Osteuropa nach dem Kalten Krieg

Osteuropa nach dem Kalten Krieg 1. Das neue Russland und seine Rolle in der Welt 1.1 Russland und die GUS http://www.bpb.de/internationales/europa/ru...
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Osteuropa nach dem Kalten Krieg 1. Das neue Russland und seine Rolle in der Welt 1.1 Russland und die GUS

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Ursachen des Zusammenbruchs der Sowjetunion (UdSSR) Die Auflösung der seit 1922 bestehenden Sowjetunion bedeutete gleichzeitig das Ende einer Supermacht. Bereits seit Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hatte die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der UdSSR stagniert. Die militärische Bedeutung und die innere Entwicklung entsprachen sich nicht, weil es viele folgende Probleme gab: • Die zentrale Kommandowirtschaft und der ruinöse Rüstungswettlauf mit dem Westen. • Mangel und Misswirtschaft im Alltag der Sowjetbürger und eine überalterte Führungselite. • Nationalitätenkonflikte im Baltikum, im Kaukasus und in Mittelasien. • Die Invasion in Afghanistan 1978, um die Ausbreitung der islamischen Revolution auch in die Kaukasusrepubliken zu verhindern, erwies sich als Misserfolg und innenpolitische Belastung. • Technologische Unterlegenheit und Mängel, wie sie zu dem Super-GAU im Kernkraftwerk von Tschernobyl 1986 führten. Die Einsicht in die Notwendigkeit eines Wandels ließen den 1985 an die Macht gekommenen Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, Reformen einleiten, deren zentrale

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Anliegen er mit Perestroika (russ. Umgestaltung, Umbau, Veränderung) und Glasnost (russ. Transparenz, Offenheit, Wahrhaftigkeit) umschrieb. Gorbatschow beendete das Wettrüsten mit dem Westen und leitete eine umfassende Demokratisierung der sowjetischen. Gesellschaft ein. Allerdings setzte diese auch die unterdrückten Nationalitätenkonflikte ("Explosion des Ethnischen") frei, die sich seit 1988 stark ausbreiteten. Die Sowjetunion umfaßte 129 Ethnien. Davon bestanden 22 aus mehr als einer Millionen Menschen. 15 größere Nationen verfügten über "nationale Staatlichkeit" (Unionsrepubliken). Unter Stalin wurden ganze Völker zwangsumgesiedelt. Es gab kaum Gebietsabgrenzungen, die nicht umstritten waren .Mehr und mehr Regionen, Nationalitäten und Völker verlangten die Selbstbestimmung und schließlich die Unabhängigkeit von der UdSSR. Der sowjetische Abzug aus Afghanistan 1988 bedeutete einen radikalen Kurswechsel, da erstmals der Sturz eines kommunistischen Regimes in einem Nachbarstaat in Kauf genommen wurde. Auch die Wende 1989/90 in Ostmitteleuropa ohne sowjetische Intervention war ein deutliches Signal nach innen. Das Ende der Sowjetunion 1991 Die Auflösung begann mit der Unabhängigkeitserklärung aller 15 Unionsrepubliken im Jahre 1990. Sie pochten auf ihr verfassungsmäßiges Recht zum Austritt aus der UdSSR oder wiesen auf ihre zwangsweise Eingliederung in die UdSSR hin, z.B. die baltischen Staaten nach dem Hitler-Stalin- Pakt 1939. Der Zerfall der Sowjetunion fand seinen Abschluss in der Gründung der GUS am 21.12.1991. Die führende Rolle innerhalb der GUS hat die Russische Föderation, die als Nachfolgerin der UdSSR auch den Sitz im UN-Sicherheitsrat innehat. Höchstes Organ der GUS ist der Rat der Staatsoberhäupter, der zweimal im Jahr zusammentritt. Die Auflösung der Sowjetunion und die Gründung der GUS 11.3.1990 Als erste Republik erklärt Litauen die Unabhängigkeit. Es folgen im Mai die restlichen baltischen Staaten in den seit dem Hitler-Stalin-Pakt besetzten Gebieten. Insgesamt erklären sich alle 15 Unionsrepubliken nacheinander für souverän. An die zwei Dutzend Minderheiten, die Teil von Unionsrepubliken sind, folgen diesem Schritt und wollen ihrerseits als eigene Unionsrepubliken anerkannt worden, z.8. Tschetschenien. August 1991 Ein Putsch konservativer Funktionäre scheitert am Widerstand der Moskauer Bevölkerung und am russischen Präsidenten Boris Jelzin. Es folgt das Verbot der KPdSU in der UdSSR. 8. 12.1991 Die Ministerpräsidenten der drei slawischen Kernrepubliken Russland, Weißrussland und Ukraine beschließen die Schaffung der "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“. Im Zuge der Auflösung der Sowjetunion schlossen sich Russland, die Ukraine und Weißrussland am 8. Dezember 1991 zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zusammen; am 21. Dezember 1991 traten acht weitere Sowjetrepubliken der GUS bei. Fünf Tage später, am 26. Dezember, wurde die Sowjetunion offiziell aufgelöst.

Moskau und die GUS Der russische Präsident Boris Jelzin beteiligte sich zwar aktiv an der Auflösung der Sowjetunion und forderte die Entstehung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Aber Russland löste sich im Gegensatz zu anderen Republiken nicht von der UdSSR, sondern übernahm die wichtigsten Institutionen der Sowjetunion und beanspruchte deren

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Rechtsnachfolge. Es gelang der Regierung in Moskau, den ständigen Sitz im Sicherheitsrat der UNO und weitgehend die Atomstreitkräfte zu erben. Russland nahm auch innerhalb der GUS-Staaten die Führungsrolle ein. Russland umfasst drei Viertel des Gebietes der UdSSR und die Hälfte ihrer Bevölkerung. Davon sind über 80 Prozent Russen. Der offizielle Name "Russische Föderation" weist daraufhin, dass dieser neue Staat aus zahlreichen Regionen und Republiken einen Vielvölkerstaat bildet. Abspaltungsgelüsten trat der Kreml vehement und teilweise mit militärischen Mitteln entgegen. Die GUS ist ein lockerer Staatenbund, der vor allem die Abrüstungsverträge der UdSSR übernahm und die wirtschaftliche Zusammenarbeit unter den ehemaligen Sowjetrepubliken fördert. Die Russische Föderation scheiterte aber in den 1990er-Jahren mit Versuchen, die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen innerhalb der GUS zu verstärken. Innerhalb des Staatenbunds bildeten sich allerdings Gruppen mit intensiverer Zusammenarbeit. Die GUS konnte ein Auseinanderdriften letztlich nicht verhindern. Viele Staaten besannen sich auf vorsowjetische Traditionen und Geschichte. Sonderfall Baltikum Die baltischen Staaten, die sich aufgrund ihrer Geschichte als mitteleuropäische Länder verstehen, schlossen sich der GUS erst gar nicht an. Sie suchten Kontakt zu den skandinavischen Staaten und traten 2004 der EU bei. Im Baltikum etablierten sich schnell parlamentarische Demokratien mit funktionierendem Rechtssystem und Marktwirtschaft. Dem wirtschaftlichen Aufschwung war es dabei wohl zu verdanken, dass die beachtlichen russischen Minderheiten in diesen Nationalstaaten nicht vehement gegen die diskriminierende Sprachenpolitik rebellierten. Entwicklung in den GUS-Staaten In den meisten Staaten der GUS etablierten sich autoritäre Präsidialregimes, in denen die Parlamente und Regierungen gegenüber dem Präsidenten schwach waren. Die Herrscher entstammten häufig den sowjetischen Eliten. Obwohl meist demokratische Verfassungen eingeführt wurden, wurden die Menschen- und Bürgerrechte in diesen Staaten nicht respektiert und Korruption grassierte. Politisch und wirtschaftlich waren diese Länder meist von Russland abhängig. In wenigen Staaten, z. B. der Ukraine und Georgien, führten Massenbewegungen zu einem Umsturz. Sie forderten Demokratisierung, Marktwirtschaft und Orientierung zum Westen. Moskau und der Westen mischten sich in diese Auseinandersetzungen jeweils fast wie in den Zeiten des Kalten Krieges ein. So erkannten die USA und die EU 2004 wie die Opposition ein gefälschtes Wahlresultat in der Ukraine nicht an, der Kreml aber schon. In diesen Auseinandersetzungen wurde auch deutlich, dass sich Russland auch nach dem Ende der UdSSR als regionale Hegemonialmacht versteht, obwohl Moskau offiziell die Souveränität der ehemaligen Sowjetrepubliken nicht anzweifelt. Insgesamt hat sich die wirtschaftliche und politische Lage in den meisten neuen Nationen trotz gewaltiger Probleme innerhalb von etwa 10 Jahren stabilisiert, nachdem es in den 1990er-Jahren vereinzelt noch zu Kriegen und Bürgerkriegen gekommen war. Anders als in den islamisch dominierten GUS-Staaten verzeichnete Russland einen grossen Bevölkerungsverlust, denn die Bevölkerung sank von 148 Mio. (1990) auf 143 Mio (2005). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Bevölkerungsschwund durch die Rückwanderung

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russisch stämmiger Menschen aus anderen GUS-Staaten abgefedert wurde. Die Hauptursache bestand aus einem massiven Rückgang der Geburtenrate nach 1992 und einem gleichzeitigen Anstieg der Sterberate. Die Lebenserwartung der Männer lag 2005 bei 60 Jahren, der Frauen bei 74 Jahren (in der Schweiz 2003 für Männer 77, für Frauen 83 Jahre). Verantwortlich dafür waren unter anderem das marode Gesundheitssystem und der Alkoholismus mit seinen Nebenwirkungen (Unfälle, Gewalttätigkeiten). 1.2 Innere Entwicklung Russlands Innenpolitik Die Innenpolitik Russlands orientierte sich unter Boris Jelzin weitgehend an dem westlichen Vorbild, allerdings zeigten sich bereits in seiner Regierungszeit autoritäre Tendenzen. So wurde die Macht des Präsidenten durch die Verfassung von 1993 ausgebaut, diejenige des Parlaments geschwächt. Unter seinem Nachfolger Wladimir Putin wurde die "gelenkte Demokratie" noch verstärkt, indem er den politischen Einfluss der Konzerne brach und vermehrt auf Zentralisierung setzte, was auf Kosten des Föderalismus ging. So setzte der Präsident die Gouverneure ein, statt dass sie in den Teilrepubliken gewählt wurden. Demonstrationen gegen die Regierung wurden immer weniger geduldet. Ausserdem wurde die Pressefreiheit eingeschränkt. Die meisten wichtigen Medien wurden staatlich kontrolliert. Journalisten, die kritisch über den Kreml oder über Machenschaften mächtiger Wirtschaftskreise berichteten, lebten gefährlich. Von 1993 bis 2007 kamen gemäss der Journalisten-Gewerkschaft mehr als 200 Medienschaffende ums Leben, teilweise auf mysteriöse Art und Weise. Dass kein Fall aufgeklärt wurde, zeigte die fehlende Rechtsstaatlichkeit: Gesetze besagten wenig, entscheidend war, wer über Macht verfugte. Dies und die Einschränkung der Pressefreiheit forderte natürlich auch die Korruption, die unter Putin ebenso zunahm wie der Beamtenstaat. Die Parteien in Russland folgten unter Jelzin und Putin Persönlichkeiten, nicht Programmen. Sie waren deshalb leicht zu beeinflussen, was auch durch die Medien massiv geschah. Putin hatte sich während seiner Amtszeit durch seine erfolgreiche Wirtschaftspolitik und die Ansprache nationaler Gefühle eine beträchtliche Popularität erworben. Nach der russischen Verfassung war eine weitere Amtszeit als Staatspräsident unmittelbar nicht möglich. Putin liess sich aber für die Duma-Wahl 2007 als Spitzenkandidat des Geeinten Russland aufstellen. Obwohl der Wahlsieg eigentlich nicht bezweifelt wurde, gab es detaillierte Berichte über Einflussnahmen auf Wähler um das Wahlergebnis für Putin noch zu optimieren. Nach dem Erfolg bei der Duma-Wahl wurde Putins Gefolgsmann Dimitri Medwedew als Kandidat für die Nachfolge im Amt des Staatspräsidenten präsentiert. Medwedew wiederum erklärte sich für Putin als Ministerpräsident. Auf diese Weise blieb Putin als "starker Mann" der russischen Politik an den Schalthebeln der Macht bleiben. Seit Mai 2012 haben die beiden Politiker wieder ihre Rollen getauscht. Putin wurde zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt und Medwedew wurde wieder Ministerpräsident.

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Endergebnis der Dumawahl in Russland (2. Dezember 2007) Parteien und Wahlblöcke Stimmen %

Sitze

Geeintes Russland (Jedinaja Rossija)

44.714.241

64,30%

315

Kommunistische Partei der Russischen Föderation (Kommunistitscheskaja Partija Rossijskoi Federazii)

8.046.886

11,57%

57

Liberal-Demokratische Partei Russlands (Liberalno-Demokratitscheskaja Partija Rossii)

5.660.823

8,14%

40

Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija)

5.383.639

7,74%

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Die russische Föderation

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Wirtschaft Demokratie, Dezentralisierung, Privatisierungen und Liberalisierung (z. B. Freigabe der Preise) wurden in der Ara Jelzin dem Land in einer Art Schocktherapie verordnet. Der Erfolg blieb allerdings weitgehend aus. In den Laden gab es zwar nun im Gegensatz zu den Zeiten der Sowjetunion ein grosses Angebot, aber nur wenige hatten das Geld, um davon zu profitieren. Die wirtschaftliche Umstrukturierung führte zu einer Krise, welche durch weltwirtschaftliche Probleme noch verschärft wurde. Zudem verloren viele Menschen im Rubel-Crash von 1998 durch die Inflation ihr Vermögen. Der Lebensstandard sank, bis gegen Ende der 1990er-Jahre Russland von den erhöhten Rohstoffpreisen (besonders für Erdöl und Gas) profitierte. Die Wirtschaft florierte nun, in Städten wie Moskau brach ein Bauboom aus. Wettbewerb und freie Marktwirtschaft galten aber nur in den Bereichen, in denen sich keine Oligarchen durchgesetzt haben. So waren im wichtigen Energiebereich Staat und Wirtschaft eng verbunden. Weniger erfolgreich war die Privatisierung der Landwirtschaft. Sie hatte mit steigenden Preisen der Produktionsmittel, sinkenden Erträgen aus dem Verkauf landwirtschaftlicher Güter und einer sehr geringen Produktivität zu kämpfen. So sank der Beitrag der Landwirtschaft zum BIP von 15,3 Prozent 1990 auf 5 Prozent 2006, wahrend noch immer 13 Prozent aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig waren. Gesellschaft Mit dem Untergang der Sowjetunion wechselten wie in andern ost- und mitteleuropäischen Staaten die politischen Eliten nicht. Schon die Perestroika war keine soziale Revolution. Die Angehörigen des Partei-Apparates blieben auf ihren Posten und verteidigten ihre Privilegien oder wechselten zu neuen, lukrativeren Tätigkeiten. Vor allem die ehemalige sowjetische Elite bereicherte sich durch die Privatisierungen unter Jelzin. Es entstand dazu eine neue Elite aus Geschäftsleuten, die nicht immer klar zu unterscheiden ist von verbrecherischen Kreisen (Mafia), die sich schnell vergrössert haben. Dieser kleinen Gruppe aus alter und neuer Oberschicht, die eng zusammenarbeitet, steht immer noch eine grosse Zahl an Unterschichtsangehörigen gegenüber. In der Ära Putin profitierten allerdings immer mehr Menschen in Russland von der wirtschaftlichen Stabilität, die Mittelschicht wuchs deutlich. Im Gegensatz zu andern osteuropäischen Staaten stieg damit aber bisher nicht das Interesse an Demokratie, vermutlich weil viele Russinnen und Russen die Ära Jelzin mit seinen grossen Freiheiten vor allem mit der chaotischen Wirtschaftslage verbinden. Die Frauen in der UdSSR waren zwar rechtlich den Männern gleichgestellt und sie wurden ins Arbeitsleben integriert, aber in Familie und Politik herrschte ein patriarchalisches Rollenverhalten. Daran änderte sich im neuen Russland grundsätzlich nichts. Frauen waren auch unter Putin in den politischen Spitzenämtern kaum vertreten. In der Wirtschaft sowie im Bildungs- und Gesundheitsbereich spielten sie eine wichtige Rolle, obwohl viele von ihnen durch die Arbeit in Haushalt und Beruf doppelt belastet waren. Die in der sowjetischen Zeit mal mehr, mal weniger stark unterdrückte russisch-orthodoxe Kirche ist seit dem Untergang der Sowjetunion wiederbelebt worden. Zum russischen Nationalgefühl - und zur Abgrenzung gegenüber dem Westen - gehörte traditionellerweise die Verbundenheit zur Orthodoxie. Wie im vorrevolutionären, zaristischen Russland sah sich

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die Kirche nach der Wende von 1991 wieder als staatstragende Kraft, ohne allerdings ihre grosse Bedeutung von einst wiederzugewinnen. 1.3 Konflikte im Kaukasus

Karte der Kaukasus-Region

Kaukasus im Zarenreich Russland eroberte den Kaukasus nicht, weil die Region kolonisiert werden sollte. Das russische Reich suchte ab dem 17. Jahrhundert nach einem Zugang zu warmen, auch im Winter eisfreien Meeren im Süden. Das Schwarze Meer und die Dardanellen wurden vom Osmanischen Reich kontrolliert. Der Widerstand der Einheimischen gegen die russischen Feldzüge war bereits im 18. Jahrhundert gross, es kam zu Aufständen. Die Gegenreaktion der Russen war heftig. Viele Kaukasier verschiedenster Stamme wurden vertrieben oder flohen ins Osmanische Reich. Dennoch konnte der Widerstand nicht gebrochen werden. Mitte des 19. Jahrhunderts zählte das in der russischen KolonieTschetschenien mehr russische Soldaten als Tschetschenen. Die verschiedenen Unabhängigkeitsbewegungen verband drei Elemente: Erstens unterschied sie der islamische Glaube von den orthodoxen Russen. Zweitens unterhielten sie sich in den Sprachen des Islam (Arabisch und Türkisch). Und drittens strebten sie danach, die Unabhängigkeit wieder zu erlangen, die sie vor der Besetzung durch Russland besassen. Konflikte in der UdSSR Im Machtvakuum nach der Februarrevolution 1917 wurde die unabhängige Nordkaukasische Republik gegründet, aber bald schon durch die Rote Armee besetzt und aufgelöst. Der Georgier Stalin fasste Völker mit unterschiedlichen Sprachen aus verschiedenen Stämmen in Republiken zusammen. Dies bewirkte, dass es zu Spannungen zwischen den verschiedenen Clans kam, was die Errichtung der sowjetischen Herrschaft erleichterte.

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Wegen angeblicher Kollaboration der Tschetschenen mit der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg befahl Stalin 1944 deren Deportation nach Sibirien und Kasachstan. Dabei kamen nach Schätzungen 200‘000 Menschen um, was etwa einem Drittel der damaligen tschetschenischen Bevölkerung entsprach. Im Rahmen der Entstalinisierung wurde das tschetschenische Volk 1957 rehabilitiert. Erster Tschetschenienkrieg Als 1991 die UdSSR zerfiel, erlangten in der Kaukasus-Region die ehemaligen sowjetischen Republiken Georgien, Armenien und Aserbeidschan die Unabhängigkeit. Auch die zur russischen Republik gehörende autonome Republik Tschetscheno-Inguschetien erklärte sich für unabhängig. Präsident Jelzin wollte dies nicht akzeptieren und griff 1994 mit der russischen Armee ein, denn für Russland hatte der Kaukasus eine grosse Bedeutung. Durch Tschetschenien verliefen eine Erdgas- und eine Ölpipeline von den Fördergebieten am Kaspischen Meer zum Schwarzen Meer. Weiter fürchtete Moskau um die Sicherheit der Russen, die in Tschetschenien lebten, und wollte auch nicht die russischen Eroberungen sowie die sowjetischen Militärbasen preisgeben. Und schliesslich fürchtete die Regierung Jelzin, dass die russische Föderation zerfallen konnte, wenn man den Tschetschenen Unabhängigkeit gewähren würde. Trotz anfänglicher Erfolge wurde schliesslich die russische Armee 1996 von den tschetschenischen Unabhängigkeitskämpfern besiegt und Moskau musste ein Friedensabkommen unterzeichnen, in dem allerdings der zukünftige Status von Tschetschenien nicht festgehalten wurde. Der Regierung in Grosny gelang es nicht, politische und wirtschaftliche Stabilität herbeizuführen. Der Präsident konnte sich nicht gegen die Clanführer und Warlords durchsetzen, die oft eng mit der kriminellen Szene verbunden waren. Zweiter Tschetschenienkrieg Kaum im Amt, führte der neue russische Ministerpräsident Wladimir Putin (noch unter Präsident Jelzin) einen zweiten Krieg gegen Tschetschenien. Islamismus, Terrorismus und die zunehmende Kriminalität (v. a. Schmuggel, zahlreiche Entführungen, Überfalle) führte er als Grunde an. Vor dem Hintergrund der nach wie vor bestehenden Unabhängigkeitsforderungen nahm der Islam als Abgrenzung gegen das christliche Russland an Bedeutung zu. 1999 wurde die Scharia, die islamische Rechtsprechung, in Tschetschenien eingeführt. Islamistische Rebellen aus Tschetschenien und Dagestan eroberten einige Dorfer in Dagestan und wollten einen "unabhängigen islamistischen Staat" errichten. Sie wurden aber von der russischen Armee geschlagen. Im August und September 1999 wurden bei einer Serie von Anschlägen auf Wohnblocks in Moskau und anderen russischen Städten mehr als 300 Menschen getötet, die Bevölkerung dadurch tief beunruhigt. Die russische Regierung verdächtigte muslimische Extremisten aus Tschetschenien, diese Taten begangen zu haben. Obwohl Putin dies nie beweisen konnte, hatte er nun die Zustimmung der russischen Bevölkerung, um Tschetschenien mit einem weiteren Krieg zu überziehen. Unabhängige Journalisten durften dabei nicht ins Kriegsgebiet, die Weltöffentlichkeit konnte sich so nicht ein genaues Bild von der Lage machen. Moskau bezeichnete den Krieg offiziell als "Anti-Terror-Aktion". Russland missachtete dabei das Kriegsrecht und dem Terror von Rebellen antworteten die russischen Militärs und der russische Geheimdienst FSB mit massivem staatlichem Terror, der auch die Zivilbevölkerung nicht verschonte.

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Aber weshalb kämpfte Russland so entschlossen um Tschetschenien? Das Erdöl spielt keine Rolle mehr wie im Ersten Tschetschenienkrieg, denn inzwischen baute Russland eine Pipeline, welche Tschetschenien nördlich umgeht. Ausserdem hatte sich inzwischen die Russische Föderation stabilisiert, so dass sie nicht mehr zu zerfallen drohte. Die offizielle Begründung, gegen islamischen Fundamentalismus und Terrorismus zu kämpfen, überzeugt auch nicht ganz. Denn im Gegensatz zur global operierenden al Qaida strebte der tschetschenische Terror nur nach der Unabhängigkeit des Kaukasus-Landes. Der Islamismus ist auch nur für eine Minderheit der Tschetschenen von Bedeutung, denn traditionellerweise sind sie Anhänger des moderaten Sufismus. Vermutlich wollte Russland mit einem Sieg in Tschetschenien über (nicht nur militärische) Niederlagen hinwegkommen (Afghanistan, Kalter Krieg, Erster Tschetschenien-Krieg). Ausserdem wäre der Verlust dieses Gebietes für russische Nationalisten nicht akzeptabel. Auffällig war das weitgehende Schweigen der westlichen Regierungen zum grausamen Vorgehen Russlands in Tschetschenien. Der Krieg wurde als eine innere Angelegenheit Russlands angesehen. Schliesslich wollte der Westen wichtigere Anliegen nicht gefährden, in denen man auf das gute Einvernehmen mit Moskau angewiesen war: die Förderung von Erdöl und Erdgas sowie die Erweiterung von NATO und EU in Osteuropa. Der amerikanische Präsident Bush konnte ausserdem schlecht den Kampf Russlands kritisieren, der sich offiziell gegen islamistische Terroristen richtete, wenn die USA in Afghanistan und im Irak ihre Kriegführung und die Behandlung von Gefangenen (Guantanamo) ebenfalls mit dem Kampf gegen den religiösen Terrorismus begründeten. Weitere kaukasische Konflikte Im Westen nahm man in der Öffentlichkeit vor allem die Kriege in Tschetschenien wahr. Dabei gibt es eine Reihe weiterer Konflikte im Kaukasus, die bis heute ungelöst sind. Wie in Tschetschenien geht es immer um den gleichen Widerspruch zwischen dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts von Völkern und dem Prinzip der Unverletzlichkeit von Grenzen bestehender Staaten. Ein Konfliktmuster, das ein typisches Erbe kolonialer Herrschaft ist. Abchasien und Südossetien sind Gebiete, die sich von Georgien losgelöst haben, weil sie sich kulturell und sprachlich unterdrückt fühlten. Die Abchasen trennten sich in den ersten Jahren nach dem Ende der UdSSR mit Gewalt von Georgien und strebten nach einem unabhängigen Staat, obwohl dieser noch von keinem andern Land anerkannt worden ist. 1994 wurde mithilfe der Vereinten Nationen ein Friedensvertrag geschlossen. Dieser wird durch russische Friedenstruppen im Auftrag der GUS und durch militärische UNBeobachter überwacht. Die Südosseten möchten sich dagegen mit den russländischen Nordosseten vereinigen und würden damit Teil Russlands. Moskau unterstützt diese Bestrebungen vor allem, weil sie sich gegen Georgien richten, schreckt aber vor einem territorialen Anschluss Südossetiens zurück, um einen Präzedenzfall z. B. für Tschetschenien zu vermeiden. Aber sowohl Abchasen wie Sudosseten wurden mit russischen Pässen versorgt. Verschiedene Zwischenfälle sorgten immer wieder für Spannungen zwischen Moskau und Georgien und waren der Suche nach einer Lösung abträglich. Die christlich-armenische Mehrheit in Nagorni-Karabach (Berg-Karabach) wünscht die Abspaltung vom muslimisch geprägten Aserbaidschan und den Anschluss an Armenien.

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Auch hier kam es beim Zerfall der Sowjetunion zu heftigen Kämpfen. Mit Hilfe Russlands und der OSZE wurde 1994 ein Waffenstillstand geschlossen. Russland, Frankreich und die USA haben aber bisher vergeblich versucht, einen Frieden herbeizuführen. Lösungsvorschlage, die unter anderem auch einen Gebietsabtausch mit der aserbeidschanischen Exklave Nachitschewan vorsahen, scheiterten. Kosovo und Kaukasus Vergleicht man den Streit um die Sezession Kosovos und die Konflikte im Kaukasus, fällt auf, dass die Grossmächte keine konsequente Haltung einnahmen. Russland wehrte sich gegen die Loslösung des mehrheitlich von Albanern bewohnten Kosovo von Serbien, wohl aus Furcht vor einer Präzedenzwirkung in Tschetschenien, aber auch aus panslawischer Solidarität mit Serbien. Gleichzeitig unterstützte der Kreml aber die faktische Loslösung Abchasiens und Südossetiens von Georgien. Im Westen ermutigte man dagegen tendenziell den Kosovo auf dem Weg zu einer Eigenstaatlichkeit, lehnte aber die von Abchasien und Südossetien geforderte Abspaltung von Georgien ab. 1.4 Machtpolitische Perspektiven Russlands Die Sowjetunion war in den Zeiten des Kalten Krieges eine der beiden Supermächte. Als ihre Rechtsnachfolgerin war die Russländische Föderation weiterhin eine Weltmacht, denn sie erbte eines der grössten atomaren Arsenale in den 1990er-Jahren. Aber die Armee war in dieser Zeit in einem schlechten Zustand, die Niederlage im Ersten Tschetschenienkrieg ein Indiz dafür. Wahrend der Präsidentschaft Putins wurde verstärkt aufgerüstet. Russland ging aussenpolitisch immer wieder auf Konfrontation mit dem Westen. Insbesondere Putin kritisierte manchmal mit aggressiven Worten die USA, EU oder NATO. Oft gab Russland aber dem Westen stillschweigend nach, vor allem, wenn es sich um Fragen handelte, welche nicht den Bereich der ehemaligen Sowjetunion betreffen. Am Nahen Osten zeigte Putin zum Beispiel kein besonderes Interesse. Hier werden auch Gemeinsamkeiten mit den USA deutlich. Denn es liegt nicht in Russlands Absicht, mit Iran einen weiteren atomar bewaffneten Nachbarstaat zu dulden. Und Moskau hat ein Interesse daran, militante Islamisten zu bekämpfen, weil das Land verschiedene muslimische Nachbarn hat und es in Russland selber vor allem im Süden islamische Minderheiten gibt. Der Kreml versteht aber das Gebiet der ehemaligen UdSSR immer noch als seine Interessensphäre und versucht deshalb, Einfluss auf Entwicklungen in diesen Staaten zu nehmen und ergreift bei innenpolitischen Konflikten in diesen Staaten häufig Partei. Insbesondere unter der Präsidentschaft Putins zeigte Russland immer wieder demonstrativ seine Grossmachtambitionen. Das Beispiel um die Loslösung der Halbinsel Krim von der Ukraine und ihren Anschluss an die russische Föderation im Jahre 2014 ist unter diesem Aspekt zu betrachten. Putin agiert im gewissen Sinne wie die Zaren, die immer die Grenzen ihres Reiches absichern wollten, um sich als Grossmacht zu bestätigen. Die Position Russlands wird auch dadurch gestärkt, dass es ein wichtiger Erdgaslieferant ist. Viele Länder Ost- , aber auch Westeuropas sind von den russischen Lieferungen abhängig.

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Die größten Abnehmerländer Gazproms 2009 (in Mrd. m3)

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2. Balkan – Der Jugoslawienkonflikt 2.1 Jugoslawien 1991

Jugoslawien bestand aus sechs Teilrepubliken: Slowenien, Kroatien, Serbien, BosnienHerzegowina, Montenegro und Makedonien und zwei autonomen Gebieten innerhalb Serbiens: der Vojwodina und dem Kosovo. 1991 lebten insgesamt 24 Millionen Menschen in Jugoslawien, davon 36% Serben, 20% Kroaten , 8% Slowenen, 6% Makedonier, 8% Albaner, 9% Moslems (Bosniaken), 3% Montenegriner, 2% Ungarn, sonstige 8%. Mit Blick auf die ethnische Struktur sind drei Konstellationen zu unterscheiden a) In Slowenien, im serbische Kernland und im Kosovo stellten die jeweiligen Volksgruppen eine Mehrheit von 80-90%. b) In Kroatien lebte eine serbische Minderheit von 12%, in Makedonien eine starke albanische Volksgruppe von 20%. c) Die grösste ethnische Inhomogenität wies Bosnien-Herzegowina auf: 32% Serben, 40% Moslems, 18% Kroaten und 10% andere Volksgruppen. Offizielle Staatssprachen waren: Serbokroatisch, Slowenisch und Makedonisch.

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2.2 Der Balkan bis zum Ersten Weltkrieg Ursachen des Zerfalls Als letzte Region erreichte die Auflösung der sozialistischen Staaten in Europa Jugoslawien und Albanien. Während Albanien, das ärmste Land des Ostblocks und bis zum Wandel völlig von der Aussenwelt abgeschlossen, sich seit 1990 sehr vorsichtig auf den Weg einer Demokratisierung machte, brach in dem Vielvölkerstaat Jugoslawien 1991 ein Nationalitätenkrieg aus. Von seiner Gründung 1918 an war Jugoslawien permanent von inneren Unruhen und Zerfall bedroht. Tito hatte es von 1945 bis zu seinem Tod 1980 geschafft, den Bundesstaat aus sechs Republiken und zwei Provinzen zusammenzuhalten. Aber auch im Jugoslawien Titos sahen sich die Kroaten und Slowenen gegenüber den Serben benachteiligt. Sofort nach Beginn des Umbruchs meldeten sich die einzelnen Nationalitäten mit der Forderung nach Unabhängigkeit. Nur mit Mühe gelang es den Nachfolgern Titos, die föderative Republik zusammenzuhalten. Bei den ersten freien Wahlen in den Republiken siegten die nationalistischen Kräfte, denen Autonomie innerhalb einer Konföderation nicht reichte. Sie wollten aus dem jugoslawischen Bundesstaat austreten und einen eigenen unabhängigen Nationalstaat gründen, ohne Rücksicht darauf, dass in fast allen Republiken starke Minderheiten lebten. Denn die Republiksgrenzen stimmten nicht mit den Volksgrenzen überein. Durch die Betonung der nationalistischen Gefühle wurden unversöhnliche Positionen aufgebaut und bei den Minderheiten in den Teilrepubliken Ängste geweckt. So wollten diese häufig auch wieder eigene Staaten bilden. Die ethnische Vielfalt und Durchmischung in Jugoslawien hat verschiedene Ursachen, die tief in die Vergangenheit zurückreichen.

Jugoslawien 1991

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Die heterogene ethnische Verteilung und die Vielfalt der Religionen waren und sind bis heute die wichtigste Ursache für die wiederkehrenden politischen Krisen. Will man die Ursachen der Konflikte im früheren Jugoslawien verstehen, so muß man deshalb die Geschichte des Balkanraums seit dem 6./7. Jahrhundert betrachten. Religion und Schriften Die verschiedenen Volksgruppen Jugoslawiens haben zahlreiche kulturelle und historische Gemeinsamkeiten. Die Nationalisten betonen dagegen die Unterschiede. Beispielsweise bestehen nun Serben und Kroaten darauf, eine eigene Sprache zu haben, obwohl umstritten ist, ob es sich nicht einfach urn Dialekte des Serbokroatischen oder Kroatoserbischen handelt. Serbisch wird meist in kyrillischem Alphabet, Kroatisch dagegen mit lateinischen Buchstaben geschrieben. Die Religionen sind schon lange ein identitätsstiftendes Merkmal der verschiedenen Ethnien. Es gibt im Raume Jugoslawiens im Wesentlichen drei Glaubensbekenntnisse: Die Slowenen und Kroaten sind mehrheitlich katholisch, die Serben und Montenegriner serbisch-orthodox. Zum Islam bekennen sich ca. 70 Prozent der Albaner sowie die Bosniaken, wie die bosnischen Muslime genannt werden. Seit dem ersten Jahrhundert v. Chr. war die von den Illyrern besiedelte Region Teil des Romischen Reiches. 395 n. Chr. wurde bei der Reichsteilung das Gebiet Jugoslawiens getrennt in einen katholischen weströmischen Teil mit lateinischer Schrift und in einen oströmisch-byzantinischen Teil mit griechischer, später kyrillischer Schrift und mit orthodoxer Religion. Im Laufe der Völkerwanderung kamen slawische Stamme (darunter Serben, Kroaten und Slowenen) in den Balkan, absorbierten die bereits ansässige Bevölkerung und wurden von Rom oder Byzanz, den Zentren West- bzw. Ostroms, aus christianisiert.

Teilung des römischen Reiches

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Situation im Mittelalter Im Mittelalter entstanden in Südosteuropa verschiedene Königreiche und Fürstentümer, die nur kurze Zeit Selbstständigkeit hatten. Für die Identität der ex-jugoslawischen Nationen sind sie aber wichtig, weil sie die historische Legitimation für eine Eigenstaatlichkeit geben. Deshalb spielen Geschichte und geschichtliche Mythen dieser Epoche in der nationalen Propaganda eine grosse Rolle. Auch bei Grenzstreitigkeiten wurde gerne auf mittelalterliche Territorien verwiesen, obwohl deren Grenzen nicht dauerhaft waren. Um 600 bildeten Slowenen das Fürstentum Kärnten. Allerdings gelangte im 13. Jahrhundert das Kerngebiet Sloweniens an die Habsburger und blieb bis zum Ende des Ersten Weltkrieges österreichisch. Die Kroaten errichteten im 10. Jahrhundert ein Königreich, das fast 200 Jahre lang unabhängig blieb, bevor es zu Ungarn kam und so später ein Teil der österreichischungarischen Herrschaft wurde. Bosnien dagegen löste sich im 14. Jahrhundert von der ungarischen Vorherrschaft, wurde aber gut hundert Jahre später bereits von den Türken erobert und blieb bis ins 19. Jahrhundert ein Teil des Osmanischen Reiches. Das serbische Königreich entstand im 12. Jahrhundert und dehnte sich zu einem grossen Reich aus. Streitigkeiten zwischen verschiedenen Fürsten erleichterten es dem Osmanischen Reich, nach und nach ganz Serbien unter seine Herrschaft zu bringen. Der Sieg über die Serben in der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 im Kosovo war dabei sehr wichtig. Im Bewusstsein der Serben blieb diese von den Christen verlorene Schlacht im damaligen serbischen Kernland lebendig, nicht zuletzt durch zahlreiche Erzählungen, die in der Volkskultur gepflegt wurden. Diese Mythen wurden später aber auch propagandistisch genutzt. Der 28.Juni, der Tag der Schlacht (St.Veits-Tag), ist heute der zentrale nationale Gedenktag in Serbien. Osmanische Herrschaft Mit der Osmanischen Herrschaft gelangte eine weitere Religion auf den Balkan. In den von den Türken eroberten Gebieten gewann der Islam an Bedeutung. Katholiken und Orthodoxe mussten zwar eine spezielle Steuer bezahlen und waren anderen Einschränkungen unterworfen, durften aber weiter ihren Glauben ausüben. Aus unterschiedlichen Gründen traten aus allen Ethnien Christen zum Islam über, zum Beispiel eröffnete dies Karrieremöglichkeiten bis zu den höchsten Ämtern des Osmanischen Reiches. Nach der Eroberungsphase bis Mitte des 15. Jahrhunderts blühten Handel und Wirtschaft. Politisch motivierte Aufstände gegen die Türken gab es erst ab dem Ende des 17. Jahrhunderts. Die regionalen Herrscher errangen mehr Macht gegenüber der Zentralmacht des Sultans. Abgaben mussten nun zugleich für die lokalen Machthaber und den Sultan geleistet werden. Dies weckte Widerstandsbewegungen, die aber erst im 19. Jahrhundert mit ihren Autonomiebestrebungen erfolgreich waren. Das Verhältnis des Osmanischen Reiches zu den Christen verschlechterte sich in dieser Zeit, denn sie wurden nun verdächtigt, mit dem feindlichen christlichen Ausland zu kollaborieren.

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Die Militärgrenze Österreich-Ungarn errichtete ab dem 16. Jahrhundert zur Abwehr der Türken eine Militärgrenze, die quer durch Kroatien verlief und Krajina genannt wurde. Eine lückenlose Verteidigungslinie mit einem stehenden Heer wäre zu teuer gewesen. deshalb entstand ein System aus Festungen, Wachtürmen und Wehrdörfern. In diesen zum Teil ethnisch gemischten Dörfern siedelten sich zahlreiche Serben an, die vor osmanischen Repressalien flüchteten. Aber auch Freiwillige aus Kroatien und Ungarn schätzten die Privilegien, welche sie genossen: eigener Grund und Boden, weitgehende Abgabenfreiheit und Religionsfreiheit. Ausserdem waren sie direkt dem Kaiser in Wien unterstellt, kannten also keinerlei Verpflichtungen gegenuber dem kroatischen Adel. Dafür waren sie verpflichtet, Wehrdienst zu leisten und die Grenze zu schützen. So mussten sie auch bei der Feldarbeit Waffen tragen, denn es kam immer wieder zu Raub- und Streifzügen von beiden Seiten. Auch auf türkisch-bosnischer Seite gab es eine Art Militärgrenze. Wegen der Privilegien siedelten sich auch hier Serben an. Allgemein kam es in dieser Zeit zu einer Wanderungsbewegung dieser Volksgruppe von Süden nach Norden. Die Serben unter habsburgischer oder osmanischer Herrschaft entwickelten sich aufgrund der unterschiedlichen Lebensbedingungen auseinander, die orthodoxe Religion blieb aber eine wichtige Gemeinsamkeit.

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Südosteuropa 1815 - 1915

Unabhängigkeitsbewegungen Das 19. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Nationalstaaten genannt: Seit der Französischen Revolution verbreitete sich in Europa die Idee, dass jedes Volk frei sein und einen eigenen Staat bilden sollte. Auch im Balkan wurde dieser nationalstaatliche Gedanke im 19.Jahrhundert zu einer wichtigen politischen Kraft. Weitere bestimmende Elemente waren die innere Schwäche des Osmanischen Reiches ("der kranke Mann am Bosporus") und die lnteressen der Grossmächte, welche schliesslich die Grenzen der neuen Staaten unter sich festlegten. Nach Aufständen gegen das Osmanische Reich erreichte Serbien zuerst nur Autonomie, 1867 volle Unabhängigkeit. Darauf unterstützte der junge Staat Freiheitsbewegungen in Bosnien und Montenegro. Hilfe leistete auch Russland, das dem Osmanischen Reich den Krieg erklärte. Gemäss den Forderungen der Panslawisten fühlte sich Russland als Schutzmacht der orthodoxen Kirche und aller Slawen, allerdings nicht uneigennützig. Denn

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der Zar strebte danach, die Dardanellen zu kontrollieren. Nach dem russischen Sieg erkannten die Grossmachte auf dem Berliner Kongress die Unabhängigkeit Serbiens und Montenegros an. Bosnien und Herzegowina wurden dagegen unter habsburgische Verwaltung gestellt. Serbische Nationalisten forderten den Anschluss Bosniens an Serbien. Als Österreich-Ungarn das umstrittene Gebiet annektierte, verschärfte sich der Gegensatz zu Serbien. Es wurden serbische Geheimorganisationen gebildet und die Aufstellung von Freiwilligenverbänden gefordert, die sich "Tschetniks" (von Ceta = Bande, Trupp) nannten. Der Sieg Serbiens im Ersten Balkankrieg im Bündnis mit Bulgarien, Griechenland und Montenegro gegen das Osmanische Reich verstärkte die Position Belgrads in der Auseinandersetzung mit Österreich-Ungarn. Als im Juni 1914 ein serbischer Nationalist den habsburgischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau in Sarajevo erschoss, war dies der Anlass für Österreich-Ungarn, Serbien den Krieg zu erklären. Damit begann der Erste Weltkrieg.

Südosteuropa vor und nach dem Ersten Weltkrieg

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2.3 Jugoslawien: Instabiler Vielvölkerstaat Jugoslawien entsteht und zerbricht Nach der Niederlage Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg wurde der Vielvölkerstaat zerschlagen. Nur teilweise wurde in den Friedensvertragen das Selbstbestimmungsrecht berücksichtigt. Im Balkan mit seiner komplexen ethnischen Durchmischung wäre dies auch schwierig gewesen. Häufig setzten sich die Siegermachte durch. 1918 entstand das "Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen" unter dem serbischen König Alexander I. Es vereinigte Regionen, die ganz unterschiedliche Strukturen und Traditionen aufwiesen. Die ethnischen und konfessionellen Spannungen wurden durch eine zentralistische Verfassung weiter verschärft. Widerstand gab es nicht nur in Slowenien und Kroatien, sondern auch in Mazedonien und dem Kosovo. Alexander I. hob 1929 die Verfassung auf, errichtete eine Königsdiktatur und benannte den Staat in "Königreich Jugoslawien" (= Südslawien) um. Er wollte damit die Einheit der verschiedenen Volksgruppen untereinander stärken. Es gab aber weiterhin keine Autonomie für die verschiedenen Regionen und der Staat blieb serbisch beeinflusst. 1934 wurde der König von Mitgliedern der Ustascha ermordet. Dies war eine rechtsradikale kroatische Organisation, die von Ante Pavelič nach faschistischem Vorbild im italienischen Exil gegründet worden war. Den folgenden Regierungen gelang es auch nicht, die ethnischen Spannungen abzubauen, obwohl noch kurz vor dem Zweiten Weltkrieg mit den Kroaten eine Autonomielösung ausgehandelt worden ist. Im April 1941 eroberte die deutsche Wehrmacht Jugoslawien. Hitler wollte vor dem Russlandfeldzug den Balkan auf seiner Seite haben. Als serbische Offiziere die Regierung stürzten, welche kurz zuvor einem Vertrag mit den Achsenmächten zugestimmt hatte, war dies gleichsam das Signal für den deutschen Angriff. Jugoslawien wurde zerstückelt. Im "Unabhängigen Staat Kroatien" unter dem Schutz Italiens und Deutschlands errichtete die Ustascha eine Diktatur. Tausende von Juden, Roma und kroatischen Regimegegnern wurden ermordet, die Serben systematisch ausgerottet, vertrieben oder unter Zwang zum Katholizismus bekehrt. Zweiter Weltkrieg Josip Broz, der sich den Decknamen Tito gab, stieg während des Zweiten Weltkrieges zu einer Führungsfigur der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ) auf. Ab 1941 organisierte er den Partisanenkampf gegen die nationalsozialistische deutsche und die faschistische italienische Besatzung sowie gegen die rechtsradikale kroatische Ustascha. Gleichzeitig drängten Titos Partisanen die serbische Widerstandsgruppe (Tschetniks) zurück, welche die Monarchie wieder errichten wollten. Die kommunistische Partisanenbewegung Jugoslawiens verstand es, in allen Landesteilen des Vielvölkerstaates Anhänger für den Kampf gegen die Besatzungsmächte zu gewinnen. Aus taktischen Gründen verzichteten die Kommunisten während des Zweiten Weltkrieges weitgehend auf Propaganda für eine "sozialistische Revolution" und stellten stattdessen den gesamtjugoslawischen Charakter ihrer Widerstandsorganisation heraus. Ausdrücklich bekannten sie sich zum jugoslawischen Staat und zur Gleichberechtigung aller Nationalitäten. Allerdings rechnete Tito am Ende des Krieges grausam ab mit echten und vermeintlichen Kollaborateuren der Achsenmächte. Eliminiert wurden auch diejenigen, von denen Widerstand gegen die Errichtung einer kommunistischen Herrschaft erwartet wurde.

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Am 29. November 1943 gründete der Führer und Oberbefehlshaber der ,,Volksbefreiungsarmee", Tito, das Nationalkomitee zur Befreiung Jugoslawiens, das sich seitdem als provisorische Regierung Jugoslawiens verstand. Die Alliierten akzeptierten im März 1945 offiziell die zweite jugoslawische Staatsgründung. Bis zu seinem Tod 1980 bestimmte Tito, der Sohn slowenisch-kroatischer Eltern die Politik des Landes. Die innere Entwicklung Jugoslawiens Die Kommunisten konnten ihre Macht rasch ausbauen und schon im November 1945 die alleinige Herrschaft in dem neuen jugoslawischen Staat übernehmen, der sich "Föderative Volksrepublik Jugoslawien" nannte. Zielstrebig gestalteten die neuen Machthaber Staat und Gesellschaft nach den kommunistischen Idealen um. Die KPJ bestimmte das gesamte politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben. Sie verstaatlichte aIle Betriebe und Unternehmen und setzte die Kollektivierung der Landwirtschaft durch. Tito beharrte jedoch auf einem eigenständigen Weg Jugoslawiens zum Sozialismus, brach 1948 mit der Sowjetunion und propagierte von da an ein eigenes Modell des Sozialismus, den so genannten Titoismus. Zwar behielt die kommunistische Partei das Machtmonopol. Aber im wirtschaftlichen Bereich baute sie ein System der Selbstverwaltung der Betriebe auf und liess seit 1953 Bauer, die dies wünschten, aus den Genossenschaften austreten. Die Nationalitätenkonflikte versuchte der neue Staat dadurch zu überwinden, dass er Jugoslawien in die sechs Teilrepubliken Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Mazedonien und Serbien sowie die autonomen Gebiete Kosovo und Wojwodina aufteilte, die aus Serbien herausgelöst wurden. Dadurch sollten die nationalpolitischen Ansprüche der nichtserbischen Volker befriedigt und gleichzeitig serbischen Vormachtansprüchen der Boden entzogen werden. Doch in Politik, Verwaltung und Armee behielten die Serben ihr traditionelles Übergewicht. Während ihr Anteil an der Bevölkerung Jugoslawiens 1961 unter 45 % lag, stellten sie 84 % aller Minister, Beamten und Funktionäre in der Bundesverwaltung. Ebenfalls 84 % der Bundesrichter und 70 % der Offiziere sowie 65 % der Generale in der Jugoslawischen Volksarmee waren Serben. Fest in serbischer Hand war überdies der gefürchtete Geheimdienst. Jugoslawien war nach der Verfassung zwar ein Bundesstaat, in der Praxis besassen die Teilrepubliken aber keine Mitbestimmungsmöglichkeiten, da alle Entscheidungsbefugnisse bei Tito und seinen Beratern lagen. Tito hielt mit seinem Charisma, aber auch durch Personenkult und staatliche Repression das Land zusammen. Eine demokratische politische Kultur konnte sich nicht entwickeln, das Nationalitätenproblem wurde nur verdrängt, nicht gelöst. Mit dem Tod des kommunistischen Diktators, der den Luxus liebte, verlor Jugoslawien 1980 die entscheidende Integrationsfigur an der Spitze des Staates. Die nationalen Rivalitäten, die nie ganz unterdruckt, geschweige denn überwunden werden konnten, brachen wieder auf 2.4 Der Zerfall Jugoslawiens Krise in den 1980er-Jahren Die Spannungen zwischen den verschiedenen Nationalitäten nahmen im Verlauf der 1980er-Jahre zu. Neben dem Tod Titos gab es dafür noch andere Grunde. Die Wirtschaftskrise bewirkte, dass sich die reicheren nördlichen Teilrepubliken Slowenien und

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Kroatien über Kapitalabfluss in die anderen Teile Jugoslawiens beklagten. Die kommunistischen Führungen in diesen beiden Republiken befürworteten auch eine Wirtschaftsreform, Föderalisierung und Demokratisierung, während insbesondere die KP in Serbien die bestehenden Strukturen nicht verändern wollte. Der Zerfall der Sowjetunion führte dazu, dass sich Jugoslawien aussenpolitisch nicht mehr bedroht fühlte. Die Furcht vor einer Einmischung Moskaus hatte bis dahin dazu beigetragen, dass sich die Jugoslawen in der Nachkriegszeit vor inneren Konflikten hüteten. Schliesslich schürten in verschiedenen Teilrepubliken Parteikader den Nationalismus, weil sie darin eine Möglichkeit sahen, ihre Macht zu erhalten in einer Zeit des Niedergangs des Titoismus Serbien Die Serben wollten den jugoslawischen Staat nicht auflösen und ihre Führungsrolle darin beibehalten. Falls dies nicht möglich wäre, sollte ein Gross-Serbien errichtet werden, zu dem auch die von Serben besiedelten Gebiete in Kroatien und Bosnien gehören sollten. Ais Slobodan Milosevic 1978 an die Spitze der Kommunistischen Partei Serbiens kam, trimmte er diese auf nationalistischen Kurs. 1989 wurde die Autonomie in der Wojwodina und im Kosovo aufgehoben. In der Folge wurde die albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo durch die serbische Verwaltung unterdrückt. Im selben Jahr rief Milosevic bei einer Massenveranstaltung zur Sechshundertjahrfeier der Schlacht auf dem Amselfeld die Serben dazu auf, dass sie bereit sein müssten, um ihre Zukunft zu kämpfen. Aus serbischer Sicht drohte der Kosovo - der Kern des mittelalterlichen serbischen Königreichs - an die geburtenstarke albanische Mehrheitsbevölkerung (ca. 90 %) verloren zu gehen. In der Frage um die Autonomie des Kosovo stellten sich Slowenien und Kroatien auf die Seite der Albaner, denn aus ihrer Sicht hatte Serbien ein Grundprinzip des jugoslawischen Bundesstaates, die Selbstständigkeit und das Gleichgewicht der einzelnen Republiken, verändert. Auch fürchteten sie, dass ihnen ein ähnliches Schicksal blühen konnte. Deshalb erklärten sie, als 1991 der Streit um die Verfassung eskalierte, die Unabhängigkeit. Die Europaische Gemeinschaft (EG, heute EU) hatte Mühe, sich auf eine gemeinsame Linie zu einigen. Sie war vor allem an Stabilität in Osteuropa interessiert und wollte anfänglich den jugoslawischen Bundesstaat erhalten. Denn man wollte keinen Präzedenzfall für ähnliche Nationalitätenkonflikte in anderen Staaten Osteuropas schaffen. Slowenien und Kroatien Die Regierung in Belgrad setzte gegen die abtrünnigen Republiken die von Serben dominierte jugoslawische Bundesarmee in Marsch. Der Krieg in Slowenien endete nach wenigen Tagen durch Vermittlung der Europäischen Gemeinschaft. Dem neuen Nationalstaat gelang es dank seinen guten wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen, bereits 2004 der EU beizutreten und drei Jahre später den Euro einzuführen. Milosevic konnte die Unabhängigkeit Sloweniens verkraften, weil dort kaum Serben lebten. Von nun an strebte er aber nach der Schaffung eines gross-serbischen Staates. Das bedeutete zunächst, dass die Armee sich auf Kroatien konzentrierte, um die vor allem in der Region Krajina gegen die kroatische Armee kämpfenden serbischen Freischärler zu unterstützen. Denn die serbische Minderheit in Kroatien hatte dort eine eigene, von Serbien

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abhängige Republik gegründet. Als es 1992 nach heftigen Kämpfen zu einem Waffenstillstand kam, hatten die Serben etwa ein Drittel des kroatischen Territoriums erobert und "ethnisch gesäubert". Das heisst, dass die dort lebenden Kroaten, die noch nicht aus Angst geflohen waren, vertrieben oder gar ermordet wurden. Berichte über diese Gräuel haben dazu beigetragen, dass die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens durch die EGStaaten anerkannt wurde, als der Krieg noch im Gange war. Die UNO griff nicht ein, sonder festigte durch die Überwachung des Waffenstillstandes den Status quo. Allerdings konnten die Blauhelme 1995 eine Gegenoffensive der inzwischen aufgerüsteten kroatischen Armee nicht verhindern, welche das ganze frühere Territorium zurückeroberte. Nun kam es zu Vertreibungen der Serben und Kriegsverbrechen durch kroatische Verbände. Noch Jahre nach dem Kriegsende 1995 wurde die Rückkehr von geflüchteten Serben behindert. Bosnien-Herzegowina In Bosnien lebten vor dem Krieg 44% Muslime, auch Bosniaken genannt, 31% orthodoxe Serben (serbische Bosnier) und 17% katholische Kroaten (kroatische Bosnier). Die Menschen dieser Ethnien lebten häufig gemischt in den gleichen Dörfern oder Städten. Bei den ersten freien Wahlen gewannen die nationalistischen Parteien die Mehrheit. Als die von den Bosniaken geführte Regierung mit Unterstützung der kroatischen Bosnier 1992 die Unabhängigkeit ausrief, antworteten die serbischen Bosnier einen Tag nach der internationalen Anerkennung des neuen Staates mit Krieg. Mithilfe der jugoslawischen Armee gelang es ihnen, zeitweise 70 Prozent Bosnien-Herzegowinas zu besetzen und die dort ansässigen Muslime und Kroaten zu vertreiben. Die kroatischen Bosnier wurden von Kroatien unterstützt. Sie wollten möglichst viele Gebiete für Kroatien erobern. Die Muslime fanden Hilfe durch Waffen und Freiwillige aus islamischen Ländern. Die Hauptstadt Sarajevo wurde von serbischen Truppen eingekreist und beschossen. Der UN-Sicherheitsrat verurteilte Serbien als Aggressor. Damit wäre ein militärisches Eingreifen möglich gewesen. Die Vereinten Nationen entsandten aber nur Blauhelmtruppen ohne ausreichende Kampfstärke, welche den vagen Auftrag hatten, Wege für Hilfstransporte zu sichern und die Zivilbevölkerung zu schützen. Dies konnte denn auch nicht durchgesetzt werden. Tiefpunkt war die Übergabe der muslimischen Enklave Srebrenica an die serbischen Truppen, die darauf in einem Massaker schatzungsweise 8000 Bosniaken ermordeten. Aber auch andere Ethnien litten unter Kriegsverbrechen. Vermutlich flüchteten mehr als 2 Millionen Menschen während des Krieges aus ihren Heimatorten oder wurden vertrieben Die in sich uneinigen europäischen Staaten setzten zuerst auf Verhandlungen, zeitweise wurde Serbien auch boykottiert, allerdings mit wenig Erfolg. Ein Waffenembargo gegen alle Kriegsteilnehmer traf vor allem die schlecht ausgerüsteten bosnischen Kroaten und Muslime. 1995 schlossen Bosniaken und Kroaten, die sich bis dahin bekämpft hatten, ein Bündnis gegen die Serben. Zu diesem Zeitpunkt begann der amerikanische damalige Präsident Bill Clinton aktiv zu werden, nachdem die Bemühungen der EU um Frieden erfolglos geblieben waren. Als immer neue menschenverachtende Aktionen bekannt wurden, bombardierte die NATO im Auftrag der UNO serbische Stellungen. Die Serben gerieten nun in die Defensive und schliesslich einigten sich die Kampfparteien im Abkommen von Dayton 1995 auf ein Ende des Krieges. Bosnien·Herzegowina blieb als Staat in den Grenzen von 1992 bestehen, zerfiel aber in zwei weitgehend selbstständige Teile, die sogenannten Entitäten: die "Serbische Republik" (Republik Srpska) und die "Bosniakisch·Kroatische Föderation". Das bedeutete indirekt eine Anerkennung der während des Krieges verübten ethnischen

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Säuberungen". Denn es zeigte sich, dass Fluchtlinge praktisch nie in ihren Heimatort zurückkehrten, wenn sie dort zur Minderheit gehören würden. Eine Friedenstruppe und ein mit weitgehenden Vollmachten ausgestatteter Hoher Kommissar versuchen seither, die verfeindeten Volksgruppen zu verstärkter Zusammenarbeit zu bewegen und zu einem Bundesstaat zu vereinen. Aber häufig blockieren sich die beiden Entitäten gegenseitig und verhindern Losungen. In diesen Situationen muss immer wieder der Hohe Kommissar eingreifen und entscheiden. Kosovo Weil ab dem 18. Jahrhundert immer mehr Serben aus dem Kosovo nach Norden abgewandert sind, lebten gegen Ende des 20. Jahrhunderts im einstigen serbischen Stammland viel mehr Albaner als Serben. Als die Regierung Milosevic 1989 die durch Tito eingeführte Autonomie aufhob, empörte dies die Kosovo-Albaner und sie forderten die Wiederherstellung ihrer Rechte. Eine Gruppierung proklamierte die Unabhängigkeit und baute eine Schattenregierung auf. Während ein Teil friedliche Mittel einsetzte, organisierten andere die "Befreiungsarmee des Kosovo" (UCK) , welche Anschläge gegen serbische Einrichtungen und Attentate verübte. 1998 ging die serbisch-jugoslawische Armee massiv gegen die UCK vor. Dabei zerstörte sie viele Dörfer, angeblich, weil deren Bewohnerinnen und Bewohner die Befreiungsarmee unterstützt hatten. Darauf flüchteten viele Albaner aus dem Kosovo. Dies veranlasste die NATO nach ergebnislosen Verhandlungen zum Eingreifen. Es zeichnete sich aber ab, dass Russland im Sicherheitsrat der UNO das Veto gegen eine militärische Sanktion einlegen würde. Russland war nicht nur ein alter Verbündeter Serbiens, sondern lehnte mit Blick auf das eigene Minderheitenproblem in Tschetschenien prinzipiell eine Einmischung anderer Staaten in innere Probleme ab. Deshalb bombardierte die NATO im Sinne einer "humanitären Intervention" auch ohne Beschluss des Sicherheitsrates der UNO Rest-Jugoslawien, das nur noch aus SerbienMontenegro bestand. Schwere Schäden an der Infrastruktur des Landes waren die Folge, Wirtschaft und Bevölkerung Serbiens litten. Unterdessen verstärkte die serbischjugoslawische Armee ihre Offensive. Tausende Kosovo-Albaner wurden getötet, vermutlich fast eine Million flüchteten. Durch Vermittlung Russlands stimmte Belgrad nach einem mehr als zwei Monate dauernden Luftkrieg schliesslich einem Abkommen zu. Der Kosovo wurde unter eine Übergangsverwaltung unter UNO Schirmherrschaft gestellt, die serbischen Truppen sich zurück und eine intentionale Friedenstruppe - die Kosovo Force (KFOR) sollte den Frieden im Lande garantieren. Sie konnte aber weitere Menschenrechtsverletzungen nicht verhindern. Denn Anschläge und andere Repressalien führten zur Vertreibung vieler Serben, Kroaten und Roma aus dem Kosovo. Eine Volksbewegung in Serbien stürzte Milosevic, nachdem er versucht hatte, Wahlen zu manipulieren. Es wurde gegen ihn ein Prozess vor dem UNO-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag eingeleitet. Allerdings starb er, bevor das Urteil festgelegt wurde. Völkerrechtlich gehörte der Kosovo immer noch zu Serbien. Seine Zukunft war umstritten. Auch die serbischen Regierungen nach Milosevic stellten sich auf den Standpunkt, dass dieses Gebiet nicht unabhängig werden darf. Da die verschiedenen Vermittlungsversuche zu keiner Einigung führen, erklärte der Kosovo im März 2008 einseitig seine Unabhängigkeit.

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Republik Mazedonien und Montenegro Die Republik Mazedonien löste sich vermutlich vor allem deshalb friedlich von RestJugoslawien, weil die Truppen Belgrads bereits in Kroatien und Bosnien kämpften. Aufgrund eines Namensstreits mit Griechenland, das eine gleichnamige Region. besitzt, wurde Mazedonien 1993 unter dem Namen Former Yugoslav Republic of Macedonia (FYROM; Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien) in die UNO aufgenommen. Eine definitive Einigung in diesem Streit ist aber noch nicht erfolgt. Auch das Nachbarland Bulgarien wandte sich erst gegen die Entstehung der Republik Mazedonien, weil aus bulgarischer Sicht dieses Gebiet auch als ,,West-Bulgarien" das Mazedonische als ein bulgarischer Dialekt und nicht zuletzt deshalb als Teil Bulgariens betrachtet wird. Und Sofia bietet allen slawischen Mazedoniern die bulgarische Staatsbürgerschaft an. Sowohl Griechenland wie Bulgarien haben aber die Existenz der Republik Mazedonien anerkannt. Nach dem Ende des Kosovo-Krieges verlegten Teile der früheren UCK ihre Aktivitäten nach Mazedonien, wo etwa ein Viertel der Bevölkerung Albaner sind. Durch Verhandlungen unter der Führung von NATO und EU gelang es im Abkommen von Ohrid 2001 die Kämpfe zu beenden. Die Regierung Mazedoniens verpflichtete sich, die Albaner besser zu behandeln, vor allem was Sprachenrechte und Schulen betraf. Der Einheitsstaat blieb erhalten. Im Mai 2006 entschieden sich 55,5 % der Bevölkerung Montenegros dafür, sich von Serbien zu trennen und einen eigenen Staat zu bilden. Auch dieser Balkanstaat ist ethnisch stark gemischt. Als "Montenegriner" bezeichneten sich in einer Volkszahlung 2003 nur 43 %. Aber auch andere nicht-serbische Minderheiten, insbesondere die Muslime, unterstützten die Loslösung von Belgrad. 2006 wurde Montenegro als 192. Staat in die UNO aufgenommen.