat Peking – mit Ausnahme seiner Unterstützung des Sudan und damit indirekt auch der Darfur-Massaker – in der internationalen Politik eine eher zurückhaltende Rolle gespielt. Gerät die KP-Führung innenpolitisch unter Druck und fühlt sich von einer nationalistischen Welle auch zum Auftrumpfen in der Welt-Arena gezwungen, reduzieren sich die Kompromiss-Spielräume. Dann werden Hu, Wen & Co. vielleicht bald noch rücksichtsloser ihre Interessen verfolgen und Taiwan „heim ins Reich“ holen wollen. Internationaler Druck auf Peking, gerade jetzt, vor den so prestigeträchtigen Spielen, aber hat Erfolge gezeigt. In Sachen Darfur haben die Kreuzzüge gegen ein „Genozid-Olympia“ die Volksrepublik schon zu ersten Zugeständnissen bewegt; der weltweite Aufschrei von Regierungen, die Drohungen von Politikern, Hollywood-Größen und Sportstars, die olympische Eröffnungsfeier zu boykottieren, zeigen Wirkung. Ob das Angebot an den Dalai Lama nur eine taktische Finesse der KP-Führung oder ernst gemeint ist, wird sich wohl schon in den nächsten Monaten zeigen.

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Pekings Versprechen Neben den menschengemachten Umweltkatastrophen wird das Reich der Mitte immer wieder von Naturkatastrophen heimgesucht – auch ein politisches Problem für die KP. Viele Chinesen hängen dem Aberglauben an, Erdbeben und Taifune kündigten das Ende einer Regierung an. Bei dem schlimmen Erdbeben Mitte Mai reagierte Peking prompt: Umgehend wurden mehr als 30 000 Soldaten ins Krisengebiet abkommandiert, um der notleidenden Zivil-bevölkerung zu helfen. Auch dem Dalai Lama im indischen Exil nötigte das höchsten Respekt ab.

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s heißt für die China-Apologeten Abschied nehmen von einer liebgewonnenen Behauptung, die da lautet, die wirtschaftliche Liberalisierung werde zwangsläufig zu einem weitgehenden politischen Wandel Richtung Pluralismus und Demokratie führen. Wenig spricht am Vorabend von Pekings Olympia dafür. Es heißt für China-Hasser Abschied nehmen von einer Fundamentalkritik, die nur negative Entwicklungen und keinen Fortschritt in der Volksrepublik sieht. Vermutlich genossen die Menschen im Reich der Mitte nie so viele persönliche Freiheiten, sich zu bilden, ihren Lebensstandard zu verbessern, zu reisen. Aber nur dann, wenn sie darauf verzichten, das Regime in Frage zu stellen, sich politisch „einzumischen“ – und das ist ein sehr großes Aber. ™

ZUSPRUCH Premier Wen Jiabao zeigt sich zwei Tage nach dem Erdbeben als mitfühlender Landesvater. Er tröstet Kinder in der vom Erdbeben betroffenen Provinz Sichuan.

XINHUA / AFP

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in den Dörfern Chinas die Armut wieder zunimmt. Ausgerechnet die Bauern – das Rückgrat der maoistischen Revolution, der Stolz der Befreier – sind nun wieder die Verlierer. Die Pensionäre dürften, Stichwort demografischer Faktor, die nächsten sein. Klafft in Deutschland ein Rentenloch, ist es in China ein Riesenkrater. Das Wirtschaftswachstum von 11,6 Prozent im vergangenen Jahr und immer noch über 10 Prozent im ersten Quartal 2008 täuscht über gravierende Probleme auf dem Bankensektor hinweg. Die großen Geldinstitute sitzen auf faulen Anleihen in Milliardenhöhe. Da sie die maroden Staatsbetriebe, vor allem in der Schwerindustrie, weiter am Leben erhalten sollen, ist eine Lösung nicht abzusehen. Und die Hitzewellen der Sommer, die schweren Schneestürme im vergangenen Winter und zuletzt das furchtbare Erdbeben am 12. Mai zeigen drastisch die Schwächen der chinesischen Infrastruktur auf. Im ganzen Land, vor allem in den energieverschlingenden Großstädten, musste der Strom rationiert werden. Neben den verheerenden Umweltschäden ist das die Kehrseite des Wirtschaftserfolgs und der Konsumsteigerung. Ressourcen sind Chinas Problem Nummer eins. Die politische Führung weiß, dass sich ihre Landsleute nicht auf ewig mit einem Fünftel dessen begnügen werden, was derzeit ein Amerikaner an Wasser verbraucht, und auch nicht mit einem Zwölftel an Erdöl. Schon im Jahr 2007 dürfte das Land wegen seiner enormen Kohleverfeuerung die USA weltweit als schlimmster CO2-Vergifter und Klimazerstörer abgelöst haben – ein Rekord der traurigen Sorte, den die SuperlativSüchtigen in Peking gern verschweigen. Um sich Energieressourcen und Nahrungsmittelreserven im großen Stil zu sichern, hat Peking in der Dritten Welt eine Charme-Offensive gestartet. Von Sudan bis Angola, von Venezuela über Brasilien bis Burma schwärmten die chinesischen Emissäre aus und umwarben auch Regime von höchst zweifelhaftem Ruf. Den Chinesen kommt entgegen, dass ihr Modell eines wirtschaftlich offenen und politisch geschlossenen Erfolgsstaates in der Dritten Welt viele bewundernde Nachahmer findet. Mit der Einrichtung von Konfuzius-Instituten in vielen Ländern bietet Peking dann noch einen sanften, unaggressiven kulturellen Unterbau. Auch im Westen schätzen viele Politiker, vor allem aber Unternehmenschefs, die Can-do-Mentalität aus Fernost – Menschenrechte Nebensache. Außenpolitisch geht nicht mehr viel ohne die Kooperation der immer selbstbewusster auftretenden Chinesen. Ob die iranische oder die nordkoreanische Atomfrage: Washington und der Westen brauchen Pekings Unterstützung in internationalen Gremien. Schon heute ist die Volksrepublik die bestimmende Kraft in Asien. Eine ganz und gar nicht mehr heimliche Großmacht.

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