Wenn die Wut nicht mehr beherrschbar ist

http://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article13917626/Wenn-die-Wutnicht-mehr-beherrschbar-ist.html Jähzorn Autor: Ina Brzoska| 09:40 Wenn die Wu...
3 downloads 2 Views 1MB Size
http://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article13917626/Wenn-die-Wutnicht-mehr-beherrschbar-ist.html

Jähzorn Autor: Ina Brzoska| 09:40

Wenn die Wut nicht mehr beherrschbar ist Jähzorn ist ein zerstörerisches Ur-Gefühl. Es kann hervorbrechen, wenn sich Menschen bedroht fühlen. Doch oft gehen die zum Therapeuten, die unter jähzornigen Menschen leiden. Zinédine Zidane, im Finale der Fußball-WM 2006. Alle Welt sitzt vor den Fernseher oder beim Public Viewing. Milliarden Menschen erleben den Ausbruch des französischen Spielers mit. Zidane köpft einen italienischen Gegenspieler, der in provoziert hatte, zu Boden. Sekunden später sieht Zidane die rote Karte. Er verlässt das Spielfeld, wieder in sich gekehrt, gesenkten Hauptes und mit feuchten Augen.

Foto: picture alliance / Arco Images G/Arco Images GmbH Jähzorn-Ausbrüche können auch ein Indiz für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung sein

Naomi Campbell, am Londoner Flughafen Heathrow im Jahr 2008: Im Chaos ist dort ihr Koffer verschwunden. Das Blut der Mode-Ikone gerät in Wallung. Sie tritt und spuckt, als zwei Polizisten versuchen ihren Zornesausbruch zu bändigen. Sie wird vorübergehend verhaftet.

Für den Schweizer Psychotherapeuten Theodor Itten sind das typische Beispiele für JähzornAttacken. Im ersten Fall zieht ein reuiger Spieler vom Feld. Im zweiten Fall zelebriert eine Frau ihre Lust am Moment des Machthabens. „Jähzorn kann aus einem Menschen herausbrechen, wie die Lava eines Vulkans aus der Erde“, sagt Itten. Der Schweizer, der in Hamburg und Sankt Gallen therapiert und forscht, hat ein Buch über Jähzorn mit dem Titel „Rage“ geschrieben. Die größten Aussetzer auf dem Fußballplatz

Foto: REUTERS Im Achtelfinal-Hinspiel der Champions League gerät Gennaro Gattuso im Februar 2011 mit Tottenhams Co-Trainer Joe Jordan aneinander.

Doch woher kommt Jähzorn? Wie äußert er sich? Was kann man tun, um ihn loszuwerden? Itten führte eine Studie mit mehreren hundert Schweizern durch. Die telefonische und persönliche Umfrage ergab: Immerhin ein Viertel der Befragten bezeichnen sich selbst als jähzornig, 22 Prozent erleben oder erlebten sich selbst als Opfer von Menschen, die die Kontrolle verlieren und ausrasten. Seit Jahren setzt Itten sich mit diesem aufbrausenden Gefühl auseinander, vielleicht, weil er selbst ein Kindheitstrauma erlitt, als sein Onkel ihn während eines Anfalls mit der Mistgabel attackierte. Wohl aber auch, weil immer mehr Menschen in seine Praxis kommen, die unter solchen Attacken leiden. Von Chruschtschow bis Ahmadinedschad

Foto: AP/DAPD 23. September 2010: Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad verkündet vor der UN-Vollversammlung, die USA steckten selbst hinter den Anschlägen vom 11. September 2001. Es ist nicht die erste Provokation dieser Art am Rednerpult in New York. WELT ONLINE wirft einen Blick zurück.

Itten kennt zahlreiche Beispiele aus Therapiestunden, viele davon hat er im Buch beschrieben. Ein Vater, der in einem plötzlichen Anfall von Jähzorn auf sein Kind einprügelt, ein Angestellter, der im Stau zu toben beginnt und auf ein Autodach schlägt oder Chefs, die mit Gegenständen nach ihren Mitarbeitern werfen. „Oft beendet eine Gewalttat gegen Objekte oder Menschen den Ausbruch“, sagt der Therapeut. „Jähzorn hat etwas mit dem Tier in uns zu tun“, sagt er. Ein zerstörerisches und unkontrollierbares Ur-Gefühl, das aufkommt, wenn Menschen sich bedroht fühlen. Bot es früher in Gefahrensituationen Schutz, leiden heute Betroffene und vor allem Angehörige unter unverhältnismäßigen Zornesausbrüchen. Oft deuten Jähzorn-Attacken auf Krankheiten wie Alkoholismus hin, die Grenzen zur Störung sind meist fließend. Wenn Menschen mehr als viermal im Jahr Jähzornanfälle erleben, sprechen Psychiater von einer „psychischen Störung im Bereich der altersentsprechenden Affektkontrolle“. In Therapien können sie lernen, über verschiedene methodische Ansätze ihr Verhalten zu ändern. Etwa durch Körperpsychotherapie, durch Schematherapie oder kognitive Verhaltenstherapie. Sie lernen, den Auslöser in sich zu spüren und ihren Mitmenschen rechtzeitig zu signalisieren, dass sich ein Ausbruch anbahnt.

Ärger frühzeitig ankündigen Viele, vor allem jähzornige Männer, müssen ihr Gefühlsrepertoire erweitern und dafür sorgen, dass es gar nicht erst zu einer Eskalation kommt. Oft hilft es, den Ärger früher zu verbalisieren, sich rechtzeitig Fluchtwege zu suchen, um dem Ausbruch zu entgehen. Sport ist ein bewährtes Mittel, auf das Therapeuten setzen. „Laufen Sie der Wut davon“, sagt Itten Betroffenen oft.

Wissenschaftlich gebräuchlich sind Begriffe wie Wut und Jähzorn nicht. Der Diagnosekatalog ICD 10, mit dem in Kliniken und Praxen Krankheiten klassifiziert werden, beschreibt aber das sogenannte Wutsyndrom. Und darunter leiden mehr Menschen als angenommen: Allein in den USA soll es 16 Millionen Betroffene geben. In einer Studie der Universitäten Harvard und Chicago wurde das Aggressionspotenzial von 9282 Amerikanern untersucht. Die Wissenschaftler, die in der Fachzeitschrift „Archives of General Psychiatry“ 2006 ihre Ergebnisse präsentierten, zeigten sich überrascht von der unerwartet hohen Zahl der Betroffenen. Im Durchschnitt kamen sie auf 43 Wutattacken, von denen die erste im Alter von 14 Jahren auftrat. Berühmte charismatische Persönlichkeiten

Foto: pa US-Präsident Barack Obama verbindet Politik mit großer Ausstrahlung. Psychologen fanden heraus, dass er in seinen Reden mehr Metaphern als andere Politiker benutzt. Das macht es den Zuhörern einfacher, sich mitreißen zu lassen.

Die Wissenschaftler wiesen darauf hin, dass es mehr Aufmerksamkeit und bessere Therapiemöglichkeiten geben müsse, nur 30 Prozent jener, die unter einem Wutsyndrom leiden, ließen sich in den USA zu der Zeit behandeln. Die Gefahr, dass sie Depressionen oder Ängste entwickeln ist groß. Viele greifen zu Alkohol und Drogen, viele bekommen beträchtliche soziale Schwierigkeiten. Das Wutsyndrom, auf englisch: Intermittent Explosive Disorder (IED), diagnostizieren Psychiater, sobald Menschen mindestens drei solcher Ausbrüche in ihrem Leben hatten „Manche Menschen können Emotionen nicht bremsen, es laufen Schleifen im Gehirn ab, das Gefühl schaukelt sich hoch und entlädt sich sozial inadäquat“, beschreibt es der Klinikpsychologe Mazda Adli vom Berliner Universitätsklinikum Charité. Das müsse nicht immer krankhaft sein, sondern kann auf eine starke Impulsivität deuten. Trotzdem, merkt Adli an, könnten Jähzorn-Ausbrüche auch ein Indiz dafür sein, dass eine Borderline-Persönlichkeitsstörungen vorliegt.

Viele erkennen ihre Krankheit nicht Viele Jähzornige, so Itten, seien nicht therapiewillig. Viele erkennen ihre Krankheit nicht, einige leben während eines Anfalls gar Herrschaftsgefühle aus. Es ist der Moment der Macht über andere, die kurzfristig Lust verschaffen kann, so Itten. Oft kommen jene, die unter jähzornigen Menschen leiden, als erste zum Therapeuten. Die Studie hat gezeigt, dass 68 Prozent der „Täter“ in der Familie jähzornig werden. „Zu Hause unterliegt man nicht so sehr der sozialen Kontrolle, sondern kann seine dunkle Seite ungehemmter ausleben“, sagt Itten. Gerade Männer seien im sozialen Umfeld kontrollierter, spielten aber zu Hause oft den Tyrannen. Doch betreffe Jähzorn auch Frauen, sie lebten Ausbrüche nur anders aus als Männer. Weniger gewaltsam, dafür schärfer in der Artikulation und weil Frauen auch multitaskingfähig sind, wird nicht nur gebrüllt, es fliegt gleichzeitig auch mal ein Teller. Eltern, die aufbrausend sind und extreme Stimmungsschwankungen in der Familie ausleben, bergen ein großes Zerstörungspotenzial. „Vor allem Kinder reagieren verstört, wissen nicht, woran sie sind“, sagt Itten. Viele Menschen, die eine Psychotherapie in Anspruch nehmen, haben so etwas in der Kindheit erlebt, berichtet Itten. Die Opfer seien in doppelter Weise betroffen, weil sie als Blitzableiter missbraucht werden und sich oft selbst als Auslöser für den Tobsuchtsanfall des anderen sehen. Die Welt – Hamburg, 13. März 2012 – S. 20